Bert Altena / Dick van Lente Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989 Aus dem Niederländischen von Thomas Kroll Vandenhoeck & Ruprecht 60 Teil 1 1750-1850 3. Kraft und Bewegung 61 Die englischen Großgrundbesitzer wollten den Gewinn aus der Landwirtschaft erhöhen. So war in England ein agrarischer Kapitalismus entstanden, der zwischen 1760 und 1815 durch die enclosure-Bewegung noch verstärkt wurde. Durch enclos-ures wurde das Gemeindeland mit Zustimmung des Parlaments von Großgrundbesitzern in Besitz genommen (vgl. auch Abschnitt 2.4.1). Im Parlament hatten sie eine gewichtige Stimme. Die institutionellen Verhältnisse waren für die Großgrundbesitzer in England also nicht ungünstig. Die enclosures führten zu vielfachem, mitunter heftigem Protest von kleinen Bauern und Dorfbewohnern. Sie betrachteten diese öffentlichen Grundstücke nämlich als Gemeinschaftseigentum und verbesserten darauf ihr Einkommen. Dennoch wurden zwischen 1760 und 1800 fast 2 Millionen Hektar vom Parlament privatisiert. Enclosures förderten die Produktivität der Landwirtschaft, da Bauernhöfe zu großen Einheiten zusammengefasst, mehr Wiesen in Ackerland umgewandelt und die Erträge gesteigert werden konnten, Sie erhöhten vor allem das Einkommen der Pachtbauern und Großgrundbesitzer. Diese sammelten Kapital, das an anderer Stelle wiederum gewinnbringend investiert werden konnte. Durch die höheren Einnahmen entstand auf dem Land zugleich ein Markt für industrielle Produkte. Die Kehrseite der enclosures ergibt sich bereits aus dem Widerstand der Kleinbauern. Durch die Zusammenlegung von Bauernhöfen wurden viele Kleinbauern zudem gezwungen, einen anderen Bauernhof oder Lohnarbeit zu suchen. Durch die Privatisierung der öffentlichen Grundstücke verloren sie und die Landarbeiter die Möglichkeit, auf diesen Grundstücken zusätzlich etwas anzubauen. Anders als in Preußen waren die Landarbeiter juristisch nicht an das Grundstück gebunden. Das machte sie mobiler und den Übergang in den Lohndienst in der Stadt weniger schwer. Bot die Landwirtschaft so einerseits einen kaufkräftigen Markt und sogar eine Finanzierungsquelle für industrielle Unternehmungen, so zwang sie andererseits Arbeitskräfte dazu, anderswo Beschäftigung zu suchen. Die neuen Fabriken boten Arbeitsmöglichkeiten und überdies einen guten Lohn, solange Arbeitskräfte noch knapp waren. ■'■''■!.-.*--/°^^^ ''^iiillli 3.3 Stellte die industrielle Revolution einen Bruch dar? Die industrielle Revolution umfasst mit den rund siebzig Jahren zwischen 1760 und 1830 eine relativ lange Zeitspanne. Das hatte technologische und finanzielle Ursachen. Anfangs waren Dampfmaschinen für manche Produktionsabläufe kaum geeignet. Sie wurden nur langsam verbessert. Die technologische Entwicklung sollte sich jedoch beschleunigen und eine Quelle der Dynamik westlicher Ökonomien bleiben. Dampfmaschinen stellten aber auch eine erhebliche Investition dar, die durch niedrigere Kosten für Menschen-, Wind- und Wasserkraft kompensiert werden mussten. Wenn wir dennoch von einer Revolution sprechen, so müssen wir das Revolutionä- |''1 re vor allem in der Tatsache suchen, dass die Gesellschaft sich von Grenzen befreite, welche die Natur ihr auferlegte. Die Mechanisierung steigerte die Produktivität in für ihre Zeit unvorstellbarem Maße. Kohle hob die Beschränkungen der Reproduktion von Holz auf. Dampf befreite die Produktion von den Beschränkungen, die zum Beispiel fließendes Wasser als Energiequelle hatte. Der Bedeutung der industriellen Revolution im weiteren Sinn kommen wir am ehesten mit der Frage auf die Spur, inwieweit die industrielle Revolution einen Bruch mit der Vergangenheit darstellte -eine Frage, über die sich schon viele Historiker den Kopf zerbrochen haben. Die Antwort daraufist nicht nur interessant für eine Beurteilung der Vergangenheit, sondern auch in Hinblick auf Entwicklungsprozesse in nicht-westlichen Gesellschaften. 3.3.1 Industrielle Revolution und wirtschaftliches Wachstum Wissenschaftler haben seit den 1950er Jahren die industrielle Revolution vor allem mit wirtschaftlichem Wachstum in Verbindung gebracht. Da Wachstum notwendig ist, um der immer größer werdenden Weltbevölkerung eine Existenz zu ermöglichen und ökonomischen Rückstand in der Welt aufzuholen, suchten sie in der industriellen Revolution ein Entwicklungsmodell für die gerade unabhängig gewordenen unterentwickelten Länder. Bekanntestes Beispiel einer solchen Untersuchung ist The stages of economic growth. A non-communist manifesto (Cambridge 1960) des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Walt Whitman Rostow (1916-2003). Wie der Untertitel bereits andeutet, bot dieses Buch unterentwickelten Ländern ein Entwicklungsmodell, das sie der kommunistischen Einflusssphäre entziehen sollte. Die Betonung des wirtschaftlichen Wachstums hatte für die historische Forschung einen dreifachen Effekt. Sie führte erstens dazu, dass Erkenntnissen und Modellen aus der Wirtschaftswissenschaft in der historischen Forschung eine größere Rolle zufiel. Dadurch wurden die Forschungstechniken komplizierter, vor allem quantitativer. Die neue Generation von Historikern hatte zweitens die Neigung, die Augen vor nichtökonomischen Einflüssen und schwer quantifizierbaren, qualitativen Aspekten des wirtschaftlichen Lebens zu verschließen. Daraus konnten eine zu reduzierte Auffassung des Begriffs der industriellen Revolution und falsche Schlussfolgerungen resultieren. Drittens führte die Betonung des wirtschaftlichen Wachstums zunächst dazu, dass ganz besonderer Nachdruck auf den Bruch mit der Vergangenheit und die Entwicklung der Großindustrie gelegt wurde. So entstand die Idee, dass die Modernität einer Ökonomie vor allem an deren Dynamik, am Wachstum und an großen Betrieben abzulesen war. Im Gegensatz dazu habe die vorindustrielle Gesellschaft nur handwerkliche Arbeitsstätten, Stagnation und ein mangelndes Wachstumspotential gekannt. In dem Maße, wie die Rechenmethoden verfeinert wurden, wuchs die Kritik an dieser Idee. Die neue Generation von Forschern, die besser in wirtschaftsmathematischen Techniken geschult war, schätzte, dass die englische Ökonomie zur Zeit der industriellen Revolution weit weniger wuchs als zunächst angenommen. Hatten Berechnungen aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts für die Zeit zwischen 1780 und 1831 noch ein Wachstum des Nettoinlandsprodukts von 120% ergeben, so soll nach Berechnungen von N. ER. Crafts aus dem Jahr 1985 das Wachstum bei lediglich 85% gelegen haben. Für die Jahre 1700-1780, die Periode vor der industriellen Revolution also, bezifferte Crafts das Wachstum statt mit 48% mit 56%. 62 Teil 1 1750-1850 3. Kraft und Bewegung 63 Die industrielle Revolution stellte makro-ökonomisch gesehen und unter dem Aspekt des Wachstums folglich einen weniger großen Bruch dar als gedacht Die Stärke solcher Berechnungen liegt in der scheinbaren Objektivität von Zahlen und dem Gefühl der Präzision, das sie vermitteln. Generei! bieten Zahlen eher die Möglichkeit, zu fundierten und zuverlässigen Feststellungen zu kommen als Impressionen. Sie haben zudem den Vorteil, dass sie besser zu kontrollieren sind. Wir sollten aber bedenken, dass Crafts Berechnungen mangels zuverlässiger Zahlen ungenau bleiben mussten. Die laufende Forschung versucht, diese Ungenauigkeiten so weit wie möglich einzugrenzen. Die Korrektur der Wachstumsziffern hatte zur Folge, dass die Wissenschaftler nun eher die Kontinuität als den Bruch betonten. Allmählich stellte sich aber heraus, dass die Frage nach Kontinuität oder Bruch schwer zu beantworten war, solange sich die Wissenschaftler an nationalen Entwicklungen orientierten. Die Regionen, in denen die industrielle Revolution sich abspielte, waren Inseln inmitten agrarischer Regionen, die ein völlig anderes Entwicklungstempo haben konnten. In den letzten zwanzig Jahren setzte sich deshalb die Auffassung durch, dass wir eher Wirtschaftsregionen betrachten müssen als ganze Länder. Für die Ermittlung des Zusammenhangs zwischen industrieller Revolution und wirtschaftlichem Wachstum stellt sich dann allerdings das Problem, dass nationale Wachstumsziffern den Landesdurchschnitt repräsentieren und folglich verschleiern können, was in den dynamischen Regionen geschah. Wenn die Landeszahlen eine spürbare Zunahme des Wachstums signalisieren, dann hat die industrielle Revolution in diesen Regionen wahrscheinlich eine Bedeutunggehabt. Dieselben quantifizierenden Autoren, die das wirtschaftliche Wachstum insgesamt relativierten, kommen so zu einer erheblichen Zunahme des jährlichen Wachstums der industriellen Produktion von 0,65% in der Zeit vor 1770 auf ein Spitzenwachstum von 3,7 % pro fahr in den 1830er Jahren. Inwiefern stellte die industrielle Revolution einen Bruch dar, wenn wir einen Blick auf die Regionen werfen? Bei näherer Betrachtung zeigen sich in den Regionen Momente der Kontinuität und der Diskontinuität. Manchmal verstärkte die Industrialisierung bereits bestehende Industriezweige, insbesondere wenn in der Nähe Steinkohle gefördert wurde. Es ist jedoch eine falsche Annahme, dass Großbetriebe erst dank der industriellen Revolution entstanden. Mit bis zu 10.000 Heimarbeitern hatten auch Betriebe in der Heimindustrie eine enorme Größe. Ob die Heimindustrie im Zuge der industriellen Revolution wachsen konnte, hing vor allem von der Entwicklung der Infrastruktur und des Transportwesens ab. Aufgrund der verbesserten Infrastruktur konnte die Industrialisierung der einen Region aber auch den Untergang der anderen bedeuten. Dort verschwand die Heimindustrie durch die Konkurrenz industriell hergestellter Produkte. Bis heute geht die Industrialisierung einer Region ja einher mit der Deindustrialisierung einer anderen, auch wenn wir Regionen gegenwärtig auf Weltniveau betrachten müssen. Gab es einerseits also sehr wohl im vorindustriellen Gewerbe bereits Großbetriebe, so blieb andererseits die Produktion in Kleinbetrieben noch lange Zeit bestehen. Auch auf dieser Ebene bedeutete die industrielle Revolution keinen abrupten Bruch mit der Vergangenheit. In England kam das Handwerk in zahlreichen Industriezwei- gen noch lange Zeit vor: im Straßen- und Kanalbau, beim Abbau von Steinkohle oder bei der Produktion von Natursteinen. Dasselbe gilt für die Werkzeugherstellung, für Möbeltischlerei und Buchbindereien. Selbst in bestimmten Teilen der Textilindustrie konnten sich Handweber noch lange Zeit halten. Es war im Übrigen nicht immer von Vorteil, zur maschinellen Massenproduktion überzugehen, zum Beispiel wenn auf Bestellung geliefert wurde (Maschinen, Schiffsbau, Hausbau). Mitunter hatten die Kunden eine ausgesprochene Vorliebe für handwerkliche Produkte und sehr oft war Handarbeit einfach billig. Außer in der Textilindustrie, in der es zu wenige Facharbeiter gab, war das Angebot an gelernten Arbeitskräften in England in anderen Betriebssparten das ganze Jahrhundert über groß. Darum bestand dort ein geringerer Bedarf an arbeitssparenden Maschinen. Wo sich Maschinen durchsetzten, waren die Folgen für die Produzenten allerdings revolutionär. Unternehmer, die sich der Modernisierung verweigerten, zogen auf Dauer den Kürzeren, wenn die Mechanisierung in ihrer Branche eine billigere Produktion ermöglichte. Maschinell gesponnene Fäden hatten zudem häufig eine bessere Qualität als die mit der Hand gesponnenen. Für Knechte und Arbeiter bedeutete die Veränderung ebenfalls einen Einschnitt. Ob Maschinen nun durch Wasser oder Dampf angetrieben wurden, sie diktierten in Zukunft das Arbeitstempo der Arbeiter. Maschinen nahmen ihnen außerdem einen Teil der Produktion aus den Händen und reduzierten ihre Arbeit noch stärker auf Zuarbeit. Dadurch büßten die ^Arbeiter bei der Arbeit ihre Selbständigkeit ein. Aufgrund der Notwendigkeit größerer Investitionen ging überdies allmählich die Perspektive verloren, selbst Unternehmer zu werden, was im vorindustriellen Gewerbe noch Norm war. ■: So war die industrielle Revolution in vielen Punkten umwälzend, doch unter dem Aspekt des Wirtschaftswachstums oder der Betriebsgröße stellte sie keinen iwirklich fundamentalen Bruch dar. Die Revolution eröffnete allerdings ungeahnte Möglichkeiten, die im Lauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr genutzt werden sollten. 3.3.2 Gesellschaftliche Folgen :;Wie breit die industrielle Revolution verstanden werden muss, zeigt sich in den gesellschaftlichen Konsequenzen. Die Revolution hatte Einfluss auf das Bevölkerungs» Wachstum, die Konjunktur, den Aufbau der Ökonomie, die Einkommensverhältnisse, die soziale Schichtung, den Lebensstandard der Arbeiter, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und die Arbeiterfamilie. ßevölkerungswachstum ■Ökonomie und Demographie hatten sich gegenseitig schon immer verstärkt: wirtschaftliches Wachstum förderte das Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Repression reduzierte die Bevölkerung, aber Bevölkerungswachstum konnte seinerseits ;die Wirtschaft zum Blühen bringen. Das Bevölkerungswachstum erwies sich als ausgesprochen wichtige Ursache für die industrielle Revolution, da es dafür sorgte, dass 64 Teil 1 1750-1850 3. Kraft und Bewegung 65 die Nachfrage stieg. Vor der industriellen Revolution hatten das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum Grenzen: 0,5% bzw. 1,5 bis 2% pro Jahr schienen das maximal Erreichbare gewesen zu sein. Diese gegenseitige Bedingtheit erfuhr durch die industrielle Revolution eine große Veränderung. Zum ersten Mal war es möglich, bei einer zunehmenden Anzahl von Konsumenten den Preis für Nahrungsmittel und andere Lebensnotwendigkeiten wie Kleidung und Wohnung zu senken, indem das Angebot stieg und die Produktionskosten fielen. Konjunktur Solange Landwirtschaft die wichtigste ökonomische Aktivität war, wurden Konjunkturzyklen durch instabile Ernteerträge, unterschiedliche Qualität der Pflanzen und durch das Verhältnis zwischen landwirtschaftlichen Erträgen und Bevölkerungszahl ausgelöst. Ein Merkmal für Krisenperioden in dieser Zeit waren hohe Lebensmittelpreise. Lebensmittel waren knapp, die Zahl der Münder, die ernährt werden mussten, groß. Der finanzielle Spielraum für die Anschaffung anderer Waren wurde so kleiner. Die Industrie, die diese Waren produzierte, geriet in die Depression. In Kapitel 2.4 haben wir bereits erörtert, wie der nicht-agrarische Sektor seit dem 15. Jahrhundert wuchs und ein Handelskapitalismus aufkam, der wiederum die Industrie stimulierte und so dazu beitrug, dass auch dort kapitalistische Verhältnisse entstanden. Kapitalistische Verhältnisse bedeuten Profitstreben und wirtschaftliche Dynamik. Das gilt für den Handelskapitalismus, den Agrarkapitalismus und gewiss auch für den industriellen Kapitalismus. Jeder Unternehmer wollte mehr Gewinn machen, indem er mehr verkaufte und/oder mehr produzierte. So entstanden Überproduktion und in ihrer Folge Krisen. Die wurden bewältigt, wenn das Angebot wieder der Nachfrage entsprach oder andersherum die Nachfrage dem Angebot. Statistiker stellen in der Ökonomie westlicher Gesellschaften seit dem 14. Jahrhundert eine immer deutlichere Wellenbewegung der Preise fest. Die industrielle Revolution veränderte die Art dieser Dynamik. Die Wellenbewegungen wurden stärker und durch mehr Faktoren als Landwirtschaft und Bevölkerung bestimmt. Diese Veränderung spiegelt sich deutlich im ökonomischen Denken wider. Hatten sich frühe Ökonomen wie Adam Smith (1723-1790), Thomas Malthus (1766-1834) und David Ricardo (1772-1823) noch den Kopf über die Grenzen des Wachstums zerbrochen (das Problem einer Ökonomie, die noch nicht mineral based ist), so wurde eine neue Generation von Ökonomen im 19. Jahrhundert mehr und mehr mit den Problemen dieses Wirtschaftswachstums konfrontiert, den ökonomischen Krisen. Diese stürzten die in den Städten zusammengeballten arbeitenden Klassen ins Elend. Sozialistische Kritiker sahen das ganze 19. über darin einen Grund, den Bankrott des industriellen Kapitalismus zu verkünden. Man konnte jedoch auch argumentieren, dass die Konjunktur ein Teil der neuen Ökonomie war. Krisen waren Momente einer Bereinigung, die nur die besten Betriebe und Unternehmer überlebten. 1862 entdeckte der französische Statistiker Clement Juglar (1819-1905), dass sich Krisen alle 9 bis 11 Jahre wiederholten (Juglar-Zyklen). Wenig später wurden auch längere Zyklen von etwa 50 Jahren entdeckt, die Kondratjew-Zyklen, benannt nach dem russischen Statistiker Nikolai Kondratjew (1892-1938). -Über dessen Zyklen wird noch immer heftig debattiert. Existieren sie tatsächlich, wie müssen wir sie erklären und gelten sie nur für industrielle Ökonomien oder auch für die vorindustriellen? Gewöhnlich gilt das Bestehen von drei Wellen als erwiesen, an der vierten scheiden sich die Geister: .Tabelle 3.2 Kondratjew-Zyklen Zyklus Aufschwung Abschwung i 1789-1814 1814-1849 II 1849-1873 1873-1896 III 1896-1920 1920-1936 IV 1936-1995 Quelle: Batroch, Paul, Victoires et deboires. Histoire economique et sociale du monde du XVIe siede ä nos jours, II (Paris 1997), S. 389 Die Feststellung der Kondratjew-Zyklen ist das eine, ihre Erklärung das andere. Die faszinierende Forschung einer Reihe nicht gerade unbedeutender Wirtschaftshistoriker und Ökonomen hat dazu geführt, dass der Rhythmus der langen Zyklen gegenwärtig nicht mehr mit äußeren Faktoren wie Krieg erklärt wird. Im Gegenteil, die Wissenschaftler suchen nach Erklärungen im ökonomischen System selbst. Der österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Alois Schumpeter (1883-1950) hat auf die Bedeutung wirtschaftlicher Innovationen hingewiesen, womit er nicht nur Erfindungen meinte, sondern auch neue Industriezweige und andere betriebliche Methoden. Diese Innovationen führten zu neuen Investitionen. Da sich zu viele Unternehmer darauf stürzten, käme es zur Überinvestition und Überproduktion sowie zu einer bereinigenden Regression. Nachfolgende Forscher meinten, dass die Innovationen faktisch eine neue ökonomische Struktur zur Folge hätten. Damit diese Früchte tragen konnte, wäre aber eine Anpassung der sozialen und politischen Verhältnisse erforderlich. Diese Anpassung ging regelmäßig mit sozialen und politischen Reibungen einher. Die Verzögerung, die sich daraus ergab, führte diesen Forschern zufolge zu Verzögerungen im wirtschaftlichen Wachstum und in der Länge der Zyklen. Das Denken in langen Zyklen ist verlockend, weil es die Möglichkeit bietet, gesellschaftliche Phänomene auf deren Dynamik zurückzuführen und sie so zu erklären und möglicherweise sogar vorauszusagen. Dennoch tut man gut daran, die Kondratjew-Zyklen als allgemeinen Hintergrund zu verstehen, der nur indirekt Erklärungen bieten kann. Kürzere Zyklen, wie die von Juglar, können gesellschaftliche Phänomene besser erklären, zum Beispiel im Fall von Revolutionen. Klassenverhältnisse I: Adel und Bürgertum Wenn die Anpassung gesellschaftlicher Verhältnisse an neue ökonomische Phänomene eine erklärende Rolle für die langen Zyklen spielt, bekommt die Frage, wie wichtig die industrielle Revolution für die Veränderung der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlichen Macht war, zusätzliche Bedeutung. Für ein genaues Bild 66 Teil 1 1750-1850 3. Kraft und Bewegung 67 der veränderten sozialen Verhältnisse in England fehlen vor 1851 wichtige Quellen und zuverlässige landesweite Berufszählungen. Dennoch kann gesagt werden, dass einerseits Gruppen ihren Charakter veränderten, andererseits neue Gruppen in Erscheinung traten. Beide Prozesse vollzogen sich sowohl bei den besitzenden Gruppen als auch bei den arbeitenden Klassen. Vor der industriellen Revolution gab es in der Gesellschaft neben der Kirche nur zwei Gruppen, die über nennenswerten Besitz verfügten: den Adel und das städtische Patriziat. Letzteres verfügte in der Regel über Handelskapital und über Grund und Boden, während der Adel vorwiegend Grund und Boden besaß. Grundbesitz sagt, wie wir inzwischen wissen, noch wenig über dessen Nutzung aus. Wir haben gesehen, dass der Adel in England einen Agrarkapitalismus betrieb. Auf dem europäischen Kontinent war dies weit weniger der Fall. Dennoch ließen sich Ende des 18. Jahrhunderts auch dort viele Adlige auf große Unternehmen ein. Manche ließen Bodenschätze abbauen, andere ließen bei ihren Gruben Hochöfen bauen und dritte wiederum investierten Kapital in die Verbesserung der Verkehrsmittel. Diese Adligen verstanden ihre Aktivitäten als Weiterentwicklung ihres Grundbesitzes. Sie arbeiteten nicht selbst, sondern führten ihre Unternehmen so, wie sie ihr Land bewirtschafteten: mit spezialisierten Verwaltern. Dies war sowohl in England als auch auf dem europäischen Kontinent eine gesellschaftliche Trennlinie zwischen dem nicht arbeitenden Adel und dem reichen Bürgertum, das nach wie vor für sein Geld arbeitete. Für dieses Bürgertum war Arbeit, für den Adel umgekehrt die Nicht-Arbeit eine Tugend. Ein solches Standesbewusstsein verhinderte in der Regel, dass reiche Unternehmer in Adelskreise aufgenommen wurden. Oft gelang dies erst deren Kindern, die es sich leisten konnten, sich auf ein Landgut zurückzuziehen und das Unternehmen anderen zu überlassen. Die Kinder eigneten sich vom adligen Lebensstil das Nicht-Arbeiten an. Auf diese Weise erneuerte sich der Adel zwar ein wenig, blieb aber dennoch eine völlig eigenständige soziale Schicht, die qua Lebensstil und Umgang vom reichen Bürgertum separiert war. Klassenverhältnisse II: die arbeitenden Klassen Urbanisierung Unter dem Einfluss des allgemeinen Bevölkerungswachstums und dem Aufkommen großer Industrien nahm die Urbanisierung enorm zu. Insgesamt wuchs die Bevölkerung in den zehn größten Städten Großbritanniens zwischen 1750 und 1850 um 341 Prozent. Gemessen am Wachstum der Städte in der Dritten Welt zwischen 1950 und 1980 (sieben Prozent pro Jahr war nicht ungewöhnlich) ist dies eine bescheidene Zahl, aber gemessen am Jahrhundert vor 1750 ist sie spektakulär. Auch im Vergleich zu Städten in anderen Ländern wie Frankreich oder zu den deutschen Städten waren die englischen Zahlen sensationell. Infolge der sich verändernden Wirtschaftsstruktur veränderte sich in Großbritannien die Rangfolge der Städte. Durch die Entwicklung der Infrastruktur und der Dampfmaschine verlor der Zugang zum Wasser für einen Standort an Bedeutung. Industriestädte im Landesinneren wuchsen im Vergleich zu den Hafenstädten in hohem Tempo: Tabelle 3.3 Die zehn größten Städte in Großbritannien 1750-1850 (Bevölkerung in 1000) Ort 1750 Ort 1850 London 65 London 2236 Edinburgh 57 Liverpool 376 Bristol 50 Glasgow 345 Norwich 37 Manchester 303 Newcastle/Tyne 29 Birmingham 233 Glasgow 25 Edinburgh 194 Birmingham 24 Leeds 172 Liverpool 22 Bristol 137 Manchester 18 Sheffield 135 Leeds 16 Bradford 110 Insgesamt 953 Insgesamt 4241 Quelle: Bairoch, P. u.a., La population des villes europeennes de 800 a 1850/The population of european cities from 800 to 1850 (Geneve 1988), S. 32-35 Die städtischen Arbeiter in Großbritannien waren Opfer von Experimenten mit dem schnellen Städtebau. Die Städte wuchsen gewissermaßen zu einem Spottpreis: Bauunternehmer und Stadtverwaltung investierten kaum in den Bau befestigter Straßen oder Maßnahmen zur Müllbeseitigung oder in eine funktionstüchtige Kanalisation. Da die Bauunternehmer Häuser als Investition betrachteten, versuchten sie, möglichst viele Wohnungen auf einem Grundstück unterzubringen. Das Ergebnis waren die berüchtigten Rücken-an-Rücken-Wohnungen, bei denen an die Rückwand der Häuser, die zur Straße gingen, nochmals Arbeiterwohnungen gebaut wurden. Deren Ausgang lag in kleinen Innenhöfen, die durch ein Tor zu erreichen waren. In der Regel wurden in den an der Straßenseite gelegenen Häusern auch Kellerwohnungen gebaut, die man vom Bürgersteig aus über eine Treppe nach unten erreichen konnte und mit einem halben Fenster versehen waren, durch das noch etwas Licht fiel. Das beengte gemeinsame Leben in den winzigen Ein- oder Zweizimmerwohnungen und an Straßen ohne Bäumen und Laternen war alles andere als angenehm. An sich stellten diese Wohnungen noch keine gesundheitliche Bedrohung für ihre Bewohner dar, auch wenn das wenige Licht und die große Feuchtigkeit in den Kellerwohnungen nicht gerade vorteilhaft waren. Ungesund waren die neuen Arbeiterviertel insbesondere wegen der offenen Kanalisation entlang der Straßen und der Nähe von Fabriken, deren Schornsteine oft nicht hoch genug waren. Menschen in den Arbeitervierteln lebten ständig im Qualm der Fabriken. Da der Wind überwiegend aus Westen kommt, sind diese Viertel und die Fabriken häufig im Osten der Stadt zu finden. Die gehobenen Schichten wohnten im Zentrum oder zogen in die neuen Randbezirke im Westen der Stadt, wo der (West-)wind frische Luft und nicht Fabrikqualm mit sich führte. 68 Teil 1 1750-1850 3. Kraft und Bewegung 69 Die Folgen wurden unmittelbar deutlich. Viele Arbeiterkinder bekamen durch den Mangel an Sonnenlicht, und damit an Vitamin D, Rachitis, die englische Krankheit. Ansteckende Krankheiten entwickelten sich leicht zu Epidemien. Die Choleraepidemie von 1832 trieb insbesondere in den Arbeitervierteln ihr Unwesen. Im Vergleich zum Land war die Lebenserwartung der städtischen arbeitenden Klassen wesentlich kürzer. Dies war zu einem erheblichen Teil eine Folge der Säuglingssterblichkeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sank die Lebenserwartung weiter, was darauf hindeutet, dass sich die Lebensumstände weiter verschlechterten. In Manchester und Liverpool wurden die niedrigsten Werte erzielt: in den 1840er Jahren durchschnittlich 27,5 Jahre. Der Landesdurchschnitt lag in Großbritannien damals ca. 14 Jahre höher. Erst um 1880 sollte die Lebenserwartung in den englischen Großstädten auf 40 Jahre und mehr steigen. Die niedrige Lebenserwartung ging einher mit einer Verringerung der durchschnittlichen Körperlänge städtischer Arbeiter. Beides deutet auf Unterernährung und Krankheitseinflüsse hin. Die Choieraepide-mie von 1832, die auch die wohlhabenden Stadtbewohner bedrohte, zwang die Regierung erstmals zum Handeln. Forschung und statistische Analyse zeigten, wie schlecht die Wohnsituation der Arbeiter war, und veranlassten Publizisten und Forscher wie Edwin Chadwick (1800-1890) dazu, auf staatliche Interventionen zu drängen. Der Public Health Act von 1848 war die Folge und ein erster Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren Reglementierung zum Wohle der öffentlichen Gesundheit. Proletarisierung Unter Landarbeitern, Kleinbauern und Leuten, die im handwerklichen Gewerbe arbeiteten, gab es viele, die gezwungenermaßen einer anderen Arbeit nachgingen. Landarbeiter zogen in die Stadt, um dort als Gelegenheitsarbeiter zu arbeiten oder einfache Funktionen in Fabriken zu erfüllen. Kleinbauern mussten sich häufig über Wasser halten, indem sie mit Lohnarbeit bei anderen Bauern oder in der Heimindustrie etwas dazu verdienten oder aber in Regionen zogen, in denen die Landwirtschaft mehr Zukunft hatte. Im handwerklichen Gewerbe gerieten Handwerksmeister und ihre Arbeiter durch die industrielle Produktion und neue Produktionstechniken in die Klemme. Die industrielle Revolution beschleunigte den Proletarisierungsprozess der Arbeiter und vieler Selbständiger. Ihre Perspektive eines freien Unternehmertums ging verloren und sie mussten von nun an ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt gegen Lohn verkaufen. Der Proletarisierungsprozess vergrößerte den freien Arbeitsmarkt, auf dem die Gesetze von Angebot und Nachfrage herrschten; er war eine Folge der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse in der Wirtschaft. In England begann dieser Prozess lange vor der industriellen Revolution. Er brachte eine Versachlichung der Arbeitsverhältnisse mit sich, was eine wichtige Voraussetzung für die fabrikmäßige Produktion in England war. Die rechtlich freien Arbeiter brauchten nicht mehr im Haus ihres Herrn zu wohnen und konnten entlassen werden, sobald sie nicht mehr benötigt ^rden. Während der Französischen Revolution wurden die vorindustriellen Regelungen auch in Frankreich abgeschafft, aber in den nicht von Napoleon besetzten mitteleuropäischen Ländern blieben sie noch bis weit ins 19. Jahrhundert in Kraft. Hier hatten Arbeiter Kost und Logis bei ihrem Herrn und unterstanden seiner Gerichtsbarkeit. In agrarischen Regionen mit Kleinbetrieben oder in Städten, wo es schwer war, genügend Dienstpersonal zu halten, überdauerten solche Regelungen noch das ganze 19. Jahrhundert. In Regionen und Städten, die unter kapitalistischen Einfluss gerieten (zum Beispiel in den großen Agrarbetrieben im Osten Deutschlands oder in den aufkommenden Industrien Sachsens) wurden sie jedoch abgeschwächt. Solange die Freiheit des im Hause wohnenden Personals gesetzlich begrenzt war, hatte der Hausherr oder die Zunft weiterhin das Entscheidungsrecht darüber, ob ein Geselle heiraten durfte. Normalerweise konnte er dies erst, nachdem er sich als selbständiger Meister niedergelassen hatte. So wurde es zur Gewohnheit, dass Handwerker sehr spät heirateten (vgl. Kapitel 2.3). Das änderte sich auch nicht, als Arbeiter vom Land in die Stadt zogen. Nach und nach ging deshalb in deutschen Städten zwar die Zahl derer zurück, die im Haus ihres Herren lebten, aber die Zahl unverheirateter Kostgänger, die in einer Arbeiterfamilie Kost und Logis hatten, oder anderer, die nur einen Schlafplatz suchten, stieg entsprechend. 1900 wurde mit der Einführung eines neuen bürgerlichen Gesetzbuchs auch juristisch die Unselbständigkeit des im Hause seines Herrn wohnenden Gesellen abgeschafft. Wo Arbeiter nicht mehr der Gewalt ihres Herrn unterstanden (in England, übrigens auch in den Niederlanden, war das schon vor der industriellen Revolution der Fall) und rechtlich frei waren, entstand die moderne Arbeiterfamilie (vgl. Kapitel 2.3), die für sich wohnte und juristisch unabhängig war. Sie lebte von der Lohnarbeit, wobei der Vater im Prinzip das Familieneinkommen verdiente, notfalls mit Unterstützung anderer Familienmitglieder, die alle ein eigenständiges Lohnarbeitsverhältnis mit einem Arbeitgeber hatten. Der Aufgabenbereich der Mutter und Töchter beschränkte sich weiterhin im Prinzip auf die Haushaltsführung, in erster Linie im eigenen Haus, aber auch als Arbeitsverhältnis im Haushalt anderer. Die industrielle Revolution bewirkte allerdings, dass die Ausbreitung der modernen Arbeiterfamilie nur stockend verlief. Die Lohnarbeit von Frauen und Kindern nahm enorm zu. Individualisierung von Lohnabhängigkeit Wir würden dem Aufkommen der modernen Arbeiterfamilie nicht gerecht, wenn wir es hierbei belassen würden. Zwei wichtige, langfristige Prozesse spielten nämlich :eine große Rolle. Zum einen verfiel die Rolle der Familie als Produktionseinheit in der städtischen Industrie schon seit dem 15. Jahrhundert. Zum andern entwickelte sich Lohnarbeit außerhalb des Hauses dort allmählich zur Männersache. Auf dem Land und vor allem in der Heimindustrie funktionierte die Familie hingegen noch lange als Produktionseinheit. Wenn die Heimindustrie dort in fabrikmäßige Produktion überging, bedeutete dies aber regelmäßig das Ende der Familienproduktion. In den neuen Fabriken wurden anfangs zwar noch ganze Familien eingestellt, aber damit war es bald zu Ende. Zwar stellten Unternehmer auch weiterhin gern mehrere Angehörige einer Familie ein, aber die bekamen nun eigene Arbeitsverträge. Auf diese Weise konnte der Betrieb die Familien in einer neuen Form an sich binden. Sie blieben eine beliebte Quelle neuer Arbeitskräfte, da der Unternehmer davon ausgehen konnte, dass Väter ihre Söhne gut erzogen und disziplinierten. So entstanden bei