1 Diplomarbeit Titel der Diplomarbeit: Die Ordnung der Affekte. Eine Annäherung an das Fundament der musikalischen Affektenlehre des 17./18. Jahrhunderts. Verfasserin Maria Fuchs Angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag. phil.) Wien, im März 2009 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 316 Studienrichtung lt. Studienblatt: Musikwissenschaft Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Manfred Angerer 2 3 Inhaltsverzeichnis Einleitung.................................................................................................................... 5 I. Methode der Archäologie...................................................................................... 11 I. 1. Der Diskurs ....................................................................................................... 11 I. 2. Regulierung von Diskursen............................................................................... 15 I. 3. Diskursive und Nichtdiskursive Praxis ............................................................. 18 I. 4. Die archäologische Analyse.............................................................................. 23 II. Die Ordnung der Dinge........................................................................................ 27 II. 1. Die Ordnung..................................................................................................... 28 II. 2. Die Ordnung der Renaissance.......................................................................... 32 II. 3. 1. Las Meninas................................................................................................. 37 II. 3. 2. Zur Theorie des Merkmals........................................................................... 45 II. 3. 2. 1. Mathesis, Taxinomia und Genese als festes Netz der Zusammengehörigkeit .............................................................................................. 47 II. 3. 2. 2. Die Naturgeschichte – eine Wissenschaft von Merkmalen ..................... 49 III. Der Affekt und seine Lehren .............................................................................. 53 III. 1. Begriffserklärung............................................................................................ 53 III. 2. Der Affekt und seine Lehren im philosophischen Diskurs und der Rhetorik. 54 III. 3. Der Affekt und seine Lehren im musiktheoretischen Diskurs ....................... 59 IV. René Descartes ................................................................................................... 63 IV. 1. Dualismus von Körpermaschine und denkender Seele. ................................. 63 IV. 2. Der Platz der Seele ......................................................................................... 66 IV. 3. Die Korpuskulare Wahrnehmungstheorie...................................................... 69 IV. 4. Die sechs Grundaffekte nach Descartes ......................................................... 71 IV. 5. Zusammenfassung.......................................................................................... 74 V. Exkurs: Über eine Geschichtsschreibung der Musikästhetik des 16. Jahrhunderts .................................................................................................................................. 77 V. 1. Kontext ............................................................................................................ 77 V. 2 . Relevante Ereignisse für die Gestaltungsprinzipien der Oper........................ 80 V. 2. 1 Die Monodie ................................................................................................. 81 V. 2. 2. Spezifische theoretische Überlegungen der Camerata Fiorentina............... 83 VI. Zur Klassifizierung der musikalischen Affektenlehre des 17./ 18. Jahrhunderts91 VI. 1. Kontext ........................................................................................................... 91 VI. 2. Physiologische Entstehung der Affekte mittels der Temperamentenlehre bei Athanasius Kircher ................................................................................................... 93 VI. 3 Zur Klassifizierung der Affekte bei Johann Mattheson .................................. 95 VI. 3 . 1. Zum Aspekt der Beziehung zwischen Rhetorik und Musik...................... 96 VI. 3. 2. Zum Aspekt der physiologischen Entstehung der Affekte......................... 97 VI. 4. Eine festgelegte musikalische Affektenlehre – ein Mythos? ......................... 99 Schluss.................................................................................................................... 103 Literatur .................................................................................................................. 105 4 5 Einleitung „Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“1 „Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“2 Die Motivation dieser Arbeit geht auf die Lektüre „Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle“ von Arlie Russell Hochschild zurück. In beeindruckender Manier zeigt Hochschild den Prozess der Ökonomisierung von Gefühlsdarstellungen in Dienstleistungsbranchen. Diesen Prozess untersucht sie vor allem hinsichtlich der hegemonial codierten geschlechterspezifischen Normen. Neben dieser Analyse der Emotionsarbeit3 widmet sie sich der Frage der Kontrolle und Regulierung von ‚eigenen‘ Gefühlen im Privatleben, den Gefühlsnormen (Feeling Rules). Bei der Untersuchung der sozialen Voraussetzungen für den ‚persönlichen‘ Umgang mit den ‚eigenen‘ Gefühlen stellt sie nun eine Diskrepanz fest. Sie sieht ein Spannungsverhältnis zwischen den Gefühlen, die von einer Person in einer bestimmten Situation erwartet werden und dem ‚eigentlichen‘ Gefühl, das sich der Gefühlsnorm widersetzt. Sie fragt also, wie wir den Wink erkennen, der uns an eine Gefühlsnorm erinnert. Demnach sind es bestimmte Situationen, die uns an entsprechende Reaktionen erinnern. Ein Beispiel: „Warum fühlst du dich so niedergeschlagen? Du hast gerade einen Preis 1 Foucault 1994b: 172 2 Mercier 2006: 29 3 Der Begriff „Emotionsarbeit“ wurde von Hochschild Ende der 1970er Jahre geprägt und bezeichnet eine bestimmte Form der Beziehungsarbeit, wobei die Emotionen als kalkulierbare Mittel eingesetzt werden. Vgl. dazu [Art.] Emotionsarbeit: http://de.wikipedia.org/wiki/Emotionsarbeit 6 gewonnen, den du schon immer haben wolltest?“4 Diese Frage fordert suggestiv eine Rechtfertigung. Das Exempel zeigt, dass das Niedergeschlagensein nicht der Situation entspricht und sich nach Hochschild also der Gefühlsnorm widersetzt, welche in der Frage gleichzeitig mitkonstituiert wird. Hochschilds empirische Forschungsergebnisse zeigen den sozialen Druck, der bedingt durch die Gefühlsnorm in konkreten Situationen entsteht. Die sozialen und kulturellen Veränderungen in Raum und Zeit bestimmen die jeweilige Gefühlsnorm. Der Affekt der Trauer beispielsweise ist, wie etwa bei einem Begräbnis, an einen bestimmten Ort und an einen bestimmten Zeitpunkt gekoppelt, woraus sich die Gefühlsnorm zusammensetzt und die ihr entsprechende Reaktion des Trauerns vorgibt. Kurz: Gefühlsnormen sind an ein allgemeines historisch veränderliches kulturelles Verständnis von Riten gebunden. Keine Trauer beim Begräbnis zu zeigen, wäre nach Hochschilds Analyse gleichsam ein Fehlverhalten. Ausgehend von diesen Umständen liegt mit „Das gekaufte Herz“ m. E. eine Lektüre vor, die auf eine diskursiv erzeugte Ordnung der Gefühle aufmerksam macht. Gleichsam eine Gefühlsnorm, die eine kontrollierende und regelnde Instanz inne hat und gleichzeitig ihre Attribution konstituiert. Es liegt eine Analyse vor, die in gewisser Weise auf eine gesellschaftlich erzeugte Sprache der Gefühle verweist, welche die Subjekte hervorbringt. Von diesen Überlegungen ausgehend folgen meinerseits unterschiedliche Fragestellungen die Musikpraxis bzw. Musikwissenschaft betreffend. Kann ein solches Ordnungsmodell der Gefühle innerhalb der Musik beobachtet werden? Gibt es eine musikalische Konzeption, die in gewisser Weise die Funktion einer Gefühlsnorm ausübt und demnach auf die vermeintlich subjektive wie individuelle Erfahrung von Musik einwirkt? Gibt es eine codierte Sprache der Musik, errichtet nach Maßstäben der menschlichen Affekte? Bei diesen und vielen weiteren Fragestellungen ist die Beschäftigung mit der musiktheoretischen Bestimmung der ‚musikalischen Affektenlehre‘ sehr naheliegend. Der Zusammenhang zwischen dem menschlichen Affekt und den Möglichkeiten seiner 4 Hochschild 2006: 73 7 Darstellung in der Musik wurde bereits in der griechischen Antike untersucht. Dieser musikalischen Konzeption der Affektdarstellung wird innerhalb der Wissenssysteme aller Zeiten nachgegangen. Die Bedeutungsmöglichkeiten der Affektdarstellungen sind an die zeitlichen wie räumlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geknüpft. Aufgrund zwei historischer Tatsachen, habe ich mich bei der Untersuchung der musikalischen Affektenlehre für den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts entschieden: Zum einen ragt in dieser Zeitspanne die musikalische Affektenlehre eklatant als Untersuchungsgegenstand im musiktheoretischen Diskurs heraus. Es wird die Möglichkeit der musikalischen Darstellung des Affektes auf seine Wirkung hin untersucht. Zum anderen kann festgehalten werden, dass ein genereller Rationalismus den Wissensapparat jener Zeit durchdringt. Dies bildet den Hintergrund für diese Arbeit. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Zeitraum, in dem Wissen mit einer vernunftgemäßen Absicht disponiert wurde. Allgemein formuliert lässt sich feststellen, dass sich im 17. und 18. Jahrhundert ein Wissensapparat in Form von geordneten Systematiken etabliert. Es handelt sich um den Prozess der Errichtung von Normen. Die musikalischen Lehren der Affekte, die in Form eines enzyklopädischen Wissens erscheinen, korrelieren mit der epochenspezifischen Wissensdisposition. Das Bedürfnis, musikalisches Material nach den Maßstäben der menschlichen Affekte in ein geordnetes Verhältnis zueinander zu bringen, ist ein beispielhaftes historisches Fragment der Denksysteme jener Zeit. Mit welcher Methode nähert man sich nun der Annahme an, dass die Etablierung einer musikalischen Affektenlehre (einer vermeintlich ‚unschuldigen‘ Tonsetzung‘) jenes Zeitraums gleichzeitig den Status einer regulierenden und kontrollierenden Gefühlsnorm erreicht? Eben jenen Status, durch den sie auf das ‚subjektive‘ Empfinden von Musik einwirkt. Die Frage des produktiv wirkenden Charakters von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf gesellschaftliche Vorstellungen und Wahrnehmungen sowie der Kodifizierung und Strukturierung derselben, werde ich mit Hilfe von Foucaults Diskursbegriff generell im I. Kapitel erörtern. Die musikalische Affektenlehre mit Foucaults Diskursbegriff gelesen 8 und gedacht kann als Gefühlsnorm einer musikalischen Konzeption interpretiert werden. Für die Methode habe ich Foucaults ‚Archäologie‘ herangezogen. Diese baut auf seinem komplexen Diskursbegriff auf und versucht, verkürzt gesagt, die untersuchten Schriften als gegebene und wirksame Ordnungen zu lesen. In der Arbeit versuche ich nach den Regeln der ‚Archäologie‘ zu verfahren, welche in Kapitel I. 4 kurz vorgestellt werden. Unter Berücksichtigung der Lektüre von Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ kommt der Etablierung musikalischer Affektenlehren in ihrer systematisierten Form eine fundamentalere Note hinzu, welche auch die eigentliche Kulisse für diese Arbeit darstellt. Foucault stellt darin fest, dass die Wissensdisposition jener Zeit durchzogen ist von einem generellen Willen zur Wahrheit, welchen er auf eine fundamentale gesellschaftliche „Ordnung in ihrem Sein selbst“5 zurückführt. Die Denk- und Wissenssysteme des 17./18. Jahrhunderts tauchen erst aufgrund ihrer epochenspezifischen gesellschaftlichen Konfiguration auf. Dieser These von Foucault wird im II. Kapitel ausführlich nachgegangen bzw. werden einige Grundzüge des Buches vorgestellt. In Kapitel III werde ich einen kurzen Einblick davon geben, in welcher Weise dem Affektbegriff und seinen Lehren seit der griechischen Antike auf die unterschiedlichste Art und Weise Bedeutung zugekommen ist. Das IV. Kapitel widmet sich ganz dem ‚Begründer‘ des rationalistischen Denkens. René Descartes ist in dieser Arbeit nicht wenig Aufmerksamkeit gewidmet, da seine Erkenntnisse, die auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung beruhen, von der Musiktheorie des 17./8. Jahrhunderts herangezogen werden. Hier wird kurz veranschaulicht, nach welchem Prinzip Descartes den menschlichen Körper mit seiner Verortung der Seele denkt, sowie auf den Erkenntnisprozess der menschlichen Wahrnehmung eingegangen. Und nicht zuletzt wird kurz Descartes‘ 5 Foucault 1971: 23 9 rationalistische Lehre der menschlichen Affekte, welche er in „Die Leidenschaften der Seele“ formuliert, dargestellt. Kapitel V dient gleichsam als Exkurs für die Beschreibung der musikalischen Affektenlehre des 17./18. Jahrhunderts. Dieses Kapitel erfährt eine zeitliche wie räumliche Einschränkung und wird einige musiktheoretische Überlegungen der ‚Camerata Fiorentina‘, einer Musikakademie in Florenz der Spätrenaissance, veranschaulichen. Die MusiktheoretikerInnen der ‚Camerata Fiorentina‘ behandeln vor allem das Verhältnis zwischen Musik und Wort. Ihre Überlegungen richten sich nach einer den affekthaltigen Textstellen adäquaten musikalischen Darstellung. Das Bedürfnis, musikalisches Material nach Maßstäben der menschlichen Affekte zu bestimmten, lässt sich bereits konkret bei den MusiktheoretikerInnen der ‚Camerata‘ beobachten. Die unterschiedlichen Theoreme haben zur Etablierung der musikalischen Affektenlehre des 17./18. Jahrhunderts, die explizit auf ihren Effekt hin systematisiert worden ist, beigetragen. In Kapitel VI schließlich werde ich die musikalische Lehre der Affekte anhand zweier Musiktheoretiker darstellen. Das Augenmerk liegt hierbei darauf, zu zeigen, in welcher Weise diese Lehren mit der allgemeinen Wissensdisposition des 17./18. Jahrhunderts korrespondieren. Das heißt, anhand der beiden Musiktheoretiker werde ich die nahe Verwandtschaft zu René Descartes‘ kausalbedingten Erkenntnissen exemplifizieren. Dieser Zusammenhang führt infolgedessen zum eigentlichen Hintergrund dieser Arbeit zurück: Das Bedürfnis, die Dinge und die Gegenstände zu rationalisieren, erscheint als epochenspezifisches Charakteristikum des 17./18. Jahrhunderts. Die Denk- und Wissenssysteme etablieren sich in systematisierter wie klassifizierter Form. Ihr Auftauchen geht jedoch auf eine fundamentale gesellschaftliche „Ordnung in ihrem Sein“ zurück. Michel Foucault schreibt in „Die Ordnung der Dinge“: 10 „Die fundamentale Aufgabe des klassischen ‚Diskurses‘ ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen. Während zweier Jahrhunderte bildete der abendländische Diskurs den Ort der Ontologie.“6 Diese Arbeit stellt einen Versuch dar, einen der musikalischen Affektenlehre inhärenten Ordnungsbegriff mit Hilfe von Foucaults‘ „Die Ordnung der Dinge“ herauszuarbeiten. Die Untersuchung betrifft in diesem Sinne einen Ordnungsbegriff, der den privilegierten Status der Norm inne hat und folglich auf die Subjekte und deren Leben einwirkt. Die Beschreibung der Erkenntnisprozesse des 17./18. Jahrhunderts verleiht dem historischen Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie eine Spur. 6 Foucault 1971: 164 11 I. Methode der Archäologie Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist mein Hauptbezugswerk für diese Arbeit die „Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften“7 von Michel Foucault. Ausgehend von drei Epochen der abendländischen Kultur, der Renaissance (16. Jahrhundert), dem klassischen Zeitalter (17. und 18. Jahrhundert), sowie der Moderne (seit der Mitte des 18. Jahrhunderts), beschreibt Foucault die Bedingungen und Regelmäßigkeiten der Denk- und Wissensformation der jeweiligen Epoche.8 Er selbst nennt seine wissenschaftliche Methode, die er in „OD“ anwendet, Archäologie: „Eher als um eine Geschichte im traditionellen Sinne des Wortes, handelt es sich um eine Archäologie.“9 Bei meiner Annäherung an das musikalische Material des 17./18. Jahrhunderts werde ich versuchen, gemäß den archäologischen Regeln zu verfahren. Bevor ich näher auf die Methode der Archäologie und ihre implizite Kritik an den Methoden der Humanwissenschaften und der traditionellen Geschichtsschreibung eingehe sollen im Folgenden ein paar von Foucault geprägte Begriffe vorgestellt werden, die die Motivation dieser Arbeit u.a. ausmachen. I. 1. Der Diskurs Die französische Bedeutung des Wortes discours ist schlicht ‚Rede‘. Dabei besitzt es noch nicht die terminologische Bedeutung des Wortes ‚Diskurs‘.10 Die gewöhnliche Bedeutung von ‚Rede‘ im alltäglichen Gebrauch überträgt Foucault für seine Gesellschaftsanalysen zu einer komplexen methodischen 7 Foucault 1971; Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich für diese Lektüre die Abkürzung „OD“ verwenden. 8 Siehe dazu Bublitz 1999: 225 9 Foucault 1971: 25 10 Vgl. dazu Schneider 2004: 89 12 Herangehensweise. Seine Methodik übernimmt Verfahren insbesondere aus dem Feld des französischen Strukturalismus und Neostrukturalismus (Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss), sowie aus dem Feld der Linguistik, der semiotischen Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Ethnologie.11 In „Die Archäologie des Wissens“12 erörtert Foucault ausführlich den Diskursbegriff und entwickelt darin ein wissenschaftliches Instrumentarium, das er dann auch als seine Methode der Archäologie bezeichnet.13 Ein zentraler Begriff darin ist die Aussage (énoncé). Die Aussagen reduziert er nicht nur auf Autoren, Werke und Absichten, sie sind vielmehr in einem Zusammenhang zu verstehen, einer Welt, die auch ohne Sprecher rekonstruierbar ist.14 Die Aussagen als Summe oder als Ensemble lassen sich nicht voneinander trennen, sie sind durch ein Bündel von Beziehungen miteinander verbunden und weisen eine diskursiv erzeugte Regelmäßigkeit auf.15 Ihr Verhältnis zueinander ist nicht im Gegenstand präsent, den sie hervorbringen, sondern ihm äußerlich. Die Aussagen platzieren sich in einem Feld der Äußerlichkeit. Foucault nennt die Beschreibung der Gesamtheit von Aussagen Positivität, die selbst die Realitätsbedingungen für Aussagen darstellt. „Eine Menge von Aussagen nicht als die geschlossene und übervolle Totalität einer Bedeutung zu beschreiben, sondern als eine lückenhafte und zerstückelte Figur; eine Menge von Aussagen nicht als in bezug zu einer Innerlichkeit einer Absicht, eines Gedankens oder eines Subjekts zu beschreiben, sondern gemäß der Streuung einer Äußerlichkeit; eine Menge 11 Siehe dazu Bublitz 1999: 82 12 Foucault 1973 13 Bereits in „OD“ ist seine wissenschaftliche Methode die der Archäologie. Foucaults Arbeit ist, wie Sushila Mesquita in ihrer Diplomarbeit „Identity Queer?“ erwähnt, als eine Art „work in progress“ zu verstehen. Vgl. dazu Mesquita 2003: 8. Die folgende Fußnote im Vorwort von „OD“ ist gemäß diesem Duktus nicht verwunderlich: „Die methodologischen Probleme, die eine solche Archäologie stellt, werden in einer folgenden Veröffentlichung untersucht.“ Foucault 1971: 25. Ich möchte an dieser Stelle schon vorwegnehmen, dass sich die Definition bestimmter Begriffe von Foucault nicht leicht gestaltet. Dies lässt sich, wie Mesquita beobachtet, dadurch begründen, dass Foucault meist selbst eine genaue Definition ablehnt (resultiert aus der ‚work in progress‘ Charakteristik). Aber er grenzt die Definitionen der Begriffe insofern ein als er sagt, was sie nicht bedeuten. Vgl. dazu Mesquita 2003:9 14 Vgl. dazu Schneider 2004: 91; 15 Vgl. dazu diskursive Formation, die Michel Foucault folgendermaßen beschreibt: „ In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelation, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat [...]“; Foucault 1973:58 13 von Aussagen zu beschreiben, nicht um darin den Augenblick oder die Spur des Ursprungs wiederzufinden, sondern die spezifischen Formen einer Häufung, bedeutet gewiß nicht das Hervorbringen einer Interpretation, die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten. Es bedeutet auch nicht die Entscheidung einer Rationalität oder das Durchlaufen einer Teleologie, sondern die Feststellung dessen, was ich gerne Positivität nennen würde.“16 Die Positivität von Aussagen (ein Ensemble oder eine gewisse Einheit von Aussagen) reduziert Foucault nicht nur auf die Intention und den Handlungsakt ausgehend von einer Subjektposition. Vielmehr formiert sich eine Menge von Aussagen zu einem Diskurs, den Foucault folgendermaßen definiert: „Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen und Verwendung man in der Geschichte signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann.“17 Diskurse sind immer in ihren historischen Kontexten zu begreifen. Das Auftauchen oder Verschwinden ihrer Existenzformen sucht Foucault weniger in einem geschichtlichen Verlauf, der gekennzeichnet ist durch Fortschritts- und Kontinuitätsdenken. Vielmehr begreift er den Diskurs als ein den Epochen spezifisches, historisches Ereignis, das jedoch an bestimmte Existenzbedingungen gekoppelt ist.18 Der Diskurs ist dann keine ideale und zeitlose Form mit einer eigenen Geschichte. Insofern erübrigt sich die Frage nach etwas prädiskursiv Vorhandenem, einer Originalität oder einer Ursprünglichkeit von Subjekten und Gegenständen, auf deren Basis eine ‚in sich wachsende‘ oder eine „sich 16 Foucault 1973: 182 17 Ebda., S. 170 18In „Die Ordnung des Diskurses“ spricht Michel Foucault von „Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses“, welche den Zufall eines Diskurses bändigen und zähmen. Das scheinbar unaufhörliche und ordnungslose „Rauschen des Diskurses“, die tiefsitzende Angst derselben in unserer Gesellschaft, kann nach Foucault überwunden werden, indem man die Bedingungen ihrer Erscheinung analysiert. Foucault 1991: 33, Vgl. dazu detaillierter auch Kapitel I. 2 14 selbsterklärende“ Geschichte zu entschlüsseln und aufzudecken wäre (wonach zu suchen es sich lohnt). „Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form, die obendrein eine Geschichte hätte. Das Problem besteht also nicht darin, sich zu fragen, wie und warum er zu diesem Zeitpunkt hat auftauchen und Gestalt annehmen können. Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit eher als sein plötzliches Auftauchen inmitten der Komplizitäten der Zeit."19 Wenn der Aussagenbereich nicht mehr auf ein Subjekt rekurrierbar ist, sein ‚Geist‘ nicht aus subjektiven Handlungen und Interessen hervorgeht, die Frage nach der Wurzel einer Aussage sich nicht stellt, worauf kommt es dann an? „Worauf es ankommt ist die Regularität der Aussage: kein Mittelwert, sondern eine Verteilungskurve“20 oder in Foucaults Worten: „es heißt den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren“21, der durch Regelmäßigkeit der Aussagen, die durch diskursive Formationen selbst definiert werden, in Erscheinung tritt. Michel Foucault fragt also, „wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle.“22 Mit der Bezeichnung Regularität einer Aussage wird deutlich, dass man in einen neuen Bereich gerät, nämlich in ein Aussagefeld, das durch bestimmte „Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung“23 gekennzeichnet ist. 19 Foucault 1973: 170 20 Deleuze 1987: 12 f. 21 Foucault 1973: 182 22 Ebda.; S. 42 23 Foucault 1991: 17 15 I. 2. Regulierung von Diskursen Michel Foucault interessiert sich also für den Mechanismus, der Kontrolle auf den Diskurs in seiner Erscheinungsweise ausübt und sich zugleich für seine Existenzbedingung verantwortlich zeigt, d.h., Foucault ist interessiert an den ausschlaggebenden Prozeduren die auf das Aussagefeld einwirken und bestimmen, was gesagt werden darf und was nicht gesagt werden darf beziehungsweise was sichtbar ist und was nicht in Erscheinung tritt. Hierbei differenziert er einerseits zwischen „internen Prozeduren“, mit denen die Diskurse ihre Kontrolle selbst ausüben und andererseits zwischen Mechanismen der Kontrolle von Diskursen, die quasi von außen einwirken. Die ‚internen Prozeduren‘ wirken gleichsam als Klassifikations-, Verteilungs- und Anordnungsprinzipien.24 Dabei unterscheidet er einerseits zwischen dem Kommentar, der die Fortdauer und den Status eines Textes gewährleistet, des Weiteren zwischen dem Autor25, der die Funktion einer stilistischen Einheit, eines bestimmten konstanten Wertniveaus und einer begrifflichen theoretischen Kohärenz inne hat. Und zuletzt nennt Foucault die Disziplin, die sozusagen das Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses darstellt. Sie entscheidet darüber, ob wissenschaftliche Formulierungen und Erkenntnisse als wahr oder falsch gelten: „Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven Polizei gehorcht, die man in jeden seiner Diskurse reaktivieren muß.“26 24Vgl. dazu Foucault 1991: 17 25 Vgl. dazu Michel Foucault, „Was ist ein Autor“. Darin behandelt er ausführlich die verschiedenen Merkmale einer Autorfunktion. Er zeigt, dass die Funktion des Autors nicht einheitlich und in derselben Weise auf alle Diskurse zu allen Zeiten wirkt. Sie ist stets mit einem rechtlichen und institutionellen System verknüpft. Ihre Zuschreibung ist an langfristige Prozeduren und komplexe, spezifische Verfahren geknüpft und zuletzt rekurriert sie nicht nur auf ein reales Individuum. Die Autorfunktion vollzieht sich in der Spannung zwischen Wirklichem und Fiktionalem (Erzählposition). Vgl. dazu Foucault 2001: 1015 ff 26 Als Beispiel führt er Mendel an, der mit seiner Entdeckung der Erbmerkmale nicht im „wahren“ Diskurs seiner Zeit war; seine Entdeckung entsprach nicht dem allgemein gültigen biologischen Diskurs seiner Zeit. „Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht im „Wahren“ des biologischen Diskurses seiner Epoche. [...] Mendel war ein wahres Monstrum.“ Foucault 1991: 25 16 Die Maschinerien der Ausschließung von Diskursen, die gewissermaßen von außen einwirken, sind auf eine institutionelle Basis (ein historisch veränderbares zwingendes System, das von außen wirkt) lokalisierbar. Sie funktionieren als Ausschließungssysteme, die den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren betreffen.27 Foucault nennt hierbei drei Mechanismen, die die Erscheinung des Diskurses regeln und beschränken. Als vertrauteste Prozedur der Ausschließung wäre das Verbot zu erwähnen: „Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alle beliebig reden kann.“28 Des weiteren nennt er die Verwerfung29, d.h. eine Grenzziehung zwischen der Vernunft und dem Wahnsinn: „Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinnige derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren kann wie der der andern: sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung“30 Als letzte Prozedur der Ausschließung, die seit Jahrhunderten auf die Diskurse einwirkt, welche auch effektiv die anderen beiden Ausschließungsmechanismen (das Verbot / den Wahnsinn) beeinflusst, welche sie in gewisser Weise ständig begründet und modifiziert, beobachtet er eine Grenzziehung zwischen dem Wahrem und dem Falschem, d.h. einen stillschweigend spürbaren Willen zur Wahrheit31 als 27 Ebda., S. 11 28 a. a. O., S. 11 29 Nach Foucault konstituiert sich jede gesellschaftliche Ordnung über Ausschlüsse – das konstitutive Außen. Jede diskursive und soziale Formation produziert ihr konstitutives Außen. Erst dadurch kann sie als ein umgrenztes Gebilde wahrnehmbar sein. Nach Laclau produziert jede soziale Formation ein konstitutives Außen, welches aber nicht zwangsläufig außerhalb des Sozialen liegt. Laclau fasst unter den Begriff des konstitutiven Außen eine diskursive Formation, eine Bedeutung, eine Identität, die sich als Einheit formieren, zusammen, „indem es den Kontext abschließt und als das erscheint, was nicht in den Kontext eintreten kann.“ Vgl. dazu Engel 2002: 110f Das konstitutive Außen bei Foucault wäre der Wahnsinnige, wodurch der Bereich des Sagbaren überhaupt erst möglich wird bzw. konstituiert wird. 30 Foucault 1991: 12 31 Den Willen zum Wissen an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert beschreibt Foucault als einen Willen zur Wahrheit, der „im Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte Ebenen von möglichen beobachtbaren, meßbaren, klassifizierbaren Gegenständen entwarf; ein Wille zum Wissen, der dem erkennenden Subjekt (gewissermaßen vor aller Erfahrung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und eine bestimmte Funktion (zu sehen anstatt zu lesen, zu verifizieren anstatt zu kommentieren) zuwies; ein Wille zum Wissen, der (in einem allgemeineren Sinn als irgendein technisches Instrument) das technische Niveau vorschrieb, auf dem allein die Erkenntnisse verifizierbar und nützlich sein konnten" (Foucault 1991: 15). Wie ich später zeigen werde, basiert dieser Wille zum Wissen an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert auf einer bestimmten Konfiguration der gesellschaftlichen Ordnung. Michel Foucault betont, dass der Wille zur Wahrheit als Ausschlussmechanismus am stärksten wirkt. Ihm ordnet sich gleichsam das Verbot 17 gesellschaftliche Praxis: „Der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.“32 Zusammenfassend stell Foucault fest: „Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille zur Wahrheit.“33 Als letzte Gruppe von Prozeduren, welche den Diskurs kontrollieren, nennt Foucault die Verknappung der sprechenden Subjekte. Es geht darum, die Bedingungen für das sprechende Subjekt innerhalb eines Diskurses aufzudecken, d.h. als Frage formuliert: Welche Qualifikationen muss das sprechende Subjekt erfüllen um überhaupt im Diskurs sprechen zu können? Dabei nennt er das Ritual, das als die oberflächlichste und sichtbarste Form des von außen wirkenden Einschränkungssystems zusammengefasst werden kann. Das Ritual bestimmt die Qualifikationen die das sprechende Subjekt erfüllen muss, sowie den Aussagetypus oder die Doktrinen, welchen die einzelnen Individuen unterworfen sind. „Die Doktrin bindet die Individuen an bestimmte Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle anderen“34, was gleichzeitig die Zusammengehörigkeit der sprechenden Subjekte innerhalb des aufdoktrierten Diskurses verstärkt. Die Zugehörigkeit zu einer Doktrin betrifft sowohl die Aussage als auch das sprechende Subjekt, die sich wechselseitig bestätigen und regulieren. Foucault stellt zusammenfassend fest: „Die Doktrin führt eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen.“35 An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass das Kontrollprinzip, das dem komplexen Spiel aller drei oben erwähnter Prozeduren der Ausschließung (alle drei oberhalb erwähnten) inhärent ist, sich nicht offenkundig als derjenige Faktor des Wortes, sowie der ‚Wahnsinnige‘ unter. Der Wille zur Wahrheit, der als gesellschaftliche Praxis bestimmt, was als wahr oder falsch gilt, bestimmt die Glaubwürdigkeit der Erkenntnisse der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen. Es wird sich zeigen, dass der Wille zur Wahrheit im ausgehenden 16. Jahrhundert den musikalischen Diskurs dominant geprägt hat. 32 Foucault 1991: 17 33 Ebda., S. 16 34 Ebda.; S. 29 35 a .a. O. S. 29 18 zeigt, welcher den Diskurs in seiner Erscheinungsweise und Existenzbedingung reguliert und konstituiert. Dieses komplexe Spiel der Kräfteverhältnisse, das auf die Diskurse einwirkt, bleibt stillschweigend als mächtige Figur in den Diskursen selbst verschleiert.36 I. 3. Diskursive und Nichtdiskursive Praxis Foucault verortet den Diskurs aber nicht mehr nur in der Sprache, von wo aus er konstituiert wird und gleichzeitig produktive Wirkung zeigt. Während der Strukturalismus die Aussagen auf das bloße Sprechen und die Sprache reduziert, nach sprachlichen Regelmäßigkeiten analysiert, erweitert Foucault diese Aussagen hin zu einer Praxis, worin die Aussage nicht mehr nur einen Gegenstand bezeichnet. Foucault verlagert den Diskursbegriff von der rein sprachlichen Ebene hin in das Feld der Praxis. Er schreibt dazu: „Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht mehr die Diskurse als Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte und Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.“37 36 An dieser Stelle möchte ich exemplarisch auf den ersten Band von Foucaults „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1“ hinweisen. Hierin bemerkt er, dass das Geständnis (in der Justiz, der Medizin, dem Alltagsleben, in der Liebe, in der Pädagogik etc.) „zu einer der höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion geworden ist.“ (Foucault 1977: 76) Darin erwähnt er, dass der Mensch zu einem sogenannten „Geständnistier“ geworden ist, d.h. das Begehren des Geständnisses, der Mitteilung der persönlichen Gedanken, ist gleichsam zu einer Verpflichtung geworden - eine Art allgemeiner Geständniszwang hat sich eingestellt. Dieser Zwang ist gleichsam ein Diskursritual, dass seine inhärente Macht zum Geständniszwang verschleiert. Im Zusammenhang mit der Sexualität erwähnt Foucault, dass seit der christlichen Buße der Sex das ist, was man gesteht, weil man es verbirgt. Aber das Verbergen der Sexualität, ihr Geheimnis, ist selbst zur Pflicht geworden, damit ihr Geständnis umso wichtiger wird. „Und wenn er (der Sex) nun das wäre, was man in ganz besonderer Weise gesteht? Wenn die Pflicht ihn zu verbergen nur ein Aspekt der Pflicht wäre, ihn zu gestehen [...]?“; Foucault:1977: 79. Das Geständnis selbst übernimmt die Funktion der Matrix, welche die Produktion des wahren Diskurses über den Sex reguliert und ihren immanenten Machtcharakter verschleiert. 37 Foucault 1973: 74 19 Michel Foucault unterscheidet dabei zwischen der diskursiven und der nichtdiskursiven Praxis (das wären zum Beispiel architektonische Gebäude). Hannelore Bublitz bemerkt, dass Foucault interessanterweise einerseits diese begriffliche Unterscheidung unternimmt und andererseits, weil die beiden Begriffe in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen, die Trennung zwischen dem, was gesagt wird, und dem was getan wird, wiederum aufhebt. Hannlore Bublitz schlägt für die Analyse daher vor, Folgendes zu berücksichtigen: „Zwar werden analytisch zwei Arten von Praktiken unterschieden, zum einen als Aussageformation und Aussageformen, der Perzeption und der Wissensfelder, zum anderen als Milieuformationen, gesellschaftliche Felder, Institutionen, die sich aber in der gesellschaftlichen Praxis immer wechselseitig in einer Vielheit von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken durchdringen.“38 Für dieses Wechselverhältnis beider führt Gilles Deleuze ein anschauliches Beispiel an: „Eine Institution selbst beinhaltet Aussagen, beispielsweise eine Verfassung, eine Charta, Verträge, Inschriften und Verzeichnisse. Umgekehrt verweisen Aussagen auf ein institutionelles Milieu, ohne das weder die Objekte sich bilden könnten, die an bestimmten Stellen der Aussage auftauchen, noch das Subjekt, das von einem bestimmten Platz spricht.“39 Diese zwei Arten von Praktiken durchdringen einander als gesellschaftliche Praxis immer wieder wechselseitig. Eine Diskursanalyse wird in diesem Sinne beide ineinander verflochtenen und wirklichkeitskonstituierenden Praktiken berücksichtigen. Der Charakter des Diskurses verhält sich produktiv40, gemeint 38 Bublitz 1999: 90; Die analytische Unterscheidung zwischen diskursiver und nichtdiskursiver Praxis trägt Michel Foucault mit dem Begriff Dispositiv zusammen, sie werden dadurch nicht mehr klar unterschieden. 39 Deleuze zitiert nach Bublitz 1999: 92 40 An dieser Stelle ist Foucault Machtbegriff zu erwähnen, den er nicht nur negativ konnotiert. Vielmehr bewertet Foucault Macht positiv in dem Sinne, dass sie produktive Wirkung zeigt. Erst durch ein Strafverfahren beispielsweise wir das Subjekt konstituiert. Mit seinem Verständnis von Macht grenzt er sich von dem juridischen Ausgangspunkt der Macht ab, als eine Macht, die auf eine Zentrum oder eine Institution lokalisierbar wäre, von wo aus sie repressiv (durch Verbote) auf die Subjekte einwirkt. Unter Macht versteht Foucault weniger die „Regierungsmacht, als Gesamtheit der Institutionen und Apparate“ die die Ordnung einer 20 „ist hiermit die soziokulturelle Materialisierung von Gegenständen im Sinne eines Machteffekts.“41 Sein wirklichkeitskonstitutiver Charakter ist als ein komplexes Verhältnis zwischen dem diskursiven Feld der eigentlichen Aussagen und den nichtdiskursiven Praktiken (den institutionellen Milieus) zu betrachten. Der Diskurs tritt nicht nur in Form einer sprachlichen Äußerung zu Tage, sondern ist als eine „regulierte Praxis“ oder eine „Praxis von regulierten Aussagen“42 zu verstehen. Die „Streuung seiner Äußerlichkeit“ oder mit Deleuze‘ Worten gesprochen, seine Verteilungskurve manifestiert sich stillschweigend als gesellschaftliche Praxis, gemäß einer Regelmäßigkeit von Aussagen, die durch die diskursiven Formationen selbst definiert werden. Die diskursive Praxis beschreibt Foucault wie folgt: „[Diskursive Praxis ist] eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirklichkeitsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.“43 Ihre Wirkung zeigt sich in dem, was gesagt und was nicht gesagt werden darf, was sichtbar ist und was nicht sichtbar wird. Die Wirkung bestimmt auch die Norm und stellt die Gegenstände und Körper her, bedingt durch ihre „regulierte Praxis“ oder durch ihre „Praxis von regulierten Aussagen“. Von ihrer Materialität lässt sich feststellen, dass sie „die unkenntlich gewordene Wirkung der Gesellschaft herstellt, noch die „Unterwerfungsart, die im Gegensatz von Gewalt in Form von der Regel auftritt […].“ Vgl. dazu Foucault 1977: 93 Zunächst versteht Foucault unter Macht: „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet unaufhörlich bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten - oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern." Vgl. dazu Foucault 1977:93 Nach Foucault ist also Macht allgegenwärtig (Familien, einzelne Gruppen etc.) und betrifft somit den ganzen Gesellschaftskörper. So wie die Macht allgegenwärtig ist, ist es auch ihr Widerstand – „das nicht wegzudenkende Gegenüber“ –in einer Unregelmäßigkeit gestreut und nie außerhalb der Macht zu denken. „Die Widerstandspunkte, -knoten und –herde sind mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt […].“ Vgl. dazu Foucault 1977: 96 41 Bublitz 1999: 103 42 Foucault zitiert nach Bublitz 1999: 95 43 Foucault 1973: 170 f 21 Macht“44beinhaltet. Die Trennung, die Michel Foucault zwischen Gesagtem und Ungesagtem eingeführt hat, die sich für die Formation von Diskursen verantwortlich zeigt, trägt er später mit dem Begriff des Dispositivs45 zusammen, das "(...) Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt (...)."46 Ein zentrales Interesse dieser Arbeit liegt darin, zu zeigen, dass die sozialen Wirklichkeiten – mittels diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken hervorgebracht – auch immer an räumliche und zeitliche Bedingungen gekoppelt sind. In „OD“ zeigt Foucault, dass die Dispositive einer bestimmten Epoche (in dieser Arbeit zentral jene des 17. und 18. Jahrhunderts) erst aufgrund einer spezifischen Konfiguration erscheinen. Kurz gesagt, die Positivitätsformen gehorchen einer fundamentalen epochenspezifischen Ordnung. Diese Arbeit widmet sich dem musiktheoretischen Diskurs in der Klassik, der sich die Aufgabe gestellt hat, das kompositorische Material nach Maßstäben der menschlichen Affekte zu ordnen. Ein Diskurs, der innerhalb der gesellschaftlichen Praxis in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck gekommen ist. Ein Macht-WissensKomplex über die Wirkung musikalischen Materials auf die Seele erscheint als charakteristisches Dispositiv jener Zeit. Das auffallende Bedürfnis der Formalisierung einer musikalischen Lehre der Affekte lässt soziale Einrichtungen, wie ein öffentlich zugängliches Opernhaus und seine inhärenten Ausdrucksformen, als Konsequenz erscheinen bzw. wird der wissenschaftliche Diskurs von der Musikpraxis mitkonstituiert.47 Der Wille, kompositorisches 44 Butler zitiert nach Bublitz 1999: 104 45 Suhila Mesquita weist in ihrer Diplomarbeit darauf hin, dass der Begriff des Dispositivs bei Michel Foucault mehr oder weniger mit dem Diskursbegriff von Jaques Derrida und Judith Butler korrespondiert. Beide, Derrida und Butler, sehen durch ihr weit gefasstes Verständnis von Sprache, kein Außerhalb des Bereichs des Diskursiven vor. Foucaults Unterscheidung zwischen diskursiver und nichtdiskursiver Praxis wird von beiden nicht beibehalten; Siehe dazu Mesquita2003: 8. 46 Foucault 1978: 118 47 An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass mit der Systematisierung des kompositorischen Materials auch die Bestimmungen der körperlichen Darstellungsweisen einhergeht. Der einzelne Affekt wurde nicht nur musikalisch codiert, sondern auch mittels gestischer und mimischer Ausdrucksweisen bestimmt. Eine normierte Komposition der 22 Material in einer systematischen Ordnung zu bestimmen, zeigt sich nicht nur in wissenschaftlichen Traktaten, sondern bringt auch soziale Wirklichkeit hervor. Eine soziale Wirklichkeit, in der sich unterschiedliche Elemente der gesellschaftlichen Praxis - Rede, Bild, institutionelle Praktiken, Sprachtechniken, Körpertechniken und architektonische Formen48 - zu einer Art Macht-Dispositiv verbunden haben. Zusammenfassend soll erwähnt sein, dass Michel Foucault den Diskursbegriff sowie die Methode der Archäologie in „OD“ noch nicht im selben komplexen methodischen Ausmaß anwendet, wie er es seit deren terminologischen Erörterungen in „AW“49 gemacht hat. Der Diskursbegriff in „OD“ ist noch kein explizit methodischer Begriff, er dient lediglich dazu, eine epochenspezifische Sprache zu charakterisieren. Die bereits dargestellte Definition des Diskursbegriffs, also seine umfassendere Charakteristik, wurde noch nicht in derselben Weise in „OD“ verwendet. Man könnte sagen, dass „OD“ eine archäologische Analyse des Wissens selbst ist.50 Nichtsdestotrotz erscheint es mir wichtig, die theoretische Erweiterung des Diskursbegriffs in dieser Arbeit vorzustellen, da sie zum einen für Foucaults späteres Werk von Bedeutung ist. Zum anderen ist meine Annäherung an die Musiktheorie der Klassik bereits von diesem methodisch erweiterten Begriff des Diskurses geprägt. Körperdarstellung auf der Bühne lässt sich beobachten. So wird der Affekt der Trauer beispielsweise nicht nur musikalisch entsprechend repräsentiert, sondern auch durch einen bestimmten Darstellungsstil. Beim Affekt der Trauer ziehen die PerformerInnen ein Taschentuch hervor, um diesen adäquat darzustellen. Die Haltung der Arme sollte bei der Darstellung des Schmerzes folgende Position einnehmen: „Häufig faltet man in diesem Affekt die Hände, die man entweder in die Höhe heben oder zur Hüfte hinabstrecken pflegt. In beiden Fällen ist zu beobachten, daß die gefalteten Hände zur Seite, zur rechten oder linken, wie es gerade kommt, gestreckt, nicht aber mitten vor dem Körper belassen werden.“ Lang zit. nach Marx 1987: 129 48 Bublitz 1999: 285 49 „Die Archäologie des Wissens“, Foucault 1973 50 Vgl. dazu Foucault 1971: 111 23 I. 4. Die archäologische Analyse Wie ich bereits erwähnt habe, liegt das Hauptinteresse dieser Arbeit darin, den Aspekt der Rationalisierung kompositorischen Materials hervorzukehren. Dabei werde ich versuchen methodisch nach Foucaults Archäologie zu verfahren und den Diskurs über die menschlichen Affekte hinsichtlich der spezifischen historischen, gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die Foucault in „OD“ herausarbeitet, zu interpretieren. Worin besteht also die Aufgabe der Archäologin und des Archäologen? Was will eine archäologische Analyse feststellen? „Sie [die Archäologie] will allein die Regelmäßigkeit der Aussagen feststellen.“51 Die Aufgabe der archäologischen Analyse besteht darin, die Diskursformationen einer bestimmten Zeit offen zu legen. Dadurch kann die Archäologin/der Archäologe sichtbar machen, mit welcher epochenspezifischen Ordnung, mit welcher geographisch lokalisierbaren sozialen Gemeinschaft man es zu tun hat. Im Vorwort der deutschen und englischen Ausgabe von „OD“ schreibt Foucault, dass er seine Untersuchung weder „vom Standpunkt des sprechenden Individuums aus“, noch „vom Standpunkt formaler Strukturen aus“ unternehme, sondern „vom Standpunkt der Regeln, die nur durch die Existenz solchen Diskurses ins Spiel kommen.“52 Michel Foucault fragt also: „Welche Bedingungen hatte Linné (oder Petty oder Arnauld) zu erfüllen, um seinen Diskurs nicht nur kohärent und im Allgemeinen wahr zu machen, sondern ihm zu der Zeit, in der er geschrieben und aufgenommen wurde, Wert und praktische Anwendung als wissenschaftlichem Diskurs – oder, genauer, als naturgeschichtlichem, ökonomischem oder grammatischem Diskurs zu geben?“53 Die Gesamtheit der Regelmäßigkeiten für die Möglichkeit des Ausdrucks54 einer bestimmten Epoche – gleichsam ihren Konfigurationsmodus – bezeichnet 51 Foucault zitiert nach Deleuze 1987: 13 52 Foucault 1971: 15 53 a. a. O. S. 15 54 Der Ausdruck subsumiert nach Michel Foucault nicht nur die Summe aller Texte oder Dokumente einer Kultur, sondern er erscheint durch ein Spiel von Beziehungen, die die diskursive 24 Foucault mit dem Begriff der Episteme.55 Ein Modus, der sich als fundamentaler Raster historischer Denk- und Wissensformationen unter den Dingen niederschlägt: „Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen.“56 Die Archäologie wird demnach versuchen, das allgemeine Denksystem einer bestimmten Epoche zu rekonstruieren, „dessen Raster ein Spiel gleichzeitiger und offensichtlich kontradiktorischer Meinungen möglich macht. Dieser Raster definiert die Bedingungen der Möglichkeit für eine Auseinandersetzung oder ein Problem, er selbst ist Träger der Historizität des Wissens.“57 Die Archäologie analysiert die Positivitätsform einer bestimmten Epoche an der Oberfläche. Sie könnte als Oberflächenbeschreibung bezeichnet werden. Sie versucht, die Dinge, Meinungen, Texte etc. so zu nehmen wie sie im Diskurs auftreten – explizit Diskurse als in den Epochen spezifische Praxen zu beschreiben. Die archäologische Analyse kann in dem Sinne als ein kritisches Gegenprogramm zur traditionellen Geschichtsschreibung, wie sie Foucault bezeichnet, verstanden werden. Sie kritisiert des Weiteren die methodischen Verfahren der Humanwissenschaften mit ihrem anthropologischen Diskurs, wie er seit dem 18. Jahrhundert geführt wird. Ein methodisches Ziel der Archäologie besteht u. a. darin, das Prinzip der Kausalitätserklärung (wie es in den Humanwissenschaften praktiziert wird) durch eine bloße Beschreibung der Oberfläche zu ersetzen. Wenn das anthropologische Denken „nach dem Sein des Menschen oder seiner Ebene charakterisieren. Der Ausdruck einer bestimmten Epoche erscheint in diesem Sinne aber nicht zufällig, sondern gemäß einer bestimmten Regelmäßigkeit, die seine Erscheinung reguliert. Vgl. dazu Foucault 1971: 187. 55 Hannelore Bublitz weist darauf hin, dass der Begriff der Episteme hauptsächlich in „Die Ordnung der Dinge“ verwendet wurde. Später, in „Die Archäologie des Wissens“, bezeichnet Foucault den Begriff der Episteme mit dem Begriff des historischen Apriori. Johannes Ulrich Schneider weist ebenso in seiner Einführung über Foucault darauf hin, dass das historische Apriori erstmals in „Die Ordnung der Dinge“ auftaucht; der Begriff ist stellvertretend für den „konkreten Apriori“, beziehungsweise fungiert das historische Apriori als dessen Ablösung. „Ich will damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingungen für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist“ (Foucault 1971: 184). Weil mein Bezugswerk für diese Arbeit „Die Ordnung der Dinge“ ist, werde ich den Begriff Episteme für die Bezeichnung von den Regelmäßigkeiten und Bedingungen für Aussagen zu einer bestimmten Zeit und geographischen sozialen Gemeinschaft verwenden. Die Episteme ist auch quasi das Archiv, mit welchem sich der Archäologe/die Archäologin auseinandersetzt. Vgl. dazu Bublitz 1999: 80, Schneider 2004 56 Foucault 1971: 22 57 Ebda., S. 111 25 Subjektivität“ fragt, wird die archäologische Analyse „das schon Gesagte auf dem Niveau seiner Existenz“ befragen. Auf diese Weise können die Archäologin und der Archäologe eine Ontologisierung, eine Feststellung einer spezifischen Art von Individualität überwinden. Die archäologische Analyse wird die Aussagen nicht von dem Standpunkt aus befragen, welcher Intention eine bestimmte Aussage entsprungen ist. Es sind die Diskurstatsachen und ihre Realitätsbedingungen im allgemeinen Element des Archivs einer bestimmten Epoche, mit denen sich die archäologische Analyse auseinandersetzt.58 Sie wird versuchen, eine epochenspezifische Praxis zu rekonstruieren, eine Praxis, die eine Vielfalt von Aussagen wie regelmäßige Ereignisse auftauchen lässt. Die Rekonstruktion eines Archivs beinhaltet aber auch immer die Tatsache, wie Foucault kritisch bemerkt, dass es nie vollständig rekonstruierbar ist59, sondern es lässt sich vielmehr in seinen Fragmenten, Gebieten und Elementen gut beschreiben. Dieser Aspekt unterstreicht Foucaults Kritik an der traditionellen Geschichtsschreibung, die durch ihren Fortschritts und Kontinuitätsglauben von Geschichte charakterisierbar wäre und er verwirft zugleich die Annahme eines vergessenen, zu rekonstruierenden Ursprungs. Die Rekonstruktion eines Archivs bedeutet in diesem Sinne, das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“ zu beschreiben.60 An anderer Stelle bezeichnet Foucault das Archiv als „das System ihres Funktionierens.“61 Das Archiv bildet demnach den allgemeinen Hintergrund für die diskursiven Formationen, das Erscheinungsfeld bestimmter Positivitätsformen sowie ein bestimmtes Aussagefeld. Das Herausfiltern des Archivs, als Regulativ aller möglichen Aussagen, einer Epoche, einer Kultur und einer Gesellschaft, wird weniger ontologische Wahrheiten entstehen lassen, als vielmehr genau jene rekonstruieren62, d.h. Foucault rekonstruiert sie in einem historischen Diskurs. Die archäologische Analyse fragt demnach nicht, ob Linné oder Buffon die Wahrheit sagten, sondern, ob sie von derselben Sache sprachen, indem sie sich 58 Vgl. dazu Schneider 2001: 87 59 Foucault schreibt dazu: „Das Archiv in seiner Totalität ist nicht beschreibbar.“ Vgl. dazu Foucault 1973: 189; 60 Ebda., S. 188 61 Foucault 1971: 188 62 Vgl. dazu Bublitz 1999: 102 26 auf dasselbe Niveau stellten oder in dieselbe Entfernung stellten. Für meine Arbeit besteht die Aufgabe als Archäologin nicht darin, festzustellen, ob ich die barocke Oper und das ihr inhärente klassifizierte musikalische Material für bedeutsam halte oder nicht. Ich sehe meine Aufgabe darin, dass ich eher an der Oberfläche das herausfiltere, was damals für bedeutsam gehalten wurde – ein historischer Diskurs, der selbst nie Gegenstand der Untersuchung war, sondern praktiziert wurde. Die Methode der Archäologie wird diese Aspekte befragen und aufzeigen. 27 II. Die Ordnung der Dinge „Die Ordnung ist zugleich das, was sich den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. Und nur in den weißen Feldern dieses Rasters manifestiert es sich in der Tiefe, als bereits vorhanden, als schweigend auf den Moment seiner Aussage Wartendes“63 In diesem Kapitel werde ich auf die wichtigsten Schlüsselfiguren aus „OD“ eingehen, die schließlich den Hintergrund für diese Arbeit darstellen. Ich werde im Folgenden die von Foucault konstatierte „nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen“64 der jeweiligen Epoche darstellen – das gesellschaftliche Fundament von dem die Positivitätsform der Äußerungen ausgeht. Das Bedürfnis der Klassifizierung des kompositorischen Materials ist, Foucaults Thesen folgend, auf einen epochenspezifischen Konfigurationsmodus zurückzuführen. Zunächst werde ich auf Foucaults leitgebendes Motiv für „OD“– die Ordnung – eingehen. Des Weiteren werde ich in Abgrenzung zur Klassik das ‚allgemeine‘ Denksystem der Renaissance skizzieren. Weiterführend werde ich ausführlicher Foucaults Bildinterpretation von Velazques’ „Las Meninas“ darstellen. Anhand dieser Interpretation veranschaulicht Foucault in besonderer Manier die Ordnung der Klassik. „Las Meninas“ fungiert gleichsam als Repräsentant der klassischen Episteme. Mit Hilfe der Interpretation zeigt Foucault dann auch den wirklich spannenden Aspekt von „OD“, nämlich, dass der Mensch als erkenntnistheoretisches Subjekt im klassischen Zeitalter noch nicht geboren war und erst mit dem anthropologischen Diskurs der Moderne in Erscheinung tritt. Schließlich werde ich näher auf die Klassifikationsmodelle der Naturgeschichte eingehen, wofür Foucault exemplarisch die Naturgeschichte (Botanik) heranzieht. 63 Foucault 1971:22 64 Ebda., S. 24 28 II. 1. Die Ordnung Über „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft“ könnte man ganz allgemein sagen, es geht um die „Wörter und Dinge“ (französischer Originaltitel: „Les mots et le choses“), beziehungsweise um ihr Verhältnis zueinander innerhalb eines selektierten Zeitraumes (16. Jahrhundert bis in die Gegenwart) der abendländischen Kultur. Dies wäre jedoch eine verkürzte Perspektive, gemessen an dem wissenschaftlichen Gehalt, welchen das Buch vorlegt. So erscheint der Titel der deutschen Übersetzung meines Erachtens aufschlussreicher, denn er weist bereits auf den im Buch so zentralen Begriff der Ordnung hin. Michel Foucault fragt also nach den epochenspezifischen gesellschaftlichen Ordnungen, die das Denken artikulieren. Er fragt, auf welchen Ordnungen das Denken beruht. Die Entstehung des Buches verdankt Foucault, wie er selbst in der Einleitung bemerkt, einem Text von Jorge Luis Borges, „Die analytische Sprache John Wilkins“.65 Darin stellt Borges eine Taxonomie von Säugetieren vor, die in einem ungewöhnlichen Nebeneinander auftreten. Die Tiere gruppieren sich in einem Verwandtschaftsverhältnis wie folgt: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.66 65 Vgl. dazu Jorge Luis Borges, „Die analytische Sprachen John Wilkins’“, in: Das eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966. John Wilkins (1614 – 1672) war Bischof von Chester und Autor. Ein bekanntes Werk ist u.a. “An essay towards a real character, and a philosophical language”, London, 1668, worauf sich Borges in seinem Essay bezieht. 66 Foucault 1971:17 29 Ausgehend von dieser, für unser Denken absurd anmutenden enzyklopädischen Einteilung fragt nun Michel Foucault, wie man in solchen Kategorien denken kann. Er führt den Gedanken weiter und fragt sich, welche Ordnungen das Denken artikuliert. Er kommt schließlich zur Frage: Nach welchen fundamentalen Codes ist eine Gesellschaft organisiert? Er schreibt dazu: [...] von welchem Boden aus können wir es [die Ähnlichkeit zwischen zwei Tieren] mit aller Gewißheit feststellen? Auf welchem Tisch, gemäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen, so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen? Man könnte sagen, dass das Interesse von „OD“ darin liegt, „die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweise“67 zu isolieren, auf dessen Fundament sich Wissens- und Denksysteme etablieren konnten, auf dessen Fundament wir denken und erfahren. Foucault stellt schließlich fest: „So gibt es zwischen dem bereits kodierten Blick und der reflektierenden Erkenntnis (der Philosophie) ein Mittelgebiet, das die Ordnung in ihrem Sein selbst befreit.“68 Nach Foucault ist diese „Mittel“- Region die fundamentalste, nämlich in dem Maße, indem sie die Seinsweise der Ordnung manifestiert. Sie wird „sich als die fundamentalste erweisen, als den Worten vorangehend, vor den Perzeptionen und Gesten liegend, die sie mit mehr oder weniger Genauigkeit oder Glück übersetzen sollen.“69 In „OD“ wird gleichsam eine Analyse des Wissens selbst dargestellt. Sie behandelt den Zeitraum vom 16. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert der abendländischen Kultur. Foucault grenzt drei Epochen70 voneinander ab. 67 Foucault 1971: 24 68 Ebda., S. 23; An dieser Stelle möchte auf einen wohlbemerkten Einwand von Dreyfuß / Rabinows hinweisen. Mit dieser ontologisierenden Darstellung eines quasi prä-diskursiven Ordnungsbegriffes, wie ihn Foucault gewissermaßen in „OD“ aufzieht, erweist sich Foucaults Kritik einer vermeintlich angenommen Ursprünglichkeit paradoxerweise als nicht konsequent. Einem Ursprungsgedanken, das wäre in „OD“ konkret die gesellschaftliche Ordnung in ihrem bloßen Sein, wird darin gewissermaßen nachgegangen. Auf diesen komplexen Diskussionspunkt werde ich in dieser Arbeit nicht näher eingehen. Er soll aber an dieser Stelle zumindest am Rande erwähnt sein. Meine Arbeit bezieht sich auch explizit auf „OD“ und ist ein Experiment, mit dem darin erarbeiteten Ordnungsbegriff zu arbeiten. 69 Ebda., S. 23f 70 Die zeitlichen Abgrenzungen, die Foucault angibt, sollen nach Foucault nicht als fixe Datierungen rezipiert werden. Die zeitlichen Grenzen sind leicht verschiebbar und als grobe Einteilung zu verstehen. 30 So arbeitet Foucault die epochenspezifischen Ordnungen heraus – spezifische Raster – die er als die ausschlaggebenden Bedingungen für die Erscheinung bestimmter Erkenntnisse und Theorien heranzieht. „Die Ordnung der Dinge“ gleichsam eine Geschichte des Denkens? Foucault schreibt dazu: „Es handelt sich eher um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um vielleicht bald sich wieder aufzulösen und zu vergehen.“71 Um dem Mythos einer immerzu fortschreitenden linearen Entwicklung der menschlichen Erkenntnisse zu entgehen (welche im gesellschaftlichen Gedächtnis tief verankert ist), liegt für Foucault die wesentliche Betonung auf den zwei großen Transformationen der Epochen, die er beschreibt. Foucault stellt schließlich fest: „Das heiß nicht, daß die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern daß die Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet, indem sie sie aufteilt.“72 Die erste Transformation datiert Foucault an der Wende von der Renaissance des 16. Jahrhunderts zum beginnenden 17. Jahrhundert. Der Renaissance ordnet er die Episteme der Ähnlichkeit zu, welches vom Denken der Repräsentation abgelöst wird, das wiederum von der Episteme der Moderne (Foucault datiert den Beginn der Moderne grob mit der französischen Aufklärung) und ihrem anthropologischen Denken abgelöst wird. Die Frage nach den Ursachen für die Veränderungen spezifischer Wissensdispositionen beantwortet Foucault in „OD“ nicht.73 Das Problem zur 71 Foucault 1973: 24 72 Foucault 1971: 25. Dieses Zitat beschreibt den Umbruch von der Klassik zur Moderne. 73 In einer Fußnote fügt Foucault hinzu, dass er sich dem Problem der Kausalität bereits in den früheren Büchern, „Wahnsinn und Gesellschaft“ und „Die Geburt der Klinik“ gewidmet hat. Vgl. Ebda., S. 14 31 Verifizierung eines Kausalitätsprinzips liegt nach Foucault darin, dass die zur Verfügung stehenden Methoden nie den Anspruch auf Endgültigkeit erfüllen können. Daher liegt ihm vielmehr daran, die Transformationen selbst zu beschreiben, denn „man weiß nicht, wie eine Artikulation, die so komplex und so vielfältig in der Komposition ist, wirklich vor sich geht.“74 Als ein weiteres Problem bei der Beschreibung der Transformationen innerhalb der Wissensdispositionen reflektiert er die Rolle des einzelnen Subjektes. Er wirft die Frage auf, ob die Rolle einer Wissenschaftlerin und eines Wissenschaftlers für den Fortschritt verantwortlich ist. Dem entgegen fragt er dann aber, ob nicht die WissenschaftlerInnen, die zur Mobilisierung einer Transformation beigetragen haben, selbst von epochenspezifischen Bedingungen bestimmt und beeindruckt worden sind. Diese Fragestellung führt Foucault letztlich wieder zu seinem leitgebenden Motiv seiner archäologischen Analyse und äußert sich über das Problem des Subjektes wie folgt: „Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne dann ist der (man könnte ihn ganz allgemein den phänomenologischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt. Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist.“75 Neben der Isolierung einer den Epochen spezifischen ‚Seinsweise‘ der Ordnung, auf deren Fundament sich der Raum des Wissens und der Erfahrung konstituiert, liegt das Hauptinteresse des Buches darin, zu zeigen, dass der Mensch als erkenntnistheoretisches Subjekt eine junge Erfindung ist. Der Mensch, so Michel Foucault, ist eine „einfache Falte“76 in unserem Wissen, er zählt noch keine zweihundert Jahre. Erst mit dem anthropologischen Denken der Moderne tritt der Mensch als Gegenstand der Wissenschaften in Erscheinung. Erst mit dem 74 a.a.O., S. 14; Vgl. auch Kapitel I. 4.: „Das Archiv in seiner Totalität ist nicht beschreibbar.“ Foucault 1973: 189 75 Foucault 1971: 15 76 Ebda., S. 27 32 Einbruch des anthropologischen Denkens wurde der Mensch als Subjekt und Objekt zugleich thematisiert. Eine Archäologie der Humanwissenschaften ist in diesem Sinne eine archäologische Analyse der Konzeption des Menschen (seit der Episteme der Moderne). Es ist dies eine Konzeption, worin der Mensch als Objekt und Subjekt der Erkenntnisse zugleich ein anthropologisches Wissen hat entstehen lassen und die infolgedessen die eigentliche Geburt des Menschen darstellt. Das Hauptanliegen von „OD“, nämlich die Episteme der Moderne mit ihrem anthropologischen Diskurs, worin der Mensch nun als Objekt und Subjekt zugleich Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung wird, wird in dieser Arbeit nicht vorgestellt. Mit dem anthropologischen Diskurs markiert Foucault die eigentliche Geburt des Menschen. Zentral für diese Arbeit ist die gesellschaftliche Ordnung des 17./18. Jahrhunderts in ihrem Sein, sowie die Wissenssysteme. II. 2. Die Ordnung der Renaissance Im 2. Kapitel des ersten Teils von „OD“ widmet sich Michel Foucault, verglichen mit den anderen beiden Epochen kurz und bündig (knappe 30 Seiten), der Renaissance und ihrer Wissensdisposition. Ich werde im folgenden Verlauf rasch den Hintergrund der Wissensdisposition des 16. Jahrhunderts skizzieren. Die zentrale Figur darin ist Gott. Gott hinterlässt Signaturen in den Dingen und spricht darüber zu den Menschen. Das Wissen ist nicht an den Menschen gebunden. Der Bezug zwischen den Dingen und der Welt wird von Gott determiniert. Der Mensch ist lediglich dazu da, um die Dinge, die von Gott über eine Signatur beschriftet werden, zu kommentieren. Der Mensch agiert im Nachhinein als Interpret der festgelegten Beziehungen zwischen den Dingen. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die von Gott festgelegten Signaturen in den Dingen offenzulegen. Foucault schreibt exemplarisch dazu: „Um zu wissen, daß der Eisenhut unsere Augenkrankheiten heilt, oder daß die im Mörser zerstampfte Nuß mit Weingeist unsere Kopfschmerzen heilt, 33 muß man durch ein Zeichen darauf aufmerksam gemacht werden. Ohne das bleibt dieses Geheimnis unendlich lange verborgen.“77 Die Kommunikation zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem basiert auf einem System der Ähnlichkeit (ressemblance). In diesem Ähnlichkeitsdenken, werden die unsichtbaren, geheimen Niederschriften der Welt ans Licht getragen. Die Natur spricht also über Signaturen zu den Menschen, aber „keine unter ihnen könnte bemerkt werden, wenn sie nicht sichtbar bezeichnet wären.“78 Die Markierungen auf den Dingen verweisen so in dem System der Ähnlichkeit aufeinander. Der Mensch erkennt nur, indem er den Wegen der Ähnlichkeiten folgt. Foucault führt das Ähnlichkeitsdenken exemplarisch anhand der Affinität von Nuss und Kopf weiter: „Die Wunden des Hirnschädels“ werden durch die dicke grüne Schale geheilt, die auf den Knochen – auf der Schale – der Frucht liegt, aber die inneren Kopfschmerzen werden durch den Kern selbst bekämpft, „der völlig wie das Gehirn aussieht.“ Das Zeichen der Affinität und was sie sichtbar macht, ist ganz einfach die Analogie.“79 Die Entzifferung erfolgt nach den Gesetzen Ähnlichkeit. Der Mensch ist erkennendes Subjekt. Der Erkenntnisprozess lässt sich wie folgt beschreiben: „Den Sinn zu suchen, heißt die Dinge zu entdecken, die ähnlich sind. Die Grammatik der Wesen ist ihre Exegese. Die Sprache, die sie sprechen, erzählt nichts anderes als die sie verbindende Syntax.“80 Die Falschheit einer Signatur wird in diesem System nicht hinterfragt. Das Wissen wird durch das Ähnlichkeitsdenken enzyklopädisch (aber noch nicht in eine Systematik gebracht) gesammelt. Die Dinge werden noch nicht klassifiziert wie später im klassischen Zeitalter, vielmehr wird „ein Reichtum von Zeichen, eine fröhlich wuchernde Hermeneutik“81 gestützt. Während der Mensch in der Antike Interpretationen liefert, muss sie der Mensch im 16. Jahrhundert nur noch 77 Foucault 1971: 56 78 Ebda. S. 59 79 Crollius zitiert nach Foucault 1971: 58 80 Ebda. S. 60 81 Schneider 2004: 71 34 sammeln. „Das Erbe der Antike ist wie die Natur ein weiter, zu interpretierender Raum. Hier wie dort muss man Zeichen sammeln und sie allmählich sprechen lassen.“82 Dieser Wissensdisposition ist die unendliche Kombinationsmöglichkeit, die unendliche Verkettung der Dinge eigen: „Die Ähnlichkeit erlegt Nachbarschaften auf, die ihrerseits Ähnlichkeiten garantieren. Ort und Ähnlichkeit verflechten sich: man sieht auf dem Rücken der Schalentiere Moose wachsen, im Geweih der Hirsche Pflanzen und eine Art Gräser auf dem Gesicht der Menschen; und indem er sie mischt, stellt der eigenartige Zoophyt die Eigenschaften nebeneinander, die ihn ebenso der Pflanze wie dem Tier ähnlich machen. So zahlreich sind die übereinstimmenden Zeichen.“83 Selbst die Sprache ergibt sich nur aus den Ähnlichkeiten, die zwischen den Dingen bestehen. „Die Signatur und das von ihr Bezeichnete sind von genau gleicher Natur, sie gehorchen nur einem unterschiedlichen Distributionsgesetz […] Bezeichnende Form und Bezeichnete Form sind Ähnlichkeiten, die nebeneinanderstehen.“84 Ein wichtiger Punkt in diesem Ordnungssystem ist, dass die Zeichen die an der Oberfläche als eine Art Text erscheinen, „selbst nur ein Spiel von Ähnlichkeiten“85 sind, welche „auf die unendliche, notwendig unvollendete Aufgabe, das Ähnliche zu erkennen“86 verweisen. Soll heißen: Es gibt in diesem Denksystem etwas, das nicht exponiert werden kann, es gibt unter all den sichtbaren Zeichen an der Oberfläche einen anderen Bereich, der nicht sichtbar gemacht werden kann und welcher stets ein unsagbares Geheimnis bleibt. Foucault schreibt dazu: „Man konnte aber die Ähnlichkeiten nur insoweit entdecken als eine Gesamtheit von Zeichen an ihrer Oberfläche den Text einer unumstößlichen Indikation bildete.“87 In diesem Sinne ist auch die Sprache versucht, „einen absolut ursprünglichen Diskurs wiederherzustellen“,88 den sie aber nicht exponieren kann. Sie kann ihn nur äußern, indem sie den Weg der 82 Foucault 1971: 65 83 Foucault nimmt hierbei Bezug auf Aldrovandi, „Monstrum historia“, Foucault 1971: 47 84 Ebda. S. 60 85 Ebda. S. 70 86 Ebda. S. 74 87 a. a. O., S. 74 88 Ebda. S. 74 35 Ähnlichkeit geht, d.h. „indem sie versucht, über ihn ihm ähnliche Dinge zu sagen, und indem sie so bis ins Unendliche die nachbarschaftliche Treue und Ähnlichkeit der Interpretation entstehen lässt. Der Kommentar ähnelt unbegrenzt dem, was er kommentiert, und kann es nie äußern.“89 Foucault nennt exemplarisch die Hieroglyphen, die im 16. Jahrhundert noch nicht entziffert sind: „Die Ähnlichkeit war die unsichtbare Form dessen, was aus der Tiefe der Welt die Dinge sichtbar machte. Damit aber jene Form ihrerseits bis zum Licht kommt, muß eine sichtbare Gestalt sie aus ihrer tiefen Unsichtbarkeit zerren. Deshalb ist das Gesicht der Welt mit Wappen, Charakteren, Chiffren, dunklen Worten oder, wie Turner sagte, mit ‚Hieroglyphen‘ überdeckt. Der Raum der unmittelbaren Ähnlichkeiten wird zu einem großen, offenen Buch.“90 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das methodische Verfahren dieser Epoche der Kommentar ist. Der Kommentar selbst ist dabei eine Sprache, die sich durch die Ähnlichkeiten, die zwischen den Dingen bestehen, ergibt. Das Denkund Wissenssystem erhebt sich auf dem integralen Element der Ähnlichkeit, wodurch die Verbindung zwischen den Zeichen und den Dingen gesichert wird. Der Mensch erkennt nur, indem der dem Weg der Ähnlichkeiten folgt und in den Dingen das sieht, was sie bezeichnen. Auf diesem Weg tritt die Ähnlichkeit selbst zu Tage. Foucault schreibt über die Bestimmung der Wissensdisposition des 16. Jahrhunderts wie folgt: „Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat die Ähnlichkeit im Denken (savoir) der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt. Sie hat zu einem großen Teil die Exegese und Interpretation der Texte geleitet, das Spiel der Symbole organisiert, die Erkenntnis der sichtbaren und unsichtbaren Dinge gestattet und die Kunst ihrer Repräsentation bestimmt. Die Welt drehte sich in sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten.“91 89 a. a. O., S. 74 90 Ebda. S 57 91 Ebda. S. 46 36 37 II. 3. 1. Las Meninas „Las Meninas“ (Das Hoffräulein) von Diego Velázques (1656). Das Bild des spanischen Malers Diego Velázquez hängt im Museo del Prado in Madrid. Von diesem Bild ausgehend, entwickelt Michel Foucault im 1. Kapitel von „Die Ordnung der Dinge“ seine Repräsentationsthese (für die klassische Episteme) und zeigt anhand seiner Bildinterpretation, dass der Mensch als erkenntnistheoretisches Subjekt noch nicht existiert. Dieses Bild fungiert quasi als Aufhänger des gesamten Buches. In späteren Kapiteln, worin er die Episteme der Moderne beschreibt, greift Foucault erneut auf „Las Meninas“ zurück, um die ‚Geburt‘ des Menschen vorzuführen. Dieselbe Bildinterpretation wurde bereits 1965 publiziert. Foucault entschied sich dazu, eine gekürzte Fassung derselben in „OD“ abzudrucken.92 92 Vgl. dazu Schneider 2004: 70 38 Eine kurze Bildbeschreibung: „Die Überlieferung erkennt Dona Maria Agustina Sarmiento, dann Niento, dann Nicolaso Pertusato, einen italienischen Komödianten. Man braucht nur noch hinzuzufügen, daß die beiden dem Maler als Modell dienenden Personen nicht, wenigstens nicht direkt sichtbar sind, daß man sie aber in einem Spiegel bemerken kann, und es sich wahrscheinlich um König Philipp IV. und seine Frau Marianna handelt.“93 Die namentliche Erkennung oder die Identifikation bestimmter historischer Herrschaftsfiguren sowie das Kunstwerk selbst sind für Foucaults Exegese weniger von Bedeutung. Die Bildinterpretation von „Las Meninas“ benutzt er vielmehr als Illustration für seine Überlegungen, die eher Wissenssysteme betreffen.94 Das Gemälde zeigt eine königliche Zeremonie, wobei der/die HauptprotagonistIn verborgen bleibt. Zunächst sieht man einen Maler, der ein Gemälde malt und im Zentrum des Bildes die Infantin, „inmitten der Schar aus Höflingen, Hofdamen, Tieren und Komödianten.“95 Die Leinwand, die links am Bild zu sehen ist, verdeckt das Modell, das der Maler malt. Im ersten Augenblick scheint der/die BetrachterIn das gesamte Geschehen des Bildes zu erfassen, ohne aber auf das Portrait des Gemäldes blicken zu können. Man sieht nur die Rückseite einer Leinwand, und den Maler vor ihr. Aber schon bald weiß man, was sich dahinter verbirgt, was der Maler auf die Leinwand pinselt. Der Spiegel an der hinteren Wand verrät die Modelle – den König und die Königin (sie bilden das Zentrum der Repräsentation). Darüber hinaus registriert man einen Mann, in einem Korridor stehend, der durch die offene Tür zu sehen ist. „Vielleicht wird er in das Zimmer eintreten, vielleicht beschränkt er sich darauf, zu betrachten, zu beobachten, ohne beobachtet zu werden. Wie der Spiegel fixiert er das Innere der Szene.“96 Zahlreiche Verweise auf Abwesendes interpretiert Foucault anhand des Bildes. Zum einen bleibt den BetrachterInnen des Bildes der Blick des Malers, der auf einen Gegenstand zielt, verborgen. Im Vordergrund sieht man die Rückwand eines entstehenden Gemäldes, aber: 93 Foucault 1971: 37 94 Vgl. dazu Schneider 2004: 70 95 Foucault 1971:42 96 Ebda., S. 39 39 „Indes, er (der Spiegel) zeigt nichts von dem, was auf dem Gemälde zusehen ist. Sein unbeweglicher Blick wird vor dem Bild, in jenem notwendig unsichtbaren Gebiet, das sein äußeres Gesicht bildet, die dort befindlichen Personen erfassen. Statt sich um die sichtbaren Dinge zu drehen, durchquert der Spiegel das ganze Feld der Repräsentation und vernachlässigt das, was er darin erfassen könnte, stellt die Sichtbarkeit dessen wieder her, was außerhalb der Zugänglichkeit jedes Blickes bleibt. [...] Was in ihm reflektiert wird, ist das, was alle Personen auf der Leinwand gerade fixieren, indem sie den Blick starr vor sich richten; also das, was man sehen könnte, wenn die Leinwand sich nach vorn verlängerte, tiefer hinabreichte, bis sie die Personen miteinbezöge, die dem Maler als Modell dienen.“97 Gedanklich zeichnet Foucault für seine Interpretation eine Kurve im Bild, die von der Rückseite der Leinwand ausgehend (rechts) über die Infantin, von dieser hin zum spielenden Zwerg an der äußeren rechten Seite des Bildes verläuft. Diese Anordnung ist nach dem Blick des Königpaares gerichtet, daher nimmt es eine zentrale Stellung der Bildkomposition ein. „Der Platz des Königs“98 fungiert gleichsam als symbolischer Ort der Souveränität.99 Dieser Standort ist gleichzeitig der des realen Malers Velázques sowie der einer jeden Betrachterin, eines jeden Betrachters von „Las Meninas“. „Diese drei ‚betrachtenden‘ Funktionen vermischen sich in einem dem Bild äußeren Punkt: in einem idealen Punkt, in Beziehung zu dem, was repräsentiert wird, der aber völlig real ist, da von ihm ausgehend die Repräsentation möglich ist.“100 Foucault stellt nun fest, dass Velázques diesen symbolischen Ort, in dem Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetes zusammenfallen, nur mittels einer Aufspaltung darstellen kann: „Indessen wird diese Realität ins Innere des Bildes projiziert – projiziert und in drei Gestalten zerbrochen, die den drei Funktionen dieses idealen und realen Punktes entsprechen. Dies sind links der Maler mit seiner Palette in der Hand (Selbstportrait des Malers des Bildes); rechts der Besucher, einen Fuß auf der Stufe und bereit, in das Zimmer einzutreten, der die ganze Szene von hinten betrachtet, aber das königliche Paar von vorne sieht, das 97 Ebda., S. 36 98 Vgl. dazu Kapitel 9. 2. „Der Platz des Königs“, Ebda., S. 327ff 99 Vgl. dazu Klammer 1986: 45 100 Foucault 1971: 44 40 das Schauspiel selbst bildet; schließlich im Zentrum das Spiegelbild des Königs und der Königin, die geschmückt, unbeweglich, in der Haltung geduldiger Modelle verharren. Dieses Spiegelbild zeigt naiv und im Schatten, was jedermann im Vordergrund betrachtet.“101 In welcher Weise tritt uns nun die klassische Episteme in „Las Meninas“ entgegen? In welcher Weise zeigt sich das Repräsentationsdenken? Drei entscheidende Punkte ergeben sich für Foucault: 1. Das Subjekt, das beobachtet (also wir als BetrachterInnen) nimmt die Funktion des beobachtenden Mannes im hinteren Korridor ein. Er selbst bleibt für die restlichen Figuren (im Bild) unsichtbar, wie auch wir als ZuschauerInnen unsichtbar bleiben. 2. Die Modelle, die unsichtbar sind, werden durch den Spiegel reflektiert. Der Gegenstand des Bildes im Bild liegt als Gegenstand außerhalb des Bildes und wird durch den Spiegel repräsentiert. Das Königspaar gliedert sich in gespiegelter Form in das gesamte Repräsentationssystem ein. 3. Der Maler, der das Bild gemalt hat – Velázquez – nimmt gleichzeitig die Figur des Malers im Bild an. Die Repräsentation oder die RepräsentantInnen zeigen sich indirekt durch das Spiegelbild. An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass das Repräsentationsdenken stark an die Wahrnehmung des Sehens geknüpft ist.102 Das Spiegelbild und das Sehen sind hier eine Metaphorik für die Ordnung. Die Realität und das, was wir sehen, sind identisch: Der Maler hat den Auftrag, ein Bild für das Königshaus zu malen. Die Repräsentation ist in jedem ihrer Momente repräsentiert: „Maler, Palette, große dunkle Fläche der Leinwand, an den Mauern befestigte Gemälde, betrachtende Zuschauer, die gleichzeitig von den sie Betrachtenden eingerahmt werden; schließlich im Zentrum, im Herzen der Repräsentation, 101 a. a. O., S. 44 102 Vgl. dazu auch Descartes‘ Theorie der Wahrnehmung, welche auf der Optik beruht. Die materielle Welt wird mit Hilfe von Lichtkorpuskeln als färbige Repräsentation auf der Netzhaut abgebildet. Vgl. dazu auch Foucaults Bemerkung, dass der Sehkraft gegenüber allen anderen Sinnen bei der Analyse ein exklusives Privileg eingeräumt wurde. Diderot zitiert nach Foucault Ebda., S. 174 41 dem am nächsten was essentiell ist, der Spiegel, der zeigt, was repräsentiert wird. [...].“103 Foucault zeigt mit seiner Interpretation des Bildes, dass das Wissen im klassischen Zeitalter im Raum eines Tableaus organisiert ist. Die einzelnen Subjektpositionen sind ineinander verstrickt, verwoben und durchkreuzen einander. Anhand der Figuren ist zunächst ein reziprokes Spiel von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten möglich: Der Platz des Königspaars, der sich vor dem Bild befindet, ist zugleich der Platz des Subjekts, das dieses Bild malt und dieses Repräsentationssystem entwirft (Velázquez). Zusätzlich wird gleichzeitig das malende Subjekt (Velázquez) im Bild selbst dargestellt, wie auch das Königspaar (Modelle des Malers), sowie alle BetrachterInnen, die auf die Szenerie blicken, einen Ort im Bild selbst finden (durch die Figur des Beobachters im Bild). Man kann sagen, dass die verschiedenen Blicke durch andere einlösbar sind, und diese sind gezielt an das Zentrum der Repräsentation gerichtet – das Königspaar, die RepräsentantInnen einer transparenten Ordnung. Dreyfus / Rabinow äußern sich dazu wie folgt: „Die Tätigkeit von Menschen bei der Erstellung des Tableaus konnte nicht repräsentiert werden; dafür gab es keinen Platz auf dem Tableau. Da doch ein reales Wesen dieses Tableau konstruierte, hätte es auch einen Platz für es geben müssen. Wohl gab es einen Platz für den menschlichen Erkennenden als ein in der göttlichen Hierarchie hochstehendes Vernunftwesen, aber nicht für den Repräsentierenden als solchen; für den Menschen als eine besondere und verschiedene Art von Wesen, als ordnendes Subjekt, fand sich kein Platz auf dem von ihm organisierten Tableau.“104 Foucault zeigt mit dieser Interpretation, dass Velázquez hier den Akt der Repräsentation selbst darstellt, aber nicht die Subjekte als solche.105 In „Las Meninas“ wird die Repräsentation selbst repräsentiert. Durch die Aufspaltung des idealen äußeren Punktes (der symbolische Ort der Repräsentation) in drei 103 Ebda., S. 372 104 Dreyfus/ Rabinow 1994: 47 105 Vgl. dazu Fink-Eitel 1989: 42; Foucault 1971: 45 42 Funktionen kann sich die „Repräsentation als reine Repräsentation geben“106. Wie kommt nun Foucault zu der These, dass der Mensch im klassischen Zeitalter noch nicht als erkenntnistheoretisches Subjekt existiert? Dadurch, dass die einzelnen Subjektpositionen andere miteinschließen, dadurch dass sie einander durchkreuzen, kommt es zum Verlust des Subjektes selbst: „Für wen im klassischen Denken die Repräsentation existiert und sich selbst in ihr repräsentiert, sich als Bild oder Reflex erkennt, alle überkreuzten Fäden der 'Repräsentation als Bild' verknüpft – der wird sich darin nie selbst finden. Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.“107 Sämtliche Bezüge werden in diesem System selber eingelöst und finden darin ihre Vertreter/ ihr Äquivalent.108 Das Repräsentationsdenken kennt in diesem Sinne kein Außen.109 Die Repräsentation selbst zeigt sich als transparentes Bild (Tableau). Das, was wir sehen, wird gleichsam repräsentiert. Souverän ist das Herrschaftspaar, um das sich die ganze Repräsentation ordnet, nicht unsichtbar, da durch das Spiegelbild präsent. „Ihnen steht man gegenüber, zu ihnen ist man gewandt, ihren Augen wird die Prinzessin in ihrem Festkleid präsentiert.“110 Der Spiegel sichert die Sichtbarkeit der Repräsentation. Die „Repräsentation als Bild“ (Tableau), die in „Las Meninas“ vorgeführt wird, illustriert nach Foucault gleichsam die Seinsweise der klassischen Episteme beziehungsweise die gesellschaftliche Ordnung in ihrem Sein: die Repräsentation. Repräsentation, das heißt Wieder-Vergegenwärtigung, z. B. von Dingen durch Bilder und Zeichen. Das Denken in der klassischen Episteme ist eine Vor-Stellung, eine Re-Präsentation von Dingen im Bewusstsein durch innere Ab-Bildung.111 „Es re-produziert also nicht mehr die vorgegebene, natürliche Ordnung der Dinge, wie noch zu Zeiten der Renaissance, sondern erkennt sie dadurch, daß es sie 107 Ebda., S. 372 108 Vgl. dazu Schneider 2004: 70 109 Schneider 2004: 70 110 Foucault 1971: 43 111 Vgl. hierzu die Erkenntnistheorie bei Descartes, welche auf dem Gedanken der Repräsentation beruht. Das Erkennen der Realität heißt bei Descartes, eine richtige Vorstellung von den Dingen zu haben, d.h. ein adäquates inneres Bild von der äußeren Realität; Vgl. dazu Mesquita 2003: 21 43 durch repräsentierende Vorstellungen überhaupt erst in eine Ordnung bringt.“112 Die Wissenssysteme konstituieren sich auf diesem gewissermaßen geschlossenen, transparenten und zeitlosen Hintergrund. Foucaults Interpretation von „Las Meninas“ führt weniger eine geheime Bildkonstruktion vor Augen, sie dient vielmehr „als Stütze eines wissenschaftlichen Verfahrens der Erkenntnis dessen, was der Mensch ist, wenn er nicht (mehr) symbolisch in einem Ähnlichkeitsdenken mitläuft und (noch) nicht für anthropologische Reflexionen zentral ist. Das eigentliche erkenntnistheoretische Subjekt verliert sich im Spiel der repräsentierten Dinge – die menschliche Natur ist als redupliziertes Wesen113 in diesem System aufgehoben. Der Mensch reiht sich in das Tableau der Zeichen ein, er ist stets ein Lebewesen neben allen anderen. Der Mensch als erkenntnistheoretisches Subjekt ist noch nicht geboren denn an der Stelle, wo sich die Natur mit der menschlichen Natur kreuzt, wo sie einander begegnen, „an jener Stelle, an der wir heute die ursprüngliche, unabweisbare und 112 Foucault 1971: 40 113 In dem Kapitel „Reduplizierte Repräsentation“ widmet sich Foucault ausführlich der Sprachtheorie, und vor allem ‚Der Logik von Port Royale‘ (Ebda., S. 95). Die Sprachtheorie der Klassik war stets bemüht zu erkennen, was die Transparenz der Zeichen meint. „Die tiefe Bestimmung der klassischen Sprache ist stets gewesen, ein 'Tableau' zu ergeben.“ (Ebda., S. 376) Wenn der Ausgangspunkt in der Renaissance jener war, dass die Zeichentheorie drei völlig voneinander getrennte Elemente implizierte („das, was markiert wurde, das, was, markierend war, und das, was gestattete, im Einen die Markierung des Anderen zu sehen. Dieses letzte war die Ähnlichkeit: das Zeichen markierte insoweit, als es 'fast die gleiche Sache' war wie das, was es bezeichnete.“) (Ebda., S. 98), so wird dieses Denken nun durch ein binäres Zeichensystem ersetzt. Nach der Logik von Port-Royale ist diese dualistische Organisation der Zeichen an bestimmte Bedingungen geknüpft: „Wenn man einen bestimmten Gegenstand nur so betrachtet, als repräsentiere er einen anderen, ist die Idee, die man davon hat, die Idee eines Zeichens, und jener erste Gegenstand heißt Zeichen.“ (Logique de Port-Royale, I.Teil, 4. Kapitel, in: a. a. O., S. 98) „Alle Repräsentationen sind untereinander wie Zeichen verbunden; für sich allein bilden sie gewissermaßen ein immenses Netz; jede gibt sich in ihrer Transparenz als Zeichen dessen, was sie repräsentiert. [...] Der Sinn wird im vollständigen Tableau der Zeichen gegeben sein. Andererseits verbindet und gliedert sich das komplette Netz der Zeichen nach den dem Sinn eigenen Abschnitten. Das Tableau der Zeichen wird das Bild der Dinge sein.“ (Ebda., S. 100f) Foucault sagt, dass es im 17. Jahrhundert kein unbekanntes Zeichen mehr geben konnte, keine stummen Markierungen wie noch zu Zeiten der Renaissance. Er betont aber, dass der Mensch dann nicht im „Besitz aller möglichen Zeichen“ ist, sondern d.h. lediglich, dass es das Zeichen erst ab dem Moment gibt, indem der Mensch erkennt: „es [das Zeichen] bildet sich durch den Akt der Erkenntnis.“ (Ebda., S. 93) Gemeinsam mit dem Bild von Velázquez verdeutlicht Foucault, dass der Repräsentationsbegriff der Klassik, ausgehend von einer binären Zeichenstruktur, ein subjektloses Denken darstellt. Der Vorgang kann folgendermaßen kurz zusammengefasst werden: Die Klassik geht davon aus, dass der Mensch stets nur Vermittler zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist (Zeichen sind schon transparent), „Weil der Geist analysiert, erscheint das Zeichen. Weil der Geist disponiert, setzt sich die Analyse unaufhörlich fort“ (Ebda., S. 95). Das Zeichensystem bildet die Welt vollkommen ab, das Zeichen analysiert die Welt. 44 rätselhafte Existenz des Menschen zu erkennen glauben“, ist der Moment, in dem das Denken der Repräsentation den Diskurs auftauchen lässt.114 Die Verhältnisse zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden, hinterlassen eine universale Durchsichtigkeit zwischen den Wörtern und Dingen (dem Zeichen und dem Bezeichnetem) und regeln sich durch die Ordnung der Zeichen115 selbst; dadurch tritt der Diskurs in den Vordergrund. Dreyfus / Rabinov betonen, dass nicht der Mensch der Erfinder war, sondern die Welt von Gott erschaffen wurde und in dieser Konstruktion aus sich selbst heraus existierte. Wenn Foucault sagt, dass es keine Theorie der Bezeichnung gab, meint er, dass der Mensch nicht die Zeichnung mit Bedeutung ausstattete. „Die Rolle des Menschen war es, die Ordnung der Welt zu klären. Entscheidend dafür war, daß das Medium transparent war.“116 Das Zeichen repräsentiert das Bezeichnete vollständig und regelt selbst die Weise der Repräsentation. „Weder erschuf er [der Mensch] die Welt noch – letztlich – die Repräsentationen. Er errichtete eine künstliche Sprache, eine konventionelle Anordnung der Zeichen. Aber nicht der Mensch erfüllte sie mit Bedeutung. Der Mensch klärte aber schuf nicht.“117 Die natürliche Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem, die (in der Renaissance) stets durch ein Ähnlichkeitsprinzip miteinander verbunden wurde, musste in der klassischen Episteme verschwinden zu Gunsten eines selbstgeregelten Zeichensystems, „das in seiner Künstlichkeit dennoch maßstabsgeregelter Spiegel der Natur ist..“118 Subjekttheoretisch bedeutete die Aufgabe des ‚Ich denke‘ das Klären von Begriffen.119 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der gesamte Wissensapparat von diesem Hintergrund ausgehend konstituiert wurde: „Die Menschen im 17. und 18. Jahrhundert denken ausgehend von einer allgemeinen Einteilung, die ihnen nicht nur Begriffe und Methoden vorschreibt, sondern die, auf fundamentaler Weise, eines bestimmte Seinsweise für Sprache, die Einzelwesen, die Natur, die Gegenstände des Bedürfnisses und Verlangens vorschreibt. Die Seinsweise ist die Repräsentation. [...] Die Repräsentation befehligt nämlich die Seinsweise 114 „Die Erfindung des Menschen ist eine einfache Falte in unserem Wissen, die erst mit der Episteme der Moderne in Erscheinung tritt.“ Foucault 1971: 27 115 Vgl. dazu Mathesis und Taxinomia als zeitlose Raster, Vgl. dazu Kap. II. 3. 2. 1 116 Dreyfus/ Rabinow 1994: 45 117 Ebda. S 45 118 Heinrich Fink-Eitel 1989:38 119 Vgl. dazu Dreyfus/ Rabinow 1994: 45 45 der Sprache, der Einzelwesen, der Natur und des Bedürfnisses selbst. Die Analyse der Repräsentation hat also einen determinierenden Wert für alle empirischen Gebiete. [...] Die Sprache ist nur die Repräsentation der Wörter; die Natur ist nur die Repräsentation der Wesen; das Bedürfnis ist nur die Repräsentation des Bedarfs.“120 Um dieses Kapitel abzuschließen kann festgestellt werden, dass nach Foucault „Las Meninas“ die klassische Episteme repräsentiert und das Kapitel „die Hoffräulein“ das Buch „OD“ repräsentiert.121 II. 3. 2. Zur Theorie des Merkmals Iconismus III. fol. 30 aus: „Musurgia Universalis“ Neben der Analyse der Sprache (allgemeine Grammatik) - dieser ist kein geringes Ausmaß in „OD“ gewidmet - untersucht Foucault das Repräsentationsdenken in 120Foucault 1971: 260f 121 Vgl. dazu Klück 1995: 60 46 der Naturgeschichte122 und der Ökonomie („Analyse der Reichtümer“123). Auf Welche Art und Weise und auf welchem Fundament sich eine Sprache der Naturgeschichte errichten konnte, zeigt Foucault anhand der Wissensdispositionen von Carl von Linné, Georges Buffon, Michel Adanson und Pierre-Louis de Maupertuis. Bevor ich auf Klassifikationsmodelle der Lebewesen eingehe, möchte ich kurz auf die wissenschaftlichen Methoden der klassischen Episteme eingehen. Disponiert sich das Wissen im 16. Jahrhundert durch das Prinzip der Ähnlichkeit, so wird diese im 17. und bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts ersetzt durch die Methode des Vergleichs. Das Wissen wird anhand des Vergleichs systematisch eingeteilt, d.h., es geht um eine systematische Feststellung von Identitäten und Unterschieden, wohingegen das Wissen im 16. Jahrhundert eine Art Sammelsurium von Ähnlichkeiten und Anziehungskräften zwischen den Dingen ist. „Der Vergleich kann also eine vollkommene Gewißheit geben, was das alte System der Ähnlichkeit, da es nie beendet war, nicht geben konnte.“124 Im Bereich der Sprache, der Bezeichnung der Dinge halte ich an dieser Stelle kurz fest, dass sich im Ähnlichkeitsdenken der Renaissance Sichtbares und Aussagbares decken, die stete Suche einer ursprünglich gegebenen Sprache den Diskurs bestimmt. So fungiert im klassischen Zeitalter die Annahme einer völlig transparent existierenden Sprache. Das heißt, der Mensch errichtet gleichsam für die von Gott festgelegten Dinge eine künstliche Sprache. Der Mensch errichtet zwar eine Sprache, die „arbiträr in bezug auf das ist, was sie repräsentiert, es aber ohne jeden Rest repräsentieren kann, der das Auffinden der Ähnlichkeit in der Renaissance zu einer per definitionem infiniten Aufgabe machte, weil in ihr jeder Diskurs die Rückkehr zu einer göttlichen Ur-Schrift, die mit der Welt eins ist, immer nur versprechen und aufschieben konnte.“125 Der Mensch ist nicht der Schöpfer der Welt (Gott), sondern er klärt das bereits Vorhandene in Begriffen (insofern ist er Erfinder): Das ‚Ich denke‘ bedeutet in der Klassik die Klärung von 122 Im klassischen Zeitalter gibt es die Biologie als Disziplin noch nicht. Eine tatsächliche Entsprechung zur Biologie existiert nicht. Bevorzugte Gebiete der Naturgeschichte sind die Botanik, Mineralogie und Zoologie. Der Mensch als Untersuchungsgegenstand ist in der Naturgeschichte nicht präsent. Vgl. dazu Klück 1995: 65fff 123 Foucault 1971: 213 124 Ebda., S. 88 125 Dreyfus/Rabinow 1994: 33 47 Begriffen (vgl. Dreyfus/Rabinow), denn die Sprache ermöglicht von Natur aus die Repräsentation. Die Sprache in der klassischen Episteme kann die Dinge, die sie bezeichnet, vollkommen sichtbar machen. Foucault scheibt dazu: „Die fundamentale Aufgabe des klassischen „Diskurses“ ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen. Während zweier Jahrhunderte bildete der abendländische Diskurs den Ort der Ontologie.“126 II. 3. 2. 1. Mathesis, Taxinomia und Genese als festes Netz der Zusammengehörigkeit Foucault arbeitet nun das Fundament der klassischen Episteme heraus. Er versucht zu analysieren, auf welchen Ordnungsprinzipien die Positivitätsformen dieser Episteme erscheinen. Anhand der Mathesis und der Taxinomia führt Foucault die Repräsentation in ihrer Anordnung von Identität und Differenz vor. Taxinomia und Mathesis werden sozusagen als Ordnung interpretiert. Bei der Mathesis greift Foucault auf Descartes‘ mathesis universalis (als eigentlich postulierten Gegenstand der Welt) zurück. Dabei wird die Algebra als universale Methode herangezogen. Die Mathesis betrifft im Allgemeinen einfache Größen. Als ein wichtiger Punkt der Algebra kann festgehalten werden, dass Variablen erfunden werden, um eine Ordnung festzustellen. Diese Variablen stehen in Relation zueinander. Eine Formel beschreibt Beziehungen zwischen den Elementen und diese Relationen folgen Gesetzen. Die Ordnung zeigt sich durch einfache Größen mit schwachen graduellen Unterschieden. Hingegen bezieht sich die Taxinomia auf komplexere Größen (die „empirische Repräsentation“127im Allgemeinen). Das heißt: Um komplexe Größen in eine Ordnung zu bringen, muss eine Taxinomia errichtet (z.B. Stammbaum von Säugetieren) und dafür ein entsprechendes Zeichensystem angelegt werden. Foucault stellt fest, dass Mathesis und Taxinomia nicht getrennt voneinander analysiert werden können, sondern dass beide in einem Bezug zueinander stehen. Kurz: Die Zeichen der 126 Foucault 1971: 164 127 Ebda., S. 107 48 Ordnung für die komplexen Größen sind dieselben wie die Algebra für die einfachen Größen. Die Taxinomia bezieht sich insofern auf die Mathesis, als die komplexen Größen („empirische Repräsentation“) in einfache auflösbar sein müssen. Die Mathesis wiederum kann als ein Sonderfall der Taxinomia wahrgenommen werden. Sie bestätigt in der Weise den unlösbaren Bezug zur Taxinomia. Im gleichen Maße bilden die Zeichen, die das Denken errichtet, gewissermaßen eine Algebra der komplexen Repräsentation und die Algebra umgekehrt eine Methode, einfachen Größen Zeichen zu geben und mit diesen Zeichen zu arbeiten. Foucault stellt die Disposition, die sich daraus ergibt, wie folgt dar: „Allgemeine Ordnungswissenschaft“128 Einfache Größen Komplexe Repräsentation Mathesis Taxinomia Algebra Zeichen Foucault fügt hinzu, dass die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis sich in diese Wissensdisposition eingliedert. Soll heißen: Die Taxinomia sichert ein gewisses Kontinuum, welches durch die zeitliche Aufeinanderfolge von diskontinuierlichen Repräsentationen hergestellt wird. Die Analyse (Genese) wird zeigen, dass die ursprünglich verborgene Kontinuität über eine zeitliche Verbindung der diskontinuierlichen Repräsentationen in eine taxonomische 128 Vgl. dazu ebda., S. 108 49 Ordnung gebracht wird. „Daher die Notwendigkeit, nach dem Ursprung der Erkenntnisse zu fragen, die im Laufe der Klassik stets manifestiert worden ist.“129 Zwischen Mathesis und Genese breitet sich der gesamte Raum der Zeichen aus, welche auch die gesamten empirischen Repräsentationen durchqueren. „Durch Berechnung und die Genese abgegrenzt, bildet es [das Gebiet] den Raum des Tableaus.“130 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass jede Repräsentation in dieser Wissensdisposition über Zeichen markiert wird (ob Wahrnehmungen, Gedanken oder Wünsche betreffend) die als Merkmale fungieren d.h., man schafft gleichzeitig einen Raum worin Identität und Differenz gesichert und voneinander abgegrenzt werden. Foucault schreibt dazu: „Sie [die Merkmale] gestatten so die Errichtung eines gleichzeitigen Systems, nach dem die Repräsentationen ihre Nähe und ihre Entfernung, ihre Nachbarschaft und ihre Abseitigkeit erklären, also den Raster, der außerhalb der Chronologie ihre Verwandtschaft ermöglicht und in einem permanenten Raum ihre Ordnungsrelationen wiederherstellt. Auf diese Weise kann das Tableau der Identitäten und der Unterschiede gezeichnet werden.“131 II. 3. 2. 2. Die Naturgeschichte – eine Wissenschaft von Merkmalen In dem Raum des Tableaus taucht die Naturgeschichte als neue Disziplin, als Wissenschaft der Bezeichnung des Sichtbaren auf.132 Die Klassifikation der Elemente (betrifft die einfachen Größen, sowie die komplexe Repräsentation, die durch ihre Anordnung die Kontinuität der Natur und ihre Verzahnung gliedern, erfolgt auf einem Tableau.133 Die Sprache der Naturgeschichte bezeichnet das, was sichtbar ist und man erhält so die Struktur. Die Deskription der Lebewesen wird genau verfolgt und in das System der Identitäten und Unterschiede eingereiht. „Damit die Naturgeschichte zur Sprache wird, muß die Beschreibung 129 Ebda., S. 109 130 a. a. O., S. 109 131 a. a. O., S. 109 132 Ebda., S. 173 133 Ebda., S. 109 50 „Gattungsname“ werden.“134 Bei der Theorie vom Merkmal geht es darum, dass sie die Werte und den Raum, von dem sie abstammen, identifiziert. Die Repräsentationen basieren auf einer Sprache, die bereits während des Deskriptionsprozesses entwickelt worden ist, insofern geht man bei der Benennung nicht von dem aus, was man sieht, sondern von den Elementen, „die die Struktur bereits hat in den Diskurs übergehen lassen.“135 In diesem Sinne ist die Sprache der Naturgeschichte eine Sekundärsprache, die auf einer bereits allgemein gültigen und konstituierenden Primärsprache gründet. Das System der Naturgeschichte entwickelt sich, indem man ein begrenztes Feld von Charaktereigenschaften wählt und „deren Beständigkeit und Variation […] bei allen sich anbietenden Individuen untersucht.“136 Methodisch schreitet man fort, indem man einen hohen Anteil der Ähnlichkeiten innerhalb einer empirisch gebildeten Gruppe wählt, sodass die Differenz bald gezählt ist. Diese zwei Typen von Techniken zur Errichtung einer Sprache der Naturwissenschaften, sind nach Foucault a priori aufgeteilt – zwei große Anschauungen der Natur, die gewissermaßen zwei entgegengesetzte Pole bilden. Die Elemente, die im System voneinander abgegrenzt werden, definieren die Ausstattung der Struktur, über die dann die Gesamtheit der Identitäten und Unterschiede analysiert wird. Das System wird gewissermaßen arbiträr benannt. All jene Identitäten und Differenzen, die nicht der Struktur zuzuordnen sind, werden nicht berücksichtigt.137 Der Wert von Identität und Unterschied richtet sich nach dem zu unterscheidenden Merkmal, d.h., das zu unterscheidende Merkmal nennt man die gewählte Struktur für die Identitäten und Unterschiede. Wichtig hierbei ist, dass das System eine relative Kategorie (ein Prozess) ist. Weist das unterscheidende Merkmal eine weitgefasstere Struktur und eine größere Anzahl der Variablen auf, so werden die Differenzen eher bald aufscheinen, „nämlich sobald man von einem Einzelwesen zu einem anderen 134 Ebda., S. 181 135 a. a. O., S. 181 136 Ebda., S. 182 137 Foucault fügt einen kritischen Kommentar hinzu, indem er meint, dass die Technik der Arbitrarität eines Tages so erscheint, als könne man durch sie „ein natürliches System“ entdecken. Ebda., S. 183 51 schreitet, sei dieses auch absolut benachbart.“138 Nach Linné ergibt sich in Folge dessen ein unterscheidendes Merkmal, welches sehr nahe an der einfachen Beschreibung ist. Im Gegensatz dazu weist eine eng definierte Struktur mit einer geringeren Varianzmöglichkeit der Elemente weniger Unterschiede auf und die Einzelwesen werden zu kompakteren Mengen gruppiert. Für die Unterscheidung von Klassen und Ordnungen (meint zahlreichere Gruppen als Gattungen) müssen die Merkmale enger gefasst werden. Die fundamentale Aufgabe der Naturgeschichte „Disposition und Benennung“139 kann neben der Technik des Systems auch durch die Methode gelöst werden: Die Elemente, die aus der beschriebenen Gesamtheit herausoperiert werden, dienen hier nicht als Merkmale, sondern sie werden nach und nach deduziert. Soll heißen: Ausgangspunkt ist eine willkürlich gewählte Art („durch das Arbiträre der Repräsentation gegeben“140), die bis ins letzte Detail beschrieben wird. Man bewertet die Variablen, die sie angenommen hat. Dieselbe Arbeit wird für die nächste Art getan unter der methodischen Berücksichtigung, dass bei der Deskription nichts von dem vorkommt, was bei der ersten Art verwendet wurde. Die Unterschiede jedoch werden angeführt. Die dritte Art wird wieder in Beziehung zu den ersten beiden beschrieben. „Am Ende schließlich sind alle verschiedenen Züge aller Pflanzen alle einmal erwähnt worden, aber nie öfter als einmal.“ 141 Die Gruppen ergeben sich, indem man alle Beschreibungen nach den ersten beiden Beschreibungen ausrichtet. Mit der heranwachsenden Untersuchung wird dann auch das allgemeine Netz der Verwandtschaften deutlicher. Im Gegensatz zum System, das Ausnahmen duldet und stets eine Bereitschaft zur Selbstkorrektur aufweist, ist die Methode variabel. Hat man sich hingegen im System einmal für einen Anfang (obwohl arbiträr entschieden) entschlossen, ist weder eine Modifikation noch eine Hinzu- oder Hinwegnahme der Merkmale möglich. Den wesentlichen Unterschied zwischen Methode und System bringt Adanson wie folgt auf den Punkt: 138 a. a. O., S. 183 139 Ebda., S. 185 140 a. a. O., S. 185 141 a. a. O., S. 185 52 „Die Methode unterscheidet sich vom System nur durch die Vorstellung, die der Autor mit seinen Prinzipien verbindet, indem er sie als variabel in der Methode und als absolut im System betrachtet.“142 Für Foucault liegt nun der springende Punkt nicht darin, dass Methode und System in Konflikt zueinander treten, sondern, genau in „der Notwendigkeit, das in diesem Punkt die Wahl zwischen zwei Arten, die Naturgeschichte wie eine Sprache zu errichten, möglich und unerläßlich gemacht hat. Der ganze Rest ist lediglich logische und unvermeidbare Konsequenz.“143 Soll heißen: Jede Bezeichnung der Dinge geschieht im 17./18. Jahrhundert unter Berücksichtigung einer gewissen Beziehung zu allen andern möglichen Bezeichnungen. Zusammenfassend schließe ich die Theorie des Merkmals mit Foucaults Worten ab: „Das zu erkennen, was einem Einzelwesen eigen ist, heißt, vor sich die Einteilung oder die Möglichkeit zu haben, die Gesamtheit der anderen zu klassifizieren. Die Identität und das, was markiert, werden durch das Residuum der Unterschiede definiert. Ein Tier oder eine Pflanze ist nicht das, was das Stigma anzeigt (verrät) das man an ihnen entdeckt. Es ist das was, die anderen nicht sind. Es existiert in sich selbst nur an der Grenze dessen, wovon es sich unterscheidet. Methode und System sind nur die beiden Verfahren, die Identitäten durch das allgemeine Netz der Unterschiede zu definieren.“144 142 Adanson zitiert nach Foucault 1971: 186 143 Ebda., S. 182 144 Ebda., S. 188 53 III. Der Affekt und seine Lehren Lehre über die menschlichen Affekte ist bereits zentraler Gegenstand der Wissensdisposition der griechischen Antike. Im folgenden Verlauf werde ich den Begriff des Affektes sowie seine Lehren im philosophischen / rhetorischen145 wie musiktheoretischen Diskurs chronologisch skizzieren. Dabei stütze ich mich explizit auf diverse Enzyklopädien und musikwissenschaftliche Sekundärliteraturen, da die Überfülle an Materialien (zeitlich wie räumlich) einer Affektenlehre durchaus nicht zu fassen sind. Dieses Kapitel exemplifiziert den Bedeutungswandel des Affektbegriffs im Laufe der Zeiten. Es zeigt auch, dass die Wirkung des Affekts, als Untersuchungsgegenstand, eine zentrale Rolle innerhalb der unterschiedlichen Denksysteme inne hatte. Schließlich werde ich in Kapitel V (16. Jahrhundert) und in Kapitel IV (17./18. Jahrhundert) detaillierter verweilen. III. 1. Begriffserklärung Der Affekt taucht im griechischen Sprachgebrauch als spezielle Bedeutung des umfassenderen Begriffs pathos auf. Synonym zur griechischen Bezeichnung pathos ist der lateinische Begriff affectus bzw. adfectus. Pathos besitzt die Bedeutung, die Seele in Aufruhr zu versetzen beziehungsweise sie anzustacheln. Analog dazu wird die lateinische Bezeichnung adfectus concitatus (Erregung) verwendet. Für das griechische Ethos hingegen gibt es keinen speziellen lateinischen Ausdruck. Beide, ethos wie pathos, sind Bezeichnungen für rhetorische Überzeugungsmittel, jedoch können sie aufgrund ihrer Bedeutung und Entwicklung nicht gleichgesetzt werden. In der Antike (z. B. bei Aristoteles) wird die Darstellung für einen Charakter mit ethos bezeichnet, pathos hingegen 145 Traditionell wird oftmals die Rhetorik von der Philosophie als eigenständige Disziplin unterschieden. Im folgenden Verlauf habe ich bei der chronologischen Darstellung des Affektbegriffs die philosophischen wie rhetorischen Aspekte gleichsam zu einer Disziplin zusammengeführt und keine Rücksicht auf die Differenzierung zweier unterschiedlicher Disziplinen genommen. 54 für die Affekterregung. Das Ethos als eine Art Überzeugungskunst ist nicht immer mit Affekt verbunden. Der emotionale Stil der Affekte ist vielmehr mit pathos verbunden (bei Aristoteles).146 In der griechischen Antike wird unter pathos u.a. ein Erleiden oder Befallensein von einem Gemütszustand verstanden.147 III. 2. Der Affekt und seine Lehren im philosophischen Diskurs und der Rhetorik. Erste Elemente einer Affektenlehre findet man in den philosophischen Schriften bei den Vorsokratikern. Geschichtlich bedeutsam wird vor allem ihr negatives Urteil über die Affekte: „Man hüte sich davor, die Affekte zu wecken“.148 Die Rhetorik149 seit Aristoteles (die von Platons Lehre beeinflusst ist) erfährt nun ein neues Prinzip: officia oratoris (in späterer Terminologie), welches er in die Produktionsstadien inventio, elocutio und dispositio150 aufteilt. Im Vordergrund steht bei Aristoteles die psychologische Erforschung der Affekte. Die Lehre von der Beschaffenheit, der Wirkung und dem funktionalen Einsatz (der Absicht einer Rede) der Affekte ist neben der Argumentationstheorie und der Stilistik ein zentraler Forschungsgegenstand der Rhetorik. Innerhalb der rhetorischen Theorie einer Affektenlehre werden zwei primäre Untersuchungsgegenstände berücksichtigt: 1. Zum einen wird die Affektenlehre mit der Stillehre verbunden. Die Sprache ist erst dann dazu geeignet eine bestimmte affektive Wirkung bei der Zuhörerin und beim Zuhörer auszulösen, wenn sie auch dementsprechend geformt ist. 146 Vgl. dazu Wisse 1992: 223 147 Vgl. dazu Dammann 1984:217 148 Vgl. dazu Lanz 1971: 89 149 Etymologisch aus dem griechischen rhētorikē technē), bedeutet Redekunst oder Redelehre. Vgl. dazu Kalivoda/Zinsmaier 2005: 1423 150Vgl. hierzu Kapitel „Von der Einrichtung, Ausarbeitung und Zierde der Setz-kunst“ in Johann Matthesons‘ „Der Vollkommene Capellmeister“, worin er dieselben Produktionsstadien für seine Kompositionslehre heranzieht. Mattheson 1739: 241 55 2. Zum anderen umfasst die Theorie einer Affektenlehre Überlegungen zur Klassifikation der Gefühle. Somit wird sie ein Bestandteil der Psychologie. Beide Aspekte, die Lehre von der Gefühlserregung sowie die Lehre von der menschlichen Psyche an sich, werden von anderen, verwandten Bereichen der Ästhetik, wie der Poetik und der Musiktheorie, übernommen. Die ganze Antike hindurch ist der Topos über die Affekterregung in der rhetorischen Praxis sehr wichtig wohingegen er in der Theorie weniger berücksichtigt wurde. Aristoteles versteht in einer systematischen Betrachtung die Affekte als Bewegungen der Seele, die „von Lust und Schmerz“, sowie von „ Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Freundschaft, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Erbarmen“ begleitet sind.151 Weiterführende Klassifikationen sind zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Aristoteles‘ Lehre über die menschlichen Affekte, welche nach einem dualistischen Prinzip aufgebaut ist, ist dahingehend konzipiert, ein ausgewogenes Verhältnis extremer Affektzustände herzustellen. Mit dieser Konzeption geht gleichzeitig die ethische Bewertung von Affekterregungen einher. Sie verlangt nach einer Beherrschung der Affekte im rechten Maß; das Freisein von Affekten ist nach Aristoteles eine tugendhafte Leistung. Weiterführend liefert die Stoa eine ausführliche Philosophie einer Affektenlehre. Zenon definiert den Affekt als einen das „Maß überschreitenden Trieb“ oder auch als „unvernünftige und widernatürliche Regung der Seele“.152 Der Ausgangspunkt seiner Lehre sind die fehlerhaften Verstandesurteile, die er als eigentliche Mobilisierungskräfte der Seele bestimmt und die in dieser Weise den eigentlichen Affekt repräsentieren. Dieser Lehrtradition folgend ist Chrysippos‘ Theorie über die Affekte zu erwähnen. Sie unterscheidet sich von jener Zenons insoweit, als hier die Affekte mit den Urteilen selbst identifiziert werden. Chrysippos zieht folgenden Vergleich: „Die Geldgier ist die Annahme, daß das Geld etwas Schönes ist.“153 Der Affekt korreliert in diesem Sinne mit dem vernünftigen Teil der Seele. ‚Schlecht‘ ist ein Affekt nur dann, wenn ein Urteil verfehlt wurde, das von 151 Vgl. dazu Lanz 1971: 89 152Ebda., S. 90 153 Ebda. S. 90 56 Ungestüm befallen ist. In der stoischen Affekttheorie wird also zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Affekten differenziert. Die Stoa unterscheidet zwischen vier Grundaffekten: Lust und Schmerz, Freude und Begierde, von denen alle anderen Affekte abgeleitet werden. Die stoische Affektenlehre wird als Weiterentwicklung der platonischen und aristotelischen Ansätze rezipiert. So wird auch das aristotelische dualistische Prinzip beibehalten. Die ‚schlechten‘ Affekte (z.B. Lust) werden den außervernünftigen Seelenteilen zugeordnet. Das Bemühen innerhalb der stoischen Affekenlehre liegt darin, stets nach ‚guten‘ oder ‚vernunftgemäßen‘ Affekten (z.B. Freude) zu streben. Moraltheologisch kreisen die Diskussionen vor allem um den Begriff der Begehrlichkeit. Das Begehren ist gleichsam ein untergeordneter Affekt, welchen man als ein sündhaftes Streben als Folge der Erbsünde beurteilt. Gemeinhin beurteilt die Stoa Affekte als unruhestiftend und vernunftwidrig, sowie die Erregung von Affekten als ein richtungsloses Hin und Her. Die stoische Apathie fordert die Ausrottung jeglicher Affekterregung.154 Die Anwendung von spezifischen Affektwirkungen ist mit ethischen Fragestellungen verknüpft. Zur Erlangung der Wahrheit sind nur rationale Mittel erlaubt. Eine gegenteilige Meinung, die moralische Anwendung der Affektenlehre betreffend, nehmen die Rhetoriker ein. Die Urteile sind eher ‚wertfreier‘ konnotiert, wodurch quasi jede Anwendungsart gebilligt ist. Die Polemiken kreisen in der griechischen Antike u.a. um den Diskussionspunkt, inwieweit die gezeigten Affekte authentisch sein müssen. Aristoteles, Cicero und Quintilian vertreten die Meinung, dass „ein Redner selbst die Affekte zeigen muß.“155 Im Mittelalter basiert die Konzeption einer Affektenlehre auf den Polemiken der griechischen Antike seit Aristoteles. Allgemein setzt sich der Terminus passio, analog zur griechischen Bedeutung des Begriffs pathos, durch. Eine vollständige Synthese einer Affektenlehre liefert erstmals Thomas von Aquin († 1274). Seine Lehre basiert auf der Grundlage stoischer Konzeptionen. Thomas beschreibt Affekte als Akte eines sinnlichen Strebevermögens, die jedoch an körperliche Veränderungen gebunden sind. Die von Thomas unternommene Einschränkung 154 Vgl. dazu Dammann 1984: 217 155 Vgl. dazu Wisse: 1992: 223 57 setzt somit eine Materialität voraus, denn für das ‚Leiden‘ der Seele bedarf es eines Körpers. Die Seele kann als unkörperliche Substanz nicht ‚leiden‘. Durch die Einheit zwischen Seele und Leib wird der ‚freie‘ Wille (wohin die Seele eigentlich strebt) nur indirekt von den Affekten affiziert. Das Seelenvermögen grenzt Thomas allgemein von Gegenständen ab, von welchen erst bestimmte Affekte ausgelöst werden. Dabei differenziert er zwischen lustbringenden und schmerzbringenden Affekten, woraus sich letztlich die Unterscheidung von ,guten‘ und ,üblen‘ Affekten ergibt – das heißt also, Affekte, die über lust – oder schmerzbringende Objekte generiert werden. Für die Rolle des Seelenlebens ist zentral, dass Thomas die Affekte dem sinnlichen, unvernünftigen Seelenbereich zuordnet und sie als solche somit dem „freien“ Willen unterworfen sind. Dieser Logik folgend gestalten sie das menschliche Handeln nicht direkt mit. Die ethische Qualität hängt von der Vernunft ab, die gemäß der generellen Ordnung die Entscheidungen trifft. Da nach Thomas die Affekte quasi ein Eigenleben führen, spielt der Wille hierbei eine regulierende Rolle. Thomas‘ Theorie wird nachhaltig diskutiert und modifiziert. Die zentrale Frage beschränkt sich dabei hauptsächlich darauf, inwieweit der Wille am Leben der Affekte teilnimmt. Innerhalb der Rhetorik ist das Verständnis der menschlichen Affekte von der christlichen Tradition geprägt, die von Augustinus (354-430) begründet worden ist. Augustinus‘ Lehre über die Affekte wird insofern von der Stoa abgegrenzt, indem hervorgehoben wird, dass für Augustinus Affekte nicht bloß Perturbationes animi (Verwirrungen der Seele) sind. Vielmehr betont Augustinus gerade die ,guten‘ Leidenschaften der Affekte (bonae passiones). Die Lehre Augustus‘ wird später von den mittelalterlichen Predigtlehren herangezogen und wirkt das gesamte Mittelalter hindurch (bis zur Gegenreformation). Die spanische Scholastik des 16. Jahrhunderts sticht vor allem wegen ihres Einflusses auf den Cartesianismus heraus. Ihrer Lehrmeinung nach sind alle Affekte auch im vernunftbestimmten Willen anzutreffen. Mit dem aufkommenden Individualismus der Renaissance liegt die Betonung auf der Freiheit des Willens, welcher als Instanz der Entscheidungen fungiert. Die Voraussetzung für die Erregung von Gefühlen ist das eigenständige Handeln. Bacon schreibt dazu: „Die Aufgabe und Pflicht der Rhetorik ist es, den Verstand mit der Vorstellung (imagination) zu verbinden zum 58 besseren Antrieb des Willens.“156 Die Konzeption einer Affektenlehre in der Renaissance basiert auf dem Vorbild antiker (vor allem ciceronianischer) Lehren. Im deutschen Barock157 ist die Affektenlehre vor allem in der Literatur ein zentraler Gegenstand bei der Frage, inwieweit Affekt und Stil korrelieren. Im rhetorischen Lehrbuch von B. Keckermann „Systema rhetoricae“ (1607) wird der Affekt zentral thematisiert. Die Stillehre der Affekte schließt auch deren Wirkung als Untersuchungsgegenstand in ihre Lehre mit ein. Die Redefiguren werden im 17. Jahrhundert systematisch bestimmten Affekten zugeordnet (Bsp.: Metonymie wird der emphatischen Rede als gut geeignet zugeordnet, Anadiplose den Liebesaffekten, wie auch Hass, Zorn und Schmerz.) Zudem werden physiologische und physikalische Prinzipien für die Systematik einer Affektenlehre herangezogen. Psychologische Aspekte werden zum Beispiel von V. Thilos Schrift „Pathologia Oratoria sive adfectuum movendorum ratio“ (1647) abgehandelt. Generell tendieren die Postulate der Lehren im 17. Jahrhundert dazu, eine Mäßigung fehlerhafter Affekte zu erzielen. Es geht nicht um die Ausrottung der Affekte, sondern um deren Domestizierung. In Deutschland erfährt die Affektenlehre vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart innerhalb der Rhetorik eher eine Abwertung. Man wendet sich der Poetik zu. Im Zentrum der Rhetorikkritik des 18. Jahrhunderts steht die Affektenlehre. Gesellschaftspolitisch lässt sich festhalten, dass die Rhetorik noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Praxis zentral ist. Sie ist ein geeignetes Instrumentarium für das Bürgertum, um politisch zu agieren, d.h., das Bürgertum übernahm die Rhetorik („die Beredsamkeit) der dominierenden Stände, des Adels und des Klerus. Die Wichtigkeit der zur Verfügung stehenden rhetorischen Mittel kann man ausführlich in dem Standardwerk von J.C. Gottsched „Versuch einer kritischen Dichtkunst“ nachlesen. Mit dem fehlenden politischen Einfluss des Bürgertums in der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich gleichzeitig ein fehlendes Interesse an der Rhetorik beobachten. In „Sollen wir Ciceron auf den Kanzeln haben?“ betont 156 Vgl. dazu Schmidt 1992: 226 157 Die Entwicklung einer Affektenlehre weist natürlich demographisch eine große Varianz auf. Ich habe das Feld hierbei auf Deutschland reduziert, da ich mich bei der näheren Ausführung über die musikalische Affektenlehre im klassischen Zeitalter auf deutsche TheoretikerInnen beziehe. 59 Herder, dass er die „Beredsamkeit“ „in den Tempel geflohen sieht“158, aufgrund des Mangels einer demokratischen Öffentlichkeit in Deutschland. Kants Kritik an der Rhetorik, die er aufgrund ihrer mangelnden Urteilskraft begründet, wird mitunter für die generelle Abwertung der Rhetorik verantwortlich gemacht. Kants Kritik gilt vor allem der affektorientierten Rhetorik. Das generelle Desinteresse an der Rhetorik bestätigt sich insofern, als die bestehenden Theorien nicht wirklich weiterentwickelt werden. Die Rhetorik in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird von der Poetik, ‚der Schwester der Beredsamkeit und Eloquenz‘ verdrängt, spielt dann aber in der Dichtung weiterhin eine große Rolle. Die Wirkung beim Leser ist dabei ein wichtiges Kriterium. Auch in Baumgartens begründeter Ästhetik (der Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis) ist die Emotionalität ein Paradigma für eine wirksame Rede, so gesehen kann die rhetorische Affektenlehre als Voraussetzung für die Ästhetik verstanden werden. Im 19. und 20. Jahrhundert wird die rhetorische Affektenlehre schließlich von der Psychologie vereinnahmt, als Wissenschaft vom Seelenvermögen und seinen Äußerungen, wobei naturwissenschaftliche Forschungsmethoden miteinbezogen werden. Die Psychoanalyse Freuds schließlich analysiert die verdrängten Affekte auf Basis seiner Triebtheorie, d.h., die Triebe bilden die Fundamente und die Affekte lassen sich von ihnen ableiten (Unbewusstsein). III. 3. Der Affekt und seine Lehren im musiktheoretischen Diskurs In der Antike wird der Affektbegriff innerhalb der Musiktheorie auf seine ethischen Zusammenhänge hin diskutiert. So werden den spezifischen Tongeschlechtern bestimmte Charakteristika zugewiesen. Bei den Pythagoräern ist das diatonische Tongeschlecht beispielsweise als mannhafter ethos konnotiert und auch Platon fügt bestimmten Tonarten ein spezifisches Attribut zu. Dabei unterscheidet er zwischen positiven und negativen ethischen Bewertungen: Positiv bewertet er etwa das dorische mit seiner ernsthaften Manier oder das 158 Vgl. dazu Martin 1992: 230 60 phrygische mit seinem kriegerischen Potenzial. Negativ hingegen schreibt er dem lydischen einen verweichlichenden Charakter zu. Aristoteles etabliert den Gedanken einer Mimesis bestimmter Charaktereigenschaften und spezifischer Leidenschaften mittels Musik. Im Mittelalter werden die antiken Vorstellungen über musikalische Affekttheorien und deren Wirkung weiterentwickelt. Johannes Affligensis führt zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine ausführliche Abhandlung über die affektuosen Effekte der Musik vor. Ende des 15. Jahrhunderts greift B. Ramos de Pareja in seiner „Musica Practica“ (1482) auf die Lehre von den vier Temperamenten von Hippokrates zurück, um deren Wirkung auf die vier Kirchentonarten zu adaptieren. Auch Johannes Tinctoris (1475) schließt sich dem antiken Kerngedanken an, dass der Musik eine ethische und kathartische Wirkung immanent sei. Mit „Diffinitorium musicae“ verfasst Tinctoris eine Enzyklopädie, worin er die Wirkungskraft der Musik als zentralen Topos hervorkehrt. In dem Traktat „Complexus effectum musices“, trägt er Zeugnisse der Wirkungskraft von Musik aus den Jahrhunderten zusammen und kehrt somit deren Bedeutung weiterführend hervor. Mit dem Traktat distanziert sich Tinctoris von den mittelalterlichen Annahmen, dass Musik auf Zahlen- und Proportionswerten beruhe, und damit von einer Anschauung, die Musik aufgrund ihrer mathematischen Ordnungsprinzipien als in sich selbst ruhend begreift. Tinctoris wendet sich wieder der antiken Vorstellung von Musik zu, der man ein kathartisches und ethisches Wirkungsvermögen zuschrieb. Tinctoris schreibt in seinem Traktat dazu: „Ich glaube vielmehr fest an Aristoteles und seine Kommentatoren, sowie an unsere neueren Philosophen, die uns deutlich gezeigt haben, daß im Himmel keinerlei Klang ist, weder in potentieller noch in realer Form. Niemand wird mir daher je einreden können, die musikalischen Harmonien seien ein Produkt der Himmelbewegung; denn ohne Klang kann keine Harmonie entstehen. Die Harmonie der Töne und der Melodien, deren Lieblichkeit das Wohlgefallen unseres Gehörsinns erregt, wie Lactantius sagt, werden nicht von den Himmelskörpern erzeugt, sondern von unseren irdischen Instrumenten, mit Hilfe der Natur.“159 159 Tinctoris zitiert nach Enrico Fubini 1997: 81 61 Mit der Humanisierung des Denkens bzw. im Zeitalter der Renaissance werden die mittelalterlichen Werte des numerus und des proportio durch eine sprachbezogene Konzeption ersetzt, d.h., der Sprache wird nun ihre deklamatorische, bildhafte und affektive Charakteristik beigemessen. Sie steht nun im Vordergrund musiktheoretischer Interessen. Seit Josquin (1480er Jahre) wird der Text musikalisch in eine bildhafte Sprache umgesetzt, ein Verfahren, welches im theoretischen Diskurs als effectus exprimere bezeichnet wird – der vorliegende Text mit seinem immanenten Affektgehalt solle nun musikalisch ausgedrückt werden. Die Tendenz der musikalischen Praxis ist dahingehend, die Bildhaftigkeit der Musik vorzustellen, das Ziel der Musik solle darin bestehen, dass sie zur Nachahmung des Textes („imitare le parole“160) führe. Dass hierbei die Rhetorik für die affektive Wirkung bestimmter Wörter herangezogen wird, ist nicht verwunderlich. So betont Vincenzo Galilei eine enge Verwandtschaft der Rhetorik zur Musik und demgemäß liegt das Augenmerk auf Rhythmik, Sprechlage und Akzentuierung der affektiven Rede. Im 16./17. Jahrhundert taucht ‚affetto‘ schließlich immer häufiger als Terminus in der Kompositionslehre auf; ‚con affetto‘ etabliert sich beispielsweise als Vortragszeichen beziehungsweise taucht ,affetto‘ im Titel einiger kompositorischer Werke auf.161 Im 17. Jahrhundert wird in der Musiktheorie vermehrt auf rhetorische Konzepte zurückgegriffen. Es etabliert sich ein Repertoire fester, musikalisch darzustellender Affekt-Grundtypen. Die Klassifizierung und Typisierung der musikalischen Affektdarstellung geht einher mit der Entwicklung der Oper. 160 Vgl. dazu Valentini 1992: 250 161 Vgl. dazu beispielsweise Biagio Marinis Op. 1 „Affetti Musicali“ (1617) oder Giovanni Stefanis Canzonette „Affetti amorosi“ (1621). 62 63 IV. René Descartes IV. 1. Dualismus von Körpermaschine und denkender Seele. „Um die Leidenschaften der Seele zu erkennen, muß man die Wirksamkeit der Seele von der des Körpers unterscheiden.“162 René Descartes‘ Modell der Affektenlehre verdient in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit, da die MusiktheoretikerInnen des klassischen Zeitalters sich bei der Untersuchung und Formulierung der musikalischen Affektwirkung explizit auf die Traktate von Descartes beziehen. Sein mechanistisches, physikalisches Bild vom Menschen wird von MusiktheoretikerInnen163 für deren Beschreibung über die Wirkung musikalischer Affektdarstellungen herangezogen. In „Über den Menschen“ (1632) betitelt er das 1. Kapitel mit „Wie eine Maschine gestaltet sein müsste, die unserem Körper ähnlich ist.“ Das Prinzip des menschlichen Körpers denkt Descartes analog zu einer Maschinentheorie, basierend auf einer Vorstellung von der Welt als Maschine. Diese Erkenntnis begründet er mit Hilfe mathematischer und mechanischer Prinzipien. Den menschlichen Körper vergleicht er mit einer Uhr oder einem anderen Automaten. Für ihn ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: „Es ist ein Irrtum zu glauben, die Seele verleihe dem Körper Bewegung und Wärme. Weil man sah, daß ein Leichnam keine Wärme und demzufolge auch keine Bewegung hat, stellte man sich vor, die Abwesenheit der Seele habe diese Bewegungen und diese Wärme zum Aufhören gebracht. So hat man ohne Grund alle natürliche Wärme und Bewegung unseres Körpers von der Seele abhängig gemacht, anstatt umgekehrt anzunehmen, daß die Seele 162 Descartes „Philosophische Werke. Vierte Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele“ übersetzt v. Kirchmann 1870, Erster Theil. Art. 2 163 Vgl. dazu Kap. VI. 2. & VI. 3 64 beim Tode nur entweicht, weil diese Wärme aufhört und weil die Bewegungsorgane des Körpers verderben. [...] Um diesen Irrtum zu vermeiden, muß man bedenken, daß niemals die Seele, sondern irgendein Hauptorgan des Körpers, das unbrauchbar wird, an dem Tod schuld ist. Demnach unterscheidet sich der Körper eines lebendigen Menschen von einem toten ebenso wie eine Uhr oder ein anderer Automat, d.h. eine selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und damit in sich das körperliche Prinzip der Bewegungen, für die sie bestimmt ist und alles zu ihrer Tätigkeit Nötige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist und in der das Prinzip ihrer Bewegung nicht mehr wirkt.“164 Aus dieser Bemerkung wird sehr deutlich, welche Vorstellung Descartes vom menschlichen Körper hat: Sie beruht auf einer Dichotomie von Körper und Seele (Cartesianischer Dualismus).165 Eine vermeintliche Gegenüberstellung, die heute nicht mehr unhinterfragt hingenommen wird.166 Die Seele ist nach Descartes im menschlichen Körper so eingerichtet, dass körperliche Bewegungen sie zu einer bestimmten Vorstellung treiben, von denen sie noch kein Bild hat. Descartes führt exemplarisch einen Krankheitsfall eines Mädchens an, dessen „Augen bei dem Eintreten des Wundarztes verbunden wurden, damit sie nicht durch die Vorbereitung der Operation beunruhigt würde. [...] Ihr kranker Unterarm wurde amputiert „und an dessen Stelle Tücher so angebracht [...], dass sie die geschehene Amputation nicht bemerken konnte.“167 Die Patientin beklagte sich nun aber über Schmerzen in den Fingern. Für 164 Thieme 1984:19 165 Das dualistische Prinzip von Körper und Seele hat Descartes schon in seinem früheren Werk „Über den Menschen“ postuliert: „Diese Menschen (Maschinen) werden – wie wir – aus einer Seele und einem Körper zusammengesetzt sein. Daher ist es erforderlich, daß ich zuerst den Körper für sich und dann die Seele ebenso für sich beschreibe, wie diese beiden Naturen verbunden und vereint sein müssen, um Menschen entstehen zu lassen die uns ähnlich sind.“ Descartes „Über den Menschen“ übersetzt v. Rothschuh 1969: 43; In „Lebensbeschreibung. Abhandlung über die Methode“ wird die Vorstellung der Dichotomie von Körper und Seele sehr schön veranschaulicht: „Ich bemerke nämlich, dass vorzüglich darin ein grosser Unterschied zwischen Seele und Körper ist, dass der Körper seiner Natur nach immer theilbar ist, die Seele aber durchaus untheilbar. Denn wenn ich hierbei mich als denkendes Wesen betrachte, so kann ich keine Theile in mir erkennen, sondern sehe mich nur als ein einziges und vollständiges Wesen; und obgleich mit dem ganzen Körper die ganze Seele geeint zu sein scheint, so kann man doch einen Fuss oder einen Arm oder irgend ein Glied des Körpers abschneiden, ohne dass der Seele dadurch etwas abgenommen wird.“ Descartes: „Lebensbeschreibung. Abhandlung über die Methode“ übersetzt v. Kirchmann: 1870: 117 166 Vgl. dazu aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung, die spätestens mit Antonio R. Damasio zu einer Aufwertung der Emotionen geführt hat und Descartes‘ dualistisches Körperprinzip kritisch in Frage stellt. 167 „Über den Menschen“ übersetzt v. Rothschuh 1969: 277 65 Descartes folgt daraus, dass sich die Vorstellung des Schmerzes verschoben hatte. Der Schmerz, der dem Mädchen vorerst von den Fingern her bekannt war, verschob sich hin zum Ellbogen, da die Nerven vom Gehirn aus nur mehr zum Ellbogen führen konnten. Das heißt, die Empfindung der Seele über den schmerzenden Finger wird als adäquate Vorstellung für den erneuten Schmerz im Ellbogen adaptiert.168 Die Leidenschaften definiert Descartes als Vorstellungen, Empfindungen oder Erregungen der Seele. 169 In „Über die Leidenschaften der Seele“ definiert er die Leidenschaft wie folgt: Nachdem der Unterschied der Leidenschaften von allen anderen Vorstellungen der Seele betrachtet worden, so wird man jene im Allgemeinen als Vorstellungen oder Empfindungen oder Erregtheiten der Seele definiren können, die man nur auf sich selbst bezieht, und die durch gewisse Bewegungen der Lebensgeister bewirkt, unterhalten und verstärkt werden.“170 Die ausschlaggebenden Indikatoren, die sich für die Empfindung der Seele verantwortlich zeigen, bezeichnet Descartes mit ‚Lebensgeister‘ (lat. Spiritus 168Die Logik von Port Royale ließe sich auf Descartes‘ Beispiel von dem Mädchen anwenden: „Wenn man einen bestimmten Gegenstand nur so betrachtet, als repräsentiere er einen anderen, ist die Idee, die man davon hat, die Idee eines Zeichens, und jener erste Gegenstand heißt Zeichen“ (Logique de Port-Royale, I. Teil, 4. Kapitel bzw. Foucault 1971: 98). Die Seele, die empfindet, ist nach Descartes stets eine Vorstellung. Die Übertagung von Finger und Ellbogen verdeutlicht die Logik von Port Royale: „Wenn das Zeichen die reine und einfache Verbindung eines Bezeichnenden und eines Bezeichneten ist (eine Beziehung, die arbiträr oder nicht, freiwillig oder auferlegt, individuell oder kollektiv ist), kann auf jeden Fall die Beziehung nur im allgemeinen Element der Repräsentation etabliert werden: Das Bezeichnende und das Bezeichnete sind nur in dem Maß miteinander verbunden, indem beide repräsentiert werden (worden sind oder werden können) und in dem das eine gegenwärtige das andere repräsentiert.“ (Ebda., S. 102) 169 Descartes zitiert nach Thieme 1984: 21. Vgl. hierzu die gesellschaftliche Ordnung in ihrem Sein der Repräsentation bei Foucault. So beruht das Denken bei Descartes auf dem Gedanken der Repräsentation, d.h. die Realität erkennen heißt, eine richtige Vorstellung von den Dingen zu haben, in dem Sinne, dass man ein entsprechendes inneres Bild zur äußeren Realität hat. Die Auffassung, dass die Ordnung der Ideen vorgefunden werden kann, also schon immer da gewesen ist, wird aufgegeben zu Gunsten der Vorstellung, dass etwas durch die Denktätigkeit des Erkennenden aufgebaut wird. Das Denken ist eine Vor-stellung, eine Re-Präsentation von Dingen im Bewusstsein durch innere Abbildung. Die Klassik geht davon aus, dass der Mensch stets nur Vermittler zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist (Zeichen sind schon transparent), „Weil der Geist analysiert, erscheint das Zeichen. Weil der Geist disponiert, setzt sich die Analyse unaufhörlich fort“ (Ebda., S. 95). Das Zeichensystem bildet die Welt vollkommen ab, das Zeichen analysiert die Welt. 170 Descartes „Philosophische Werke. Vierte Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele“ übersetzt v. Kirchmann 1870: 30 66 animales). Von dieser Annahme ausgehend entwickelt Descartes seine rationalistisch begründete Lehre über die menschlichen Affekte. IV. 2. Der Platz der Seele Als Sitz für die Lebenswärme nimmt Descartes, gemäß antiker Vorstellungen, das Herz an. Von dort aus strömen die feinsten Blutteilchen direkt in die Höhlen des Gehirns. Diese feinen Blutteilchen nennt er Lebensgeister. Das Gehirn trennt zwischen feinen und weniger feinen Blutteilchen, sie haben folgende Wirkung: „Was die Bluttheile angeht, die bis ins Gehirn vordringen, so dienen sie nicht nur dazu, seine Substanz zu nähren und zu erhalten, sondern in erster Linie auch, dort einen gewissen, sehr feinen Hauch zu erzeugen oder besser eine sehr lebhafte und reine Flamme, die man Spiritus animales nennt.“171 Mit Geister meint Descartes bloße Körper, mit der Besonderheit, dass sie sehr klein sind und sich schnell bewegen können (er zieht den Vergleich zu den Teilen der Flamme einer Fackel) und deshalb nirgends verweilen. Die Lebensgeister sind die feinen Blutteilchen und das Gehirn unternimmt keine Veränderung derselben. Das Gehirn trennt bloß zwischen den feinen und weniger feinen Blutteilchen. Das Bewegungsprinzip des menschlichen Körpers basiert darauf, dass durch das Einund Ausströmen dieser Blutteilchen der Körper auf alle möglichen Arten in Bewegung versetzt wird: „Das ist vergleichbar der Wirkung des Wassers in manchen Automaten, die auch zu einer Art Eigenbewegung eingerichtet werden können. Das Hirn der Menschenmaschine wirkt etwa wie ein Quellmeister. Die Nerven bestehen aus hohlen Röhrchen mit einem inneren Marktfaden.“172 Die ‚Geister‘ dringen also ins Gehirn ein, gelangen dort in die Poren seiner Substanz und von diesen Poren wiederum in die Nerven. Die Nerven dringen in 171 Descartes „Über den Menschen“ übersetzt v. Rothschuh 1969: 54 172 Descartes zitiert nach Thieme 1984: 20f 67 die Muskeln ein und die Glieder können dadurch in Bewegung versetzt werden. Descartes vergleicht das Prinzip mit Grotten und Fontänen, wobei die Nerven des menschlichen Körpers analog zu den Röhren der Fontänen zu betrachten wären.173 Die Beschaffenheit174 der Lebensgeister steht auch in einem direkten Zusammenhang mit den jeweiligen Leidenschaften der Seele. Er schreibt dazu: „Je mehr/ je feiner/ schneller die Lebensgeister sind, umso freudiger bzw. erregter der daraus folgende Gemütszustand.“175 Dass heißt, die Vorstellung der Seele oder ihre Empfindung ist abhängig von den Lebensgeistern – diese versetzen die Seele in Bewegung. So weist Descartes der Seele einen fixen Ort im Körper zu – die Zirbeldrüse („eine gewisse kleine Eichel, in der Mitte der Gehirnsubstanz“176) des Gehirns.177 Mit der genannten Verräumlichung der menschlichen Seele geht gleichzeitig eine Verbannung derselben aus dem restlichen Körper einher. Das Denk– und Vorstellungsvermögen, sowie der Gemütszustand, gehen von diesem Ort aus. Über die Zusammenwirkung von Körper und Seele schreibt Descartes nun: „Ich mache deshalb darauf aufmerksam, daß die menschliche Seele, wenn sie auch den ganzen Körper erfüllt, ihren vornehmsten Sitz doch im Gehirn hat, wo sie nicht allein erkennt und bildlich vorstellt, sondern auch empfindet, und zwar dies letztere mit Hilfe der Nerven, die sich wie Fäden vom Gehirn nach allen Teilen des Körpers erstrecken und hier so befestigt sind, daß man keine Stelle des Körpers berühren kann, ohne daß die hier verteilten Nervenenden bewegt werden und deren Bewegung sich nach dem anderen Ende dieser Nerven überträgt, die in dem Gehirn und den Sitz der Seele zusammentreffen.“178 173 Vgl. dazu Descartes „Über den Menschen“ übersetzt v. Rothschuh 1969: 57 174 Die Beschaffenheit hängt von der Menge des Blutes ab, wovon die Verschiedenheit der Lebensgeister gebildet wird. 175Descartes zitiert nach Thieme 1984: 21 176 Descartes „Philosophische Werke. Vierte Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele“ übersetzt v. Kirchmann 1870: 32; Glandula pinealis = heutige Epiphyse, sie erhält von den Arterien durchgehend die Lebensgeister. 177In „Über den Menschen“ schreibt Descartes über den Standort der Seele wie folgt: „Denn man muß wissen, daß sich die Arterien, die sich vom Herzen heranbringen, in eine Unzahl von kleinen Verzweigungen geteilt und jene feinen Gewebe gebildet haben, die wie eine Wandauskleidung auf dem Grunde der Gehirnkammer ausgebreitet sind und sich um eine gewisse kleine Drüse sammeln, die ungefähr in der Mitte des Gehirnmasse, gleich am Eingang zu seinen Kammern gelegen ist.“ Vgl. dazu Descartes „Über den Menschen“ übersetzt v. Rothschuh 1969: 54 178 Descartes zitiert nach Thieme 1984: 21f 68 Die von den Nerven in Erregung gebrachten Bewegungen des Gehirns erregen gleichzeitig die Seele. Die unterschiedlichen Erregungen oder Gedanken der Seele erfolgen erst durch die unterschiedlichen Regungen der Nerven. Descartes nennt die verschiedenen Vorstellungen der Seele, die durch die unterschiedlichen Bewegungen der Nerven evoziert werden, sinnliche Wahrnehmungen oder Sinnesempfindungen. „Endlich ist bekannt, daß alle diese Muskelbewegungen und alle diese Sinnesempfindungen von den Nerven abhängen, die alle wie feine Fäden oder Röhrchen aus dem Gehirn kommen und ebenso wie diese eine sehr feine Luft, einen Hauch enthalten, den man Lebensgeister nennt.“179 Dabei unterscheidet er zwischen inneren und äußeren Sinnen (Tasten, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen). Die inneren Sinne werden durch die „feinen Nerven, welche zu dem Herzen und den Herzkammern gehen“180 gebildet. Und darin sind auch alle Gemütsbewegungen enthalten. „Wenn z.B. das gesunde Blut leicht und mehr wie gewöhnlich im Herzen sich ausbreitet, so bewegt es die feinen , an den Öffnungen verbreiteten Nerven, woraus eine Bewegung in dem Gehirn folgt, welche die Seele zu einem natürlichen Gefühl der Heiterkeit erregt.“181 Die diametral entgegengesetzte Empfindung182 wäre die Traurigkeit, welche von dickem Blut bewirkt wird, das „in den Herzkammern schlecht fließt und sich da nicht gehörig ausbreitet.“183 Alle weiteren Affekte werden von der Bewegung dieser „feinen Nerven“ („Lebensgeister“) evoziert, „soweit sie eben nur Empfindungen oder Leiden der Seele sind, die die Seele nicht nur durch sich allein hat, sondern dadurch, daß sie durch den Körper, mit dem sie innig verknüpft ist, etwas erleidet.“184 179 Descartes zitiert nach Thieme ebda., S. 20 180 Descartes zitiert nach Thieme ebda., S. 22 181 Ebda. S. 22 182 Vier von den sechs Grundaffekte bei Descartes treten quasi agonal auf: Liebe-Hass, Freude – Trauer. Die Verwunderung und das Begehren treten dagegen für sich auf. Die Verwunderung begreift er des Weiteren als den Uraffekt, welcher sich nicht auf einen Gegenstück bezieht – ein intentionsloser Affekt. Vgl. dazu Stoellger 2004 183 Thieme 1984:22 184 a. a. O., S. 22 69 Illustration von Descartes: Eine Reizung am Fuß wird über die Nerven ins Gehirn geleitet, interagiert dort mit dem Geist und erzeugt so ein Schmerzerleben.185 IV. 3. Die Korpuskulare Wahrnehmungstheorie In dem Traktat „Die Prinzipien der Seele“ beschreibt Descartes das reziproke Spiel von Seele, Körper, dem Hörvorgang und der musikalischen Wahrnehmung. Über die Wirksamkeit der Musik äußert er sich bereits in einem 1618 veröffentlichten kurzen Aufsatz, der 1650 posthum veröffentlicht wurde.186 Das Übertragungsprinzip eines musikalischen Ereignisses hin zum Ohr begründet er kausal, mit Hilfe des physikalisch, mechanischen Körperprinzips: Die Schwingungen der bewegten Luft (klingende Körper) nehmen zwei Nerven der Ohren auf. Die Schwingungen treffen auf das Trommelfell, „das mit der Kette dreier Knöchelchen in Verbindung steht, welchen die Nerven anhaften und stößt 185 Bildquelle: René Descartes, Über den Menschen sowie Beschreibung des menschlichen Körpers, Verlag Lamert Schneider 1969; Die betroffene Haut des Fußes in der Nähe des Feuers wird durch dessen Wärme in Bewegung versetzt. Die bewegten Teilchen des Feuers strömen durch die Markfaser und öffnen den Eingang der Pore, wo die Faser endet. Anschließend Treten die Lebensgeister in die Hirnkammer ein und werden auf diesem Weg teils in die Muskel getragen. Mit dem Ziel, den Fuß vom Feuer wegzubewegen (Drehung von Augen und Kopf um zur betroffenen Stelle hinzusehen bzw. Vorstrecken der Hand um den ganzen Köper vor dem Feuer zu schützen). 186 Vgl. hierzu Fubini 1997: 126 70 letztere. Von der Verschiedenheit dieser Bewegungen entspringt die Verschiedenheit der Töne.“187 Das heißt, die Wellen, die sich vom klingenden Körper konzentrisch ausbreiten, werden über das Trommelfell, die Ohrknöchelchen und die Luft vom Innenohr an die anhaftenden Nerven am äußeren Ende weitergeleitet. Dieser Hörnerv leitet sie weiter an das Gehirn (Poren des Gehirns werden von dieser Bewegung der Nerven geöffnet) und von dort aus werden sie in den restlichen Körper weitergeleitet. Die Seele hat nach Descartes dabei gleichsam eine beurteilende Instanz inne. Mehrere aufeinander folgende Schwingungen in der Luft erzeugen einen Ton, welchen die Seele (res cogitans) als angenehm oder unangenehm beurteilen wird. Die seelische Vorstellung der Toncharakteristik steht in Abhängigkeit von der Schnelligkeit der schwingenden Luftteilchen. „Wenn schließlich mehrere Töne miteinander vermischt werden, dann sind sie wohltönend oder mißtönend, je nachdem, ob eine mehr oder weniger enge Beziehung zwischen beiden besteht, und je nachdem, ob sich mehr oder weniger gleiche oder ungleiche Intervalle zwischen den kleinen Stößen finden, welche sie zusammensetzen.“188 Die verschiedene Anordnung der schwingenden Luftteilchen führt zu ihrer analogen Erregung der Seele. Für den Gemütszustand zeigen sich letztlich die Lebensgeister verantwortlich. Gemäß dem kausalbegründeten Hörvorgang strömen sie aus den Poren des Gehirns wieder in die Nerven und lösen die entsprechende Reaktion im Körper aus. Beim Affekt der Freude vermehren sich die Lebensgeister und sind feiner und schneller. Descartes schreibt über den freudigen Gemütszustand der Seele: „Je größer die Intervalle sind, d.h. je mehr sie sich vom Einklang entfernen, desto schneller die Bewegung der Lebensgeister und desto heftiger der im Hörer erregte Affekte.“189 187 Descartes zitiert nach Thieme 1984: 22 188 Descartes zitiert nach Thieme S. 22 189 Descartes zitiert nach Thieme S. 23 71 Descartes bemerkt, dass solcherlei verschiedenartige Wirkungen nicht nur durch die unterschiedlichen Intervallgrößen hervorgerufen werden, sondern dass diese auch in Abhängigkeit von anderen musikalischen Parametern stehen. In „Compendium musicae“ schreibt er über die Wirkung des Tempos, dass „ein langsames Tempo in uns träge Empfindungen hervorruft [...] das schnellere hingegen lebhaftere [...] Auch ist dasselbe von den Taktarten zu sagen.“190 Dieses Prinzip überträgt Descartes auf seine Affektenlehre. Theorien über Wahrnehmungs- und Hörvorgänge werden aber nicht nur von Descartes entwickelt. Naturwissenschaftler seiner Epoche studieren diesen Vorgang mit unterschiedlichen Vorstellungen und Theorien, namentlich zu nennen seien hier Pierre Gassendi und Issac Beekman.191 IV. 4. Die sechs Grundaffekte nach Descartes Das 1645 erschienene Traktat „Die Leidenschaften der Seele“ (Les passions de l’aime), legt eine ausführliche Beschreibung der menschlichen Affekte vor. René Descartes entwickelt darin eine Affektenlehre - eine rationalistische Lehre über die Kontrolle und vernunftgemäße Leitung der menschlichen Gemütszustände. Als Ausgangpunkt unterscheidet er zwischen sechs verschiedenen Hauptaffekten, von denen sich alle weiteren ableiten lassen: Freude (joié), Hass (haine), Liebe (amour), Traurigkeit (tristesse), Begehren (désir) und Verwunderung (admiration) wovon alle weiteren Affekte abgeleitete Mischformen darstellen.192 Diese sollen im weiteren Verlauf kurz umschrieben werden: 190 Descartes zitiert nach Thieme S. 23 191 Vgl. dazu Wolfgang Hirschmann 2005: 124 192 Die deutsche Übersetzung der sechs Grundaffekte übernehme ich von J. H. v. Kirchmann (1870). 72 Verwunderung: Dieser Affekt / diese Leidenschaft steht nach Descartes an erster Stelle. Wenn uns die erste Begegnung mit einem Gegenstand überrascht, „ehe wir noch wissen, ob der Gegenstand für uns passt oder nicht, so scheint die Verwunderung die erste der Leidenschaften zu sein.“193 Abgeleitete Affekte der Verwunderung wären z.B. Achtung, Verachtung, Stolz, Demut oder Gemeinheit. Exemplarisch tritt nach Descartes die Verachtung oder Achtung dann ein, wenn man sich über die Größe oder die Kleinheit des Gegenstandes wundert. Die Achtung oder Verachtung kann man auch auf sich selbst beziehen, d.h., der Mensch kann sich selbst achten oder verachten. Die Liebe und der Hass: Gefällt uns ein Gegenstand, so werden wir ihn lieben, im entgegengesetzten Fall hassen. Dieser Vorgang sei in Descartes‘ Worten exemplarisch dargestellt: „Zeigt sich aber ein Gegenstand für uns zuträglich, d.h. angemessen, so fassen wir Liebe zu ihm, und zeigt er sich als schlecht oder schädlich, so erweckt dies Hass gegen denselben.“194 Der Herausgeber und Übersetzer J.H. v. Kirchmann erwähnt in einer Fußnote, dass mit Descartes‘ Unterscheidung von ‚gut‘ und ,schlecht‘ nur das Nutzbringende gemeint ist (lustbringend oder schmerzbringend), ohne jeglicher sittlicher Nebenbedeutungen. Das Herz pulsiert während des Affekts des Hasses unregelmäßig schwächer oder schneller. Beim Affekt der Liebe schlägt der Puls kräftig und gleichmäßig. Es wird einem warm ums Herz und die Verdauung wird angeregt. Descartes‘ Empfehlung für einen „guten“ Gesundheitszustand: die Leidenschaft der Liebe. 193Descartes „Philosophische Schriften. Vierthe Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele“ übersetzt von Kirchmann 1870: 50 194 a. a. O., S. 51f 73 Das Begehren: Der zeitliche Aspekt bei der Leidenschaft des Begehrens ist für Descartes sehr zentral. Es geht nicht nur darum, sich etwas ‚Gutes‘ in der Zukunft zu ersehnen, sondern vielmehr um die Erhaltung eines Guts.195 Die Lebensgeister erregen die Seele in dem Sinne, dass sie bestimmen, ob in Zukunft ein Gegenstand gewollt wird, also angemessen erwünscht wird. Das Begehren nimmt eine Sonderstellung bei René Descartes ein. Er schreibt zu dieser Leidenschaft: „Bei dem Begehren ist das Besondere, daß es das Herz stärker als die übrigen Leidenschaften bewegt; dadurch erhält das Gehirn mehr ,Lebensgeister‘, welche in die Muskeln dringen, alle Sinne schärfen und alle Theile des Körpers beweglich machen.“196 Die Freude und die Traurigkeit Die Betrachtung eines Gegenstandes erweckt in uns entweder Freude oder Trauer. Aber nicht nur die Betrachtung als solche führt zu diesen Affekten, sondern es wirkt hier die Ursache von Freude oder Trauer unmittelbar. Der Affekt der Freude ist ein Gut, das von den Eindrücken des Gehirns als das ihre vorgestellt wird. Traurigkeit folgt demselben Mechanismus. Der Puls beim freudigen Affekt ist gleichmäßig, verglichen mit dem Affekt der Liebe erreicht die Freude nicht dieselbe Stärke und Kraft. Appetitlosigkeit wird als Nebenwirkung dieser Leidenschaft diagnostiziert. Die Traurigkeit zeigt sich durch ein schwach und langsam pulsierendes Herz. Beklemmende Gefühle ums Herz, „und Eisstücke, die es erkälten und ihre Kälte dem übrigen Körper mitteilen. Trotzdem behält man mitunter guten Appetit und spürt, dass der Magen seinen Dienst verrichtet, wenn kein Hass sich mit der Traurigkeit verbindet.“197 195 Ebda., S. 52 196 Ebda., S. 77 197 a. a. O., S. 77 74 IV. 5. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Descartes seine Lehre über die menschlichen Affekte rationalistisch begründet. Er denkt sie nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, basierend auf mathematischen, physikalischen und mechanischen Naturgesetzen. Mit dem Traktat „Die Leidenschaften der Seele“, wird eine Art Affektkatalog überliefert, dem gleichsam der Status einer Universalsprache zukommt.198 Er selbst schreibt, dass mit dem Traktat gleichsam ein Gebrauchskatalog für den Umgang der Leidenschaften vorliegt. „Die von mir angegebenen Mittel würden dafür zureichen [für den ‚schlechten‘ Gebrauch der Leidenschaften], wenn Jedermann sie sorgfältig anwendete.“199 Descartes‘ Ausgangspunkt ist jener, dass sich die akustisch physiologischen Mechanismen und Prozesse anhand von kausalen Bestimmungen erklären lassen. Von diesem Modell ausgehend, wird die Wirkung der Musik und der Töne auf die Sinne bzw. auf die Seele wissenschaftlich legitimiert. „Der Leitfaden der Musik“, solle den „Ton zum Gegenstand“200 machen. Descartes folgt weiterführend: „Der Zweck des Tones ist letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene Gemütsbewegungen hervorzurufen. Die Gesänge können aber zugleich traurig und ergötzlich sein. Und es ist nicht verwunderlich, daß sie so verschieden sind. [...] Von der Beschaffenheit selbst, womit und wodurch er am geeignetsten erzeugt wird, handeln die Physiker.“201 Die Aufgabe der Physiker solle nach Descartes demnach darin bestehen, die „Natur des Klanges zu untersuchen, von welchem Körper sie hervorgebracht wird und unter welchen Bedingungen sie sich am angenehmsten ausnimmt.“202 Von diesen naturgebundenen Gesetzmäßigkeiten des Klanges ausgehend werden die Gemütsbewegungen auf die Klangparameter hin beschrieben und systematisiert. 198 Weigel 2004: 166 199 Descartes „Philosophische Schriften. Vierte Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele“ übersetzt v. Kirchmann 1870: 141 200 Descartes „Der Leitfaden der Musik“ übersetzt v. Brockt: 1978: 3 201 a. a. O., S. 3 202 Descartes zitiert nach Fubini 1997: 126 75 Nach Descartes funktioniert die Musik nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Jedes Intervall verfügt über das Vermögen, ihrer Substanz entsprechend, die analoge Reaktion in der Seele auszulösen. Die Cartesianischen Erkenntnisse über die Klang- und Harmoniestrukturen sind für MusiktheoretikerInnen mitunter ein überzeugender Beweis für das Postulat einer Autonomie der Musik. Einer Musik, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert. Descartes‘ Studien über die musikalischen Hörvorgänge widmen sich weniger dem Verhältnis von Musik und Sprache. Das Ziel der Musik, wie es das eingangs stehende Zitat veranschaulicht, soll in der Cartesianischen Wissensdisposition darin bestehen, dass sie der Unterhaltung dient und zu unterschiedlichen Gemütsbewegungen anregt. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich einen Einblick in die Musikgeschichtsschreibung der Renaissance geben, um eine Idee davon zu vermitteln, wie es innerhalb der Musikpraxis und theorie zur verstärkten Aufmerksamkeit für den darzustellenden menschlichen Affekt gekommen ist. Es wird sich zeigen, dass das Verhältnis von Sprache und Musik ein zentraler Gegenstand im damaligen musiktheoretischen Diskurs war. Dieser Diskurs entwickelte sich letztlich hin zur Konstruktion und in der Folge zu einem Postulat einer autonomen Musiksprache des 18. Jahrhunderts, d.h. die Erregung von Affekten war nicht mehr nur an die Textdeklamation gebunden. Innerhalb der Musiktheorie und -praxis wird sich eine Korrespondenz zu Descartes‘ Prinzip über die menschlichen Affekte zeigen 76 77 V. Exkurs: Über eine Geschichtsschreibung der Musikästhetik des 16. Jahrhunderts Bevor ich auf die musikalische Affektenlehre der Klassik und ihre Klassifizierungsmodelle zu sprechen komme, erscheint es mir wichtig, ein paar vorausgehende Ideen von derselben zu vermitteln. Dabei werde ich vor allem auf musiktheoretische Konzepte Italiens in der Spätrenaissance eingehen. Die von mir selektierten Anknüpfungspunkte sollen lediglich einen Eindruck davon vermitteln, in welcher Weise der Affektbegriff diskursiviert wurde, um die Betonung auf seinen Bedeutungswandel in der Klassik hervorzuheben. Daher soll dieses Kapitel lediglich als Exkurs fungieren. Keineswegs wird in diesem Kapitel versucht, eine Chronologie von kompositorischem Material hin zu einer streng systematisierten Lehre der Affekte nachzuzeichnen. Vielmehr ist dieses Kapitel als Fragment derselben Entwicklung zu verstehen – ein der Klassik vorausgehendes historisches Ereignis, welches die diskursive Ordnung des kompositorischen Materials nach Maßstäben der Affekte vorantrieb. V. 1. Kontext Es ist, wie Enrico Fubini in seiner „Geschichte der Musikästhetik“ schreibt, kaum möglich, alle verantwortlichen Faktoren zusammenzusammeln, die sich für die Tendenz hin zur verstärkten Aufmerksamkeit der Affektdarstellung innerhalb der musikalischen Praxis verantwortlich zeigen.203 Oder, um mit Rolf Dammanns Worten zu sprechen, zu ermitteln, welche Faktoren dazu führten, dass der menschliche Affekt zum Richtpunkt des musikalischen Denkens im klassischen Zeitalter wurde. Meines Erachtens ist Fubinis „Geschichte der Musikästhetik“ eine zugängliche Geschichtsschreibung über die Entstehung einer musikalischen Lehre der Affekte. Ich werde mich daher hauptsächlich auf ihn beziehen. Fubini 203 Ich möchte an dieser Stelle an Foucaults Methode der Archäologie nochmals hinweisen, dass ein Archiv nie in seiner Vollständigkeit, nie in seiner Gänze rekonstruierbar ist. 78 markiert zwei maßgebende Umstände, die zu einem Umdenken bzw. zu einer Verschiebung innerhalb der Musiktheorie und -praxis der Klassik geführt haben. Einerseits führten mit dem anbrechenden klassischen Zeitalter die Entstehung der Oper und andererseits die Entdeckung der Harmonie zum prägnanten Paradigmenwechsel, wobei dem Affekt als „objektive“ Größe innerhalb der Wissensdisposition eine zentrale Stellung eingeräumt wurde. Das heißt, mit der musikalisch-theatral ausgerichteten Form der Oper konnte zum einen die Musik als ein Schauspiel vorgeführt werden und, damit einhergehend, an ein Publikum gerichtet werden. Das Bühnengeschehen wandte sich nun explizit an eine Öffentlichkeit, d.h., eine Verschiebung lässt sich darin markieren, dass die dargestellten Ereignisse auf der Bühne, einem dialogischen Modell gleich, ein Gegenüber einforderten. Nunmehr wurden Überlegungen über den Effekt eines bestimmten darzustellenden menschlichen Affektes zu einem zentralen Ausgangspunkt und folgerichtig entstand das Bedürfnis nach einem angemessenen Modell – einer musikalischen Affektenlehre. Auf der anderen Seite zeigte sich die Entdeckung der Harmonie eklatant verantwortlich für eine neue Ära in der Musikästhetik. Man war nun bestrebt, die Gesetze der Harmonie mit ihrer ihnen zugrunde liegenden Natur zu rationalisieren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die auf mathematischer Basis204 begründet worden waren, wurden herangezogen, um eine größtmögliche Wirkung beim Publikum zu erzielen. Mit anderen Worten ausgedrückt, lag das Bestreben darin, eine musikalische Sprache zu errichten, die die menschlichen Affekte adäquat auszudrücken vermochte. Eine musikalische Sprache der Affekte, die so arrangiert werden musste, dass sie auch in ihrem Effekt zum Ziel gelangte. In diesem Sinne wurde das kompositorische Material nach Maßstäben seiner Affektwirkung befragt und codiert. Die Entstehung der Oper und die Rationalisierung der Harmonie bedingen einander, wie Fubini berichtet.205 Mit dem Bestreben, eine angemessene musikalische Sprache für das Verhältnis von Musik und Dichtung zu formulieren, wurde gleichzeitig eine melodisch- 204 Vgl. hier exemplarisch Zarlinos Theorie über das Dur-Moll System . Fubini 1997: 123 205 An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass Streitigkeiten unter den Theoretikern herrschte. Die einen fokussierten mehr die Oper, die anderen legten den Schwerpunkt mehr auf die harmonische Beschaffenheit der Wirkung von Musik. 79 harmonische Entfaltung eingefordert. Ein gleichsam strategischer Zug, um die Wirkung spezifischer musikalischer Rhetoriken dem Publikum zu übermitteln. Ich werde im folgenden Verlauf relevante Ereignisse der Musiktheorie und praxis der Renaissance darstellen. Also jene Faktoren, die zur Entwicklung der Oper als neu formulierte Gattung beigetragen haben. Dabei werde ich die Entwicklung der unterschiedlichen Theoreme über die naturgebundenen Gesetze der Harmonie beiseite lassen. Räumlich wie zeitlich beschränke ich mich auf einen bestimmten Gelehrtenkreis (Camerata Fiorentina) der Spätrenaissance in Italien und werde seine musiktheoretischen Anstrengungen vor allem exemplarisch anhand der Wiederbelebung der antiken Monodie (Einzelgesang) veranschaulichen. Die Hinwendung zum monodischen Stil206 führte mitunter zu einer größeren Aufmerksamkeit für die textliche Vorlage, die nun auf ihren Affektgehalt hin befragt und untersucht wurde. Die unterschiedlichen Theorieansätze der Camerata Fiorentina haben sich letzten Endes quasi verselbständigt und die Oper als neue musikalische Form mitgeprägt. Das Bedürfnis der Klassifizierung des kompositorischen Materials nach Maßstäben der menschlichen Affekte geht mit der Entstehung der Oper einher. Das heißt, dass sich Praxis und Theorie wechselseitig beeinflussen. Ihre Erkenntnisse oder Produkte bedingen einander. Im weiteren Procedere werden einige Überlegungen einzelner TheoretikerInnen der Camerata Fiorentina vorgestellt sowie die Hauptmerkmale der Monodie behandelt. 206 Neben vielen musikalischen Verwandtschaftsbeziehungen zur Oper (das mittelalterliche Mysterienspiel, das Pastoraldrama seit Bocaccio, das Schuldrama im 16. Jahrhundert oder die dramatische Pastoralkomödie des 16. Jahrhunderts) erscheint mir, dass die Monodie eine recht anschauliche Referenz darstellt. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ich mich bei den genannten Verwandtschaftsbeziehungen explizit auf Rolf Dammann beziehe. Dammann 1984: 237fff 80 V. 2 . Relevante Ereignisse für die Gestaltungsprinzipien der Oper „Durch Prägung formen heißt auf definitive Weise modulieren, Modulieren heißt auf kontinuierliche und immerzu variable Weise durch Prägung formen.“207 Wie bereits erwähnt, kann ich aufgrund der vielschichtigen Faktoren, die zur Entstehung der Oper geführt haben, nur einen kleinen Ausschnitt darlegen. Mein Vorgehen stellt einen Versuch dar, die augenscheinlichsten, tonangebenden musikalischen Ereignisse des 16. Jahrhunderts darzustellen. Ich schränke dabei den geographischen und zeitlichen Rahmen ein und stütze mich auf eine bestimmte musiktheoretische Bewegung in Italien. An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass die Entwicklung und Form der Oper beispielsweise in Frankreich einen völlig anderen Verlauf annimmt als in Italien oder in England. Man denke nur an die geographisch unterschiedlichen Ausprägungen einer tragédie lyrique in Frankreich, eine spezielle Form der Oper, die einst Jean-Baptiste-Lully in Bewegung brachte, im Gegensatz zur musica scenica, die innerhalb der italienischen Musikpraxis hervorgebracht wurde. Meine Darstellung ist weniger ein Versuch, mich in den Diskurs der Affekttheorien einzureihen oder diesen in irgendeiner Form zu polemisieren. Vielmehr ist es ein Versuch, die Musikgeschichtsschreibung in ihrer Oberfläche grob zu filtern und markante Punkte hervorzuheben. In diesem Kapitel werden jene Konzepte und Theorien behandelt, die das Verhältnis von Sprache und Musik untersuchten. Darin wurde der Fokus auf die musikalischen, theatralischen und expressiven Elemente der Sprache gelegt, mit dem Ziel, Affekte in der Hörerschaft zu erzeugen. Florenz wird in diesem Zusammenhang immer wieder als einer der fruchtbarsten Böden für musiktheoretische Weiterentwicklungen erwähnt. Das Florenz des humanistischen Zeitalters ist eine Art Hauptstätte vieler Akademien, in denen eben das Verhältnis von Sprache/Wort und Musik diskutiert wird. Namentlich 207 Gilbert Simondon zitiert nach Deleuze 2000: 36 81 werden vor allem die Accademia Fiorentina, Accademia Degli Alterati, Accademia Della Crusca und die Camerata Fiorentina erwähnt. Im weiteren Verlauf werden Äußerungen einzelner TheoretikerInnen der Camerata Fiorentina exemplifiziert und das Konzept der Monodie dargestellt. V. 2. 1 Die Monodie Vincenzo Galilei, Giulio Caccini und Jacopo Peri sind u.a. die Vertreter der Camerata Fiorentina. Der Gelehrtenkreis der ‚Camerata‘ widmet sich zentral der Frage, welche Stellung die Musik in ihrem Verhältnis zum Wort einnehmen soll und stellt im Gegensatz zu den Vertretern der Harmonie die affekthaltige Charakteristik der Melodie208 in den Mittelpunkt. Die Musikphilosophie und die Tragödie der griechischen Antike werden als Exempel herangezogen. Ein Terminus, der der griechisch-antiken Theaterwelt entstammt, ist die Monodie. Unter Monodie209 [ griech. Monodia, setzt sich aus „allein“ und „singen“ zusammen210] versteht man in der griechischen Antike den Einzel- bzw. Sologesang im Gegensatz zum Chorgesang. Griechisch-antiken Erzählungen 208 Unter Melodie wird Rede, Harmonie und Rhythmus subsumiert. Vgl. Fubini 1997: 105 209 Der älteste Wortbeleg taucht bei Aristophanes auf. Neben der Camerata wird der monodische Stil auch unabhängig davon von Claudio Monteverdi für seine Kompositionstechnik herangezogen. Die Monodie bildet auch neben vielen anderen Gattungsstilen eine Grundlage, die zur Entwicklung Oper beigetragen hat, welche später in der klassischen Episteme als stile monodico bezeichnet wird. Der monodische Stil prägt vor allem die Erzählstrukturen der Solomadrigale, OpernRezitative sowie Arien. Giovanni Battista Doni entwickelt in seiner „Annotazioni“ (1640) ausführlich den Terminus stile monodico. Wie bereits in der griechischen Antike wird der monodische Stil auch bei Doni dem theatralen Bereich zugeordnet. Doni legt als einer der ersten eine Systematisierung des monodischen Stils dar. Er unterscheidet zwischen drei verschieden Typen: 1. Stile narrativo, 2. Stile speciale recitativo und 3. Stile espressivo, welcher sich sehr gut für die Affektdarstellungen eignet. Als Beispiel dafür wird Monteverdis „Lamento D’Arianna“ (1608) angeführt. Der stile espressivo teilt die rhythmische und melodische Freiheit mit dem „stile narrativo“. Eine intensivere Darbietung erlangt er dagegen, indem harmonische und melodische Dissonanzen hinzugefügt werden sowie durch die Verwendung motivischer Redundanz. Im stile espressivo komponiert u.a. Peri (vgl. dazu Ariannas Ausdruck der Trauer in: „Non piango e non sospiro“). Als typische Begleitung ist ein auskomponierter Generalbass und eine akkordische Ausfüllung auf einem oder mehreren Instrumenten, wie der Chitaronne, Theorbe, Harfe, Cembalo oder der Orgel, zu nennen. Vgl. Dammann 1984: 193 &. 238; Der Brockhaus MUSIK 2001: 492;.Palisca 1997: 466f. 210 Vgl. Dammann 1984: 193 82 folgend wird die Monodie instrumental meist durch Aulos, Lyra oder Kithara begleitet. Die Monodie wird von den SängerInnen als geeignetes Medium herangezogen, um ihre Gefühle auszudrücken. Besonders für den Klagegesang findet der monodische Stil Verwendung. Jede Tonart ist in der Antike mit einem bestimmten Ethos ausgestattet. Diese griechisch-antike Idee von spezifisch immanenten Wirkungen oder Mobilisierungskräften der Musik, ist für die Theorieentwicklungen der Camerata eine wichtige Referenz. Zudem kommt es innerhalb der Camerata zu einer Wiederbelebung der griechisch-antiken Deklamationspraxis. Die zentrale Fragestellung des Projekts behandelt das Verhältnis von Musik und Wort, wobei man dem Wort gegenüber der Musik eine Vormachtstellung zuerkennt. Dem humanistischen Ideal entsprechend soll die Sprache in ihrer ursprünglichsten Form211 dargestellt werden. Der Rückgriff zur Monodie kann demnach als Versuch interpretiert werden, der Sprache ihre elementare Funktion zurückzugeben – mit ihrem Potenzial Affekte zu erregen. 211 Vgl. dazu Kap. 3.2.: Der Diskurs im Ähnlichkeitsdenken der Renaissance, ist durch seine stete Suche einer ursprünglich gegeben Sprache gekennzeichnet. 83 V. 2. 2. Spezifische theoretische Überlegungen der Camerata Fiorentina Ein wichtiger Vertreter der Camerata Fiorentina ist Vincenzo Galilei, ein Schüler Zarlinos.212 Galilei steht der mittelalterlichen polyphonen Satztechnik sehr kritisch gegenüber. Diese vermag den affektiven Gehalt der Sprache (ihre ursprüngliche Form) weder zu transportieren noch transparent zu machen. Er äußert sich dazu wie folgt: „Die wirre und konträre Mischung von Noten vermag keinerlei Wirkung auf denjenigen auszuüben, der sie hört, während jedoch jede Stimme für sich eine ganz besondere Erregung beim Zuhörer bewirken könnte – was sie jedoch in der modernen Praxis des Kontrapunktes ganz und gar nicht tut, da sich die Stimmungen gegenseitig verwirren und in ihrer natürlichen Entfaltung verhindern.“213 Die „natürliche Entfaltung“ jeder Stimme wird von Galilei mit einer Art des Singens der Menschen in Verbindung gebracht, „das sie seit der Entstehung der Welt auf natürliche Weise beherrschten.“214 Der Gesang ist bei Galilei mit einer Art Ursprünglichkeit und Zeitlosigkeit sowie mit dem naturgegebenen Ausdruck 212 Gioseffo Zarlino hat mit seinen Traktaten maßgeblich das musikalische Denken der Renaissance geprägt. Die pythagoräische Lehre wird bei ihm noch als Grundlage beibehalten, jedoch in Form einer „natürlichen“ Rationalität. Er bezieht sich ausdrücklich auf die musica mundana (gleichermaßen die kosmischen Maßverhältnisse) als Harmonie, die durch die Himmelssphären in Erscheinung tritt, interpretiert sie aber in einem Zusammenhang, der auch in anderen Naturphänomenen widergespiegelt wird: „(...) sie ist auch in der Zusammensetzung der Elemente und in den Jahreszeiten erkennbar.“ Vgl. dazu Fubini 1997: 85; Der Rationalisierung der pythagoräischen Lehre von der Harmonie setzt er eine naturgebundene und reale Rationalisierung entgegen. Ein weiterer wichtiger Punkt zur Begründung seiner „natürlichen“ Rationalität stellt für ihn das Phänomen der naturgegebenen und unveränderlichen Obertonreihe dar, die ihm schließlich als Basis seiner Harmonielehre dient. Damit einhergehend formuliert er das duale Prinzip der zwei Tongeschlechter, Dur und Moll, wobei die Betonung der Natürlichkeit des Dur-Dreiklangs liegt. Die Natur der Musik ist nicht mehr auf den mittelalterlichen Modi und der Polyphonie begründet, sondern auf den natürlichen und zeitlosen Gesetzen der tonalen Harmonielehre. Vgl. dazu Fubini 1997: 106; Die Annahmen, dass der Harmonie ein natürliches Fundament zu Grunde liegt, verfolgen viele TheoretikerInnen der Harmonie bis hin zu Rameau. Sie betrachten die Harmonie als eine spezifische Sprache der Musik, die sich durch ihren autonomen Charakter auszeichnet. Aus den harmonischen Gesetzen schöpfen sie dann ein eigenständiges Vokabular der Affekte. Vgl. dazu Fubini 1997: 125 213 Ebda., S. 99 214 Ebda., S. 98 84 des Menschen konnotiert. Nach Galilei ist der Gesang ein affektiver Ausdruck des Menschen, der zur Linderung unterschiedlichster Bürden des Lebens beiträgt. „Es ist derselbe Gesang, dessen die Bauern beim Bestellen ihrer Felder und die Hirten in den Wäldern und Bergen sich befleißigen, während sie hinter ihren Herden einherziehen; sie wollen damit den Verdruß vertreiben, den die beständige und schwere Mühe ihnen bereitet.“215 Die Hinwendung zur Monodie dient offenbar als vielversprechender Schlüssel um zur ursprünglichen Funktion der Sprache zurückzukehren. Satztechnisch bedeutet dies, dass man den Fokus nur mehr auf einen melodischen Bogen setzt, im Gegensatz zur polyphonen Satztechnik, die durch eine Vielzahl oder Vielschichtigkeit von melodiösen Sätzen gekennzeichnet ist. Und diese Konzentration 216 auf nur mehr eine Melodie impliziert gleichzeitig, dass der Text mit seinem Affektgehalt stärker in den Vordergrund treten kann. Denn der immanente affektive Gehalt eines Wortes geht, so Galilei, durch die polyphone Satztechnik, die verschiedene Melodien gleichzeitig über die Worte legt, verloren. Zudem wird die These erhoben, dass durch solcherart satztechnische Eingriffe, die melodische Erfindungskraft gefördert wird. Ist man zuvor den kontrapunktischen Kompositionszwängen von Imitation und Fuge, den gleichförmigen metrischen Rhythmen und strengen Regeln von Konsonanz und Dissonanz unterworfen, so ist den SängerInnen durch den monodischen Stil eine größere Bewegungsfreiheit geboten, um sich als dramatische Figur vorzustellen. „Und allem Pflichtgefühl zuwiderlaufend werden die Silben ein und desselben Wortes nicht nur fünf- oder sechsmal ausgesprochen, es befindet sich auch die eine Silbe im Himmel, die andere auf Erden, und wenn es deren noch mehrere sind, so auch in der Hölle. Und das nennen sie eine gute Nachahmung der Konzepte, Worte und Stimmen, während sie doch häufig eine einzige dieser Silben über zwanzig und mehr Noten dahinziehen, was oft nur noch der Imitation von Vogelgekreische oder Hundegeheule ähnelt. Welche Kunstlosigkeit dies bedeutet und wie sehr der Ausdruck des Gefühls darunter leidet, der den Zuhörer doch auf natürliche Weise berühren sollte, das können wir dahingestellt sein lassen.“217 215 a. a. O., S. 98 216 Von Seiten der damaligen Traditionalisten wird dieses Bestreben u.a. als unvernünftige Reduktion kritisiert. 217 Fubini 1997: 99 85 Dieses Zitat verdeutlicht den Gedanken, dass der im Text inhärente „Ausdruck des Gefühls“ durch die polyphone Satztechnik nicht vermittelt werden kann. Die konstatierte Irrationalität der polyphonen Kompositionstechnik wird verworfen zu Gunsten eines Rationalismus, der das Verhältnis von Wort und Musik in einer wirksamen Weise regeln wird. Kurz: Die mittelalterliche metaphysische Konzeption von Musik wird ersetzt durch eine transparente und schlichte, der Natur ähnliche Struktur – die Monodie. Das dem Wort immanente affektive Ausdrucksvermögen soll eine analoge musikalische Ausgestaltung erfahren. Galilei ist gemeinsam mit Caccini und Jacopo Peri u.a. ein Theoretiker, der im Gegensatz zu den TheoretikerInnen der Harmonie die melodische218 Charakteristik der Musik ins Zentrum seiner Wissenschaft stellt. Zudem wird innerhalb der Camerata der allgemeine Duktus von dissonanten Akkord- und Intervallsetzungen reflektiert. Über den konsonanten und dissonanten Gebrauch äußert sich Vincenzo Galilei ausführlicher. Beide, Konsonanz wie Dissonanz, werden von Galilei positiv bewertet und herangezogen, um den Affektgehalt eines Textes adäquat zum Ausdruck zu bringen. „Es ist ebenso natürlich, sich an der Konkordanz der Oktave zu erfreuen, wie es natürlich ist, von der Diskordanz der Septime unangenehm berührt zu werden, da die erstere mit unserem Gehörsinn übereinstimmt, die zweite nicht.“219 Galilei reflektiert hierbei die Dissonanzbehandlung der gewöhnlichen, traditionellen Kontrapunktlehre von Zarlino. Galilei kritisiert Zarlinos Kontrapunkttheorie insofern, als diese eher für die Instrumentalmusik geeignet ist und weniger für Vokalmusik. Zudem reflektiert Galilei einzelne akkordische und intervallische Verbote innerhalb der kontrapunktischen Regeln zu Gunsten einer adäquaten Textdeklamation. Er schreibt dazu: „Weil zwei kleine Terzen auf die gezeigte Weise ein trauriges Gefühl verursachen und zwei große Terzen ein freudiges, und da ja der Tritonus und die verminderte Quinte sich in der Einheitlichkeit dieser Wirkungen treffen, wüßte ich nicht, weshalb ich auf ihren Gebrauch verzichten sollte, wenn ich Gedanken ausdrücken möchte, die mit diesen Intervallen übereinstimmen und 218 Unter Melodie wird Rede, Harmonie und Rhythmus subsumiert. Vgl. dazu Fubini 1997: 105 219 Galilei zitiert nach Palisca 1989: 275 86 die durch sie Gestalt und Kraft gewinnen. Und das gilt auch für die Verwendung aller anderen Intervalle und für ihren Charakter.“220 Galilei zieht die verschiedenen Charakteristika der Intervalle heran, um auf die komplexen menschlichen Gemütsbewegungen zu reagieren. Jacopo Peris221 Bestreben beispielsweise liegt darin, eine Musikkonzeption zu formulieren, die sich zwischen gewöhnlicher und gesungener Melodie bewegt, gemäß den menschlichen Affektzuständen. Das Ergebnis führt zu einer melodischen und harmonischen Konzeption, die, wenn beabsichtigt, in jedem Augenblick Affekt und Rhythmus des Textes unterstützt. Er schreibt über den monodischen Stil wie folgt: „Da sah ich, daß es sich um dramatische Dichtung handelte und daß man deshalb mit dem Gesang einen Sprechenden nachahmen mußte (denn ohne Zweifel hat man niemals singend gesprochen), kam ich zu der Auffassung, daß die alten Griechen und Römer (die nach Meinung vieler ganze Tragödien auf der Bühne singend vortrugen) eine Art der Musik kannten, die sich über das gewöhnliche Sprechen erhob und doch soweit unter der Gesangsmelodik blieb daß sich eine Zwischenform ergab. [...]“222 Er gelangt zum Ziel, indem er einen erdachten Sprechgesang anstrebt, der sich relativ unabhängig über dem Bass und dessen Harmonien bewegt223 und in Konsonanzen und Dissonanzen über diesem verläuft. Auf diese Weise umgeht er den hüpfenden Bass der Tanzlieder: „Indem ich auf diejenigen Manieren und Akzente [im Sprechakt] Rücksicht nahm, die wir bei Kummer und Freude und ähnlichen Gemütszuständen gebrauchen, machte ich es so, daß sich der Baß mit deren Zeitmaß bewegt, bald rascher, bald langsamer, je nach den Affekten, und ich hielt ihn über die falschen und über die guten Intervallverhältnisse hinweg fest, nachdem die 220 Galilei zitiert nach Palisca S. 276 221 Peris war Mitglied der Camerata, 1561 in Rom, † 12. August 1633 in Florenz 222 Peri zitiert nach Palisca 1989: 293 223 Claude V. Palisca weist darauf hin, dass Peris Konzeption zunächst eine Theorie der Intonationsmuster der italienischen Sprache einfordert. Das Aushalten oder Übergehen der Silben hängt mit dem Affekt und dem Affekt des Sprechers zusammen. Die selbstintonierten Vokale beim Sprechen konsonieren mit dem Bass. Jene Vokale hingegen, die schneller vorübergehen, sind nicht in Abhängigkeit von der Bewegung des Basses. Der dazugehörige Basston wird dann bis zur nächsten intonierten Silbe ausgehalten Die konsonante Verschmelzung von Stimme und Bass hängt vom Affektgehalt des Textes ab. Bei fröhlichen Affekten werden die Silben öfters intoniert und gedehnt. Der Bass wird dabei beweglicher auskomponiert. Vgl. dazu Ebda., S. 299 87 Stimme über verschiedene Töne geglitten war und bei einer Silbe ankam, die im Sprechen [voll] intoniert wird und so den Weg zu einer neuen Harmonie öffnet. Und dies nicht allein, damit der Sprechverlauf das Ohr nicht verletzt […] oder damit der Sprechverlauf nicht zur Bewegung des Basses in einer bestimmten Art zu tanzen und besonders nicht bei traurigen oder ernsten Texten, denn nur die anderen, fröhlichen Texte erfordern von Natur aus größere Beweglichkeit; sondern auch deshalb, weil der Gebrauch der Dissonanzen jenen Vorteil verringert oder verdeckt, der sich uns durch die Notwendigkeit bietet, jeden einzelnen Ton zu intonieren;“224 Fubini fügt hinzu, dass Peris Konzeption nicht als Rekonstruktion der antiken Monodie zu verstehen ist: „Deswegen also (obwohl ich nicht so kühn bin zu behaupten, dies sei die Vortragsweise gewesen, die man auf den griechischen und römischen Theatern geübt hatte) glaubte ich, es sei diejenige, die man allein aus unserer Musik entwickeln kann, um sie unserer Sprechweise anzupassen.“225 Peri trägt bedeutend zur Entwicklung der Theorie vom Rezitativ bei. Dieser Stil wird u.a. bei den frühen musikalischen Schäferspielen praktiziert. Das Vorwort der Ariensammlung „Le nuove musiche“ (1601/02) von Caccini gehört zu den wichtigsten Manifesten der Musikpraxis des monodischen Stils. Zwölf der Sätze für Solostimmen sind Madrigalvertonungen. Zusammenfassend möchte ich kurz einige Stilmerkmale der Monodie nennen226: a) die Singstimme folgt dem Sprachrhythmus b) auf bedeutungsvolle Wörter (Liebe, Himmel, Stern) werden die Taktschwerpunkte gesetzt c) die Tonarten richten sich nach dem Inhalt des Textes (beispielsweise wird ein g-Moll für den Bereich des Schmerzes konventionalisiert) d) der Sologesang wird akkordisch von einem Generalbass begleitet, der oft in Form eines liegenden Basstons notiert ist. Er fungiert gleichsam als Fundament. 224 Peri zitiert nach Palisca 1989: 294f. 225 Peri zitiert nach Palisca S. 295 226 Vgl. dazu Brockhaus Musik 2001: 493; DTV Atlas für Musik 2000: 307 88 e) die melodietragende gesangliche Oberstimme ist gekennzeichnet durch ihren affektreichen Vortrag (cantare con affetto) und improvisatorischen Charakter: viele Verzierungen, dissonante Sprünge sowie häufige chromatische Schritte, schnelle Wechsel in der Tondauer, großer Ambitus der Stimme und entsprechend ausgebildete Gestik. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Camerata ein Projekt war, das sich zu einem neuen Genre verselbständigte – die Oper. Die Absicht der Camerata ist dahingehend, eine Bildhaftigkeit (ante oculus227) der Musik zu vermitteln, d.h. den dem vorliegenden Text immanenten Affektgehalt musikalisch darzustellen. Die TheoretikerInnen sprechen in diesem Sinne u.a. von sensus textuum exprimere228, oder veram explicationem textus. Das Hörbarmachen der dem Text innewohnenden Affekte wird im theoretischen Diskurs des 16. Jahrhunderts mit exprimere, exhibere, proferre u.ä. bezeichnet. Praktisch findet der theoretische Terminus eines „affectus exprimere“229 vor allem im Madrigal seine Anwendung. Exemplarisch soll an dieser Stelle Claudio Monteverdis230 Madrigalschaffen erwähnt sein. Mit der Betonung der Oberstimmen und der Zusammenführung der Unterstimmen etabliert er einen von einem Generalbassbegleiteten Sologesang. Im Mittelpunkt steht beim Madrigal die Imitation der passioni.231 Dabei wird dem Wort eine klare Vormachtstellung gegenüber der Musik zugesprochen.232 In Monteverdis Vorrede des 8. Madrigalbuchs (1638) 227 Samuel Quickelberg (1529-1568), ein Arzt aus Antwerpen, charakterisiert die Musik Orlando di Lassos und stellt ebenfalls die Textdeklamation in den Vordergrund. Die Aufgabe, die die Musik zu erfüllen habe, nämlich eine Bildhaftigkeit zu vermitteln, benennt er mit dem Begriff ante oculus. Vgl. dazu Dammann 1984 220 228 Exprimere [lat. ausdrücken, darstellen, herausstellen] zeigt bereits, wo die Schwerpunktsetzung der Opernform lag: Der Ausdruck wird vorrangig thematisiert. Vgl. dazu ebda., S. 104 229 Vgl. dazu ebda., S. 219; affectus exprimere meint die musikalische Darstellung der im Text vorliegenden immanenten Affektgehalte. Signifikanterweise wird unter den Terminus keine Instrumentalmusik subsumiert. 230 Schließlich findet das gesamte Repertoire musiktheatraler Mittel Ausdruck in Monteverdis „L’orfeo“ (1607 in Mantua uraufgeführt), mit welchem die Entstehung der Oper verkündet wird. Vgl. dazu Risi 2003: 148 231 Vgl. Dammann 1984. 259 232 Vgl. dazu Fubini 1997:. 95 89 beschreibt er drei Grundaffekte: ‚ira‘ (Zorn), ‚temperanza‘ (Mäßigung) und ‚humilitá‘ (Demut).233 Affectus exprimere234 – das Vorstellen oder Darstellen von Affekten - setzt sich als zentraler Topos auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts fort. Mit diesem Duktus verschiebt sich das Verhältnis zwischen dem musikalischen Kunstwerk und dem Publikum. Enrico Fubini spricht in diesem Zusammenhang von der „Geburt“ des Publikums.235 Ist im Mittelalter der Akt des Musikmachens und des Musikhörens noch in einer gemeinsam agierenden Figur verschmolzen,236 so kristallisiert sich durch die allmähliche Etablierung profaner Musikformen eine Trennung zwischen den Musikausübenden und den Musikhörenden heraus. Das kollektive Erleben von Musik, die Einheit von Ausführenden und RezepientInnen im gregorianischen Gesang reicht aus, um die menschliche Seele in Schwingung zu versetzen. Die „Geburt des Publikums“237 verlangt eine andere musikalische Ausgestaltung, um auch die passive Hörerschaft zu erreichen. Reduktion, einfache Struktur, naturgebundene Rationalität, Exegese des affekthaltigen vorliegenden Textes und die Funktionalisierung des Wirkungsvermögens von Musik werden dabei, wie bereits erwähnt, als Maßnahmen herangezogen. Maßgebend für den Wert eines 233Vgl. dazu Risi 2003 153 234 Der Terminus ‚affectus exprimere‘ wird später von dem Terminus ‚affectus excitare‘ abgelöst, wobei die Erregung der Affekte der Zuhörerschaft im Zentrum steht und nicht mehr nur die Textdeklamation nach den Maßstäben der menschlichen Affekte. Vgl. dazu Risi S. 149 235 Fubini 1997: 88 236 Fubini nennt hier exemplarisch den gregorianischen Gesang. Das Publikum und die Akteure und Akteurinnen hatten beide Funktionen gleichzeitig inne. Der liturgische Text, der in der Gregorianik als Leitfaden diente, wurde von der Gemeinde ausgeübt, die gleichzeitig selbst das Publikum war. Im Hintergrund dieser gesellschaftlichen Praxis stand die Idee, dem Kunstwerk eine Art Einheitlichkeit und Vollständigkeit zu verleihen. 237 An dieser Stelle möchte ich nochmal auf die Wiederentdeckung der griechischen Musikphilosophie zu sprechen kommen. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis hängt mit der Verbreitung der griechisch-antiken Musiktraktate zusammen. Wird die griechische Musiktheorie lange Zeit nur von PhilosophInnen, LiteratInnen und NaturwissenschaftlerInnen übersetzt und studiert, so werden musiktheoretische Texte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Musikgelehrten übersetzt. Namentlich soll hier auf das theoretische Werk des Komponisten und Kapellmeisters Franchino Gaffurio verwiesen werden. Seine Traktate stellen einen Versuch dar, die antike Musikphilosophie aus der Sicht der Musikwelt zu interpretieren. Sein Werk findet unter den Musikpraktizierenden Verbreitung. Gaffurio trägt sicherlich zu einem Teil zur Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxi bei. Vgl. dazu Gallo 1989: 23ff. Es sei auch auf die Kategorie der musica poetica hingewiesen, die innerhalb der deutschen Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts eingeführt wird, um die Trennung zwischen musica theoretica (mathematische Fundamentlehre) und musica practica (kompositionstechnische und aufführungspraktische Anweisungen) aufzulösen. Vgl. dazu Hirschmann (2005) 90 musikalischen Stückes ist das Urteil des Publikums - eine Praxis, die gleichzeitig nach einem zwecksgebundenen und verlässlichen musikalischen Modell ruft. Von der Camerata ausgehend wird quasi der Beginn einer Systematisierung des neuen musikalischen Stils markiert, der in den theoretischen Schriften über die musica pathetica fortgeführt und in der Praxis erprobt wird 91 VI. Zur Klassifizierung der musikalischen Affektenlehre des 17./ 18. Jahrhunderts VI. 1. Kontext In Kapitel V habe ich gezeigt, dass, ausgehend vom Gelehrtenkreis der Camerata dem Affekt als darzustellender Gegenstand große Aufmerksamkeit zugekommen ist. In gewisser Weise kreisten die Überlegungen um eine adäquate musikalische Nachahmung des im Text immanenten Affektgehaltes. Dabei spielte der Rückgriff zur griechischen Antike ein maßgebende Rolle, den ich exemplarisch anhand der Wiederbelebung der Monodie dargestellt habe. Infolgedessen wurden Überlegungen über die Wirkungskraft der Musik angestellt, um letztlich bestimmte Affektreaktionen im Publikum auszulösen, welche später in der neuen Gattung der Oper gut erprobt werden konnten. Handelte der humanistische Diskurs, wie es Dammann formuliert238, mehr oder weniger noch davon, eine Bildhaftigkeit des im Text vorliegenden Affektgehaltes musikalisch zu vermitteln (affectus exprimere), so wandelt sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Bedürfnis dahingehend, den Fokus auf die Wirkungskraft der Affekte zu legen. Es erscheint mir nicht notwendig, diese Entwicklung weiterführend darzustellen, da dies nicht das Anliegen dieser Arbeit ist. An dieser Stelle ist zumindest erwähnenswert, dass die Theoreme der Camerata zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Das affectus exprimere bleibt zu Beginn der Überlegungen noch als Grundstufe bestehen,239 wird aber von dem Terminus affectus excitare abgelöst. Das heißt, die reine Textdeklamation nach Maßstäben der menschlichen Affekte wird von dem Bedürfnis ersetzt, die primäre Aufmerksamkeit der Analyse auf die Wirkung der Affekte zu richten. Das Bestreben, kompositorisches Material zu rationalisieren, lag nicht nur darin, den einzelnen Affekt musikalisch darzustellen, sondern bewusst seinen Effekt in der Hörerschaft zu erzielen. Die allgemeinen Bemühungen bestanden darin, eine festgelegte Affektsystematik zu errichten – 238 Vgl. dazu Dammann 1984: 218fff 239 Vgl. dazu ebda., S. 221 92 gleichsam eine universal gültige Sprache. Der Begriff ‚musikalische Affektenlehre‘ wird signifikanterweise innerhalb der deutschen Musiktheorie etabliert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung behandelt u. a. die Frage, nach welchen Kriterien eine zuverlässige Klassifizierung errichtet werden kann. Es wird sich herausstellen, dass die Errichtung einer musikalischen Affektenlehre auf einem Prinzip von Ursache und Wirkung beruht. Mit anderen Worten: Die Etablierung einer Affektenlehre mittels kausalistischer Modelle ist ein Charakteristikum für die Wissensdisposition des 17./18. Jahrhunderts. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass eine heterogene Vielzahl an Affektsystematiken produziert wurde. Von einer vermeintlich angenommen allgemeinen Affektenlehre ist in diesem Sinne nicht die Rede. So tauchen selbst Widersprüchlichkeiten in einzelnen Affektsystematiken auf, was ich später zeigen werde. Die reine Lehre der Affekte reibt sich an einigen realen Faktoren, wodurch sie den willentlichen Status einer universal geltenden Lehre verliert. Ein Vergleich oder eine Auflistung der unterschiedlichen theoretischen Ansätze zu einer musikalischen Affektenlehre wird in dieser Arbeit nicht unternommen. Es geht mir vielmehr darum, den Fokus auf das allgemeine Bedürfnis, nach der Errichtung einer musikalischen Affektenlehre selbst zu legen. Es zeigt sich, dass das Bedürfnis nach der Formulierung einer allgemein gültigen Systematik (hier die musikalische Affketenlehre) ein epochenspezifisches Charakteristikum ist. Ein für die Epoche charakteristisches Denksystem, das sich erst, um mit Foucault zu sprechen, durch die ihm zugrunde liegende fundamentale Ordnung etablierte. Das Moment der Heterogenität der Lehren führt eigentlich wieder zum allgemeinen Bedürfnis der Errichtung einer allgemein gültigen musikalischen Sprache der Affekte zurück. Gemäß der archäologischen Auseinandersetzung filtere ich die Oberfläche des Archivs von unterschiedlichen Lehren der Affekte heraus. Es genügt in diesem Sinne, dieses fundamentale Bedürfnis des 17./ 18 Jahrhunderts exemplarisch anhand von ein oder zwei Theoretikern darzustellen. Ich mache daher im weiteren Verlauf einen zeitlichen sowie räumlichen Sprung zu zwei deutschen Musiktheoretikern des 17. und 18. Jahrhunderts (beide wurden und werden damals wie heute rege rezipiert) und werde eine Vorstellung davon vermitteln, in 93 welcher Weise eine Affektsystematik errichtet worden ist. An dieser Stelle soll aber auf Bartels „Handbuch der musikalischen Figurenlehre“240 hingewiesen sein, worin eine schnelle Übersicht unterschiedlicher Theorieansätze zu finden ist. Bei beiden Musikgelehrten, Athanasius Kircher und Johann Mattheson, ist ein direkter Bezug zu René Descartes‘ rationalistisch begründeter Körpermaschine zu bemerken, gleichsam ziehen beide Descartes‘ kausalbegründetes Modell für die Klassifizierung des kompositorischen Materials heran. Eine Referenz also, die wiederum deutlich auf das von Foucault konstatierte allgemeine Wissenssystem des 17./18. Jahrhunderts hinweist. Exemplarisch anhand von Kircher und Mattheson zeigt sich dies im musiktheoretischen Diskurs bestätigt. Im folgenden Verlauf soll dies gezeigt werden. Dabei werde ich vor allem auf die physiologischen Aspekte der Affekte, als wichtige Faktoren zur Errichtung einer Affektsystematik eingehen. VI. 2. Physiologische Entstehung der Affekte mittels der Temperamentenlehre bei Athanasius Kircher Athanasius Kircher (1601-1680) liefert mit der „Musurgia Universalis“ (1650) eine ausführliche Begründung der Beziehung zwischen Musik und Affekt – eine ordnungsgemäße Systematik. Signifikanterweise erscheint die Musurgia ein Jahr nach „Die Leidenschaften der Seele“ von Descartes. Die „Musurgia Universalis“ ist aber nicht nur eine Kompositionslehre, sondern vielmehr ein Versuch Kirchers, das gesamte Wissen seiner Zeit zusammenzutragen und in eine systematische Ordnung zu bringen. 241 Der Affekt wird im Hinblick auf seinen Effekt auf die Hörerschaft untersucht. Primär gilt wohl der Vorsatz, dass sich die Musik weniger auf das Gehör richtet, als vielmehr dazu dient, die Seele empfinden zu lassen. Das Gehör wird eher als eine Art Transmitter zur Seele angenommen. Kircher schreibt über das Wirkungsvermögen der Musik wie folgt: 240 Bartel, Dietrich: „Handbuch der musikalischen Figurenlehre“, Laaber-Verlag 2004 241 Vgl. dazu Breidbach 2003: 288 94 „Die ‚Auditores‘ können sich oftmals nicht beherrschen (‚contineri nescij‘), sie brechen in Geschrei (‚clamores'), Klagen (‚gemitus‘), Seufzer ‚suspiria‘) und Tränen (‚lachrymas‘) aus, nach außen getriebene Bewegungen des Körpers brechen aus (‚exoticos corporum motus erumpentes‘), innere Erregung (‚interiorum affectuum‘) zeigt sich in äußerlichen Zeichen (‚signis extrinsecis‘).“242 Das Fundament der Musurgia ist z.T. das Konzept der Magia Naturalis aus der Renaissance. Jedoch ist nach Kircher gerade die magische Kraft der Musik ein erklärbares Phänomen für die der Musik inhärente Ratio. Rolf Damman erläutert Kirchers rationale Annahme der Magie exemplarisch anhand des OrpheusMythos: Nach Kircher ist Orpheus kein magischer Zauberer, der in Besitz übernatürlicher Kräfte ist, sondern ein Musikgelehrter, Naturkundiger und Astrologe – also ein von der Ratio umklammerter Gelehrter. Für das Übertragungsprinzip der Wirkung des Affekts auf die Hörerschaft zieht Kircher u.a. Hippokrates‘ und Galenus‘ Humoralpathologie und Temperamentenlehre243 heran. Kircher greift auf eine physiologische Erklärung für die Gemütszustände der Seele zurück, klassifiziert die Empfindungen u.a. nach Maßstäben der Viersäftelehre. Diese besagt, dass der Mensch aus vier Säften besteht. Diese sind: helle Galle, Schleim, dunkle Galle, Blut. Jeder Saft setzt sich aus jeweils zwei von vier Qualitäten (feucht, trocken, warm, kalt) zusammen. Das Temperament ist abhängig von der Qualitätsmischung der Säfte. Das Prinzip verläuft wie folgt: Schwingungen in der Luft treffen aufs Trommelfell – sie versetzen die Lebensgeister in Bewegung – diese werden ins Gehirn übertragen – der Verstand des Gehirns erzeugt die Säfte – der Saft löst sich auf in Dampf und durchmengt sich mit den Lebensgeistern – die Seele erzeugt schließlich den Affekt – die Empfindung der Seele gelangt ins Herz (Zentrum der Lebensgeister) – die Lebensgeister strömen von dort weiter in die Muskeln – es zeigt sich eine physische Reaktion.244 Eine schnelle Bewegung der Lebensgeister führt zu freudigeren Affekten, ein geringeres Tempo zu Affekten wie Trauer und Schmerz. 242 Vgl.dazu Risi 2003: 149 243Etymologisch von lat. Temperatio –‚richtige‘ Mischung, ordnendes Prinzip. Temperamentenlehre fungiert in der Lehre der Affekte gleichsam als Regulativ. 244 Vgl. dazu Risi 2003: 152 & Scharlau 1969: 224 95 Descartes‘ physiologisch mechanische Körpermaschine und deren implizite kausalbedingte Affektenlehre drängen sich hierbei geradezu als Vergleich auf. Um dieses Kapitel abzuschließen, soll noch exemplarisch auf ein paar musikalische Regeln bei Kircher hingewiesen werden. So lässt sich nach Kircher beispielsweise der Affekt der Freude durch große Terzen, beschleunigtes Tempo und helle Klänge in hohen Lagen gut ausdrücken. Im Gegensatz dazu drücken dissonante Klänge den Affekt der Trauer angemessen aus. Durch den Halbton, als kleinstes Intervall verlangsamt sich das Tempo der Lebensgeister. Die Klangcharakteristik beschreibt Kircher als weich, matt und träge. VI. 3 Zur Klassifizierung der Affekte bei Johann Mattheson „Der vollkommene Capellmeister“ ist wohl einer der bekanntesten Kompositionslehren des 18. Jahrhunderts – in gewisser Weise fungiert diese Lehre als eine Art allumfassender Ratgeber. Mattheson wird auch heute noch sehr gerne in Programmheften zitiert.245 Er selbst schreibt im Untertitel über den Nutzen des „vollkommenen Capellmeisters“, es sei „eine gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Kapelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will“246. Sämtliche Aspekte der Musiktheorie und -praxis werden darin gleichsam in enzyklopädischer Manier verhandelt. Der Aspekt der Errichtung einer autonomen Musiksprache gegenüber einer textgebunden Vokalmusik sticht darin auffallend hervor. Mattheson beschreibt mitunter eine musikalische Affektenlehre, deren Wirkung sich über reine Instrumentalmusik determinieren lässt. In diesem Sinne wird das Postulat von der Affektwirkung reiner Instrumentalmusik auf das Publikum erhoben. An dieser Stelle soll nochmals auf Descartes‘ Annahme einer autonomen Musiksprache hingewiesen sein. Wegen der naturgebundenen Gesetzmäßigkeiten 245 Erst kürzlich habe ich in einem Artikel über die Oper „Don Chisciotte in Sierra Morena“ (von Francesco Bartolomeo Conti.) eine Äußerung von Mattheson gelesen. Für die Historisierung der Oper wird also auf Mattheson zurückgegriffen und sein kanonisierter Status infolgedessen bestätigt. Vgl. dazu Inhaltsangabe „Don Chisciotte in Sierra Morena“, in: Programmheft zu „Don Chisciotte in Sierra Morena“, (hg. Anna-Maria Birnbauer) Musikwerkstatt Wien, Feb 2009 246 Vgl. dazu Klappentext Mattheson 1739 96 des Klanges werden nach Descartes auch die bestimmten Gemütsbewegungen hervorgerufen. „Der Natur des Klanges“247 widmet sich auch Mattheson ausführlich in einem Kapitel und führt darin eine Klassifizierung kompositorischen Materials nach Maßstäben der menschlichen Affekte durch. VI. 3 . 1. Zum Aspekt der Beziehung zwischen Rhetorik und Musik Neben der Analyse der Natur des Klanges, welche ich im nächsten Kapitel kurz skizzieren werde, widmet sich Mattheson ausführlich der Beziehung zwischen Rhetorik und Musik. Es erscheint mir wichtig, auf diesen Aspekt einzugehen, da er für das Prinzip der Klassifizierung eine wesentliche Rolle spielt und hier wiederum die Betonung auf einer Autonomie der Musiksprache liegt. Im Folgenden stelle ich kurz ein paar Gedanken dazu dar. Die Sprache der Musik ist nach Mattheson nichts anderes als eine Art Rede. Er schreibt dazu: „ Weil nun die Instrumental-Music nichts anderes ist, als eine Ton-Sprache oder Klang-Rede, so muß sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine Gemüths-Bewegung richten…“248 Als Vorbild für die kompositorischen Produktionsstadien greift Mattheson in die Werkzeugkiste der griechisch antiken Rhetorik, die eine bewährte Ausdrucksweise war, um gezielt bestimmte Affekte in der Hörerschaft hervorzurufen. Eine gute musikalische Struktur sollte nach Mattheson die gleiche Form haben wie eine gute Rede. Er schreibt dazu: „Allein, man muß doch sicher wissen, daß auch ohne Worte, in der bloßen Instrumental-Music allemahl und bei einer jeden Melodie, die Absicht auf eine Vorstellung der regierenden Gemüths-Neigung gerichtet sein müsse, so daß die Instrumente, mittels des Klanges, gleichsam einen redenden und verständlichen Vortrag machen.“249 Mattheson fordert in diesem Sinne aber nicht eine musikalische Nachahmung der Rhetorik, sondern es geht ihm vielmehr darum, die nahe Verwandtschaft 247 Matthseon 1739: 9, drittes Kapitel 248 Ebda., S. 82 249 Ebda., S. 127 97 zwischen beiden Künsten herauszuarbeiten. Soll heißen: Mattheson begreift die rhetorische Figurenlehre nicht als Ursprungslehre für die musikalische Lehre, die es nachzuahmen gilt, sondern er betrachtet sie als mit der musikalischen Figurenlehre250 übereinstimmend. Die Beziehung zueinander sei so eng, „daß es fast scheinet, als hätten die griechischen Redner sothane Figuren aus der TonKunst entlehnt.“251 Für die Formalisierung des kompositorischen Materials greift Mattheson auf rhetorische Mittel der griechischen Antike zurück. Abschließend kann festgehalten werden, dass Matthesons Kompositionslehre nicht als Vorschlag für die Nachahmung rhetorischer Muster zu verstehen ist. Vielmehr wird darin eine Eigenständigkeit der Musik auf ihre Affektwirkung hin postuliert und Mattheson arbeitet in diesem Sinne nur ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Rhetorik und Musik heraus. VI. 3. 2. Zum Aspekt der physiologischen Entstehung der Affekte Den Aspekt der Natur des Klanges beschreibt Mattheson im dritten Kapitel des ersten Teiles. Für Mattheson weisen die Klänge an sich bestimmte affekthaltige Charakterzüge auf – eine These, die explizit in Relation zu Descartes‘ Erkenntnissen steht. Den Klang bestimmt Mattheson als „eine gewisse, geschwinde Bewegung und Zusammenschlagung der Luft-Theilchen, die empfindlich ins Gehör dringen.“252 Nach Mattheson rührt jeder Klang, Gesang und Schall aus der Bewegung der Luftteilchen, denn erst durch die Bewegung der Dinge kann ein Geräusch oder ein Wohlklang wahrgenommen werden. So kann auch die menschliche Stimme, will sie einen Hall oder Schall hervorbringen, dies nur mittels der Bewegung der Luftteilchen und mit Hilfe der Lunge und der Kehle. Die Klangcharakteristik ist in diesem Sinne in Abhängigkeit von den Bewegungen 250 An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass sich zur Zeit Matthesons bereits eine hundert Jahre zuvor entstandene musikalische Figurenlehre etabliert hat. Vgl. dazu Bartel 1985: 48 251 Ebda., S. 243 252 Kircher zit. nach Mattheson 1739: 9 98 der Luftteilchen, „welche theils langsam, theils geschwind geschehen können, so ist daher zu wissen, daß von den langsamen die tiefen Klänge und von den geschwinden die hohen entspringen, wie solches die Erfahrung beweiset.“253 Bei der Formalisierung einer Naturlehre des Klanges streicht Mattheson den Aspekt der Wirkung der Klänge auf die Gemütsbewegung und die Leidenschaften der Seele als den wichtigsten heraus. Mattheson empfiehlt hierzu Descartes als Referenz zu studieren: „Die Lehre von den Temperamenten und Neigungen, von welchen letztern Cartesius absonderlich deswegen zu lesen ist, weil er in der Music viel gethan hatte, leisten hier sehr gute Dienste, indem man daraus lernet, die Gemüther der Zuhörer, und die klingenden Kräffte, wie sie an jeden wirken, wol zu unterscheiden.“254 Man sieht also, dass Descartes‘ Ausgangspunkt (die Gemütsbewegungen der Seele werden durch das Ein- und Ausströmen der Lebensgeister induziert) von Mattheson für die Beschreibung der unterschiedlichen Klangcharakteristika der jeweiligen Affekte übernommen wird. Eine Auswahl von klanglichen Affektbestimmungen ist im Folgenden kurz exemplifiziert: Freude: „Da z.B. die Freude durch Ausbreitung unserer Lebens-Geister empfunden wird, so folget vernünftiger und natürlicher Weise, daß ich diesen Affect am besten durch weite und erweiterte Intervalle ausdrücken könne.“255 Traurigkeit: „Weiß man hergegen, daß die Traurigkeit eine Zusammenziehung solcher subtilen Theile unseres Leibes ist, so stehet leicht zu ermessen, daß sich zu dieser Leidenschaft die engen und engesten Klang-Stuffen am füglichsten schicken.“256 Liebe: „Wenn wir ferner erwegen, daß die Liebe eigentlich eine Zerstreuung der Geister zum Grunde hat, so werden wir uns billig in der Setz-Kunst danach 253 Ebda., S. 12 254 Ebda., S. 15 255 Ebda., S. 16 256 a. a. O., S. 16 99 richten, und mit gleichförmigen Verhältnissen der Klänge (intervallis n. diffusis & luxuriantibus) zu Wercke gehen.“257 Hoffnung und Verzweiflung: „ Die Hoffnung ist eine Erhebung des Gemüths oder der Geister; die Verzweiflung aber ein gänzlicher Niedersturz derselben: welches lauter Dinge sind, die sich mit den Klängen, wenn zumahl die übrigen Umstände (absonderlich die Zeitmaasse) das ihrige mit beitragen sehr natürlich vorstellen lassen. Und auf solche Art kan man sich von allen Regungen einen sinnlichen Begriff machen, und seine Erfindungen darauf errichten.“258 Erwähnenswert hierbei ist, dass Mattheson bei der Bestimmung der Klangcharakteristik nach ihrem Affektgehalt, nicht wie Descartes von Grundaffekten ausgeht. Vielmehr sind nach Mattheson gerade die Mischformen wie z.B. Eifersucht musikalisch gut ausdrückbar.259 VI. 4. Eine festgelegte musikalische Affektenlehre – ein Mythos? In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass die Annahme einer allgemein gültigen Affektenlehre durchaus pure Rhetorik innerhalb der Musikgeschichtsschreibung darstellt. Anhand von Kirchers Affektsystematik zeigt sich, dass sein Anliegen einer universal gültigen Lehre durchaus nicht einlösbar ist. Einerseits zieht Kircher das System der Temperamente von Hippokrates und Galenus für die Errichtung einer einheitlichen Lehre der Affektwirkung heran, nach welcher jeder Mensch auf die gleiche Art und Weise affiziert werden muss. Andererseits stellt Kircher deren Vereinheitlichung für die Kompositionsregeln wieder in Frage, indem er die subjektive Wahrnehmung und die Rolle der PerformerInnen thematisiert.260 Kircher nennt also jene Faktoren, die seiner Ansicht nach die Individualität der 257 a. a. O., S. 16 258 a. a. O., S. 16 259Vgl. dazu Lenneberg 1958: 48 260Vgl. dazu Risi 2003: 160 100 Wahrnehmung betonen. So ist zum einen die Reaktion auf den dargestellten Affekt abhängig von der Struktur des Temperamentes. Die Empfindung der dargestellten Affekte ist nach Kircher also abhängig von individuellen Geschmäckern, wie beispielsweise die Vorliebe für spezifische Klänge, Instrumente oder Harmonien.261 Vor allem zeigt sich nach Kircher der Individualgeschmack abhängig von einem jeweiligen sozialen Umfeld. Die Komplexität des individuellen Empfindens ist nach Kircher sozialisiert. Kircher bezeichnet diesen Vorgang als „stylus impressus“.262 Er schreibt über die Eigenschaft des stylus impressus, dass er sich „der natürlichen Complexion des Menschen und deß Lands beschaffenheit“263 zusammensetzt. Vor allem hebt Kircher die klimatischen Umstände eines Landes hervor, „die völkische und rassische Merkmale formen und die Unterschiede von „Gestalt / Eigenschaft / Farben / Staturen / Haar / Sitten / und auch gar ihrer Sprach und Reden“ hervorbringt.264 Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Für Kircher ist das charakteristische Klima in Deutschland Kälte. Daraus lassen sich nach Kircher Schlüsse auf einen allgemeinen Charakter ziehen, den er als langsam, bedächtig, gründlich und fleißig markiert. Nach Kircher lässt sich das allgemeine Gemüt dann auch innerhalb der Musik beobachten. Hier beobachtet er konkret die Verwendung von ruhigen, dahinfließenden Harmonien. Er schreibt dazu: „Die Teutschen haben ein kaltes Land / also kalte Complexion und grob Stimm.“265 Den ‚Charakter‘ der ItalienerInnen und ihren Musikstil subsumiert er im Unterschied dazu wie folgt: „Die Italiäner aber haben den Vorzug in der Music / weil sie das allertemperirteste Land haben / also auch den allervollkommsten und temperirtesten stylum, so ihrer Natur gemäß ist.“266 261 Vgl. dazu Scharlau 1969: 230 262 Ebda., S. 231 263 Kircher zitiert nach Scharlau, ebda. S 230 264 Ebda., S 231 265 Ebda., S 232 266 Ebda., S 232 101 Neben der individuellen Affektwirkung, die durch die Beschaffenheit der Temperamente sowie von den unterschiedlichen Klimaverhältnissen beeinflusst ist, führt Kircher die jeweilige Raumakustik als zusätzlich verantwortlichen Faktor an. Ist der Raum beispielsweise zu eng oder sind die Wände verschachtelt, dann geht die Wirkungskraft der Stimmen verloren. Bei einem zu großen Raum hingegen verliert sich generell der Gesamtklang. Nicht zuletzt markiert Kircher die Rolle der performativen Realität, durch die selbst die festgelegteste Regelhaftigkeit einer Affektenlehre aus den Bahnen geworfen werden kann. Kircher äußert sich über die performative Realität wie folgt: „Was wollen wir itzt von den lächerlichen Geberden der Sänger sagen? Etliche wollen mit dem gantzen Leib den Tact geben / etliche regen den Kopf übersich und undersich zu einem ieden intervallo , etliche wancken von einer Seiten zur andern / wie die Comödianten / ist das nicht lächerlich / etliche machen ihren Mund so rund wie ein Ofenkachel / andere so lang gespitzt / wie eine Posaunen / andere drehens von einer Seiten zur andern / komt hinzu das schändliche bewegen der Augen / die Zusammenziehung der Augbrauen: daher jener gar wohl geurtheilet / die music [i] sollten verschlossen seyn / und von niemand gesehen werden […].“267 Aus diesem Zitat geht sehr deutlich hervor, dass die Aufführungsrealität hier nicht konform geht mit der Idee der ‚reinen‘ Lehre. Die Lehre der Affekte tritt in Konkurrenz zur performativen Realität, die die eigentliche Affektübermittlung gewährt. Die Idee einer universal sprechenden Affektenlehre wird von der Realität eingeholt. Der einflussreichen Rolle der PerformerInnen kann die Idee einer Vereinheitlichung der Affekterregung nicht standhalten. Von dieser Diskrepanz ausgehend ist, wie Risi richtig betont, eine greifbare Affektenlehre nicht möglich. Die vermeintliche Annahme einer ‚objektiven‘ Kategorie des musikalisch darstellbaren Affekts, wie sie in der Literatur in Abgrenzung zur Romantik (dem Zeitalter der subjektiven Empfindsamkeit) verhandelt wird, kann nicht eingelöst werden.268 Risi fügt hinzu, dass Kircher diesen Widerspruch – 267 Kircher zitiert nach Risi 2003: 155 268 Vgl. dazu Risi 2003: 159 102 reine Lehre versus performative Realität – zwar polemisiert, jedoch keine Konsequenz daraus zieht. Mit dieser Bearbeitung von Risi erscheint eine festgelegte musikalische Affektenlehre als Mythos und stellt m. E. einen bedeutenden Beitrag zur Wissenschaftskritik dar. Diesem Duktus folgend, wären natürlich weitere Untersuchungen vereinzelter Affektsystematiken des 17./18 Jahrhunderts durchaus spannende Unternehmungen. Jedoch verbleibt der Fokus dieser Arbeit auf dem epochenspezifischen Bedürfnis der Errichtung einer universal gültigen Affektenlehre. Die oben dargestellte Diskrepanz zwischen der realen Aufführungspraxis und der Vereinheitlichung einer ‚reinen‘ Lehre bestätigt m. E. gerade das epochenspezifische Bedürfnis. Anhand der musikalischen Affektenlehren zeigt sich ein ‚Wille zur Wahrheit‘, den Foucault als charakteristische gesellschaftliche Praxis des 17./18. Jahrhunderts markiert. Von diesem epochenspezifischen Willen ausgehend, werden die Gegenstände und Lebewesen im System von Identität und Differenz klassifiziert. Seine Funktion hat eine verifizierende Instanz inne. Dieser „Wille zum Wissen“269, von welchem die Wissensdisposition des 17./18. Jahrhunderts durchdrungen ist, geht mit der Lektüre von „OD“ auf das Fundament der Epoche zurück – die Seinsweise der Repräsentation. Wie bereits erwähnt bedeutet das ‚Ich denke‘ in diesem Zeitraum die Klärung von Begriffen. „Die fundamentale Aufgabe des klassischen „Diskurses“ ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen. Während zweier Jahrhunderte bildete der abendländische Diskurs den Ort der Ontologie.“270 269 Vgl. dazu „der Wille zum Wissen“ bei Foucault in, Kap. I.3. 270 Foucault 1971: 164 103 Schluss Risis Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass der Wunsch nach der Errichtung einer universal gültigen Lehre der Affekte nicht in Erfüllung geht. Ganz simpel stehen diesem Bedürfnis konkrete Realisierungskontexte im Wege. Nach Risis Analyse der „Musurgia Universalis“ berücksichtigt Kircher in seiner Lehre zwar die Aspekte der performativen Realität, integriert sie jedoch nicht konsequent in seine Überlegungen. Mit Risis kritischer Analyse wollte ich zeigen, dass das Bedürfnis einer allgemein gültigen wie wirkenden Lehre der Affekte selbst im 17./18. Jahrhundert an seine Grenzen stößt und eine solche Lehre in diesem Sinne nicht existiert. Nichtsdestotrotz führt gerade dieses Moment wiederum zurück zu Foucaults These: Das Kategorisieren wie Klassifizieren ist charakteristisch für das Denksystem des 17./18. Jahrhunderts. Der Wille, die Objektivität eines Gegenstandes gleichsam in einer repräsentierenden Eindeutigkeit auszustellen271, lässt sich nicht nur in der Botanik beobachten, wie es Foucault in „OD“ veranschaulicht. Dieses Bedürfnis kann auch innerhalb der musiktheoretischen Wissensdisposition des 17./18. Jahrhunderts anhand der musikalischen Affektenlehre beschrieben werden. Es stellt sich die Frage, in welcher Weise die Musiktheorie und –praxis der Jetztzeit mit diesem enzyklopädischen Erbe, nennen wir es das Affekt-Archiv, arbeitet. Werden die Affektenlehren des 17./18. Jahrhunderts gleichsam mit demselben Bedürfnis von damals - dieses ist schlicht der Wille zur Wahrheit übernommen, welche dann im selben Moment zu einer unumstößlichen Referenzlehre geworden ist? Oder böte gerade Foucaults Erkenntnis dieser spezifischen Charakteristik der Wissenssysteme jener Zeit (und vielleicht auch noch die von heute), ein fruchtbringendes Fundament auch für die Betrachtung der heutigen Analysen? Das fruchtbringende Potenzial kann darin bestehen, dass man zunächst durch diese Art der Reflexion die Ordnung in den Dingen bewusst machen kann. Für einen weiteren Schritt böte sich, um sich nicht gänzlich in der Ordnung der Dinge zu verlieren, die Arbeit mit neueren Subjekttheorien (Judith 271 Vgl. dazu Schneider 2004: 74 104 Butler, Antke Engel) an – also mit jenen Theorien, die gerade in der Bewusstwerdung von Normsystemen eine Handlungsfähigkeit sehen. 105 Literatur Bartel, Dietrich (1985): Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber-Verlag Borges, Jorge Luis (1966): Die analytische Sprachen John Wilkins’, in: Das eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München Bublitz, Hannelore (1999): Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten: Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften, Frankfurt/Main Braun, Werner (1994): [Art.] Affekt, in: MGG² Bd. I, Sp. 31-41. Breidbach, Olaf (2003): Zur Repräsentation des Wissens bei Athanasius Kircher, in: Schramm, Helmar; Ludger, Schwarte; Lazardzig, Jan (Hg.) (2003): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. 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In gewisser Weise ist dies das epochenspezfische Merkmal der Wissensdispositionen jener Zeit. Die musiktheoretische Bestimmung der Affektenlehre fällt in diese historische Rahmung. Der Affekt mit seiner Wirkung auf die Hörerschaft wird in den musikalischen Lehren der Affekte des 17./18. Jahrhunderts bestimmt und klassifiziert. Dieses enzyklopädische Wissen über die musikalische Darstellung der Affekte und seine Wirkung geht auf eine für die Epoche charakteristische Ordnung zurück. Die Ordnung in ihrem Sein, wie es Foucault nennt, bestimmt die Art und Weise der Positivitätsformen des Wissens. Diese Sichtweise bildet den Hintergrund für meine Arbeit. Die Ähnlichkeit der Denksysteme des 17./18. Jahrhunderts zeige ich anhand von René Descartes Bestimmung des menschlichen Körpers und seiner rationalistischen Lehre der Affekte, sowie der musikalischen Affektenlehre. 112 113 Lebenslauf Nachname / Vorname Maria Fuchs Geburtstagsdatum Lienz, am 08. 08. 1981 Maturität 2002, Realgymnasium für Berufstätige, Innsbruck Immatrikulation März 2002, Diplomstudium der Musikwissenschaft, Universität Wien Erasmus 30.09.2004 – 30.09.2005, Magisterstudienlehrgang Musikwissenschaft, Allg. u. Vgl. Litwiss., Ethnologie, Freie Universität Berlin