 Musica Poetica und musikalische Figurenlehre MUSICA POETICA UND MUSIKALISCHE FIGURENLEHRE – EIN PRODUKTIVES MISSVERSTÄNDNIS JANINA KLASSEN Die Sternbilder dienen nicht der Erkenntnis der Sterne. Walter Benjamin Produktive Aspekte Die von Arnold Schering 1908 als Reflex auf Hermann Kretzschmars Affektenlehre skizzierte musikalische Figurenlehre1 kann heute als eines der attraktivsten und erfolgreichsten Erklärungsmodelle für Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts gelten. Damit hoffte man, ein entscheidendes Manko musikalischer Hermeneutik, nämlich das Fehlen einer intersubjektiven, quasi wissenschaftlichen Basis für den Sinn- und Ideengehalt von Musik lösen zu können. Die musikalisch-rhetorischen Figuren wurden als Schlüssel zur Dekodierung alter Musik benutzt und ermöglichten es, eine Musik, die sich bis dahin weitgehend der Analyse entzog, sprachlich, begrifflich zu fassen. Die Figuren boten ein scheinbar sicheres Terrain, um zu Klarheit und Gewissheit der Auslegung zu gelangen. Gleichzeitig dienten sie allerdings auch dazu, den Zugang zur Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts auf andere Weise wieder zu verschlüsseln, nun nämlich durch die spezifische, neu zu lernende griechisch-lateinisch-italienische Terminologie der rhetorisch-musikalischen Figuren. Die Etablierung einer musikalischen Figurenlehre hat seit fast hundert Jahren immer wieder Stoff für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung geliefert, sei es in der Erweiterung und Vervollkommnung ihrer Kenntnis und ihres 1 A. Schering, Die Lehre von den musikalischen Figuren, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 1908, S. 106–144.  Janina Klassen Geltungsbereichs, sei es im Widerstand gegen die der Figurenlehre unterstellte Triftigkeit oder Gültigkeit für die Musik des 16. bis 18. oder gar 19. Jahrhundert, sei es in der Untersuchung ihrer historischen Grundlagen und Rezeption.2 In allen Fällen, ob dafür oder dagegen, führte die Auseinandersetzung zu einer immer größeren und vertiefteren Kenntnis nicht nur des Musikrepertoires, sondern auch der historischen, geistesgeschichtlichen, musikalischen und sprachtheoretischen Grundlagen dieses Zeitraums. Manche Termini, wie Christoph Bernhards singulärer „passus duriusculus“, gehören heute zum musiktheoretischen Allgemeingut, unbeschadet der Tatsache, dass anstelle der ursprünglichen satztechnischen Bedeutung der Ausdruck meist vereinfacht für einen chromatischen Quartgang benutzt wird. Der Passus duriusculus kommt nur in Bernhards handschriftlichem Tractatus compositionis augmentatus (um 1682) vor, dort unter den Figuren des Stylus luxurians communis. Er taucht in anderen zeitgenössischen Quellen nicht auf und trat erst ab 1926, mit dem Druck des Traktats, ins Rampenlicht. Auf die satztechnische Bedeutung ist verschiedentlich hingewiesen worden, ohne nennenswerte Folgen für den inzwischen eingeschliffenen Sprachgebrauch.3 Noch das Für und Wider der Diskussion bestätigt indessen den historischen Erfolg des Modells. Die „Entdeckung“ der Figurenlehre 1908 erweist sich im Rückblick als eine nicht zu unterschätzende geistig-kreative Anregung für die deutsche Musikwissenschaft, wie sie auf analytischer Ebene nur noch für die Sonatenform gelten dürfte. Allein schon durch diese Bedeutung wäre sie hinreichend legitimiert. Im folgenden skizziere ich die wichtigsten Stationen ihrer Erfolgsgeschichte. Schering ging 1908 von vier Quellen aus, nämlich den Schriften von zwei katholischen, Johannes Nucius und Mauritius Vogt, und von zwei protestantischen Autoren, Christoph Caldenbach und Johann Adolf Scheibe. Er schloß von den dort zu findenden Katalogen auf eine bis dahin unentdeckte „Lehre von den musikalischen Figuren“.4 Hintergrund dürfte die Abkehr vom Positivismus der älteren Forschergeneration und auch dem vermeintlichen Subjektivismus Kretzschmar’scher Hermeneutik gewesen sein. Stattdessen gilt die Suche einer den Kunstwerken immanenten, gegen den historischen Wandel re- 2 Dieser Aspekt ist in meiner Untersuchung enthalten: „Nur als zukker und gewürze zu brauchen“. Musikalisch-rhetorische Figuren im Kontext von Musikschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts. Erscheint in der Reihe: Studien zur Geschichte der Musiktheorie, Bd. 4, hrsg. von Th. Ertelt, voraussichtlich 2002. 3 So von C. Dahlhaus, Die Figurae superficiales in den Traktaten Christoph Bernhards, in: Kongress-Bericht Bamberg 1953, Kassel 1954, S. 135–138. 4 J. Nucius, Musices poeticae, Neisse 1613; C. Caldenbach, Dissertatio musica, Tübingen 1664; M. Vogt, Conclave thesauri magnae artis musicae, Prag 1719; J. A. Scheibe, Critischer Musikus, Leipzig 1745; A. Schering (wie Anm. 1), S. 104 ff.  Musica Poetica und musikalische Figurenlehre sistenten Bedeutung. Auf dieser Basis wurde es in der weiteren Geschichte der Entstehung und des Gebrauchs der Figurenlehre möglich, die einzelnen Figuren aus ihren Quellen herauszulösen, sie nach neuen Ordnungssystemen5 zu sortieren und als unabhängige musikalisch-hermeneutische Sinnträger zu etablieren. Der Vorgang lässt sich auf analytischer Ebene vergleichen mit dem hartnäckigen Missverständnis von Wagners Leitmotiven als musikalischen Bausteinen, aus denen ein Gesamtkonzept zusammengepuzzelt würde. Angeregt durch dieses Vorbild, wenn auch ungleich differenzierter als in den Motivtabellen zu Wagners Ring des Nibelungen, hatte Albert Schweitzer 1905 die „musikalische Sprache“ von Bachs Chorälen und Kantaten auf der Grundlage von zentralen „sprechenden“ (Schritt-, Tumult-, Schmerz-, Freuden-) Motiven6 interpretiert, ohne Rückgriff auf rhetorische Figuren. Auf der anderen Seite und ebenfalls von der Leitmotivtechnik Wagners angeregt steht die zeitgenössische Praxis der Stummfilmmusiker, mit standardisierten Emotions-, Situations-, Repräsentations- und Naturmotiven eine die laufenden Bilder begleitende und die Wahrnehmung lenkende oder zumindest unterstützende Musik zu generieren.7 Das Sammeln von Figuren wurde durch die Erschließung und Auswertung weiterer Quellen unter diesem Aspekt, vor allem der Schriften von Joachim Burmeister, Christoph Bernhard8 und Athanasius Kircher, in den zwanziger Jahren wesentlich gefördert. Das von Heinz Brandes 1935 und Hans Heinrich Unger 19419 erweiterte Figurenarsenal enthält bereits das heute bekannte, 5 Vergleiche etwa die unterschiedlichen Systematisierungen von H. Brandes, Studien zur musikalischen Figurenlehre, Berlin 1935; H. H. Unger, Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.–18. Jahrhundert, Würzburg 1941, Neudruck Hildesheim 1969; H. Krones, Musik und Rhetorik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 1997, Sp. 814–851. 6 A. Schweitzer, Johann Sebastian Bach, Paris und Leipzig 1905, deutsche Ausgabe 1908, zitiert nach der 10. Auflage Wiesbaden 1979, Kap. XXII und XXIII, S. 425–479. 7 In diesem Sinne zieht noch Josef Kloppenburg musikalisch-rhetorische Figuren zum Vergleich heran: J. Kloppenburg, Filmmusik. Stil – Technik – Verfahren – Funktionen, in: Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, hrsg. von J. Kloppenburg, Laaber 2000, S. 26 f. 8 Christoph Bernhards bis dahin ungedruckte Schriften wurden unter dem Gesamttitel Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hrsg. von J. Müller-Blattau, Leipzig 1926, erstmals veröffentlicht. 9 Siehe Anmerkung 6.  Janina Klassen 1982 von Dietrich Bartel im Handbuch der musikalischen Figurenlehre zusammengefasste und von Hartmut Krones 1997 noch einmal umrissene Repertoire.10 Allerdings hatte sich die musikhistorische Situation in den zwanziger Jahren bezeichnend verändert. Die Auseinandersetzung mit Alter Musik erhielt nun entscheidende Impulse durch die kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegungen, deren Rückwendung in die vorklassische Zeit auch eine Neubewertung protestantischer Kirchenmusik mit sich brachte. Zusammen mit der spezifischen Luther-Renaissance dieser Jahre11 kam eine deutliche politisch chauvinistisch orientierte Komponente hinzu, die auf die kulturelle Überlegenheit deutscher gegenüber allen anderen Musikformen seit der Reformation zielte. Das Denkmodell einer rhetorisch geprägten protestantischen Musik gegenüber einer affektgeladenen sinnlich wirksamen italienisch katholischen Tradition (Hans Heinrich Eggebrecht spricht später von „intellektuellem“ gegenüber „affektuosem Bedeuten“12 ) wird hier in der Umbruchsituation nach dem Ersten Weltkrieg mit Nachdruck etabliert. Vor diesem Hintergrund ist dann auch die von Wilibald Gurlitt 1942 getroffene Bestimmung der „deutschen Kompositionslehre“ als „Musica poetica“13 zu sehen, die vor allem von protestantischen Kantoren geschrieben werde. Eine Verknüpfung von Musica poetica und musikalischer Figurenlehre lag damit gleichsam auf der Hand. Einen breiteren Bekanntheitsgrad erreichten die musikalisch-rhetorischen Figuren Anfang der fünfziger Jahre. Vor allem Arnold Scherings Ideen zur musikalischen Symbolik und die „Bildlichkeit der wortgebundenen Musik J. S. Bachs“14 von Arnold Schmitz trugen nun zur Popularität der Figurenlehre bei. Eggebrecht hat dann 1959 am schlagkräftigsten Gurlitts Gedankenstränge 10 D. Bartel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1982, 31998; H. Krones, wie Anmerkung 5. 11 Vergleiche dazu H. Lehmann, Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 124 ff. 12 H. H. Eggebrecht, Über Bachs geschichtlichen Ort (1957), in: ders., Bach – wer ist das? München 1992, 21994, S. 50. 13 W. Gurlitt, Der Begriff der sortisatio in der deutschen Kompositionslehre des 16. Jahrhunderts (1942), zitiert nach ders., Musikgeschichte und Gegenwart, Bd. I, hrsg. von H. H. Eggebrecht, Wiesbaden 1966, S. 93 ff. (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 1). 14 Vergleiche dazu K. W. Niemöller, Die musikalische Rhetorik und ihre Genese in Musik und Musikanschauung der Renaissance, in: Renaissance-Rhetorik, Renaissance Rhetoric, hrsg. von H. F. Plett, Berlin, New York 1993, S. 285; A. Schering, Das Symbol in der Musik, hrsg. von W. Gurlitt, Leipzig 1941; A. Schmitz, Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, Mainz 1950 (= Neue Studien zur Musikwissenschaft I).  Musica Poetica und musikalische Figurenlehre zusammengezogen, indem er die „Figurenlehre der Musica poetica und die Figurenpraxis des Musicus poeticus“15 am Beispiel von Heinrich Schütz explizierte. Verglichen mit der Aufbruchsstimmung dreißig Jahre vorher erfolgte diese Schütz-Renaissance allerdings in einer gänzlich veränderten Situation. Nun herrschte eher eine Art verstörter Ernüchterung vor, die ganz wesentlich mit der Erfahrung zusammenhängen dürfte, dass Musik, wie alle anderen Künste auch, im Nationalsozialismus in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zu politischen Zwecken funktionalisiert und missbraucht worden war.16 Schütz, der selber unter Kriegswirren gelitten und in seinen deutschsprachigen Werken in künstlerischer Dignität eine (bibel-)wortgebundene, ideologisch weitgehend unangreifbare Musik geschaffen hatte, so zumindest die Hoffnung, bot hier einen wichtigen Fluchtpunkt. Die Sicht der rhetorischen Figuren als kompositorische Substanz und Deutung der wortgebundenen Musik zugleich (im Unterschied zu bloß auszierenden Manieren) erhielt hier neues Gewicht und verlieh der Figurenlehre sozusagen den Rang eines zeitenthobenen Theoriemodells. Auf dieser Basis begann nun ein neuer kreativer Schub von Analysen Alter Musik. Obwohl bekannt war, dass nicht alle mit „Musica poetica“ betitelten Kompositionslehren auch Figuren enthalten, umgekehrt Figurenkataloge in anders titulierten Traktaten vorkommen17 , ist dieses Modell bis heute wirksam und hat sich auch gegen immer wieder artikulierten heftigen Widerstand18 durchgesetzt. Missverständnisse In den historischen Quellen findet sich bekanntlich keine dem heutigen Aussehen vergleichbare „Figurenlehre“. Es hat die anhaltende Attraktion allerdings kaum geschmälert. Ohnehin führen in einem Zeitraum von hundertfünfzig Jahren und bei einer Anzahl von mindestens zweihundertzwanzig 15 H. H. Eggebrecht, Heinrich Schütz. Musicus poeticus, Göttingen 1959, zitiert nach der Ausgabe Wilhelmshaven 1985, S. 80. 16 Die Konsequenzen aus der Missbrauchserfahrung, wie etwa das Phänomen anhaltender Sprachlosigkeit, sind in Bezug auf Musik bislang kaum untersucht. Dieser Aspekt wird an anderer Stelle näher ausgeführt werden. 17 Martin Ruhnke hat 1961 bereits den Zusammenhang zwischen Musica poetica und Figurenlehre behutsam, wenn auch deutlich revidiert; ders., Musica theorica, practica, poetica, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 9, Sp. 954 ff. 18 Vergleiche allein die einschlägigen Artikel im Schütz-Jahrbuch der letzten fünfzehn Jahre.  Janina Klassen Schriften19 lediglich vierzehn Autoren überhaupt gesonderte Figurenkataloge an. Joachim Burmeister, Hypomnematum musicae poeticae, Rostock 1599 ders., Musica autoschediastike, Rostock 1601 ders., Musica poetica, Rostock 1606 Johannes Nucius, Musices poeticae sive de compositione cantus, Neisse 1613 Joachim Thuringus, Opusculum bipartitum de primordiis musicis, Berlin 1624 Athanasius Kircher, Musurgia universalis, Rom 1650 Christoph Bernhard, Ausführlicher Bericht vom Gebrauche der Con- und Dissonantien, Ms. [um 1660] ders., Tractatus compositionis augmentatus, Ms. [um 1682] Christoph Caldenbach, Dissertatio musica, Tübingen 1664 Wolfgang Caspar Printz, Phrynis Mitilenaeus, oder Satyrischer Componist, 3 Bde., I, Quedlinburg 1676; II, Sagan 1677; III, Dresden und Leipzig 1696 ders., Compendium Musicae Signatoriae et Modulatoriae Vocalis, Dresden 1689 Johann Georg Ahle, Musikalisches Frühlings-Gespräche, Mühlhausen 1695 ders., Musikalisches Sommer-Gespräche, Mühlhausen 1697 Thomas Balthasar Janowka, Clavis ad thesaurum magnae artis musicae, Prag 1701 Johann Gottfried Walther, Praecepta der Musicalischen Composition, Ms. [Weimar 1708] ders., Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, Leipzig 1732 Mauritius Vogt, Conclave thesauri magnae artis musicae, Prag 1719 Johann Mattheson, Kern melodischer Wissenschafft, Hamburg 1737 ders., Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739 Johann Adolf Scheibe, Critischer Musikus, Leipzig 1745 Meinrad Spiess, Tractatus musicus compositorio-practicus, Augsburg 1745, dt. 1746 Bezogen auf die Originalität der Figuren reduziert sich dieser Bestand noch einmal, wenn man die Autoren zusammenfasst, die lediglich Kataloge übernehmen, wie Caldenbach von Burmeister, Janowka, Vogt und noch Spiess von Kircher, Walther von Bernhard, Kircher und Printz. Thuringus hat vermutlich 19 Die Zahlen sind lediglich Orientierungswerte. Als Grundlage gilt hier das Quellenverzeichnis von W. Braun, Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts. Zweiter Teil, von Calvisius bis Mattheson, Darmstadt 1994 (= Geschichte der Musiktheorie Bd. 8/ II).  Musica Poetica und musikalische Figurenlehre bereits Burmeister und Nucius20 rezipiert, Kircher greift im fünften Buch der Musurgia universalis möglicherweise auf Burmeister, Nucius und Thuringus zurück. Der Figurenkatalog aus dem achten Buch erscheint dagegen neu. Sein Repertoire besteht offensichtlich aus gräzisierten Madrigalismen.21 Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ wirkt die Bedeutung der Figurenkataloge in den Quellen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts marginal. Von Kirchers Musurgia universalis etwa wurden bis weit ins 18. Jahrhundert hinein kaum die Figurenkataloge, sondern vor allem die musikgeschichtlichen Kapitel, seine nicht nur auf Musik, sondern Sprache und Kunst überhaupt ausgerichteten Überlegungen zur Ars combinatoria sowie die ethnographischen, ethnologischen (Ägyptologie) und die akustischen Studien rezipiert. Und in Johann Matthesons Schriften22 faszinieren die modernen Überlegungen zur Logik der musikalischen Syntax sowie die vom Sensualismus beeinflussten Wahrnehmungskategorien, mit denen er operiert. Die Figurenkataloge wirken dagegen eher als restriktiver Teil einer Lehre, die bestrebt ist, durch enge Vorgaben auf kanonisches Wissen zu verpflichten. Sie sprechen indes auch andere Adressaten an als die späteren Kunstlehren des 18. und 19. Jahrhunderts, nämlich hauptsächlich Schüler und im frühen 18. Jahrhundert auch zunehmend ein interessiertes Laienpublikum anstelle von Fachkollegen oder Universitätsgelehrten.23 Hintergrund dürfte die für die deutschen Gebiete charakteristische politische Struktur sein. Anstelle großer nationaler Ausbildungsund Wissenschaftszentren, überregional wirkender Kathedralschulen und Universitäten oder eines Netzes von europaweit geachteten Konservatorien finden sich viele in kleine Einheiten zersplitterte Kräfte. Hinzu kommen in den pro- 20 Seine Systematik stimmt mit der von Nucius überein, ein Teil der Figuren stimmt mit denen von Burmeister überein. Auf den möglichen Zusammenhang hat bereits Fritz Feldmann hingewiesen: ders., Das „Opusculum bipartitum“ des Joachim Thuringus (1625) besonders in seinen Beziehungen zu Johannes Nucius (1613), in: Archiv für Musikwissenschaft 15, 1958, S. 123–143. 21 Kirchers Musurgia universalis enthält zwei unterschiedliche Kataloge (5. Buch, Kap. VIII.I und 8. Buch, Kap. VIII, § 7), die von Janowka synthetisiert werden. Die Systematisierung des Figurenkatalogs im fünften Buch stimmt mit Nucius und Thuringus überein, die unter „figurae principales“ angeführten Figuren entsprechen denen von Thuringus. 22 J. Mattheson, Kern melodischer Wissenschafft, Hamburg 1737, und ders., Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, sind über weite Strecken identisch. 23 Die Funktionsbestimmung der Traktate kann nicht immer genau ermittelt werden. Eindeutig als Universitätsschrift ist lediglich Caldenbachs Dissertatio zu identifizieren. Dort kommt es weniger auf den Inhalt an, der vollständig von Burmeister übernommen worden ist, als vielmehr auf die formal korrekte Durchführung von Behauptung und Be- weis.  Janina Klassen testantischen Gebieten die neuen Aufgaben der nachreformatorischen Kantoren, die in Vermengung geistlich religiöser und öffentlich staatlicher Interessen an den Lateinschulen die Aufgabe hatten, auch den musikalischen Nachwuchs konfessionsbewusst heranzuziehen. In den katholischen Ländern übernahm oft der Jesuitenorden die Schulausbildung. Mit Ausnahme von Kircher, der Autorität der Gegenreformation, verpassten die hier genannten Autoren als Gelehrte weitgehend die internationale Diskussion. Dort wurde auf der Basis der neuen Naturwissenschaften und Forschungsmethoden die physikalische Grundlage musikalischer Phänomene oder die Wirkungsweisen der höchst erfolgreichen Opernmusik untersucht. Auffällig ist, dass die einzelnen Kataloge sehr verschiedene Systematiken zeigen und darüber hinaus auch ganz unterschiedliche Figurenrepertoires enthalten, die kaum oder gar nicht kompatibel sind.24 Diese Beobachtung hat erstaunlicherweise wenig Zweifel beziehungsweise Kritik25 hervorgerufen, obwohl gerade damit das Modell einer Figurenlehre, wie sie in der musiktheoretischen und -wissenschaftlichen Praxis gehandhabt wird, am gründlichsten in Frage gestellt ist. Die heute bekanntesten und am häufigsten verwendeten Kataloge von Burmeister und die beiden unterschiedlichen von Bernhard enthalten lediglich zwei einen vergleichbaren Sachverhalt bezeichnende Figuren, nämlich Syncopatio und Transitus beziehungsweise Symblema. Burmeister (1601/1606)26 figurae harmoniae figurae melodiae tam harmoniae quam melodiae fuga realis parembole congeries metalepsis pallilogia fauxbourdon hypallage climax anaphora apocope parrhesia fuga imaginaria noema hyperbole analepsis hypobole mimesis anadiplosis 24 Printz’ italienische Figuren können auf keine rhetorische Tradition zurückgeführt werden, sondern entsprechen Gesangsmanieren. Ihre Namen klingen wie sprachliche Abbildungen von Verzierungen. Sie hängen mit Printz’ besonderer Auffassung von Figuren zusammen, die überwiegend aus Gesangslehren stammt, und sie gehören ausdrücklich nicht zur Musica poetica. 25 Darauf hat unter anderem Arno Forchert besonders hingewiesen, ders., Musik und Rhetorik, in: Schütz-Jahrbuch 1986, S. 5–21. 26 Der Katalog in Burmeisters Hypomnematum ist nicht systematisiert. Die Figuren Climax und Hypobole fehlen.  Musica Poetica und musikalische Figurenlehre symblema* syncopa* pleonasmus auxesis pathopoeia hypotyposis aposiopesis anaploce27 Bernhard (um 1660) figurae fundamentales figurae superficiales syncopatio* superjectio multiplicatio heterolepsis transitus* subsumtioellipsis quasitransitus variatio retardatio abruptio Bernhard (um 1682) Stylus gravis Stylus luxurians theatralis Stylus luxurians communis transitus* extensio superjectio passus duriusculus syncopatio* ellipsis anticipatio saltus duriusculus mora subsumtio mutatio toni abruptio variatio inchoatio imp. transitus inversus muliplicatio longinqua dist. heterolepsis prolongatio cons.impropriae tertia deficiens syn.catachr. quaestio notae sexta superflua cadentiae duriusculae Solche variablen Kataloge finden sich auch in zeitgenössischen Rhetoriken und Poetiken. Ihre Vielfalt lässt darauf schließen, dass im 17. Jahrhundert weder ein einheitlicher Sprachbegriff, noch eine abstrakte Theorie zugrunde gelegt werden kann. Genau an diesem Phänomen arbeiten Philosophen und Sprachforscher der Zeit.28 Dahinter steht die Vorstellung, dass dem Universum eine Einheitssprache zugrunde liegt, deren universale Grammatik herauszufinden sei. Auch die Beschäftigung mit der Wirkung von Musik zeigt die Suche nach der Grundlage einer Sprache der Affekte, der Bewegungen und des Körpers. Als Methoden dienen neue rationale Erkenntnisregeln, um zu einer abstrakten Reduzierung der Sprache zu kommen und sie auf ihre wesentlichen Grundgesetze zurückzuführen. Vieles spricht dafür, dass auch die Vor- 27 Nur in Musica Poetica. 28 Am konsequentesten ausgeführt in: A. Arnaud und P. Nicole, La logique ou l’art de penser, Paris 1659.  Janina Klassen 29 Zitiert nach: A. Hirsch, Philosophischer Extract und Auszug aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda Musurgia Universali, SchwäbischHall 1662, Neudruck Kassel 1988, S. 131 ff. stellung eines abstrakten Tonsatzes sich erst allmählich herausbildet. Die Bemühungen um die „Kunst des reinen Satzes“, wie sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen, führen schließlich zu dem, was dann bei Forkel „musikalische Grammatik“ heißen kann. Affekt ist im 17. Jahrhundert ein zentraler Bestandteil der Rhetorik, ihn zu erregen gilt als operatives Ziel. Vor diesem Hintergrund stehen Schütz und Monteverdi oder Bernhard und Cavalli durchaus auf derselben Seite, sie verwenden nur unterschiedliche Strategien. Anstelle der antithetischen Konstruktion Intellectus versus Affectus, mit der der Gegensatz Geist versus Sinnlichkeit aus den Kunstdebatten des 18. und 19. Jahrhunderts fortgeschrieben wird, führt Kircher etwa 1650 differenzierter ein auf der Temperamentenlehre basierendes Stilmodell an: „Die Italiäner hassen an den Teutschen ihre morosische Gravität / so sie in ihrem stylo sehen lassen: an den Frantzosen die gar zu vielfältige teretismos und Erzitterung der Stimmen in den harmonischen Clauseln / ec. an den Spaniern den angenommen Pracht und Stoltz: dargegen diese strafen an den Italiänern die unannehmliche Wiederholung der Trillen … kommt hinzu das ungereimte capriziren der Stimmen / da mehr Gelächter als affectus bewogen werden.“ Kircher liefert auch die psychologische Erklärung dafür. „Was man gewohnt / davon wil man nicht lassen / daher geschichts / daß nicht nur die Teutsche und Frantzosen der Italiäner ihre Music / als … ihrem ingenio zuwider verwerfen / sondern auch … Griechen / Syrier / Egyptier / Africaner … halten ihr unförmliches Geschrey / … viel höher / als die allerdelicatestes Music der Italiäner.“29 Das nachdrücklichste Missverständnis dürfte vielleicht sein, dass die Figurenlehre eine wie auch immer geartete Auslegungs- oder gar Kunstlehre sei. Schering hat 1908 mit gutem Gespür eine sehr wichtige Entdeckung gemacht, nämlich die Rolle, die die Rhetorik in der Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts spielt. Rhetorik ist der instrumentelle Rahmen, in dem Kunsttheorie, für die bis dahin eine eigene Sprache fehlt, formuliert werden kann. Aus diesem Grund finden sich an der Rhetorik orientierte Darstellungen in allen Sparten von Kunst und Wissenschaft. Figurenkataloge, sofern sie überhaupt auftauchen, fungieren darin als Beispielsammlungen zur Nachahmung. Nicht sie sind das überragende Ereignis, sondern die rhetorische Prägung der Schriften insgesamt, deren Funktion bislang kaum untersucht ist. Wenn Musik von manchen Autoren als besonderes Paradigma herangezogen wird, wie in Henry  Musica Poetica und musikalische Figurenlehre Peachums Rhetorik The Garden of Eloquence (1593)30 , die auf die Einübung höfischer Verhaltensregeln zielt, dann aufgrund der höchst effizienten und unmittelbaren Wirkungsmöglichkeit von Musik. Ausblick Sprache hat im 17. Jahrhundert eine repräsentative Funktion. Und der Begriff „figura musica“ birgt aufgrund seiner Allgemeinheit seit der Benutzung von Notenzeichen im frühen Mittelalter ein breit gestreutes Bedeutungsspektrum in sich, in dem die rhetorisch-musikalische Figur nur einen kleinen Teil abdeckt. Zwar bilden die Figurenkataloge keine inhaltsfixierten leitmotivähnlichen Versatzstücke, dafür ließe sich anhand der hier zitierten Quellen aus hundertfünfzig Jahren etwas anderes demonstrieren, nämlich wie radikal sich inhaltliche Aspekte und methodische Prinzipien, etwa die Vorstellung von Imitatio, im Übergang zur Genieästhetik wandeln. Mit der zunehmenden Individualisierung der Kunstschaffenden und dem Umschlag von Affekten in Emotionen und Gefühle verlieren die musikalisch-rhetorischen Figuren um 1750 ihre Funktion. Wenn Musiker zu Dichtern werden, stören sie nur die Fantasie und erstarren zu Fossilien. Mit der zunehmenden Individualisierung der Kunstsprachen in der Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich zugleich auch die Sprache, in der über Kunst gesprochen wird. Alexander Baumgarten hat auf den Zwiespalt hingewiesen, dass wir sinnliche künstlerische Wahrnehmungen durch eine der Logik unterworfenen Sprache zu beschreiben hätten. Damit wird beides, die Sprache der Kunst und die Sprache über Kunst, zu einem neuen, aufregenden Thema. Genau dieser Punkt kennzeichnet die Ablösung der Rhetorik durch die Hermeneutik als Paradigma der Kunsttheorie in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Nicht zufällig beginnt in dieser Zeit auch die Geschichte der autonomen Instrumentalmusik. Für uns heute wird dieser entscheidende Umschwung der Musik vom repräsentativen Vorgang zum individuellen Ausdruck dadurch verwischt, dass Musik eine spezifische Wahrnehmungsebene hat, die es ermöglicht, sie unabhängig von ihrer historischen Herkunft als ästhetisch präsent zu genießen. Das unterscheidet sie von der Wortsprache, und dementsprechend erfordert auch die musikalische Hermeneutik eine eigene, von der Wortsprache unabhängige Theorie. 30 Vergleiche G. G. Butler, Music and Rhetoric in Early Seventeenth-Century English Sources, in: The Musical Quarterly 1980, S. 53–64, wo die Schrift von Henry Peachum the Elder ausgewertet wird. Butlers Absicht, die Musik-Rhetorik-Diskussion mit seinem wichtigen Beitrag bereichern zu können, hat sich zumindest in der deutschen Auseinandersetzung nicht erfüllt.