alphanumerische Übersichtstafel zu den wesentlichen musikalischen Figuren im 17. und 18. Jahrhundert ABRUPTIO harmonisch melodische Figur, bezeichnet einen vorzeitigen Abbruch der Oberstimme gegenüber dem Bass, der sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der V. Stufe befindet. Möglicherweise ist die A. auch als Verzierung angewandt worden, Walther („Musikalisches Lexikon“, Weimar 1732) erwähnt sie als Kennzeichen des „Stilo recitativo“. ACCENTUS (SUPERJECTIO) melodische Figur, bei Chr. Bernhard, („Tractatus compositionis“, Dresden um 1650) als improvisierte Verzierung ausgewiesen. Der A. bezeichnet das kurzfristige Anheben der Melodiestimme um eine Sekunde. ACCIACCATURA harmonische Figur, bezeichnet den Zusatz fremder Töne in Akkorden. Von Gasparini über Heinichen und Mattheson bis zu Spieß, also von 1708 bis 1745, wird die A. als Verzierungsform allein für Tasteninstrumente, v.a. beim Basso-continuo-Spiel erwähnt. In C. Ph. E. Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“, Berlin 1753 ist die „Acciaccatur“ gleichbedeutend mit einem „Coulé“ im Arpeggio, für F. W. Marpurg („Kunst das Clavier zu spielen“, Dresden 1762) bezeichnet die sie einen melodisch definierten dissonanten „Zusammenschlag“. ANABASIS (ASCENSUS) melodische Figur, bezeichnet eine A. die lautmalerisch auskomponierte Deutung eines Gesangstextes, der von einem „Aufstieg“ handelt. Antonym: Catabasis. ANADIPLOSIS Figur im formalen Aufbau: Schema: a-b b-c (Schlussfloskel einer Phrase als Ausgangsfloskel der folgenden). → Anaphora, Epanalepsis, Epanodos, Epiphora, Epizeuxis ANAPHORA Figur im formalen Aufbau, Schema: a-b a-c a-d bezeichnet die mehrmalige Verwendung derselben Anfangsfloskel für verschiedene aufeinander folgendeMotive. → Anadiplosis, Epanalepsis, Epanodos, Epiphora, Epizeuxis ANTICIPATIO melodische Figur: Vorausnahme eines Tones, nach Walther („Musikalisches Lexikon“, Weimar 1732) wird die A. offensichtlich als Verzierung angewendet. Wesentliches Element der ornamental gebrauchten „Tempo rubato“. ANTISTAECHON harmonisch melodische Figur. Vor allem beim Sologesang angewandt. Das A. bezeichnet harmonisch nicht gerechtfertigte Dissonanzen durch Repetition gleicher Töne bei fortlaufendem Bass. (Definition nach Meinrad Spieß: „Tractatus musicus“, Augsburg 1745) BOMBUS, BOMBI, SCHWERMER, FIGURA BOMBILANS „...ein den Bienen ähnliches Sausen...“ (Walther, „Musikalisches Lexikon“, Leipzig 1732) in der Instrumentalmusik. Der B. ist nicht zu verwechseln mit dem „Trillo“, einer tremolierenden Verzierung der Singstimme. CATABASIS (KATABASIS) Antonym zur „Anabasis“, melodischer Abstieg als lautmalerisches Zeichen für einen Abstieg im Gesangstext. CATACHRESIS (KATACHRESIS), FAUXBOURDON harmonische Figur: Akkumulation parallel geführter Sextakkorde CIRCULATIO melodische, auskomponierte Figur in Form einer kreisenden Bewegung. intendens: anfangs aufsteigender, remittens: anfangs absteigender Halbkreis. Die vollständige Circulatio ist eine Verbindung aus beiden Elementen zum ganzen Kreis um eine zentrale Note. Eine Verwendung der Figur als Verzierung ist unter dem Namen „Circulatio“ nicht dokumentiert, wohl aber unter dem Namen des verwandten → „Groppo“. CLIMAX (GRADATIO) zumeist als stufenförmig angeordnete Konzeption von melodischen Sequenzen definiert. So etwa bei J. Burmeister: „Musica poetica“, Rostock 1606, A. Kircher: „Musurgia universalis“, Rom 1650, Th. B. Janowka: „Clavis ad Thesaurum“, Prag 1701, später als „Gradatio“ auch bei Scheibe und Forkel. COMMISSURA harmonisch-melodische Figur, Wechsel von Dissonanzen und Konsonanzen durch schrittweise Stimmführung in wenigstens einer kontrapunktischen Stimme. Befinden sich die Konsonanzen auf den „guten“ Taktzählzeiten, dann handelt es sich um eine „commissura cadens“ („Transitus regularis“ oder „Durchgang“). Befinden sich auf den „guten“ Taktzählzeiten die Dissonanzen, dann handelt es sich um eine „commissura directa“ („Transitus irregularis“ oder „Vorhalt“). CONGERIES harmonisch melodische Figur. Andauernder Wechsel zwischen perfekten und imperfekten Konsonanzen durch zeitverschobenes Fortschreiten der Stimmen. (vgl. dazu den Begriff der „Syncopatio consonans desolata“ und der „Retardatio“) CORTA (CURTA) rhythmische Figur, wie folgt: „...drey geschwinde Noten, deren eine alleine so lang ist, als die übrigen beyde...“, Joh. G. Walther („Musikalisches Lexikon“, Leipzig 1732) DIMINUTIO verzierende melodische Figur, die am häufigsten darin besteht, dass auseinander gelegene melodische Punkte schrittweise miteinander verbunden werden. DISTRIBUTIO verzierende melodische Figur, die Akkordblöcke in komplexe Melodielinien zergliedert. Sie dient der „Individualisierung“ eines „allgemeinen musikalischen Ausdrucks“. Eine Art „empfindsamer“ Wiederbelebung der Diminution gegen Ende des 18. Jahrhunderts, etwa in den veränderten Reprisen bei C. Ph. E. Bach. DUBITATIO harmonische Figur. Sie deutet vermittels einer ziellosen harmonischen Bewegung oder einer ambivalente Akkordfolge einen „Zweifel“ an. Sie ist als bewusste Irreführung der Zuhörer erst spät als „musikalische Figur“ des „empfindsamen“ Stils bei Scheibe („Compendium musices...“, Leipzig, 1730) und Forkel („Allgemeine Geschichte...“,Göttingen, 1788) dokumentiert. ELLIPSIS harmonisch melodische Figur. Bezeichnet verschiedene Formen von weggelassenen Dingen im musikalischen Satz. (Definition nach Bernhards „Bericht vom Gebrauche...“, Dresden um 1650, und Walthers „Praecepta der musicalischen Composition“, Weimar, 1708) Version a.: weggelassene Konsonanz an der Stelle der Achtelpause. Version b.: nicht aufgelöster Quartvorhalt (auf drittem und viertem Viertel des dritten Taktes) → „Antistaechon“ Version c.: abgebrochene Steigerung (nach Scheibe und Forkel) Version d.: „ausfliehende Cadenz“: unverhofft eintretender Akkord (nach Scheibe und Forkel) EMPHASIS keine klar definierte musikalische Figur. Die E. bezeichnet die Möglichkeit, Akzente unabhängig von der musikalischlyrischen Metrik (in der Ausführung mit „Emphase“) auf die sinnreichen Worte im Text zu legen. (Mattheson: „Der vollkommene Capellmeister...“, Hamburg 1739) EPANALEPSIS Figur im formalen Aufbau, Schema: a-b- ... -a. Gleichzeitige Verwendung einer Floskel als Anfang und Schluss, eher jedoch literarisch als musikalisch dokumentiert. → Anadiplosis, Anaphora, Epanodos, Epiphora, Epizeuxis EPANODOS Figur im formalen Aufbau, Schema a-b-c ... c-b-a. Zweifache Verwendung gleicher Elemente, beim zweiten Durchlauf mit umgedrehter Reihenfolge. Der Gebrauch dieser Figur als rein musikalische Figur ist nicht gesichert, eher als sprachlich-rhetorisches Mittel. → Anadiplosis, Anaphora, Epanalepsis, Epiphora, Epizeuxis EPIPHORA Figur im formalen Aufbau, Schema: a-b c-b d-b... Wiederholung des Schlusses vorangegangener Phrasen. Wie viele syntaktische Figuren, ist auch die Epiphora eher als poetisches Stilmittel dokumentiert, denn als musikalische Figur. → Anadiplosis, Anaphora, Epanalepsis, Epanodos, Epizeuxis EPIZEUXIS Figur im formalen Aufbau, Schema a-a-a-b-c-... Mehrfach wiederholter Anfang. Auch sie ist hauptsächlich im literarischen, weniger im musikalischen Bereich dokumentiert. → Anadiplosis, Anaphora, Epanalepsis, Epanodos, Epiphora EXCLAMATIO melodische Figur, bezeichnet tonmalerisch einen Ausruf. In frühen Dokumenten (bis etwa 1720) sind dafür in den Quellen nur Ausrufe des Erschreckens definiert. EXTENSIO harmonisch melodische Figur, nach Bernhard (ca. 1650) die Repetition dissonierender Töne im harmonischen Satz (Beispiel), Walther beschreibt es 1732 als Begriff der griechischen Antike für fortwährende Tonwiederholungen. FUGA kontrapunktische Figur, entsteht durch ein mehrmaliges imitatorisches Zitat derselben thematischen Einheit in den verschiedenen Stimmen eines polyphonen Satzes. Bei Kircher (1650), Janowka (1701) und Walther (1732) wird die F. als mittelbares, klangliches Sinnbild von Fluchtsituationen, beschrieben, weil das lateinische Wort „Fuga“ eine entsprechende Bedeutung hat. HETEROLEPSIS melodisch harmonische Figur, bezeichnet a) den Sprung in eine Dissonanz b) die abspringende Dissonanz innerhalb einer Stimme, deren regelgemäßer Fortgang nach dem Absprung von anderen begleitenden Instrumenten übernommen werden kann. HOMOIO- TELEUTON a) Figur im formalen Aufbau, Schema: a-...-x-x (-x) Das H. wiederholt den Schluss einer Phrase mit bestätigender, bekräftigender Wirkung (so, wie dies etwa Kircher, 1650 und Janowka, 1701 beschreiben) b) auch ausgewiesen als eine plötzlich mitten im Satz mit Schlusswirkung eintretende Generalpause die in nahezu allen Quellentexten des 17. Jh. als stilistisches Mittel bei Italienern und Franzosen genannt wird. HYPALLAGE kontrapunktische Figur, bezeichnet die Gegenbewegung der beantwortenden Stimme in einer Fuge. HYPERBATON bezeichnet Versetzungen jeder Art, in Beispiel a.: die Oktavversetzung verschiedener Melodieabschnitte in fiktiven Stimmen, aber auch parenthetische melodische oder harmonische Zwischensätze. Das H. bezeichnet aber auch die Übernahme einer Stimme durch eine andere im polyphonen Satz, wie Beispiel b. zeigt. → „Metabasis“ HYPERBOLE Die Hyperbole bezeichnet Überschreitungen des tonlichen Ambitus, in vokaler Musik zur Kenntlichmachung exponierter Passagen im Text. HYPOTYPOSIS Sammelbegriff für symbolträchtige melodische Figuren in vokaler Musik, vgl. dazu Figuren wie „catabasis“, oder „anabasis“ INTERROGATIO besteht in der Vertonung von Fragen, vornehmlich bei Recitativen. Auch eine instrumentale, vom Text losgelöste Version dieser Figur ist denkbar und liegt in zahlreichen Fällen von im „Stilo recitativo“ gearbeiteten langsamen Sätzen zur Zeit des „empfindsamen“ Stils vor. Konkret beinhaltet die Interrogatio sehr oft die Anhebung der Singstimme um eine kleine Sekunde vor dem Fragezeichen, aber auch unerwartete harmonische Wendungen im Stil einer „dubitatio“ können den Fragecharakter unterstreichen. MESSANZA Sammelbegriff für die in Passagien, Phantasien und Variationen gängigen aus Stufen und Sprüngen zusammengesetzten Verzierungsformen in gleichen Notenwerten. Bei Praetorius gilt die „messanza“ aber auch als formale Idee eines collagierten Quodlibet, eines „Salata Mistichanza...“, wie er schreibt. METABASIS kontrapunktisch-melodische Figur, erst Anfang bis Mitte des 18. Jh. nachgewiesen als Kreuzung von Stimmen im mehrstimmigen Satz. → „Hyperbaton“ METALEPSIS nur bei Burmeister („Hypomnematum musicae poeticae“, Rostock, 1599, sowie in dessen „Musica autoschediastike“, Rostock, 1601) als musikalische Figur ausgewiesen. Sonderform der Fuge: Aufteilung eines zweigeteilten Themas in zwei unabhängig voneinander auftretende melodische Prozesse im polyphonen Satz. Frühform der Doppelfuge bzw. der fugalen Kontrapunktik. MORA melodisch kontrapunktische Figur, bezieht sich auf einen „Umweg“ bei der Auflösung einer Dissonanz. Statt nach unten zu lösen, geht die dissonierende Stimme erst einmal nach oben. Eine Verwendung dieser Figur als Diminutionsform ist wahrscheinlich. MULTIPLICATIO harmonisch melodische Figur. Sie bezeichnet die Intensivierung einer Dissonanz durch Repetition dissonierender Töne. Joh. G. Walther („Musikalisches Lexikon“, Leipzig, 1732) unterscheidet: a. „rechtmäsige“, d.h. die Notenwerte der Vorlage nicht überschreitende Multiplicatio. b. „verlängerte“, d.h. den Zeitpunkt der Auflösung verzögernde Multiplicatio. Die Verwendung der „rechtmäsigen“ Multiplicatio als diminuierende Figur ist zwar nirgends ausdrücklich dokumentiert, ist aber durchaus denkbar. MUTATIO Die mutatio bezeichnet vier verschiedene Formen auskomponierter Veränderungen und Verwechslungen: a. harmonisch melodische Figur: Die Veränderung der Wertigkeit für einen liegenbleibenden Ton über verschobenen harmonischen Zentren. b. Veränderung des Tongeschlechtes, etwa von diatonisch in chromatisch, oder umgekehrt, während derselben Phrase. c. melodisch versinnbildlichende Figur: plötzliche Veränderung der Tonlage in der Singstimme aufgrund textlicher Vorgaben. d. dynamische Figur: Plötzliche Veränderung der Lautstärke. Auch dies kann der Versinnbildlichung einer textlichen Wendung dienen. NOEMA Das noema ist eine rein harmonische Figur. Es bezeichnet einen homophonen harmonischen Satz, der sich ausschließlich aus konsonanten Intervallen zusammensetzt. Burmeister (Anfang 17. Jh.) bezeichnet diese Figur als bewusst eingesetzte, dem Ohr schmeichelnde Verzierung, deren Wirkungsqualität jedoch immer vom kompositorischen Kontext abhänge. PARAGOGE (SUPPLEMENTUM) Bezeichnet eine spezielle Form der Auszierung eines Schlussakkordes durch eine oder mehrere darüber oder darunter angebrachte Umspielungen. Im 18. Jahrhundert ist „Paragoge“ auch der Name für eine Art von improvisierter Schlusskadenz (Walther, 1732). Andere Namen für Paragoge lauten: Supplementum (um 1600 bei Burmeister) und Manubrium (um 1610 bei Thuringus) PAREMBOLE melodisch kontrapunktische Figur, bezeichnet eine freie, zusätzliche und nicht fugiert inspirierte Stimme, die der Komplettierung des harmonischen Satzes in Kanons, Fugen und anderen kontrapunktisch dicht strukturierten Satzkonstruktionen dient. PARENTHESIS Figur im formalen Aufbau. Die P. bezeichnet einen quasi in Klammern gesetzten, vom Grundkonzept abweichenden Einschub. Diese Figur beschreibt allerdings nur Joh. Mattheson (1739) als musikalische Figur. PARONOMASIA melodische Figur, bezeichnet die „Verstärckung“ oder Veränderung eines Melodieabschnittes bei dessen Wiederholung. Diese kann dynamisch (a.) oder als einfache Diminution (b.) geschehen. Erwähnung der Figur erst relativ spät, bei Scheibe (1730) und Forkel (1788). PARRHISIA harmonisch melodische Figur. Die P. bezeichnet die Vermischung eines konsonanten Satzes mit „non plena intervalla“ (Burmeister, frühes 17.Jh.), die im Abstand eines Semitonus, eines Halbtones von den vollkommenen Intervallen entfernt liegen und gewöhnlich in der Funktion von Durchgängen oder Vorhalten auftauchen. Walther definiert es 1732 als „Mi contra fa“ (Querstand), der auftritt ohne einen „Übellaut zu verursachen“. PASSUS DURIUSCULUS melodische Figur, bezeichnet a. chromatische Melodieverläufe und b. die Akkumulation verminderter wie übermäßiger Intervalle innerhalb einer Stimme. Das Zustandekommen dieser melodischen Anomalie ist in der Regel außermusikalisch und textlich begründet. Belege für diese Figur finden sich nur bei Chr. Bernhard um 1650. PATHOPOEIA melodische Figur, u.a. Häufung von harmonie- und leiterfremden Halbtonschritten zur besonderen Betonung eines musikalischen Affektes. Insofern Synonym des „passus duriusculus“, allerdings legen die vorliegenden Quellen allesamt weniger Wert auf die Machart der Figur als auf die Intensität der Wirkung, etwa so: „Eine Pathopoeia besteht immer, wenn Ausführende und Zuhörer vom Affekt des Stückes zutiefst ergriffen sind“ (J. Burmeister: „Hypomnematum“, Rostock 1599). So gerät der Begriff „Pathopoeia“ zu einem Sammelbegriff für alle erfolgreich versinnbildlichenden melodischen Figuren. PLEONASMUS harmonisch-kontrapunktische Figur. Der P. ergibt sich bei der synkopischen Verwendung der → „Symblema“, also einer synkopischen Aneinanderreihung von Vorhalten im polyphonen Satz. POLYPTOTON melodisch-kontrapunktische oder nur melodische Figur. Das P. bezeichnet das Auftreten derselben melodischen Wendung in verschiedenen Stimmen nacheinander und auf unterschiedlichen Tonstufen. → „Climax“. PROLONGATIO harmonisch-melodisch-rhythmische Figur Die P. beschreibt die Verkürzung einer Konsonanz zugunsten einer darauf folgenden (verlängerten) Dissonanz. Nur einmal, bei Chr. Bernhard, Mitte 17. Jh. als musikalische Figur belegt. Beispiel a.: Verwendung als Durchgang. Beispiel b.: Verwendung als synkopierter Vorhalt. QUAESITIO NOTAE melodisch-harmonische Figur, sie beschreibt den vorzeitigen Abbruch eines Tones, um über eine nachfolgende auftaktigen Floskel den nächsten melodischen Zielton auf „suchende“ weise zu erreichen. Der Vermerk: „stehet natürlich also“ (bei Chr. Bernhard um 1650) lässt die Vermutung zu, dass diese Figur als improvisierte Verzierung verwendet wurde. → „Subsumtio postpositiva“ REPERCUSSIO melodische Figur. Die R. bezeichnet den Einsatz desselben Motivs auf verschiedenen Tonstufen, in Form einer Sequenz bzw. einem Frage /Antwort-Verhältnis (wie etwa bei Dux und Comes in einer Fuge). RETARDATIO harmonisch-melodische Figur, sie bezeichnet das Hinauszögern von Tönen im kontrapunktischen Satz und steht damit im direkten Gegensatz zur „anticipatio“. Wesentliches Element des ornamental gebrauchten „Tempo rubato“. SALTI COMPOSTI melodische Figur, die eine spezielle Form der Diminution in fiktiver Mehrstimmigkeit bezeichnet. Eine Gruppe von vier akkordisch zusammengehörigen Tönen teilt sich in dabei in drei unterschiedlich große Sprünge ein. SALTO SEMPLICE melodische Figur. Der Salto semplice bezeichnet die Dehnung einer Textsilbe in einer Gesangsmelodie durch ein springendes Intervall. Auch in instrumentaler ist der Begriff des „salto semplice“ als springende Folge zweier schneller Notenwerte belegt. SALTUS DURIUSCULUS melodische Figur. Sie bezeichnet eine ungewöhnliche Härte (lat. duriusculus) in melodischen Sprüngen. Bisweilen versinnbildlicht der S. d. auf diese Weise eine außermusikalische „Härte“ im Inhalt des Gesangstextes. SCHEMATOIDES Schematoides bezeichnet dreierlei: Wandlung eines Melismas in eine syllabische Textform innerhalb desselben musikalischen Zusammenhangs (a.), aber auch die Augmentation einer Phrase in längere Notenwerte (b.), sowie die Diminution einer Phrase in kürzere Werte (c.) SUBSUMTIO (CERCAR DELLA NOTA) melodische Figur. Die S. bezeichnet Verzierungen, die direkt vor einem melodischen Zielton angebracht werden. Indem der Name „Cercar della nota“ eine „Suche nach dem (richtigen) Ton“ bedeutet, erhält die Figur einen bisweilen versinnbildlichenden Unterton. Diese Suche kann geschehen, indem die Verzierung erst auf dem Taktschlag beginnt, auf dem eigentlich der melodische Zielton stehen sollte. So zögert die S. den Zeitpunkt seines Einsetzens hinaus und heißt entsprechend: subsumtio praepositiva (prae-ponere: lat. voranstellen). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Verzierung dem Zielton als auftaktige Figur vorangestellt wird und so auf einer leichten Zählzeit anfängt. Diese Form heißt: subsumtio postpositiva, weil sie nach (lat. post) einer Taktschwerzeit einsetzt. → „Quaesitio notae“ Subsumtio, Cercar della nota Subsumtio praepositiva, Cercar della nota Subsumtio postpositiva, Cercar della nota Subsumtio postpoitiva, Cercar della nota Subsumtio praepositiva Subsumtio postpositiva SUSPENSIO Figur im formalen Aufbau. Die S. bezeichnet eine umschweifende Einleitung, die über eine ganze Weile die tatsächliche Machart des betreffenden Musikstückes verschleiert und dann in aller Regel in eine ganz unerwartete Wendung mündet. SUSPIRATIO melodische Figur. Die S. bezeichnet die lautmalerische Beschreibung von Seufzen und Stöhnen durch das Einbringen einer kurzen Pause auf einer schweren Taktzeit (suspiratio, suspirium, lat. Atemholen, Seufzer). Printz und Walther definieren die Figur folgendermaßen: suspiratio ist eine Figura corta, deren erste Note um deren erste Hälfte abgekürzt ist. Die Verwendung dieser Figur als spontane Verzierung ist denkbar, aber nicht belegt. SYMBLEMA eine schrittweise Überbrückung größerer Intervalle mit konsonanten Klängen auf den „guten“ Taktzeiten. Den dazwischen entstehenden Dissonanzen gilt das Augenmerk dieser vornehmlich harmonisch definierten Figur. → „Commissura directa“, „Transitus regularis“ SYNAERESIS, SINARESIS bezeichnet in der Musik wie in der verbalen Rhetorik die Zusammenfassung zweier Dinge. Für diese Figur als musikalisches Phänomen sind zwei Deutungen überliefert: a. als melodisch metrische Figur, synonym für den Begriff der „Synkope“ (bei Burmeister 1601), also für eine Note, die von der einen (leichten) Zählzeit in die nachfolgende (schwere) hinein andauert. b. als Figur im Gesangstext, bezeichnet die S. entweder ein Melisma, das pro Textsilbe zwei Melodietöne vorsieht, oder aber umgekehrt: zwei Silben, die auf einen melodischen Ton fallen, wie in dem bei Vogt (1719) vorgelegten Beispiel (b.) die Silben „-lia“ von „millia“. Bei diesem Beispiel erhält die Vokabel „Millia“ (lat. Tausende) zusätzlich eine klangrhetorische Dimension, indem die eine Achtelnote gar nicht ausreicht, um die „Millia“ zu fassen. Dieser symbolistische Effekt gehörte aber sicher nicht zur genuinen Idee einer Synaeresis. SYNCOPATIO harmonisch-melodische Figur. Die S. bezeichnet die „Verrückung“ von einer Melodiestimme, meistens der Oberstimme, gegen den metrischen Verlauf im Takt und die damit verbundene Kontraktion zweier metrischer Wertigkeiten (Arsis & Thesis) innerhalb einer Note. So ergibt sich in jedem Fall eine vom üblichen Schema abweichende Betonungsstruktur und bisweilen eine ganz charakteristische „synkopische“ Dissonanz. Johann Gottfried Walther nennt in seinem „Musicalischen Lexikon“, Leipzig 1732 vier Arten der „Syncopatio“: a. Syncope consonans aequivagans, bei der sich alle Stimmen gleichermaßen fortbewegen und es somit zu keiner Dissonanzbildung kommt. b. Syncope consonans, bei der nur eine Stimme -jedoch ohne Dissonanzbildung- rückt. c. Syncope consono-dissonans, bei der der vordere Teil der synkopierten Note sich zu den übrigen Stimmen konsonant verhält, dann aber durch deren ordentlichen Fortgang der zweite Teil der Synkopierung zur Dissonanz entwickelt. d. die Syncopatio catachrestica, mit abspringender Dissonanz, die entweder abermals in eine Dissonanz mündet oder aber in unkonventioneller Weise nach oben aufgelöst wird. → „Heterolepsis“ TIRATA melodische Figur. Die T. bezeichnet verzierend auf- oder abwärts verlaufende, und meist auftaktige Durchgangsskalen in unterschiedlichen Kategorien. Dies geschieht nach folgenden Kriterien. Erstens: nach dem Ambitus, so etwa: a. die Tirata defectiva, deren Umfang kleiner als der einer Oktave ist. b. die Tirata perfecta, deren Umfang genau eine Oktave bemisst. c. die Tirata aucta, deren Umfang größer als der einer Oktave ist. d. die Tirata mezza oder meza, die im gleichen Atemzug auf- und abwärts verläuft. Joh Gottfried Walther benennt in seinem Lexikon (1732) außerdem: e. die Tirata di Semiminima, die er als Skala aufwärts in halben Noten f. die Tirata di Legature, die er in synkopierten Ganzen Noten darstellt. Johann Mattheson schreibt dagegen in seinem „Vollkommenen Capellmeister“, Hamburg 1739, es widerstrebe dem Affekt der Tirata, in langsamem Tempo gespielt zu werden, sie müsse vielmehr eine Art „Spieß-Schuss“ oder einen „Pfeil-Wurf“ versinnbildlichen. Er gebraucht die Tirata innerhalb der nebenstehenden Darstellung als improvisiertes Mittel zur Diminution. TMESIS bezeichnet die Unterbrechung eines Wortes im Gesangtext durch klar vorgegebene Pausen. Dem „Tractatus musicus“ (1745) von Meinrad Spiess zufolge wird diese Figur zugunsten eines (nicht näher beschriebenen) Affektes eingesetzt. Die einzigen Originalquellen (Vogt, 1719 und Spiess 1745), die diese Figur besprechen, illustrieren die Figur auf den Text „suspiro“, was die Vermutung nahelegt, es gehe bei dem fraglichen Affekt um eine musikalische Versinnbildlichung von Seufzen und Atemholen. → „Suspiratio“, „Suspirium“ VARIATIO melodische Figur. In den Quellen wird sie unausgesprochen als Synonym zur „Diminutio“ gebraucht. Meinrad Spiess 1745 nennt die „Figura Corta“, den Groppo, die Circulatio, die Messanza, Tenuta,... aus denen die Variationes zusammensetzen können. Der „Tractatus compositionis“ von Christoph Bernhard 1650 nennt als verwendbare Intervalle dafür die Sekunde, die Terz, die Quint, die Sext oder die Oktave, „selten aber Septimae“. Der Gebrauch dieser Figur als improvisierter Floridus, in Wiederholungen oder als → Double ist in vielen Quellen nachgewiesen.