26. Oktober 2008, 12:14 Uhr STREIT UM "REICHSKRISTALLNACHT"-GEDENKFEIER Warum Görlitzer Stadtväter Angst vor einer Tora-Rolle haben Von Katharina Peters In Görlitz überstand die Synagoge die Nazi-Pogrome am 9. November 1938 - als einzige im heutigen Sachsen. Zum 70. Jahrestag möchte die Jüdische Gemeinde dort nun der Opfer gedenken - doch das lässt die Stadt nicht zu. Der bizarre Streit um die "richtige" Gedenkfeier macht sogar in Israel Schlagzeilen. Berlin - Beim Zentralrat der Juden schüttelt man den Kopf. "Unwürdig" findet der Generalsekretär Stephan Kramer den Streit in Görlitz um das Gedenken an die Pogromnacht vor 70 Jahren: "Es kann doch keinen Wettbewerb darum geben, wer die schönere und bessere Veranstaltung macht." Synagoge in Görlitz: "Deutsche Stadt sagt Kristallnacht-Veranstaltung ab" Frank Vater Synagoge in Görlitz: "Deutsche Stadt sagt Kristallnacht-Veranstaltung ab" Die jüdische Gemeinde in der sächsischen Stadt wollte erstmals mit einer eigenen Feier in der Synagoge den Opfern gedenken. Doch das Gotteshaus gehört der Stadt - und die möchte ein gemeinsames, öffentliches Gedenken. Im Rathaus fühlt man sich überrumpelt von den Plänen der Gemeinde. Die wiederum fühlt sich ausgegrenzt. "Die Stadt will der Gedenkfeier ihren Stempel aufdrücken", sagt der Vorsitzende und Kantor der Gemeinde, Alex Jakobowitz. Der Fall hat auch in Israel Schlagzeilen gemacht: Die Tageszeitung "Jerusalem Post" berichtete auf ihrer Website von dem Vorfall mit der Überschrift "Deutsche Stadt lehnt Kristallnacht-Veranstaltung ab". In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten "Reichskristallnacht", zerstörten die Nationalsozialsten Synagogen, jüdische Friedhöfe und Wohn- und Geschäftshäuser. Über 30.000 Juden wurden verhaftet. Den Brand in der Görlitzer Synagoge löschte die Feuerwehr, der Bau mit dem Kuppelturm blieb erhalten. Auseinandersetzungen um eine Tora-Rolle Ausgerechnet um das Gedenken an die Opfer von 1938 gibt es nun Streit. Der Förderkreis der Synagoge und die jüdische Gemeinde wollten zusätzlich zu der jährlichen Veranstaltung der evangelischen Kirche eigene Feierlichkeiten ausrichten. So soll ein 85-jähriger Zeitzeuge aus Israel von seinen Erlebnissen berichten und eine polnische Tänzergruppe auftreten. Eine Tora-Rolle könnte die aktuellen Auseinandersetzungen ausgelöst haben. Diese hatte Kantor Jakobowitz für die Gedenkfeier von der jüdischen Gemeinde aus Dresden leihen wollen. Sie sollte feierlich in den Raum getragen werden. Doch die Stadt befürchtet, dass die Gemeinde das Gebäude mit der Tora-Rolle zur Synagoge weihen will und eine Nutzung für andere öffentliche Veranstaltungen dann nicht mehr möglich ist. Die Stadt ist Eigentümer des Gebäudes und droht mit der Absage der Gedenkfeier. Der Konflikt schwelt seit Monaten. Es geht um die Nutzung der fast hundert Jahre alten Synagoge - und es geht um das Miteinander von Stadt und jüdischer Gemeinde. Kultur-und Begegnungsstätte oder Gotteshaus? Seit dem 14. Jahrhundert siedelten sich Juden in Görlitz an. Die heutige Synagoge errichteten sie 1911, damals lebten etwa 900 Juden in der Stadt. 1938 wurden sie von den Nazis enteignet, die Synagoge - wie alle Synagogen in Deutschland - beschlagnahmt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Synagoge in den Besitz der jüdischen Gemeinde in Dresden über. Die jüdische Gemeinde in Görlitz zählte nur noch zwei Mitglieder - die übrigen waren ermordet worden oder geflohen. Die Stadt Görlitz kaufte das Gotteshaus im Jahre 1963, das daraufhin allerdings jahrzehntelang leer stand und verfiel. In den neunziger Jahren verzichtete die Jewish Claims Conference, die die Ansprüche von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus vertritt, nach Verhandlungen auf ihr Recht auf die Synagoge und erhielt dafür Entschädigungszahlungen. Die Stadt will die Synagoge nun als "Kultur- und Begegnungszentrum" nutzen. Bereits in den neunziger Jahren fanden Konzerte, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen statt, initiiert vom Förderkreis der Görlitzer Synagoge. Das Gebäude wurde damals teilweise saniert, für weitergehende Bauarbeiten fehlte aber das Geld. In diesem Jahr übernahm die Stadt selbst die Sanierung und ließ das Bauwerk mit 305.000 Euro größtenteils aus Fördergeldern instand setzen. Schon seit einem Jahr hält die inzwischen 28 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde hier auch Gottesdienste ab. Der Vorsitzende der Gemeinde, Jakobowitz, möchte die Synagoge wieder mit jüdischem Leben füllen. Er weist die Vermutungen der Stadt zurück, dass die jüdische Gemeinde weitergehende Ansprüche habe. Seine Gemeinde sei zu klein, um das Haus allein zu verwalten. "Nicht mit dem Kopf durch die Wand" Der Streit um die Synagoge zwischen Stadt und Gemeinde dauert schon länger. Der Görlitzer Geschäftsmann Avi Goldreich wollte 2007 die Synagoge kaufen und wieder zum Gotteshaus weihen lassen. Die Stadt lehnte jedoch ab, weil ihr der Kaufpreis mit 20.000 Euro zu niedrig erschien. Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden appellierte an den Vorsitzenden Jakobowitz, Kompromisse zu suchen und nicht "mit dem Kopf durch die Wand" Interessen durchzusetzen: "Es geht nicht um die Selbstdarstellung einer Gemeinde, sondern um den Gedenktag." Nun könnten sich die Streitenden doch noch einigen, wenngleich ein endgültiger Beschluss über die Feierlichkeiten am 9. November erst kommende Woche gefasst wird. Die Tora-Rolle darf wahrscheinlich nicht in die Synagoge getragen werden, die Gedenkfeiern von Förderkreis und Gemeinde dürfen aber abgehalten werden. Auch der ökumenische Gedenk-Gottesdienst wird stattfinden, den der evangelische Pfarrer Hans-Wilhelm Pietz seit Jahren organisiert. Er sei "sehr betrübt" über die Unstimmigkeiten, sagte er der "Sächsischen Zeitung". Es widerspreche dem Geist des Gedenktags, sich um ihn zu streiten. DIE ZEIT 1996 [http://www.zeit.de/1996/46/bill46.19961108.xml] Maxim Biller: Heiliger Holocaust Maxim Biller Komische, undurchschaubare Deutsche: Zuerst bringen sie unter Aufwendung ihres ganzen Talents fast alle Juden um - und dann tut es ihnen auch noch leid. Ich meine, wer hätte es von ihnen wirklich erwartet, daß sie noch fünfzig Jahre nach der überstürzten Schließung von Auschwitz den Tod von ein paar Millionen Leuten, mit denen sie außer einem ziemlich alten Testament kaum etwas verband, so inbrünstig beweinen würden, als hätte man ihren eigenen Eltern etwas angetan? Pol Pot, Enver Pascha und Radovan Karadzùic" ganz bestimmt nicht. Und ich? Ach, wer fragt mich denn schon... Ich will trotzdem darüber reden. Genau jetzt, in diesem Moment, an diesem dunklen, nassen, schweren Novembertag, an dem Worte wie "Trauerarbeit", "Vergangenheitsbewältigung" und "Nie wieder" sich in meinen Kopf drängen, ohne daß ich selbst sie gedacht hätte. Es sind ja auch nicht meine Worte, sie kommen von draußen, aus Leitartikeln und Gedenkreden, aus Fernsehansprachen und Grußadressen, es sind Worte, die ich in meinem Leben inzwischen öfter gehört habe als "danke" und "bitte", Worte, die jedesmal so ernst und anrührend ausgesprochen werden, daß ich sie - und das ist das Schlimmste an ihnen - auch noch glauben muß. Richtig: Ich bin genervt. Denn etwas stimmt an dieser endlosen Bewältigungsarie nicht, etwas ist absolut undurchschaubar daran, wenn Deutsche ständig von neuem mit leuchtenden SektenMitglieder-Augen die Kristallnacht zelebrieren, wenn sie mit wirren, heiligen Argumenten für ein Holocaust-Denkmal streiten oder mit flagellantenhaft-offener Brust Goldhagens Peitschenhieb-Thesen entgegennehmen - etwas ist faul, wenn sie sich immer und immer wieder auf diese offene, exhibitionistische Art an etwas berauschen, das jedem anderen Volk dieser Welt so peinlich wäre, daß es alles dafür täte, es vergessen zu machen. Wollen Sie wissen, was die ganze Sache so zwielichtig macht? Ihr wahres Motiv. Natürlich erklären Deutsche jedesmal, wenn sie zu ihrem Gott Holocaust beten, sie müßten es deshalb tun, damit so etwas kein zweites Mal passiert. Nett gelogen, Land von Mölln, Rostock und Hoyerswerda! Wenn sie dann aber auch noch erklären, sie, die Jungen, Neuen, Anderen, fühlten sich für die Taten ihrer durchgedrehten Omas 'n' Opas verantwortlich, glaube ich ihnen überhaupt kein Wort. Denn das ist genauso absurd, als wenn heute ein Jude sagen würde, er war vor dreitausend Jahren Sklave in Ägypten. Ich weiß, das sagt er ja auch, an Pessach, Jahr für Jahr. Er sagt es aber nicht, weil ihm etwas leid tut, sondern weil er so mit der Geschichte seines Volkes verschmelzen kann - und damit auch mit seinem Volk. Sagen Deutsche also in Wahrheit vielleicht aus dem gleichen Grund immer wieder "Ich war Aufseher in Treblinka" oder "Ich habe geschwiegen, als die Familie Levi verschwand"? Ich glaube, ja. Aber sie würden es niemals zugeben. Nur ganz selten rutscht es ihnen heraus, so wie dem immer etwas pathetisch auftretenden Soziologen Ulrich Beck, der schon mal ganz verzückt von "Auschwitz als deutscher Identität" redet, oder dem wesentlich dezenteren ZEIT-Redakteur Gunter Hofmann, der, auf der Suche nach möglichen "nationalen Grundsubstanzen", herausfindet: "Das Verbindende und Tragfähige muß zuallererst aus einem Verantwortungsgefühl für die eigene Geschichte, zumal auch für die zwischen 33 und 45, erwachsen." Das Holocaust-Trauma als Mutter eines endlich gefundenen deutschen Nationalbewußtseins? Was sonst! Was sonst als diese unglaub-liche, unerhörte Tat - sowie ein noch nie dagewesener Weltkrieg - schenkte diesem seit Jahrhunderten geographisch, geistig und mental uneinigen, unfertigen Volk von einem Tag auf den andern den großen nationalen Topos, den Schlüsselbegriff, der alle, egal ob Linke oder Rechte, Bayern oder Friesen, Aufklärer oder Romantiker, mit einer solchen Wucht und Gewalt zusammenband wie kein Goethestück, kein Hambacher Fest, keine Bismarckverordnung vorher. Und darum also lieben die Deutschen den Holocaust so - vor allem die, die immer wieder sagen, daß sie von ihm nichts mehr hören wollen. Ich, persönlich, kann den Holocaust nicht leiden. Aber an einem solchen dunklen, nassen Novembertag kann ich die Besessenheit der Deutschen damit fast verstehen. Sie sollten nur endlich ehrlich zugeben, was sie von den toten Juden wollen - und begreifen, daß eine freundliche, offene Nation nie aus dem Horror entstehen kann, sondern nur aus einem Traum.