STREIT MIT RUSSLAND Obama lässt sich beim Raketenschild Zeit Er telefonierte mit Kreml-Chef Medwedew und mit Polens Präsident Kaczynski. Aber Barack Obama will sich beim Streit über ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa noch nicht festlegen. Dabei hatte Warschau bereits frohlockt, der kommende US-Präsident wolle dem Schutzschild zustimmen. Chicago/Moskau - Barack Obama mag sich noch nicht entscheiden, wenn es um das umstrittene Raketenabwehrsystem in Osteuropa geht. Polens Staatschef Lech Kaczynski habe das Thema in einem Telefonat mit dem künftigen US-Präsidenten zwar angesprochen, jedoch habe sich der Senator "nicht festgelegt", zitierte die Agentur Bloomberg einen Sprecher des Demokraten. "Während seines Wahlkampfs war seine Position, dass er die Aufstellung eines Raketensystems unterstützt, wenn die Technologie funktioniert", sagte der Sprecher. Dabei bleibe es. Obama am Telefon: Gespräche mit vielen Staats- und Regierungschefs am Wochenende REUTERS Obama am Telefon: Gespräche mit vielen Staats- und Regierungschefs am Wochenende Kaczynski will das Telefonat mit Obama jedoch anders verstanden haben: Nach Angaben der Nachrichtenagentur PAP in Warschau berichtete der polnische Präsident, Obama habe ihn über sein Vorhaben informiert, das Projekt fortzuführen. Der designierte US-Präsident habe dabei auch die Bedeutung der strategischen Partnerschaft zwischen Polen und den USA hervorgehoben. Polen und die USA hatten sich im August auf die Stationierung von zehn Abwehrraketen im Norden des Landes geeinigt. Zu dem System, das nach US-Angaben als Schutz gegen feindliche Raketen etwa aus dem Iran gedacht ist, wird auch eine Radaranlage in Tschechien gehören. Russland betrachtet den geplanten Raketenschild in seiner Nachbarschaft als Bedrohung Am Mittwoch hatte Präsident Dmitrij Medwedew die Stationierung von Kurzstreckenraketen im Raum Kaliningrad nahe der polnischen Grenze als Reaktion auf die US-Pläne angekündigt. Die Führung in Moskau hatte danach jedoch betont, sie sehe noch Verhandlungsspielraum. Obama telefonierte am Wochenende erneut auch mit Medwedew. Beide hätten den Wunsch nach einer konstruktiven Zusammenarbeit geäußert, um sich gemeinsam für die weltweite Stabilität und Entwicklung einzusetzen, erklärte der Kreml. Beide Länder hätten eine Verantwortung, ernsthafte Probleme globaler Natur anzugehen. Wann Obama und Medwedew zusammenkommen, ist noch unklar. Obama übernimmt am 20. Januar das Präsidentenamt. In Madrid sagte der spanische Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero, er habe ebenfalls mit Obama telefoniert. Beide hätten den Wunsch geäußert, sich bald zu treffen. Konkrete Pläne gebe es aber noch nicht. Am Samstag wandte sich auch die Hamas an den designierten US-Präsidenten und erklärte, sie sei unter gewissen Bedingungen zu Gesprächen mit der künftigen US-Regierung bereit. Der im syrischen Exil lebende Hamas-Führer Chaled Maschaal sagte dem britischen Sender Sky News, Washington müsse mit seiner Organisation sprechen, wenn es den Konflikt im Nahen Osten lösen wolle. Einen Dialog werde es aber nur geben, wenn Washington "unsere Rechte und Möglichkeiten" respektiere. als/AP/dpa http://www.zeit.de/2008/46/OBAMA-Kann-er-es] US-Wahl Von Martin Klingst Einer wie keiner Von einem großartigen Kandidaten zu einem großen Amerikaner: Wie Barack Obama seine Präsidentschaft angehen will Washington D. C. - So voller Seelenruhe, so gewiss seiner selbst, so gewiss seines Landes steht er da. Als stünden da nicht weit über hunderttausend Menschen vor ihm in dieser Nacht im Grant Park von Chicago. Als hätte ihn nicht eben der 43. Präsident der Vereinigten Staaten angerufen, ihm zur Wahl zum 44. Präsidenten gratuliert und ihn mit seiner Familie zu einem baldigen Besuch ins Weiße Haus eingeladen. Und als blickten nicht genau jetzt hundert oder auch zweihundert Millionen Amerikaner auf sein Gesicht. Barack Obama ist ganz bei sich in dem Moment, in dem er endgültig der Welt gehört. »Dieser Sieg allein ist nicht der Wandel, nach dem wir streben.« Der President-elect, wie sie ihn hier nennen, hat kaum seinen Mitstreitern gedankt – seinem Vize Joe Biden, seinem Chefstrategen David Axelrod, seiner Ehefrau Michelle und seinen zwei kleinen Töchtern Malia und Natasha (denen er zum Einzug ins Weiße Haus einen Hundewelpen versprach) –, da schlägt er den ersten großen Bogen seiner Präsidentschaft: Ja, wir sind weit gekommen, aber wir stehen erst am Anfang. »Dieser Sieg allein ist nicht der Wandel, nach dem wir streben.« Ein Schwarzer im Weißen Haus, das heißt: Amerika stellt sich seiner Geschichte – und schreibt Geschichte. Aber in einem Moment gewaltiger wirtschaftlicher, politischer und moralischer Erschütterung, vielleicht in einem der schwersten Augenblicke überhaupt, übernimmt auch ein Mann die Geschicke, der nicht weniger will, als die Welt zu verändern. Die USA haben radikal mit George W. Bush und den Republikanern gebrochen. Die Mehrheit der Demokraten im Kongress ist überwältigend, die politische Landschaft auf Jahre, vielleicht auf ein Jahrzehnt hinaus durcheinandergewirbelt. Größer und revolutionärer kann ein Sieg kaum ausfallen. Doch der Mann an der Spitze will nicht innehalten. Seit Barack Obama an einem Februartag vor mehr als einem Jahr auf den Stufen des Kapitols von Springfield, Illinois, seine Präsidentschaftskandidatur verkündete, ist er auf dem Weg. Fünf Millionen Helfer sind in diesen 21 Monaten für ihn werbend durch die Bundesstaaten gezogen, haben in Hitze und bei Regen an Haustüren geklopft. Gerade die Jungen haben dank seiner die Politik wiederentdeckt und hegen neue Hoffnung. Joe Klein, der große, alte Beobachter amerikanischer Wahlkämpfe, muss sein Buch umschreiben: Politics lost hieß es, doch die Politik ist nicht verloren, sondern 2008 so machtvoll zurückgekehrt, wie es vor Jahresfrist noch unvorstellbar schien. Seit John F. Kennedy hat kein Präsidentschaftskandidat mehr so viel Zuversicht und Begeisterung hervorrufen können. Obama ist es gelungen, eine neue, zukunftsträchtige Koalition aus Afroamerikanern und Hispanics, aus Arbeitern und aufgeklärtem Bürgertum zu schmieden und mit ihr weit auf angestammtes Republikanerterrain vorzustoßen. Amerikas Gesicht bis hoch hinauf ins Oval Office ähnelt jetzt immer stärker seiner eigenen Zukunft – und dem Weltgesicht. Zwei Kriege, die schlimmste Rezession seit 80 Jahren, ein gewaltiger Schuldenberg und der Ansehens- und Machtverlust Amerikas inmitten einer sich rasant verändernden Welt – belastender könnte das Erbe für den 44. Präsidenten kaum sein. »Doch gerade schwere Zeiten«, sagt David Abshire, »haben oft außergewöhnliche Staatsführer hervorgebracht: George Washington in der Geburtsstunde der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln, als Einheit, Verfassung und Moral Amerikas auf dem Spiel standen, Franklin Delano Roosevelt, der sein Land erfolgreich aus der Großen Depression und durch den Zweiten Weltkrieg führte.« Wie kein Zweiter hat Abshire die Höhen und Tiefen vergangener Epochen im Weißen Haus studiert. Der 82-Jährige mit dem breiten Südstaatenslang ist Chef des renommierten Zentrums für Studien der Präsidentschaft und beriet Ende der achtziger Jahre Ronald Reagan, der das Ende des kommunistischen Weltreichs zu besiegeln half, aber auch fast über die Iran-Contra-Affäre gestürzt wäre. Ein fast zweijähriger Wahlkampf liegt hinter Barack Obama. An dessen Ende waren sich rechte wie linke Beobachter einig: Dieser Wahlkampf hat einen exzeptionellen Kandidaten und Sieger hervorgebracht, einen, der durchaus das Format haben könnte, in den Olymp der Washingtons, Lincolns, Roosevelts und Kennedys aufzusteigen. Doch der Kandidat Obama war bislang auch eine riesige Projektionsfläche für ungezählte Wünsche. Die Schlange der Bittsteller vorm Weißen Haus wird endlos sein. Joe, der Klempner, wird die versprochene Steuersenkung einfordern und Nancy, die Altenpflegerin, eine bezahlbare Krankenversicherung für alle. Die Kriegsgegner werden auf einen schnellen Abzug aus dem Irak drängen und das Ausland auf neue Abrüstungs- und Friedensinitiativen. Ölfirmen werden auf Bohrrechte pochen und Umweltschützer auf die Wahrung der Natur und des Klimas. Nach den Bankvorständen werden die Chefs der notleidenden Versicherungsbranche, der Luftfahrtgesellschaften und der Autoindustrie die Hand aufhalten. Obama spürt diese Falle und trat bereits vor der Wahl das erste Mal auf die Bremse. Gefragt, was denn seine Prioritäten seien, umriss er in einem Fernsehinterview ein Fünfpunkteprogramm: ein Investitionsprogramm für die Wirtschaft, für Arbeitsplätze und für Amerikas marode Infrastruktur; Energieunabhängigkeit; ein gerechteres Krankenkassensystem; eine Steuerreform; eine gute Schulausbildung für alle Kinder. Doch wie wird daraus Regierungshandeln? Sosehr Obama im Wahlkampf als Lichtgestalt erschien, als Präsident wird er nicht nur Staatsoberhaupt sein, sondern auch Regierungschef. Er muss Minister auswählen, Kabinettssitzungen leiten und den Kongress für seine Vorhaben gewinnen. Er, dem seine Gegner im Wahlkampf stets vorhielten, weniger Exekutiverfahrung zu haben als Sarah Palin zu ihren Zeiten als Bürgermeisterin von Wasilla, Alaska, muss Antwort geben auf die Frage: Kann ein Messias auch regieren? Den Anfang für ein neues Amerika hat Obama bereits gemacht. Die transition, jene eigentümlich lang gestreckte Übergangsperiode zwischen der Wahl eines neuen Präsidenten am 4. November und seinem Amtsantritt am 20. Januar des folgenden Jahres, hat Obama in die Hände von John Podesta gelegt. Der 49-jährige Anwalt, ein unprätentiöser und eher unterkühlter Managertyp, ist Chef der Denkfabrik Center For American Progress, einer Art Exilregierung der Demokratischen Partei. Nun leitetet er Obamas transition team. Seinen neuen Chef hat an ihm wohl unter anderem beeindruckt, dass der Sohn eines Italieners und einer Griechin wie Michelle Obama aus dem rauen Arbeitermilieu und Schmelztiegel von Südchicago stammt. In der von Demokraten korrumpierten Stadt hatte Podesta sich einen Namen als Aufklärer erworben – so wie einst Barack Obama, nachdem er nach Chicago gezogen und den Demokraten beigetreten war. »Wer hat dich denn geschickt?«, fragte ihn damals ein Parteifunktionär. »Niemand«, erwiderte der schwarze Harvard-Jurist. »Wir mögen hier keinen, den man nicht geschickt hat«, bekam er zu hören. Es hat sie nicht abgeschreckt, weder Obama noch Podesta. Die Begehrlichkeiten mögen groß sein, denen die Regierung Obama ausgesetzt ist, doch John Podesta kündigte schon vor dem Wahltag an: Auf Blankoschecks brauche niemand zu hoffen. Trotzdem, glaubt der Architekt einer Regierung Obama, sei jetzt nicht die Zeit zum Sparen, selbst nicht angesichts des Billionenlochs im Haushalt. Die schwerste Krise seit der Großen Depression sei die beste Gelegenheit für eine ökonomische Revolution. Podesta ist ein Mann des »dritten Weges« zwischen Linken und Rechten, zwischen Staatsfanatikern und Staatsverdrossenen. Obama will schnell Zeichen setzen. Hartnäckig und effizient bereitet Podesta den Übergang vor: Wer wird Finanz-, wer Außen-, wer Verteidigungsminister? Welche Gesetze werden zuerst angeschoben? Wie schnell kommt eine Präsidentenorder zur Auflösung des Gefangenenlagers in Guantánamo? Doch stets gibt es dabei eine tiefer reichende Frage, die Podesta umtreibt: Wie wird aus einem großartigen Kandidaten ein großer Präsident? Wenige Tage vor der Wahl suchte Podesta darum den Präsidentenexperten Abshire auf. Wer die transition verpatze, warnte Abshire, wem es nicht gelinge, hier die entscheidenden Weichen und den richtigen Ton für den großen Wandel zu setzen, dem misslängen auch die ersten hundert Tage – und damit vielleicht die gesamte Präsidentschaft. Jimmy Carter versagte und auch Bill Clinton. Der jugendliche Hoffnungsträger Clinton enttäuschte seine Wähler in den ersten zwei Jahren derart, dass die Demokraten bei den folgenden Kongresswahlen eine verheerende Niederlage erlitten, die auf Jahre hinaus ihre Möglichkeiten beschränkten, Politik zu machen. Podesta hat das nicht vergessen – Ende der neunziger Jahre war er Clintons Stabschef im Weißen Haus. Abshire schenkte Podesta sein neuestes Buch, es heißt A Call To Greatness und liest sich wie ein Leitfaden für eine erfolgreiche Präsidentschaft. Führung sei die absolut wichtigste Qualität, sagt Abshire, ein sehr amerikanisches Konzept – leadership! Es sei die Fähigkeit, große Linien aufzuzeichnen und Prioritäten zu setzen, das Denken in den Köpfen zu verändern und die Menschen dabei mitzunehmen. Abraham Lincoln habe diese große Gabe besessen, George Washington ebenso. Zudem müsse man wie Franklin Roosevelt ein Team fähiger Experten um sich scharen, die den großen Ideen des Präsidenten konkreten Inhalt verleihen können, aber zugleich den Mut aufbrächten zu widersprechen, wenn der Chef irre. Ein guter Staatsführer, sagt Abshire, umgebe sich mit zwar loyalen, aber kritischen Geistern, die ihn zurückholen, wenn er in die falsche Richtung laufe oder die Bodenhaftung verliere. Nichts sei fataler als blinde Zuneigung oder ein feiger Club von Jasagern. Obamas meisterhaft geführte Kampagne und seine Gabe, Millionen von Menschen über alle Grenzen hinweg für sich einzunehmen, seine beeindruckende Ausgeglichenheit in den Stürmen des Wahlkampfs und die ruhige Hand inmitten des Beinahe-Kollapses der Wall Street – all das sind Zeichen von leadership. Bei der Auswahl von Mitarbeitern verbindet er Großzügigkeit mit Pragmatismus: Er will die Besten, auch wenn sie nicht aus seinem Stall kommen. John Podesta zum Beispiel war mit Herz und Seele Clinton-Mann, der Kandidatin Hillary hielt er bis zum Schluss die Treue. »Obama mia, Vater der Nation, wir möchten dich küssen, dich berühren«, trällert die landesweit bekannte Kabarettgruppe Capitol Steps dieser Tage munter zu den Klängen der Popgruppe Abba. Dem Obama-Double auf der Bühne schwillt die Brust. Tatsächlich muss der neue Präsident in den nächsten Wochen viel Übermut zügeln, den eigenen womöglich, vor allem aber den seiner Partei. Theoretisch ist die überwältigende Mehrheit der Demokraten im Kongress ein Segen und eine Stütze für den neuen Amtsinhaber im Oval Office. Für Präsident Obama birgt die Größe des demokratischen Sieges aber auch Gefahren. Der Neue will erklärtermaßen überparteilich regieren, er will Republikaner in sein Kabinett aufnehmen und die Gräben zwischen Linken und Rechten zuschütten. Und er verdankt seinen Sieg nicht zuletzt den Erfolgen in republikanischen Revieren. Ein solches Programm der nationalen Aussöhnung ist bedroht, wenn der demokratische Kandidat zu einem einseitig demokratischen Präsidenten wird. Schon bis zur Amtseinführung am 20. Januar wird die Welt ein klareres Bild vom Amtsverständnis des Präsidenten Obama haben. Was will er sein – Führer einer Bewegung oder einer Nation? Schon träumen seine Anhänger davon, mithilfe von Internet und Massenorganisation die Obama-Herrschaft zu managen, vorbei an widerspenstigen und unwilligen Parlamentariern. Michelle Obama sagt, sie habe ihren Mann immer rechtzeitig geerdet, und erzählt gern die Geschichte, dass Barack sie eines Tages auf dem Heimflug begeistert angerufen und ihr von seinen Auftritten berichtet habe. »Vergiss bitte nicht, das Ameisenpulver zu kaufen«, habe sie trocken erwidert. David Abshire sagt, dass bedeutende Staatsführer oft ebenso eindrucksvolle Ehefrauen an ihrer Seite gehabt haben. Abigail Adams, Eleanor Roosevelt, Jackie Kennedy sind nur drei Beispiele, sie prägten die Ära ihrer Männer entscheidend mit. Die ebenso scharfsinnige wie bodenständige Michelle Obama ist von ähnlichem Kaliber. Die Hoffnung Amerikas hat Obama ins Weiße Haus getragen, die Hoffnung der Welt begleitet ihn. Ein Scheitern des ersten schwarzen Präsidenten hätte verheerende Auswirkungen – weit über die Vereinigten Staaten hinaus. Doch Barack Obama ist ein außergewöhnlicher Kandidat mit einer außergewöhnlichen Geschichte. Jetzt muss er nur noch ein außergewöhnlicher Präsident werden. DIE ZEIT, 06.11.2008 Nr. 46