4° Dieter Borchmeyer theorie. Deren Bezüge zu Schillers Konzeption des Sentimentalischen sind ganz unverkennbar. Die sentimentalische wie die romantische sind Reflexionspoesie, welche die ungebrochene Einheit von Kunst und Natur, Geistigkeit und Sinnlichkeit auseinandertreten läßt und die Geschlossenheit der Erscheinungswelt in einem unab-schließbaren Vorgang transzendiert. Der romantische ist im Unterschied zum „reinen Dichter" - d. h. dem antik-klassischen, der einen Gegenstand als solchen darstellt - Brentanos Godwi zufolge derjenige, der den Gegenstand im Medium der eigenen Individualität und Subjektivität bricht: ,^illes, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgibt, ist romantisch. [...] Godwi setzte hinzu, das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases." Oder einige Seiten später: „DasRomantische [...]ist eine Übersetzung."I0 Übersetzung in diesem Sinne ist aber auch schon Schillers sentimentalische Poesie im Gegensatz zur ,Ungebrochenheit' der naiven. Diese bleibt wie die klassische bei den Romantikern das Gegenbild zur modernen Poesie. Letztere definiert sich selber im Blick auf dieses Gegenbild, sei es, daß sie sich über dessen (Begrenztheit' von ihrem höheren Reflexionsstand aus erhebt, sei es, daß sie sich angesichts seiner Vollendung' in Frage stellt, mit jener Attitüde des Selbstwiderspruchs, der den melancholischen Schatten der ästhetischen Moderne bildet. Zu deren Signaturen gehört in fast allen ihrer repräsentativen Selbstdarstellungen im 19. und 20. Jahrhundert das unglückliche Bewußtsein intellektueller Superiorität auf einem ins Schwanken geratenen ästhetischen Boden, welcher der vormodernen Kunst ein noch so sicheres Fundament geboten hatte. Als die - weitsichtigeren - Zwerge auf den Schultern von Riesen" haben sich auch die ,moderni' seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder mehr oder weniger bereitwillig und ausdrücklich gesehen. Schiller mit seiner Theorie der modern-sentimentalischen Dichtung und die deutschen Frühromantiker haben dafür die ersten Signale gesetzt. 10 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Bd. XVI, Stuttgart u. a. 1978, S. 314 u. 319. 11 Zu diesem zuerst von Bernhard von Chartres zu Beginn des 12. Jahrhunderts für das Verhältnis der ,moderni' zu den ,antiqui' gebrauchten Bild vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 2of. Rudolf Flotzinger Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" Das Wort „klassisch" kann bekanntlich in allen Künsten und Stilbereichen angebracht sein, u. zw. grundsätzlich in dreifacher Weise: „als Allgemeinbegriff, als Stilbegriff und als Epochenbcgriff"; in alle spielt ein „historisch gewachsener, aber ahistorisch verwendeter" Wertbegriff hinein.1 Dieser ist römischen Ursprungs2, dann aber bemerkenswert lange kaum gebraucht und erst „von der deutschen Poetik und Ästhetik seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts11 wieder aufgegriffen worden. Dabei zielen „die frühesten Belege noch weniger auf antike als vielmehr auf französisch e Muster". Außerdem liefen längere Zeit hindurch zwei verschiedene Bedeutungen nebeneinander: eine neu-humanistische (mit Bezug auf die klassische Antike) und eine allgemeine (mit der Bedeutung: Musterhaftigkeit). Erst im Zuge der Diskussion um den „klassischen Nationalautor" der Deutschen (insbes. durch Herder und Goethe), die also von einer Abgrenzung gegenüber Frankreich geprägt war, scheinen die beiden Bedeutungen ineinander aufgegangen zu sein.3 Außerdem versucht man im deutschen Sprachgebrauch seit längerem, gewissen Schwierigkeiten mit einer Unterscheidung zwischen „klassisch/Klassik" und „klassizistisch/Klassizismus" zu begegnen: Das eine Wortpaar meint dabei das Eigendiche, das andere aber oft nur eine gewisse (z. T. recht unterschiedliche) Bezugnahme darauf, beide Male sowohl historisch als auch ahistorisch. „Klassizismus" kann somit entweder wertneutral oder abwertend gemeint sein, meist korrespondiert die unterschiedliche Verwendung der Begriffe mit verschiedenen Bezugspunkten. In vielen europäischen Sprachen gibt es nur die Bildung mit „-cismus"^. Es dürfte kein Zufall sein, daß die besagten Nuancen in kaum einer anderen Sprache so wie im Deutschen möglich sind. In einigen gibt es nur ein Adjektiv (als Hauptbegriff), das 1 Ludwig Finscher, „Zum Begriff der Klassik in der Musik", in: Deutsches Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 11,1967, S. 9. 2 Vgl. den Beitrag von Oswald Panagl in vorliegender Publikation S. 17-2 7. Die Arbeit von Wolfgang Brandt (Das Wort „Klassiker". Eine lexikalische und lexikographische Untersuchung - Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beih. N.F. 21, Wiesbaden 1976) geht auf die Wortgeschichte praktisch nicht ein. 3 Finscher, Zum Begriff der Klassik, S. 12-16. 4 Vgl. im übrigen auch den Beitrag von James Webster in vorliegender Publikation, S. 75í. a 2 Rudolf Flotzinger entweder direkt substantivisch gebraucht werden kann (z. B. französisch „classique", niederländisch „klassiek") oder hiezu eines ergänzenden Substantivs bedarf (z. B. spanisch „clasico autor"); in anderen gibt es ein Adjektiv und ein davon abgeleitetes weiteres, wobei entweder nur von einem oder von beiden wiederum Substantive gebildet werden können. Solcherart sind in Europa geradezu zwei Sprachkreise feststellbar, die durch die französische Sprache auf der einen und die deutsche auf der anderen Seite repräsentiert erscheinen.' Daraus kann man einiges über die Art ableiten, wie über die Künste gesprochen wird. Doch macht dies die Klärung von Begriff und Inhalt der Wörter noch schwieriger. Umso mehr ist zu fragen, wie die Probleme zusammenhängen. Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem musikalischen Fachausdruck „Wiener Klassik" um eine Parallelbildung zur „Weimarer Klassik" der deutschen Literaturgeschichte,6 die Tragweite dieses Faktums ist jedoch offen. Auch nach Ludwig Finscher stammt der Begriff eindeutig „aus Deutschland, nicht aus Wien". Während Finscher aber darin einen „Versuch der Konstruktion einer Kulturnation [sieht], die deutsche und österreichische Traditionen" zu überwölben,? möchte ich eher von Differenzierungsprozessen ausgehen, d. h. zumindest von einer einseitigen Absetzung, wenn nicht gar einem Gegensatz. Zunächst hatte auch der Ausdruck „Weimarer Klassik" vor allem historische Bedeutung (Goethe und Schiller 1790-1805), er nahm aber bereits in den 1830er Jahren eine gewisse Verklärung an und wurde schließlich „Teil nationaler Selbst-findung der Deutschen im 19. Jahrhundert und[...] kulturelles Gegengewicht gegen Frankreich".8 Dieser abermals deutsch-französische Gegensatz ist auffällig und im Auge zu behalten. Zwar scheint sich die Einführung des Wortfelds „klassisch" in das musikalische Schrifttum ganz ähnlich wie im literarischen und ästhetischen vollzogen zu haben,? doch sollte nicht unterschätzt werden, daß in der Musik eine Bezugnahme auf die Antike (selbst auf indirektem Wege, wie in der Literatur) gar nicht möglich war. 5 Rudolf Flotzinger, „Der Sonderfall Wiener Klassik - Zur Beurteilung ihrer Rezeption in Slowenien", in: Evropski Glasbmi Klasicizem in Njegov Odmev na Slovenskem. Mednarodni simpozij, Ljubljana 1988, S. 13. 6 Finscher, Zum Begriff der Klassik, S.li; Martin Zenck, „Zum Begriff des Klassischen in der Musik", m:AMw, 39. Jg., 1982, S. 282í. 7 Ludwig Finscher, „Der Beitrag Deutschlands zur europäischen Musikgeschichte", in: Europas Musikgeschichte. Grenzen und Öffnungen, hg. von Ulrich Printz (Schriftenreihe der internationalen Bachakademie Stuttgart, Bd. 7), Stuttgart-Kassel etc. 1997, S. 147. 8 Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration (Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 7/1, begr. von Helmut de Boor und Richard Newald), München 1983, S. 68 und 230. 9 Finscher, Zum Begriff der Klassik, S. i6ff. Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" 43 Das bedeutet, daß von vornherein nur die allgemeinere Wortbedeutung in Frage kam. Einer der frühesten Belege, der von „klassischen österreichischen Komponisten" spricht, nämlich eine Anzeige des Wiener Kunst- und Industrie-Comptoirs von 1803, bezieht sich auf Fugenquartette von Matthias Georg Monn und Florian Gassmann, also auf eine „vergangene und national begrenzte Zeit und Technik" (wie etwa auch 1824 bei Thi-bauť° die „klassische Polyphonie" Palestrinas"). Diese allgemeine Wortbedeutung ist in Wien noch längere Zeit vorherrschend geblieben. Als Belege dafür können z. B. die Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates von 1814 gelten, wo von der Aufführung der „vorhandenen classischen Werke" die Rede ist12, oder die 1818 bei Steiner begonnene Serie Musikalisch klassische Meisterwerke der Deutschen alter und neuer Zeit'*. Ob es mit solchen Traditionen, ja gewissen Vorbehalten bzw. einer Scheu, den Begriff auf Lebende anzuwenden, oder mit ästhetischen Momenten zusammenhängt, sei dahingestellt. Tatsache ist, daß als erster von den drei Komponisten, die wir heute als „Klassiker" zu bezeichnen pflegen, Mozart mit diesem Epitheton belegt wurde, u. zw. erst unmittelbar nach seinem Tod. In dem wahrscheinlich vom ersten Biographen, dem Altphilologen (!) Niemetschek stammenden^ Prager Nachruf heißt es: ,^4lles, was er schrieb trägt den deutlichen Stempel der klassischen Schönheit."1^ In seiner Biographie nimmt Niemetschek 1798 für Mozarts Werke „klassischen Gehalt" in Anspruch,16 1803 spricht Ignaz Ferdinand Arnold von Mozarts „neuern klassischen Werken" v Bei Haydn verhält es sich ähnlich: Einzelne Werke waren schon früher als „klassisch" gerühmt worden (z. B. seine „Sieben Worte" in der Vossischen Zeitung vom 10. 10. 1801),18 er selbst aber erst nach seinem Tod (bei 10 Anton Friedrich Justus Thibaut, Über Reinheit der Tonkunst., Heidelberg 1824. 11 Finscher, Zum Begriff der Klassik, S. i8ff. Zu fragen wäre allerdings, wie weit die Fundamente von Thibauts Anschauungen dem Neuhumanismus zugerechnet werden könnten. 12 Eusebius Mandyczewski, Zusatz-Band zur Geschichte der k.k. Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Wien 1912, S. 197: § 3 (Hauptzweck des Vereins): die Aufführung der „vorhandenen classischen Werke"- und „aufkeimende Talente zu begeistern, [...] sich auch zu classischen Tonsetzern zu bilden". 13 Hg. von dem Berliner Georg Johann Daniel Pölchau, möglicherweise ist mehr als das erste Heft mit einem Chor C. Ph. E. Bachs gar nicht erschienen. 14 Horst Leuchtmann, „Mozart und der Beginn einer musikalischen Klassik", in: Festschrift Rudolf Bock-holdtzum 60. Geburtstag, Pfaffenhofen 1990, S. 209. 15 Gernot Gruber, Mozart und die Nachwelt, Salzburg-Wien 1985, S. 19. 16 Franz Xaver Niemetschek, Leben des k.k. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, Prag 1798, S. 46í. 17 Ignaz Ferdinand Arnold, Mozarts Geist. Seine kurze Biografie und ästhetishe Darstellung seiner Werke, Erfurt 1803, S.42. 18 Klaus Kropfinger, „Klassik-Rezeption in Berlin 1800-1830", in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen ig. Jh. (Studien zur Musikgeschichte des 19-Jhs., Bd. 56), Regensburg 1980, S. 318. 44 Rudolf Flotzinger Carpani ißu).1* In der Zwischenzeit war auch Beethoven auf den Plan getreten, doch dauerte es bekanntlich einige Zeit, bis er den beiden Älteren an die Seite gestellt wurde. Erst ab den 1830er Jahren haben schließlich (nach Finscher) gewisse Kreise um die Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung begonnen, den Begriff auf die unmittelbare musikalische Vergangenheit insgesamt anzuwenden, d. h. sowohl auf die bekannte Trias20 als auch als eine Art Epochenbegriff. Neben den Implikationen einer nachträglichen Idealisierung ist aber festzuhalten, daß der Begriff auch im musikalischen Zusammenhang21 offenbar national-geschichdich geprägt war, und zwar abermals mit Stoßrichtung Frankreich.22 Um von da aus ein wenig weiter zu kommen, muß das Begriffsfeld differenziert werden. Wesentlich früher und die ganze Zeit hindurch öfter als der Ausdruck „klassische Epoche" (oder „Periode") zu finden und auch ziemlich gleichbedeutend ist „Wiener Schule": z. B. differenziert Daniel Schubart (vor 1784, ersch. 1806) die „Schule der Deutschen" in die „Wiener", „Berlinische", „Sächsische", „Pfalzbayerische" usw.; die „Wienerschule" kennzeichnet er durch „Gründlichkeit ohne Pedanterey, Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Theilen",^ ähnlich Ernst Ludwig Gerber in der Boßlerschen Musikalischen Realzeitung 1789 den „Wiener Stil" mit „Eleganz und Gefälligkeit"?* Der Ausdruck „Wiener Schule" findet sich dann 1829 auch in der 19 Giuseppe Carpani, Le Haydine ovvero lettere su la vita e le opere del celebre maestro Giuseppe Haydn, Mailand 1812, S. 96. 20 Von wem dieser Ausdruck erstmals verwendet wurde, ist unbekannt. Nicht allzu ernst genommen werden kann, daß man glaubte, sich in dieser Frage nachträglich auch auf eine (gewissermaßen als prophetisch genommene) Eintragung des Grafen Waldstein in Beethovens Tagebuch vor dessen endgültiger Abreise aus Bonn nach Wien im Jahre 1792 („Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie Mozarts Geist aus Haydns Händen ") berufen zu können. 21 Das zeigt Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. von Ludwig Schubart, Wien 1806, bes. S. VI, 238 ebenso wie Wendt u. a. 22 Robert Sondheimer, „Die formale Entwicklung der vorklassischen Sinfonie", in: AMw, 4. Jg., 1922, S. 85; Erich Reimer, „Repertoirebildung und Kanonisierung", S. 242; „Mozart und der Beginn einer musikalischen Klassik", S. 208; u. a. 23 Schubart, Ideen, S. 77. Das Wort „klassisch" kommt aber, entgegen einer Andeutung bei Finscher (Zum Begriff der Klassik, S. 17), die man so verstehen könnte, bei Schubart nicht vor. 24 Ein Hinweis darauf bei Kurt und Miriam Blaukopf, Von österreichischer Musik. Eine kurze Geschichte der österreichischen Musik, Wien 1947, S. 13. Gerbers Beitrag unter dem Titel „Gedanken über das Studium der Geschichte der Musik in Deutschland" erschien im Jg. 1789, Sp. 186-190,193-196, 209-2 n, 227-229, 235-236; die ganze betreffende Stelle (Sp. 189) lautet: „So zeichnen sich noch bis auf diesen Tag die Berliner durch Korrektheit and Ordnung, die Wiener durch Elleganz und Gefälligkeit (doch raff Haydn unter diesen noch durch tausend andere große Talente mehr hervor), die Italiener durch Neuheit und Erfindung, und die Franzosen durch Naivität und Tändelei, gerade das Gegentheil von dem, was sie ehemals waren, aus." Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" 45 berühmten Arbeit über die Verdienste der Niederländer (u. zw. in einem eigenen Abschnitt „Ueber Kunstschulen in der Musik"2') des Österreichers Raphael Georg Kiesewetters wieder, ebenso ganz selbstverständlich bei späteren Autoren wie Hermann Kretzschmar (1886)26, Guido Adler (i9o8)2?, Alfred Schnerich (1909)28 oder Wilhelm Fischer (igi^).2? In seiner Geschichte der europäisch-abendländischen Musik (1834) spricht Kiesewetter'0 von der „Wiener Schule" als einem „goldnen Zeitalter". Dies kann als Hinweis auf eine klassizistische Einschätzung genommen werden, ohne dieses Wort gebrauchen zu wollen.'1 Hier scheint also wiederum eine gewisse Zurückhaltung der Österreicher wirksam zu sein. Ein Jahr später (1835) veröffentlichte Carl Borromäus von Miltitz in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung seinen bekannten Artikel „Was heißt klassisch in der Musik". Ebenfalls mit höchsten Wertungen hängt zusammen, daß sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrfach auch der Ausdruck „Wiener Meister" findet (z. B. bei Kretzschmar, Bernoulli'2, Fischer). Von daher dürfte kommen, daß man in allen zuletzt genannten Fällen parallel dazu auch die Bezeichnung „Klassiker" findet, schließlich auch bereits fallweise - u. zw. zweifellos als Kontamination - „Wiener Klassiker" (z. B. spricht Kretzschmar 1886 gar von der „Periode der Wiener Klassiker", Karl Weinmann 1906 von den „sog. Wiener Klassikern"3*). War der Bestandteil „Wien" im Falle von „Wiener Schule" eine bloße Benennung des örtlichen Zentrums gewesen, begann man offenbar bald, ihn auch als indirekten 25 Raphael Georg Kiesewetter, Die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst, Amsterdam 1829, S. 104: „Die deutsche Schule, welche man, von dem Orte des Wirkens ihrer Stifter, auch die Wiener Schule nennen könnte." Im übrigen sind hier nicht, wie oft unterstellt, verschiedene niederländische Schulen grundgelegt. 26 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal 1: Sinfonie und Suite, Rostock 1886. 27 Guido Adler, Vorwort zu Wiener Instrumentalmusik vor und um 1750. Vorläufer der Wimer Klassiker (Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 31), Wien 1908. 28 Alfred Schnerich, Messe und Requiem seit Haydn und Mozart, Wien-Leipzig 1909, S. 12. 29 Wilhelm Fischer, „Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils", in: StMw, Bd. 3,1915, S. 24-48. 30 Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik, Leipzig 1834, S. 97. 31 Zenck, Zum Begriff des Klassischen in der Musik, S. 283; Skepsis diesem Wort gegenüber sieht Finscher (Neues Handbuch, S. 232) mit Recht auch in Kiesewetters Formulierung (Geschichte der... Musik, S. 100): „die Producte unserer Zeit aber nennen wir wohl gar ,classisch' [...]". 32 Eduard Bernoulli, „Über die Schweizerische Musikgesellschaft", in: III. Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft. Bericht, Wien 1909, S. 478. 3 3 Karl Weinmann, Geschichte der Kirchenmusik mit besonderer Berücksichtigung der kirchenmusikalischen Restauration im ig. Jahrhundert, Regensburg 1906, S. 233. 46 Rudolf Flotzinger Hinweis auf die Musik zu verstehen. Daß dabei erst recht die Parallele zur „Weimarer Klassik" in der Dichtung eine Rolle gespielt hat, scheint auf der Hand zu liegen: Indirekt hatte eine solche ja bereits Wendt erstmals (1831) hergestellt.'4 Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ist aber zunehmend auch an eine politische (und daher auch jeweils ideologisch zu präzisierendes') Absetzung*6 zu denken (etwas vereinfachend, aber heute besser verständlich gesagt: nicht nur zwischen Deutschen und Franzosen, sondern auch zwischen Österreichern und Deutschen), d. h. daß die besagte Parallelsetzung Weimar-Wien zumindest auch einen Aspekt der Differenzierung zwischen Deutschland und Österreich erhalten hat (plakativ gesagt, etwa nach dem Muster": „was denen ihre Dichter, sind uns unsere Musiker"). Es ist keineswegs verwunderlich, daß die auf dem Gebiete der deutschen Literatur in Österreich schon im 18. Jahrhundert begonnene, bekanntlich über Grillparzer bis zumindest Hofmannsthal geführte und schließlich in die um ein „österreichisches Wesen" mündende Debatte*8 um dieselbe Zeit in ein neues Stadium trat. Einen charakteristischen und äußerst beispielhaften Beleg dafür liefert der österreichische, jedoch in Deutschland tätige Germanist Wilhelm Scherer (1841-86) in einem 1873 im wissenschaftlichen Verein in der Singakademie zu Berlin gehaltenen Vortrag über „Das geistige Leben Österreichs im Mittelalter", in dem die „Deutschen, welche dem heutigen Oesterreich angehören1', den „Gegenstand der Betrachtung" abgaben, und in dem es ihm um die Frage ging, „wie ak[...] die Scheidung zwischen Oesterreich und dem übrigen Deutschland" sei. Hier interessiert weniger, daß er sie erstmals eben bereits im hohen Mittelalter ortet, und wie er dies zu erklären versucht, sondern daß er nahezu nebenbei österreichische Leistungen, die der deutschen Reformation und Klassik (der Dichtung!) 34 Amadeus Wendt, lieber die Hauptperioden der schonen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte, Leipzig 1831, S. 3o8f: „Haydn könnte man, insofern bei ihm die epische Darstellung vorherrschend ist, mit Göthe; Mozart, wegen seines lyrischen, durch Melancholie versetzten Pathos, mit Schiller; Beethoven endlich [...] wegen seines allumfassenden Humors, mitjean Paul, in Hinsicht seiner dramatischen Natur aber mit dem Briten Shakespeare vergleichen." 35 Indem z. B. ein und dieselbe Bezeichnung bei einem österreichischen Patrioten oder Deutschnationalen unterschiedliche Nuancen besitzen dürfte. 3 6 Die selbstverständlich etwas anderer Natur und weniger kompakt (zwar national geprägt, aber von bestimmten politischen Parteien getragen) war. 37 Vgl. Wilhelm Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur, Berlin '1889, S. 719: „Die Freude an seinen Dichtern gab einem zerrissenen Volke den einzigen gemeinsamen Besitz, m dem es sich stolz und kraftig fühlte." 38 Vgl. u. a. Kurt Adel, Vom Wesen der österreichischen Dichtung. Österreichische Dichtung und deutsche Poesie (Österreich-Reihe, Bd. 267), Wien 1964; Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795, Frankfurt a. M. 1977; Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, hg. von Robert A. Kann und Friedrich Prinz, Wien-München 1980. Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" 47 gleichwertig seien, vor allem auf dem Gebiet der Musik, nämlich mit Mozart und Haydn, und als deren „emporleitende Engel" (wie schon bei Walther von der Vbgelweide) „das nationale Pathos" sieht.'? Diese Sichtweise Scherers (1873)4° ist wohl, ebenso wie z. B. Daniel Spitzers Kritik am Ausdruck „gute" oder „wahre" Österreicher (1871)41, in Verbindung mit der Forcierung des österreichischen Staatsgedankens zu sehen, der u. a. dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 (mit seiner Übertragung der Schulaufsicht von der Kirche an den Staat) zugrundelag. Der „allgemein geforderte Patriotismus"*1 schlug sich offenbar auch in einer neuerlichen Betonung des patriotischen Liedes« nieder, zu dem es nun zahlreiche Neuschöpfungen gab, u. zw. neben patriotischen Liedern im eigentlichen Sinn (z. B. „Heil dir, mein glücklich Österreich", „Dem Vaterland tön' froher Sang") sogar solche auf den Vorgang und seine Objekte selbst (z. B. „Die schönste Liebe, die dein eigen", „Österreichs Söhne soll man ehren"), auf die Heimat (z. B. „Mein Österreich, mein Heimadand", „Schön bist du, mein Vaterland"), auf einzelne Kronländer (z. B. „Dort wo Tirol an Salzburg grenzt"44, „O Böhmen du mein Heimatland", „Hoch vom Dachstein an"4'), die Donau (z. B. „Wie strömst du prächtig"), Salzburg als Geburtsort Mozarts, schließlich auf Personen wie Franz Schubert, Grillparzer, Anastasius Grün u. a.46. Daneben wären allbekannte Dinge zu nennen wie: die Neubauten der Oper (1869) und des 39 Wilhelm Scherer, „Das geistige Leben Österreichs im Mittelalter", in: ders., Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 124-146, bes. 124 und 146. Diese Sichtweise ging auch durchaus in seine Geschichte der Deutschen Litteratur ein. Vgl. auch Alois Wolf, „Das literarische Leben Österreichs im Hochmittelalter. Wilhelm Scherer zum Gedächtnis", in: Literaturgeschichte Österreichs von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Herbert Zeman, Graz 1996, S. if. 40 Die gleichzeitig eine weitere Wurzel der Frage nach „dem Österreichischen" auf verschiedenen Gebieten, ja des späteren „österreichischen Menschen" offenlegt; vgl. Rudolf Flotzinger, „Musikwissenschaft und der österreichische Mensch", in: Die Universität und 1938, hg. von Christian Brünner und Helmut Konrad (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 11), Wien-Köln 1989, S. 147-166, bes. 149. 41 Daniel Spitzer, Meisterfeuilletons, hg. von Walter Obermaier, Wien 1991, S. 78,135,145, 151. 42 Vgl. Ludwig Boyer, Vom Schulboten zu Erziehung und Unterricht. 150 Jahre pädagogische Zeitschrift (Festschrift 150 Jahre Erziehung und Unterricht), Wien 2000, S. 57, 63. 43 Boyer, Vom Schulboten zu Erziehung und Unterricht, S. 305 (hier ein Beleg von 1856), 344. 44 Von Johann Thaurer v. Gallenstein und Josef v. Rainer, veröff. 1822, seit 1911 Kärntner Landeshymne, Die schönsten Lieder Österreichs, hg. von Hartmann Goertz und Gerlinde Haid, Wien 1979, S. 264. 45 Von Jakob Dirnböck und Ludwig Karl Seydler, veröff. 1844, Goertz-Haid, Die schönsten Lieder Österreichs, S. 260. 46 Siehe z. B. Österreichischer Liederkranz. Lieder und Chöre für die vaterländischen Mittelschulen, Lehrerbildungsanstalten und k.u.k. Militärinstitute mit besonderer Berücksichtigung des östeireichische-patriotischen Liedes, hg. von Franz S. Liebscher, Komotau 71898. 48 Rudolf Flotzinger Musikvereins (1870) in Wien, der feierlich begangene 80. Geburtstag Grillparzers 8 (1871), die zur selben Zeit vollzogene endgültige Vereinnahmung Beethovens (100. ■ Geburtstag 1870), die Salzburger Mozart-Stilisierung (nach der Gründung des I Mozarteums und der Enthüllung des Denkmals das Wiener Weltausstellungskonzert ■ 1873, die Salzburger Musikfeste 1877/78, Gründung der Internationalen Stiftung ■ Mozarteum 1880 usw.47). Allerdings hat man damals noch immer kaum von einer „klassischen" Trias gesprochen, sondern von Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven oder allenfalls Wien als deren „musikalische^] Heimat".*'* Die besagte Parallelisierung von Weimar und Dichtung auf der einen sowie Wien und Musik auf der anderen Seite hatte aber nur wirksam werden können, weil z. B. Joseph Haydn bereits in der ersten Lieferung von Boßlers Musikalischer Realzeitung 1788 „längst der Stolz unsers Vaterlandes" genannt, Wien schon 1783 als „nach Paris die erste Stadt Europas für ausübende Musik" (Reichardt) und 1812 als die „unbestrittene Hauptstadt der musikalischen Welt" (Spohr) bezeichnet49 sowie in der Musikwelt zunehmend akzeptiert worden war, daß die Führung in der musikalischen Stilentwicklung um diese Zeit in Österreich gelegen und in den „Wiener Meistern" kulminiert war (1851 nannte Eduard Hanslick Österreich den ,,erste[n] Musikstaat der Welt"5"). Und abermals finden sich eher nur Andeutungen als eindeutige Belege, z. B.: Dom-mer, Musikgeschichte (1868): „die Dyas Haydn-Mozart vermehrte sich um einen weiteren erlauchten Namen und wurde zur Trias, indem Ludwig van Beethoven zu ihnen trat"; oder (von Titel und Erscheinungsdatum her gesehen eher erstaunlich und daher für diese Frage umso aussagekräftiger) Ernst Bücken, Die Musik der Nationen (1937): seit Glucks „Wirksamkeit in Wien verschob sich der Schwerpunkt der Stilentscheidung und Stilvollendung zum österreichischen Raum"?x Durch Guido Adler wurde schließlich der „klassische Stil" bekanntlich zu einer zentralen Kategorie der Stilgeschichte und damit der Ausdruck „Wiener Klassiker" um 1900 endgültig der Fachterminologie einverleibt.'2 (So findet er sich z. B. bei 47 Vgl. Gruber, Mozart und die Nachwelt, S. 218. 1 48 Z. B. Robert Zimmermann, Zur Aesthetik. Studien und Kritiken zur Philosophie und Aesthetik, Wien 1870, j S. 265. Weitere Beispiele bei Rudolf Flotzinger, „Brückners Rolle in der österreichischen Kultur- und j Geistesgeschichte", in: Bruckner-Probleme, hg. von Albrecht Riethmüller (Beil. z. AMw Bd. 45), Stuttgart 1999, S. 9-24. 49 Zit. nach Max Graf, Legende einer Musikstadt, Wien 1949, S. 89í. 50 Eduard Hanslick, „Bespr. Edmund Freiherr v. Herbert, Kärntische Volkslieder, für Gesang mit Pianoforte", in: Carinthia, Bd. 41,1851, S. 253. 51 Arrey von Dommer, Handbuch der Musikgeschichte, S. 751; Ernst Bücken, Die Musik der Nationen. Eine Musikgeschichte (Kröners Taschenausgabe, Bd. 131), Leipzig 1937, S. 224. 52 Guido Adler, Der Stil in der Musik, Leipzig 1911, S. 225. Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" 49 Hugo Leichtentritt 1908" und in Titeln von mehreren Dissertationen.'4) Dabei erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit die politischen Differenzierungen der 1870er Jahre noch wirksam und v. a. bewußt waren. Adler wollte seinen Stilbegriff als einen ästhetischen und historischen verstanden wissen,55 und er hat von den „(Wiener) Klassikern" offenbar stets nur im Sinne von geläufigen Kürzeln gesprochen. Als Epochen-Begriff aber haben er und seine Schüler die Formulierung „Wiener klassische Schule" verwendet. Sie präzisierten damit nicht nur die alte Bezeichnung „Wiener Schule" als eine „klassische", sondern holten auch die andere Auffassung herein: indem er nicht nur die drei „Klassiker" im Auge hat, sondern (im Sinne von Schubart und Kiesewetter, aber auch von uns Heutigen) sämtliche Wiener Musiker von Fuxens Tod bis Beethoven. Zur Präzisierung war daher eine Unterscheidung zwischen einer „älteren" oder „vorklassischen Wiener"^6 und einer „neuklassischen Schule"57notwendig. (Beide Bezeichnungen haben sich nicht wirklich durchgesetzt: Für erstere haben wir noch immer keinen Namen, der die äußerst problematische „Vorklassik" endgültig ablösen könnte; aber beide sind als Folie für den Ausdruck „Zweite Wiener Schule" erfolgreich geworden.'8) Aber (auch wenn es pedantisch klingt): Nie und nirgends ist bis in die 1920er Jahre der Ausdruck „Klasse" (oder gar „Wiener Klassik") zu finden gewesen; die Selbstverständlichkeit, mit der man heutzutage mit dieser Bezeichnung umgeht und sie mit den anderen Bestandteilen des Wortfeldes vermengt,59 entbehrt der Grundlage. Auf den ersten Blick scheint dieser Ausdruck nur als eine Reduktion des als zu schwerfällig empfundenen Adlerschen entstanden zu sein. Von wem er erstmals verwendet wurde, dürfte sich kaum feststellen lassen. Zweifellos von größter Wirkung war Ernst Bückens Band Rokoko und Klassik des Handbuchs der Musikwissenschaft von 1927, wo allerdings der Terminologie nicht der geringste Raum gewidmet ist. Bezeichnender- 5 3 Hugo Leichtentritt, Geschichte der Motette (Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, Bd. 2), Leipzig 1908, S. 412. 54 Simon, Zürich 1916; Neurath, Wien 1926; Senn, Wien 1929; Strassl, Wien 1930; Stockhammer, Wien 1936; s. Richard Schaal, Verzeichnis deutschsprachiger musikwissenschaftlicher Dissertationen 1861-1960, Kassel etc. 1963. 55 Adler, Stil, S. 225. 56 Karl Horwitz, Einleitung zu: Wiener Instrumentalmusik vor und um 1750. Vorläufer der Wiener Klassiker (Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 31), Wien 1908, S. XV, XXVI. 57 Adler, Stil, S. 225. 58 Vgl. Peter Rummenhöller, Art. „Wiener Schule 1", in: Das große Lexikon der Musik, Bd. 8, Freiburg-Basel-Wien 1976, S. 363. 59 z. B. Pinscher, Zenck (dessen Aussage von S. 282 um genau 100 Jahre zu früh kommt), Reimer, Leuchtmann (S. 209), auch Eggebrecht und Dahlhaus. Rudolf Flotzinger weise nur ein Jahr später findet sich dann der früheste Beleg bei Adler selbst.00 Das Wort „Klassik" halte ich sogar für eine relativ künstliche Bildung, jedenfalls ist es eine Eindeutschung - erst des späteren 19. Jahrhunderts!61 - aus dem Französischen. j Dabei könnte auch die Parallele „Romantik" eine gewisse Rolle gespielt haben. Erst dieser Epochenbegriff „Klassik" enthielt gleichzeitig eine Einschränkung auf die Zeit von 1781 bis 1803 oder 1812/17, und erst ihm konnte denn auch eine \ „Romantische Epoche" (bzw „Romantik") gegenübergestellt02 (oder allenfalls angehängt) werden. Das exakte Verhältnis zwischen den Ausdrücken „Weimarer" und i „Wiener Klassik" bleibe insofern offen, als es auch von germanistischer Seite in ahn- < licher Weise wie hier noch einmal aufzurollen wäre. Daß Parallelen schon bei der Neueinführung des Wortfelds eine Rolle spielten, dürfte auch so außer Frage stehen; und auch daß diese bewußt waren bzw. blieben, läßt sich zeigen: In einem frühen programmatischen Aufsatz „Von dem Wienerischen Geschmack in der Musik" hieß es bereits 176663: „Haydn ist in der Musik das, was Geliert in der Dichtkunst." Und Adler sollte noch in seinem Vorwort zu dem erwähnten Band der Denkmäler der Tonkunst in Österreich 1908 schreiben: „unter den in Mannheim wirkenden Österreichern befand sich kein Schiller der Tonkunst" (S. X). Von da aus ist jedoch nochmals auf den nationalistischen' Aspekt zurückzukommen : Zunächst ist ein solcher in den bekannten Diskussionen um Nationalstile bzw. \ Stilmischung seit dem späten 17. Jahrhundert deutlich spürbar.64 Sodann sind sowohl Haydn als auch Gluck oder Mozart als „teutsche Komponisten " begriffen und gefördert worden,65 doch war man auf österreichischer Seite über mangelnde Differenzierung offenbar schon früh nicht besonders glücklich: Schon 1766 wehrte sich der eben er-wähnte unbekannte Autor gegen die „parteiische Kritik" gewisser „Leute in Deutsch- J land". Und noch 1834 mochte Kiesewetter die „neue Schule" der Tonkunst, die durch j Haydn und Mozart „in allen Fächern zur höchsten Vollkommenheit gediehen" war, gerade 60 Guido Adler, „Musik in Österreich", in: StMw Bd. 16, 1928, S. 15: „Rokokokunst als Zwischenglied von Barock und Klassik." Die Ausbreitung ließe sich wiederum anhand von Dissertations-Titeln verfolgen: Nedwed, Wien 1931; Westphal, Berlin 1933; Schumann, Kiel 1940; Säbel, Köln 1941. 61 Vgl. abermals den Beitrag Panagl in vorliegender Publikation, S. 24í. 62 Einen gewissen Gegensatz" der klassischen zur romantischen „Schule"' (!) hat Adler schon 1911 (Stil, S. 228) festgehalten. 63 Gelehrter Nachrichten XKVIstes Stück, Beilage zum Wiener Diarium, Bd. 84; von da nach Kurt Blaukopf („Musikland Österreich", in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2, Graz-Wien-Köln 1979, S. 536) in den Haydn-Artikel von Ignaz de Lucas Das gelehrte Osterreich, Wien 1778, S. 311 übernommen. 64 Nicht zuletzt in den Versuchen von Gluck bis Beethoven, diese nicht nur nachzuahmen oder aufzunehmen, sondern zu überwinden. 65 Leuchtmann, Mozart und der Beginn einer musikalischen Klassik, S. 208. Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „(Wiener) Klassik" 51 deshalb nicht als „deutsche" bezeichnen, „weil eben in Deutschland seither ein Nebenzweig, eine Secte, entstanden ist, welche sich gern diesen Namen beilegen lässt".66 (Deshalb nannte er sie „Wiener Schule", d. h. durchaus aus anderen Gründen als Schubart.) Von daher erhält auch der oben vermutete Vorbehalt gegen das Wort „klassisch" zumindest eine weitere Dimension, und nur wenig später (1842) ist das Wort „klassisch" eben auch von Johann Nestroy aufs Korn genommen worden.67 Vor allem aber fällt erst im Rückblick von daher folgendes auf: daß sich unter den zahlreichen von Finscher, Zenck, Reimer u. a. zitierten Autoren nur zwei Österreicher finden, nämlich die Dichter Michael Denis (1777) und Johann Baptist v. Alxinger (vor 1797); sie können in Hinblick auf die Musik ausgeschieden werden. Alle anderen (zumal die frühen) Belege für das Wortfeld „Klassik" in der Musik stammen von deutschen Autoren. Schließlich erhält auch eine weitere Tatsache neues Gewicht: daß von allen frühen Autoren das betreffende musikalische Phänomen anhand der Instrumentalmusik, speziell der Symphonie exemplifiziert wurde,68 während Adler seinen „klassischen Stil" v. a. am Streichquartett festmachte. Daß dabei auch der berühmte Aufsatz des Münchner Musikwissenschaftlers Adolf Sandberger über das Haydnsche Streichquartett (1900)69 eine Rolle gespielt haben dürfte, ist in diesem Zusammenhang eher nebensächlich: betont doch auch Sandberger die Notwendigkeit, die Österreicher von den Mannheimern und Norddeutschen zu unterscheiden. Das heißt: Von Anfang an und bis in jüngste Zeit hat man weder die gegensätzlichen politischen noch die unterschiedlichen konfessionellen Gegebenheiten in Österreich und Preußen, in den verschiedenen Ländern inner- und außerhalb des Reiches bzw. zwischen den nord-und mitteldeutschen auf der einen und den süddeutsch-österreichischen auf der anderen Seite und damit die Entstehungsbedingungen der betreffenden Kunstwerke genügend bedacht. Dabei könnten die unterschiedlichen Affinitäten zu Literatur bzw. Musik durchaus mit solchen Unterschieden in Zusammenhang gebracht,70 ja zur Charakteristik der im Entstehen begriffenen Nationen herangezogen werden. Diese Aspekte müssen Adler bewußt gewesen sein, als er den „Klassik"-Begriff um 1900 in 66 Kiesewetter, Geschichte der... Musik, S. 97. 67 S. Beitrag Panagl, S. i8f. und 26t 68 Dies wird auch als Grund dafür zu nehmen sein, daß in diesen Überlegungen nie der Name Gluck fällt, während dieser wenigstens im Selbstverständnis der Österreicher während des 19. Jahrhunderts eine verhältnismäßig große Rolle spielte. Als „Klassiker" ist er aber auch hier nie so recht in Anspruch genommen worden. Vgl. Gernot Gruber, „Nachmärz und Ringstraßenzeit", in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2,1979, S. 336 und Bd. 3,1995, S. 35. 69 Adolf Sandberger, „Zur Geschichte des Haydnschen Streichquartetts", in: Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte, München 1921, S. 250. 70 Vgl. Flotzinger, Sonderfall, S. 13-23. 52 Rudolf Flotzinger der erwähnten, von der deutschen Kollegenschaft eben unterschiedenen und nicht akzeptierten Form aufgriff. Die Gründe hiefür können nicht nur im Stilistischen liegen, und seine Formulierung „Wiener klassische Schule", die gewissermaßen den deutschen und österreichischen Standpunkt zu verbinden trachtet, hat vor weiteren Vereinnahmungen keineswegs geschützt. Zweifellos ist daran auch der Zustand der österreichischen Musikwissenschaft nicht unschuldig. Immerhin scheint aber mehr als bemerkenswert, wie weit sich politische Verhältnisse - in diesem Falle bis in eine Fach-Términologie hinein - nachvollziehen lassen, wenn man nur genau genug hinschaut. f* Otto Biba „Grundsäulen der Tonkunst" -Von der Entstehung des Bildes der klassischen Trias „Lieber Beethoven! Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydenfand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydens Händen." Diese Stammbucheintragung von Ferdinand Ernst Gabriel Graf von Waldstein für Ludwig van Beethoven1 bringt zum ersten Mal jene drei Namen in einen gemeinsamen Zusammenhang, die wir heute im allgemeinen als jene klassische Trias ansehen, die eine musikalische Epoche geprägt und bestimmt hat. In Wien müssen wir eine solche bewußte, ja programmatische Kombination der drei uns heute fraglos am wichtigsten erscheinenden Meister dieser Zeit bzw. deren singulare Heraushebung aus den etwa sechzig um 1790/1800 in dieser Stadt lebenden Komponisten vergeblich suchen. Selbst wenn wir ein Konzertprogramm finden, wie jenes einer „Großen Akademie" im Wiener Freihaustheater vom 27. Oktober 1798, bei der Beethoven sein erstes Klavierkonzert op. 15 spielte und dazu noch Werke von Mozart und Haydn auf dem Programm standen2, können wir nicht behaupten, daß diese Programmplanung die uns heute so vertraute Trias Haydn-Mozart-Beethoven bewußt kombinieren oder besonders herausstellen wollte. Warum hätten auch dieses eine Mal die drei Namen bewußt, absichtlich oder mit Hintergedanken zusammengestellt worden sein sollen, ist doch Beethoven davor und danach noch oftmals aufgetreten bzw. sein Name in Konzeitprogrammen aufgeschienen. Die uns so erfreuende Kombination der drei Namen unserer „Klassiker" kann an diesem Abend nur ein Zufall gewesen sein. In England hingegen ist das musikalische Triumvirat Haydn-Mozart-Beethoven schon bald - und offensichtlich erstmals - zu einem Markenbegriff geworden. Zwischen Mai 1807 und April 1809 gab das Londoner Verlagshaus Cianchettini & Sperati 1 Ludwig van Beethovens Stammbuch. Nach dem Original im Besitze der Nationalbibliothek zu Wien [...], hg. von Hans Gersdnger, Bielefeld-Leipzig 1927, nicht paginiert. 2 Dieses frühe Zusammentreffen der drei Namen in einem Konzertprogramm hat schon Gernot Gruber (Mozart und die Nachwelt, Salzburg 1985, S. 127) diskutiert. - . Otto Biba - Francesco Cianchettini war ein Schwager des Komponisten Johann Ladislaus Dussek, sein Partner Sperati war Violoncellist - auf Subskription in meist monatlichen Lieferungen eine Sammlung von 27 Partituren heraus, die sie A Compleat Collection of Haydn, Mozart and Beethoven's Symphonies, in Score nannten. Enthalten sind in der Reihe 18 Symphonien Haydns, vier Symphonien und zwei Ouvertüren Mozarts sowie die ersten drei Symphonien Beethovens, letztere in Erst-, aber nicht Originalausgabe, weil Beethoven von dieser Publikation mit größter Wahrscheinlichkeit gar nichts wußte, sie aber jedenfalls nicht beaufsichtigen konnte. Wohl wegen der von Napoleon um diese Zeit gegen Großbritannien verhängten Kontinentalsperre blieben diese Ausgaben in Kontinentaleuropa praktisch unbekannt und in ihrer Kombination Haydns, Mozarts und Beethovens ohne Beispielwirkung.3 Heute sind diese 27 Bände in den Bibliotheken des europäischen Kontinents immer noch schlecht präsent, in keiner einzigen vollständig, am besten aber (mit nur zwei Lücken) dank glücklicher Erwerbungen in den letzten Jahren im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Auf dem Außentitel dieser Ausgaben wird ausdrücklich auf die Qualität dieser drei Komponisten hingewiesen und damit das Publikationsprojekt gerechtfertigt.'* „Cianchettini and Sperati, Publishers and Importers of Classical Music, have the honour to acquaint the Nobility, Gentry, an Amateurs of Music, that they have undertaken to publish in Score all the universally admired Symphonies of Haydn, Mozart, and Beethoven. The names of those celebrated Composers they conceive is more than sufficient to give credit to this invaluable undertaking [...]". In der Folge werden die drei ausdrücklich als „wonderful masters'1 bezeichnet, und der Respekt, den wohl jeder vor ihnen empfinden muß, hätte den Verlegern Mut gemacht, ein solches Publikationsprojekt zu starten, das im übrigen unter der Patronanz des Prince of Wales stand, dem auch jeder Band gewidmet wurde. Bald darauf läßt sich aus England noch ein Beispiel für das Zusammenfassen Haydns, Mozarts und Beethovens zu einer Art von Qualitätsgarantie nachweisen. In den Jahren 1812 bis 1815 hat William Gar diner aus Leicester in sechs Bänden „Sacred Melodies from Haydn, Mozart and Beethoven, adapted to the best English poets" publiziert5, 3 Georg Kinsky, Das Werk Beethovens, hg. von Hans Halm, München-Duisburg 1955, S. 54. Hier auch weitere Literatur zu diesen Ausgaben. 4 Unvollständig zitiert bei Anthony van Hoboken, Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, Bd. 3, Mainz 1978, S. 79. Hier vollständig zitiert nach Außentitel des 5. Bandes der Reihe mit Joseph Haydns Symphonie Hob. L47 (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, XHI 67045). 5 A. Hyatt King, Mozart im Spiegel der Geschichte 1756-1956, Kassel-Basel 1956, S.20; ders.: Mozart in Retrospect, London-New York 1970, S. 16. „Grundsäulen der Tonkunst" 55 die uns hier nicht wegen der fragwürdigen Bearbeitungsmethoden zu interessieren haben, sondern weil diese Melodien ausdrücklich von Haydn, Mozart und Beethoven, aber keinem anderen Komponisten gewählt wurden, also die besten Komponisten der Zeit mit den besten englischen Dichtern kombiniert wurden. Das kann bei Gardiners Projekt wie bei dem Symphonie-Projekt von Cianchettini und Sperati kein Zufall gewesen, sondern muß ganz bewußt gemacht worden sein. Denn um diese Zeit gibt es im englischen Musikalienhandel sehr wohl etliche Publikationen, die aus einer Vielzahl von Komponisten Auswahlsammlungen beliebtester Stücke zusammenstellen, ohne daß man für die Wahl der Komponisten ein System oder die Befolgung bestimmter Voraussetzungen erkennen könnte, und ohne daß in einem dieser zahlreichen Auswahlbände Haydn, Mozart und Beethoven gemeinsam vorkämen. Auch wenn Louis Spohr in seiner Selbstbiographie von seinem London-Aufenthalt im Jahr 1820 berichtet6, daß in den Konzerten der Philharmonie Society „mit Ausnahme der Mozartschen und Beethoven sehen Clavier-Concerte keine ähnlichen Musikstücke gespielt •werden" durften, „um die seichten und gehaltlosen Virtuosen-Concerte von ihren Programmen entfernt zu halten11, so ist dies einerseits eine qualitative Anerkennung Mozarts und Beethovens und die daraus resultierende Abgrenzung ihres Schaffens von dem aller anderen Komponisten bemerkenswert. Andererseits wird man sich aber nicht wundern dürfen, daß Haydn hier fehlt, also diesem Qualitätsstandard nicht zugerechnet wird, denn Haydns Instrumentalkonzerte waren damals ja praktisch unbekannt. Wenn Le Due in Paris 1790 in einer Reihe mit dem Titel Collection generale des ouvrages classiques de musique, in der auch Symphonien Joseph Haydns vertreten waren, Mozarts g-Moll-Symphonie, KV 550, veröffentlicht?, so darf man das Fehlen des Namens Beethoven auch nicht bedauern, denn von ihm lag ja in den frühen 90er Jahren noch kein Werk vor, das in diese Reihe gepaßt hätte. Hingegen mag man in dieser Dualität einen Vorläufer der hier zu besprechenden Trias erkennen. Das Adjektiv klassisch muß man allerdings nachdenklich zur Kenntnis nehmen und zu deuten versuchen. Es taucht im übrigen, ausschließlich auf Haydn gemünzt, um 1811 bei Nikolaus Simrock in Bonn wieder auf, der damals 37 Symphonien von Haydn in Stimmen mit dem Sammeltitel Collection des Symphonies ä grand orchestre dej. Haydn, Ouvrage Classique publizierte.8 Offensichtlich wollte er mit dem Epitheton „Ouvrage 6 Louis Spohr, Selbstbiographie, Bd. 2, Caeel-Göttingen 1861, S. 82. 7 Repertoire International des Sources Musicales. Einzeldrucke vor 1800, Bd. 6, Kassel-Basel-Tours-London 1976, S. 142 (M 5568). 8 Hoboken, a. a. O., S. 34. 56 Otto Biba Classique" daraufhinweisen, daß es sich um ausgewählte Werke zeitloser Gültigkeit und unwidersprochener Beispielhaftigkeit handelt. Das Adjektiv klassisch mag man damals in der Musik überdies auch im Sinn einer unzweideutigen Klarheit und einer gewissen Modellhafcigkeit verstanden haben. Auf all dies deutet jedenfalls die Verwendung dieses Wortes in jener Charakterisierung von Johann Georg Albrechts-bergers 1790 publizierter Anweisung zur Composition hin, die in dem 1796 erschienenen Jahrbuch der Tonkunst für Wien und Prag zu lesen ist»: „Herr Albrechtsberger, Kapellmeister bei St. Stephan, hat eine eigene, rühmlichst bekannte Tonschule geschrieben. Seine Lehre ist kernhafi, gründlich und klassisch." Doch zurück zur klassischen Trias. In Deutschland, in Österreich und in den übrigen habsburgischen Ländern ist sie lange nicht als solche faßbar, als solche kein Programm und kein Qualitätsbegriff. Blättert man in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, so kann man schon ab und zu einen Vergleich zwischen Haydn, Mozart und Beethoven finden, also die drei Komponisten auf einer Stufe stehend und deshalb gemeinsam beurteilbar oder vergleichbar sehen, aber der Topos von der klassischen Trias ist als solcher nicht nachweisbar. So konstatiert etwa der ungenannte, aber mit Georg Abraham Schneider zu identifizierende Rezensent einer Aufführung von Beethovens Zweiter Symphonie in Berlin im Jahre 180410: „Im Allgemeinen erregte diese Sinfonie nicht solche Sensation, als Mozartsche und Haydnsche." Der uns an sich vielbedeutende Vergleich zwischen den dreien wirkt aber sofort wieder eher als Zufall, wenn man sieht, daß unsere sogenannten Klassiker auch mit ganz anderen Komponisten verglichen werden. So werden in einem 1806" erschienenen Nekrolog auf Luigi Boccherini die „originellen und naiven Arbeiten" Boccherinis und Haydns den „schwierigem, künstlichem Quartetten'1 Mozarts, Rombergs und Beethovens gegenübergestellt: also keine stilistische oder qualitative Gemeinsamkeit zwischen Haydn, Mozart und Beethoven, sondern ein Gegensatz mit Haydn auf der einen, Mozart und Beethoven auf der anderen Seite, hier von Boccherini und dort von (wie wohl zu ergänzen ist: Andreas) Romberg unterstützt. Eine frühe gemeinsame Nennung von Haydn, Mozart und Beethoven, allerdings nicht als Trias, sondern zusammen mit Clementi und Cherubini, findet man auch 1805 in der Berlinischen Musikalischen Zeitung, wo Christian Friedrich Michaelis12 eine ganz spezielle Gemeinsamkeit dieser fünf Komponisten beschreibt: „Doch wissen unsre besten Künstler auf die glücklichste 9 Jahrbuch der Tonkunst für Wien und Prag. 1796, Faksimile-Nachdruck, hg. von Otto Biba, München-Salzburg 1976, S. 4. 10 AMZ, 7. Jg., Leipzig 1804/05, Sp. 146. 11 Berlinische Musikalische Zeitung 1806, S. 252. 12 „Vermischte Bemerkungen über Musik", S. 25. „Grundsäulen der Tonkunst" 57 Weise das System des Kontrapunkts mit den ästhetischen Foderungen [!] des freien Geschmacks zu vereinigen, selbst in Fugen und Kanons eine schöne oder erhabene Melodie zu legen, oder dem lieblichsten Gesänge durch tiefe harmonische Kunst Energie, Würde, und ein höheres, dauerhafteres Interesse zu geben. Mozart betrat vorzüglich diesen Weg, welchen schon Haydn früher verfolgte, und Männer, wie Clementi, Cherubini, Beethoven, mit seltener Originalität betreten." Der erste in der Allgemeinen musikalischen Zeitung publizierte Versuch, Gemeinsames bei Haydn, Mozart und Beethoven - und nur bei diesen drei Komponisten - zu suchen, diese miteinander zu vergleichen und Unterschiede zwischen diesen aufzuzeigen, womit sie aus allen anderen Komponisten hervorgehoben und über diese gestellt werden, erschien 1816 und war nichts anderes als eine Übernahme aus einer englischen Publikation, was die eingangs gebrachten Beispiele für das Entstehen der Vorstellung einer klassischen Trias im vereinigten Königreich und die langsame Verbreitung dieser Vorstellung von dort bestätigt. Unter dem Titel „Das Musikfest in Edinburg" berichtet dort1' ein Anonymus nicht nur über das 1815 veranstaltete Musikfest, sondern er bespricht auch ausführlich das 1816 erschienene Buch1* ,/ln Account of the first Edinburgh Musical Festival, [...]to which is added an Essay, containing some general Observations on Music11 von George Farquhar Graham. Weil die Leser dieser wichtigsten deutschsprachigen Musikzeitschrift damals zum ersten Mal einen solchen Vergleich Haydns, Mozarts und Beethovens, laut Graham der „most distinguished modern composers"1*, lesen konnten, sei der entsprechende Abschnitt aus diesem Artikel16, eine Übersetzung aus Grahams Buch, hier vollständig zitiert: „Seite 12117 macht er jedoch eine Vergleichung zwischen Haydn, Mezart und Beethoven, welche ich nicht übergehen will, ^lufden vorhergehenden Seiten haben wir Gelegenheit gehabt, das Vortreffliche jedes dieser drey ausgezeichnetsten neuesten Componisten, Haydn's, Mozarts und Beethovens, zu bemerken: diese drey berühmten Männer sind aber in ihrem Style und ihrer Weise überhaupt so sehr verschieden, dass vielleicht eine genaue Vergleichung ihrer jederseiti-gen Verdienste nicht ohne Unschicklichkeit Stattfinden kann. Doch lässt sich so viel sagen, dass Haydn und Mozart, wegen der Lauterkeit und Deutlichkeit ihres Styls und der auserlesenen Anordnung ihrer musikal. Perioden gleichmerkwürdig [!] sind. Der erste schien wegen seiner umfassenden Manier u. Kenntnis des Effects; der andere, in seiner edlen Empfindung und sei- 13 AMZ, 18. Jg., Leipzig 1816, Sp. 629-636. 14 Der Titel bibliographisch genau ergänzt nach dem Exemplar in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. 708/10. 15 Graham, a. a. O., S. 120. Das Epitheton klassisch kommt bei Graham nicht vor. 16 Sp. 635. 17 recte: S. 120-121. 58 Otto Biba nem gebildeten Ausdrucke ausgezeichneter zu seyn. Beethoven scheint, bey einer weniger geordneten und gereiften Einbildung als Haydn und Mozart, eben so viel Feuer und Geisteskraft zu besitzen, als jeder derselben. Es ist diesem vortrefflichen Musiker eine gewisse Wildheit und ein herkulisches Ergreifen der Vorstellung eigen. Sein Vergnügen ist, in den Regionen des Dunkeln und Zauberischen herum zu wandern, u. das Gemüth mit Tönen zu durchschauern, welche von den Einwohnern des unentdeckten Landes herzuschallen scheinen, aus dessen Grenzen kein Reisender wiederkehrt. Jedoch verirrt ersieh im Suchen nach Neuheit zu oft auf wüsten und ungebahnten Gefilden, welche ihm nichts ergeben, als einige rauhe und ungestalte Productionen, die mit Schwierigkeit erhalten werden, und die, ohne beklagt zu werden, hätten umkommen mögen.'" Der ungenannte Autor der Allgemeinen musikalischen Zeitung stellt diese Meinung Grahams nicht zur Diskussion und kommentiert sie nicht, sondern will die Leser offensichtlich nur darüber informieren. Gehen wir eine Generation weiter in das Jahr 1843. Damals hat Carl Georg Lickl - bekannt als Spezialist für das Spiel der Physharmonika und als Komponist für dieses Instrument erfolgreich auf dem Markt präsent - zehn Hefte mit Bearbeitungen für Physharmonika und Pianoforte unter folgendem Titel publiziert18: „Den Manen Mozarts, Beethovens und Schuberts. Adagios, Larghettos und Andantes aus deren gefeierten Werken für Physharmonika mit Begleitung des Pianoforte". Wir wissen ja, daß es Haydn zu dieser Zeit in der öffentlichen Beurteilung manchmal schwer hatte, aber eine musikalische Erinnerung oder ein solches musikalisches Denkmal hätte ihm niemand abgesprochen. Es kann also kaum Mißachtung gewesen sein, sondern muß musikimmanente Gründe gehabt haben, also im grundsätzlichen musikalischen Verständnis gelegen sein, daß Lickl mit Mozart und Beethoven nicht Haydn, sondern Schubert kombiniert hat. Einen bemerkenswerten und aus der damals aktuellen Situation zu verstehenden Gegensatz zwischen Haydn und Mozart auf der einen sowie Beethoven auf der anderen Seite sieht der ungenannte, aber von Theophil Antonicek mit Ignaz von Mosel identifizierte Verfasser der 1808 publizierten „Uebersicht des gegenwärtigen Zustan-des der Tonkunst in Wien"19: Da Mozart gestorben ist und Haydn „nur noch als Mensch, nicht mehr als Künstler" lebt, beginnt er einen „wirklichen Mangel an classischen musikalischen Autoren zu fühlen". Beethoven aber, meint Mosel, wäre wohl fähig gewesen, Mozart zu ersetzen, habe aber schließlich eine Bahn eingeschlagen, die ihn von diesem Ziel entfernt hat, was „die ächten Freunde der Tonkunst und des Herrn ü[an] 18 Alexander Weinmann, Vollständiges Verhgsverzekhnis Senefelder Steiner Haslinger, Bd. 2, München-Salzburg 1980, S. 158. Beethoven ist in dieser Reihe viermal vertreten, Mozart und Schubert je dreimal. 19 Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 1. Jg., Wien 1808, S. 42t „Grundsäulen der Tonkunst" 59 Beethoven bedauern" müßten. Zu der Zeit, zu der in London bereits die Publikation der Collection of Haydn, Mozart & Beethovens Symphonies im Erscheinen war, sieht Mosel - ein Wiener Musikpapst von unwidersprochener Anerkennung - Beethoven also weit von den beiden „classischen" Autoren entfernt. Mosel hat dieses Urteil dreizehn Jahre später in den seiner Übersetzung von Jones' Musikgeschichte beigefügten Anmerkungen relativiert und Beethoven, Jones bestätigend, „mit voller Gewissheit den ersten der jetzt lebenden Instrumental-Componisten" genannt20, aber zu den vielen Vergleichen, die er in diesen Anmerkungen zwischen Haydn sowie Mozart und anderen Komponisten gemacht hat, nie Beethoven herangezogen. Neben Ignaz von Mosel war damals in Wien der andere wichtige und kritische musikalische Denker und historisch-wissenschaftliche Autor in musikalischen Belangen Raphael Georg von Kiesewetter. In seiner 1834 veröffentlichten abendländischen Musikgeschichte21 gliedert er die Epochen nach den wichtigsten in diesen tätigen Komponisten. Die XVI. Epoche ist für ihn „Die Epoche Haydn und Mozart", die XVH. „Die Epoche Beethoven und Rossini". Schon allein deshalb sucht man bei ihm vergeblich nach der Idee des Dreigestirns unserer heute so bezeichneten Klassiker. Immer die Evolution in der musikalischen Kunst suchend, sieht er in der Instrumentalmusik und im dramatischen Fach eine Entwicklung von Haydn zu Mozart, die ihn darin Mozart über Haydn stellen läßt. Von Beethoven meint Kiesewetter, daß er „in seinen Instru-mental-Compositionen unübertroffen glänzt". Im weiteren beschreibt er die Entwicklung von der XVI. zur XVII. Epoche seiner Einteilung der Musikgeschichte, also von Haydn und Mozart zu Beethoven22: „Die Meisterwerke eines Haydn und Mozart hatten, seit der vorigen Epoche, der Musik in jeglicher Gattung einen neuen Schwung gegeben; die Frischheit der Gedanken, die Kühnheit in deren Ausführung, die Mannigfaltigkeit ihrer Harmonie und die Freiheit, ja oft anscheinende Ungebundenheit in den Modulationen, gab den Tonsetzern einen neuen Typus, und vorzüglich ward die Art und Weise, wie jene genialischen Meister die Orchester-Instrumente angewendet hatten, worin man, wie es scheint, den wirksamsten Hebel ihrer Effecte gefunden zu haben glaubte, als das Vorbild angesehen, dem man nachstreben, das man wo möglich übertreffen müsse. Die Fortschritte, welche insbesondere die eigentliche Instrumental-Musik durch deren bewunderungswürdige Compositionen gemacht hatte, und die eben noch überall zunehmende Liebhaberei für diese Gattung, konnten nicht anders, als den Eifer der Instrumentisten gleichfalls mächtig beleben, deren Virtuosität denn auch in dieser unserer letzten Epoche wirklich einen Grad erreicht hat, der die Möglich- 20 Geschichte der Tonkunst von G. Jones. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen hegleitet von /[gnaz] Ffranz] Edlen von Mosel, Wien 1821, S. 205. 21 Geschichte der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik, Leipzig 1834. 22 S. 97. 6o Otto Biba keit einer weiteren Steigerung kaum noch denken lässt. Sehr natürlich, dass hinwieder die Tonsetzer jetzt auch die Wirkungen des Instrumental-Satzes mehr ab je vorher in Anschlag brachten. Beethoven hat darin früher kaum Geahntes geleistet, und die von Mozart vorgezeichnete Bahn noch bedeutend erweitert; -[...]" In unserem Zusammenhang viel wichtiger als solche Überlegungen und Beobachtungen zu seiner Evolutionstheorie ist eine prägnante Kurzcharakteristik, die Kiesewetter Beethoven gibt. Für ihn ist er ebenda „der Wiener Schule herrlichster Zögling". Das scheint eine Vorwegnahme jenes terminologischen Vorschlags zu sein, den James Webster zum Ersatz des Terminus „Wiener Klassik" eingebracht hat. Allerdings verwendet Kiesewetter diese Formulierung kein zweites Mal. Wir erfahren von ihm also nicht, was er unter „Wiener Schule" versteht - auch wenn wir aus dem Zusammenhang annehmen können, daß er dabei an Haydn und Mozart denkt - und können nicht behaupten, daß er für Haydn und Mozart (und allenfalls deren Epoche) den Terminus „Wiener Schule" eingeführt hat. Bleiben wir in Wien. 1814/15 ist der Weimarer Literat Carl Bertuch anläßlich des Wiener Kongresses hierher gekommen. Hier hat er die Idee entwickelt, in der Karlskirche, wo es seit 1812 ein Denkmal für den Dichter Heinrich von Collin gab, ein Denkmal für Mozart zu errichten. In seinem Tagebuch geht er gedanklich noch weiter. Am 14. Jänner 1815 notierte er dort2': „Diese Kirche wäre ganz zu einem Pantheon für Wien geeignet. In den Schwibbogen der Seitenaltäre wäre dieses gut anzubringen." Am 2. Jänner lernt er Ignaz von Mosel kennen. „Me/rae Idee eines Denkmals von Mozart in der Carlskirche mißfällt ihm nicht", trägt er in sein Tagebuch ein.2i Diese von auswärts nach Wien gebrachte Idee eines Denkmals für Mozart und eines Pantheons (was immer Bertuch darunter verstanden hat) in der Karlskirche wurde in den folgenden Jahren in Wien gründlich diskutiert. 1819 wurde ein Denkmalfonds begründet, um in der Karlskirche ein Denkmal für Mozart und Haydn zu errichten. Daß der in Wien lebende Beethoven in diesem Denkmalprojekt - noch - nicht mitberücksichtigt war, darf uns nicht wundern; einem Lebenden errichtet man kein Denkmal. Organisatorisch wurde das Projekt von dem Musikverleger Sigmund Anton Steiner in die Hand genommen, der am 21. April 1819 in der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat" die Idee erläuterte, freilich noch ohne sich auf eine Aufstellung in der Karlskirche festzulegen. „Überschauen wir den Umkreis jener Denkmähler", heißt es dorť5, „welche unseren ausgezeichneten 2 3 Carl Bertuchs Tagebuch vom Wimer Kongreß, hg. von Hermann Freiherr von Eglofíštein, Berlin 1916,8. 98. 24 Ebenda, S. 104. 25 Sp. 253. Steiner publizierte diesen Artikel nicht als Privatmann, sondern namens seiner Firma: „S. A. Steiner und Comp. k.k. přivil. Kunst- und Musikalien-Verlagshändler". „Grundsäulen der Tonkunst" 6l yiännern die Würdigung ihrer Verdienste gestiftet hat, so können wir unmöglich ohne eine Gattung von Demüthigung und Scham, an Haydn und Mozart, diese zwey Grundsäulen der Tonkunst, erinnert werden; sie, deren classischer Genius, uns und der ganzen Nachwelt eine Fülle, einen Born von unerschöpflichen Genüssen gewährt; sie, deren hohe Meisterschaft der grösste Theil der neuern Tonkünstler seine Bildung verdankt: Haydn und Mozart haben kein öffentliches Monument!!" In der Folge wird die Frage aufgeworfen, ob „vielleicht eine durch architektonische Vorzüge und besonders günstige Lage geeignete Kirche, wo zugleich die alljährlichen Requien zu halten wären" ein möglicher Aufstellungsplatz wäre. Am 12. Mai wird in derselben Zeitschrift von Steiner die „ausdrückliche Frage" formuliert26: „Soll es bey einer Kirche verbleiben? oder welch anderer Platz soll gewählt werden? Wir erbitten uns hierüber um dann das Weitere vorschriftmässig bey der hohen Behörde einleiten zu können, baldige Äusserungen." Diese scheinen in zufriedenstellender Anzahl eingelangt zu sein.27 Die Karlskirche wurde zum definitiven Aufstellungsort bestimmt, aber im Zuge dieser Befragung aller Musikinteressierten muß zu Haydn und Mozart noch Christoph Willibald Gluck hinzureklamiert worden sein. Jedenfalls ist in der Folge immer von einem Denkmal für Haydn, Mozart und Gluck die Rede, für das gesammelt wird, dessen Realisierung aber aus finanziellen Gründen noch lange auf sich warten läßt. Nach Beethovens Tod wird dieser auch in den Kreis der Denkmalwürdigen aufgenommen, sodaß nunmehr der classische Genius von vier Komponisten zu ehren war. Mozarts 50. Todestag im Jahr 1841 gibt dem Projekt noch einmal einen Aufwind, in der Wnterreitschule der Wiener Hofburg wird ein Konzert für den Denkmalfonds veranstaltet28, Bildhauer werden um Entwürfe gebeten, doch wird - alle Details der Geschichte dieses Projektes müssen hier nicht ausgebreitet werden - das Denkmal für dieses „klassische" Quadrivium nie errichtet. In unserem Zusammenhang braucht nur festgehalten zu werden, daß es in Wien also in dieser frühen rückblickenden Beurteilung nicht um eine Ehrung der klassischen Trias Haydn, Mozart und Beethoven gegangen ist, sondern auch noch Gluck den klassischen Großmeistern hinzugezählt wurde. 26 Sp. 301. 27 Die eigenhändige Stellungnahme Antonio Salieris wurde am 22. November 1989 bei Sotheby's, London, in der Auktion „Fine Printed and Manuscript Music" unter der Katalognummer 194 versteigert; sie ist im Auktionskatalog abgebildet. Wie diese scheinen auch die anderen eingelangten Stellungnahmen - wir wissen nicht, wieviele es waren und von wem sie stammten - verstreut, mindestens zum Teil wohl auch verloren zu sein. 28 Programm im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Programmzettelsammlung 1841-12-07. 62 Otto Biba Eine bewußte Ehrung Haydns, Mozarts und Beethovens im deutschen Sprachraum zu finden, ist ebenso schwierig wie eine ganz bewußte Heraushebung und Überhöhung dieser drei aus der Fülle ihrer Zeitgenossen. Eine Ehrung mag man vielleicht in einem um 1830 erschienenen Kupferstich mit den nebeneinander gestellten Brustbildern Haydns, Mozarts und Beethovens sehen, der keine Bildunterschrift trägt und von F. Mehl nach R. Schein gestochen wurde.29 Beide Künsder sind in der kunsthistorischen und kunstbiographischen Literatur nicht zu finden, weshalb ich auch nicht ihre Vornamen auflösen kann. Wiener waren sie sicherlich nicht, ihren Namen nach zu schließen lebten sie aber im deutschen Sprachraum. Ihre Arbeit ist auch auf keinem hohen künstlerischen Niveau. Somit erweist sich auch dieser Kupferstich nicht als das erhoffte Dokument zu einer frühen Ehrung oder Verehrung der klassischen Trias mit zentraler Bedeutung, sondern als eine nicht repräsentative Randerscheinung welchen Ortes oder welchen Grundes auch immer. In der engeren Heimat Haydns, Mozarts und Beethovens hat man vielleicht zu wenig Abstand gehabt, um ihre singulare Bedeutung, Beziehung zueinander und Abhängigkeit voneinander zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen. Wie zu zeigen war, setzt diese Wertung, Heraushebung und Verbindung der drei in England ein. Das Bild der Trias wurzelt also nicht in einer verständlichen Begeisterung in ihrem Umfeld, in keinem Lokalpatriotismus und keinem Wiener Chauvinismus. Es entstand dort, wo man genügend Abstand hatte. Wenn in der Korrespondenz von Ignaz Moscheies folgendes von Moscheles' Sohn i860 in Paris mit Rossini geführtes Gespräch überliefert ist30, so kann ich dessen Inhalt und Aussage auch aus dieser Zeit keinen adäquaten Vergleich aus österreichischem oder deutschem Munde gegenüberstellen: „Ich fragte ihn, welche der Classiker er am meisten verehre. Von Beethoven sagte er: Je le prends deux fits par semaine, Haydn quatrefiis et Mozart tous lejours.'" Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen sprach Moscheles' Sohn von den Klassikern, und Rossini dachte an Haydn, Mozart und Beethoven; sein Gesprächspartner hat wohl auch gar nichts anderes erwartet, macht jedenfalls zu dieser offen-sichdich stillschweigend erwarteten Gleichstellung des Begriffes Klassiker mit diesen drei Namen keine weitere Bemerkung. Zum anderen erkennen wir, daß Rossini in diesen ihm vorgegeben erscheinenden Kanon ganz grundsätzliche persönliche Vorlieben systematisiert eingeordnet hat. Andere Komponisten hatten für ihn anscheinend nicht einen solchen Stellenwert, daß er sich in dieser Ordnung und Regelmäßigkeit mit ihnen beschäftigt hätte. 29 Exemplar in den Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 30 Aus Moscheles'Leben. Nach Briefen und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau, Bd. 2, Leipzig 1873, S. 308. „Grundsäulen der Tonkunst" 63 Ich erspare mir weitere ähnliche Zitate oder Belege zur klassischen Trias aus England, Frankreich oder Italien und komme zum Schluß. Vielleicht war nicht nur an den Hauptwirkungsstätten Haydns, Mozarts und Beethovens, sondern im ganzen deutschen Sprachraum die Musikszene lange wirklich zu reich, dicht, vielgestaltig oder bunt, um zu einer solchen herausgehobenen Sicht einer „klassischen Trias" zu kommen, wie sie anderswo möglich war, das heißt um einerseits das Verbindende zwischen Haydn, Mozart und Beethoven zu erkennen und andererseits in einer nüchternen Qualitätsanalyse sie vom übrigen Musikangebot ihrer Zeit, ihres Stils oder ihrer Epigonen abzusetzen. Als es dann doch auch hier möglich und üblich war, mag dies einerseits von auswärtigen Einflüssen bestimmt gewesen sein und andererseits von einem (spät-) romantischen Heroendenken, das uns heute eher belastend als erklärend erscheint. Geht man aber zu den Wurzeln dieser Trias-Idee zurück, so ist die Belastung weg, und die auf Qualitätsmaßstäben und nicht auf einem Kultdenken oder auf einem Schule-Suchen basierende Erklärung da. James Webster Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative zur „Wiener Klassik" i. Probleme der Begriffs- und Epochenbestimmung Es kommt zuweilen vor, daß die allgemeine Geschichte einer Kunst durch eine Art Synekdoche mit der Laufbahn eines einzelnen Künstlers gleichgesetzt wird - dem angemessenen Verständnis zum Nachteil. Ein hervorstechendes Beispiel gibt die „Wiener Klassik" in der Musik im Verhältnis zur kompositorischen Laufbahn Haydns, genauer gesagt zur Entwicklung seiner Instrumentalmusik1. Vor genau einem Jahrhundert stellte Adolf Sandberger die These auf, daß - bzw. erzählte ein Märchen, wonach - Haydns vermeintliche Vervollkommnung der ,thematischen Arbeit' in den Streichquartetten op. 33 vom Jahr 1781 zugleich seine völlige Reife als Komponist bedeutete2. In der Folge wurde diese Verbindung besonders durch Wilhelm Fischer, der bei Guido Adler studiert hatte und in den 1920er Jahren mit ihm eng zusammenarbeitete, auf den „Wiener Klassischen" Stil im allgemeinen erweitert. Er unterteilte Haydns Schaffen in die folgenden drei Perioden': [1] bis 1761 vor Esterházy; Entwicklung inmitten der Tradition [2] 1761-1781 bis zur Vervollkommnimg der thematischen Arbeit; Entwicklung des Personalstils [3] nach 1781 höchste Meisterschaft; Vervollkommnung des Personalstils 1 James Webster, Haydn 's „Farewell" Symphony and the Idea of Classical Style. Through-Composition and Cyclic Organization in his Instrumental Music, Cambridge 1991, S. 335-366. 2 Adolf Sandberger, „Zur Geschichte des Haydnschen Streichquartetts", in: Altbayerische Monatsschrift, Bd. 2, 1900, S. 41-64; nachgedruckt (leicht überarbeitet) in: ders., Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte, Bd. 1, München 1921, S. 224-265. Zum märchenhaften Charakter von Sandbergers Darstellung vgl. Webster, wie Anm. 1, S. 343. 3 Wlhelm Fischer, „Stilkritischer Anhang", in: Alfred Schnerich, Joseph Haydn und seine Sendung, Zürich '1926, S. 248. 76 James Webster Fischers Periodisierung der „Klassik" war praktisch identisch, sowohl chronologisch als auch inhaltlich1*: i. Die vorklassische Übergangszeit (bis ca. 1760) 2. Die frühklassische [Zeit] (ca. 1760-1780) 3. Die hochklassische Zeit (ca. 1780-1810) Diese dreiteilige, dem simplen Evolutionsgedanken verpflichtete Einstellung hatte zwangsläufig zur Folge, daß alle vor 1780 entstandenen Werke zu Unrecht als vorklassisch bzw. überleitend abgestempelt sowie Haydns frühere und mittlere Werke als unreif bzw. experimentell, als bloße Zwischenstadien auf seinem Weg zur künstlerischen Meisterschaft abgetan wurden. (Eine weitere Folge war die zwar weniger schädliche doch ebenso absurde Vorstellung, Haydns Streichquartette - geschweige denn sein Stil im allgemeinen - hätten sich nach 1781 bzw. 1787/90 kaum weiterentwickelt5.) Diese Auffassung findet sich bis heute sowohl in fast jeder Schilderung von Haydns Laufbahn als auch in den meisten allgemeinen musikgeschichtlichen Darstellungen. Solche Urteile über Haydns großartige, vor 1780 entstandene Werke mußte und muß ich schlechthin ablehnen. Das war der Grund für meinen Versuch, ohne den auch mir gleichsam eingeborenen Begriff der Wiener Klassik auszukommen - und nicht, wie mir zu Unrecht unterstellt worden ist, eine prinzipielle Abneigung gegen den deutschen Idealismus6 bzw. gegen das Urteil, Haydns Werke seien klassisch im normativen Sinn7. 4 Wilhelm Fischer, „Instrumentalmusik von 1750-1828", in: Handbuch der Musikgeschichte, Bd. 2, hg. von Guido Adler, Berlin 2i030, S. 795. 5 Friedrich Blume, Josef Haydns künstlerische Persönlichkeit in seinen Streichquartetten", in: Jahrbuch Peters, Bd. 38, 1931, S. 44-46; Ludwig Finscher, Die Entstehung des klassischen Streichquartetts. Von den Vorformen zur Grundlegung durch Joseph Haydn (Studien zur Geschichte des Streichquartetts, Bd. 1), Kassel usw. 1974, S. 267 sowie ders., Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 409-410,414. 6 Ludwig Finscher, „Klassik", in: MGG, Sachteil, Bd. 5, Kassel 21996, Sp. 231. Zu Unrecht aus drei Gründen: Erstens richtete sich meine Kritik gegen alle Auslegungen des Wiener Klassik-Begriffs; zweitens machte die von Finscher hervorgehobene Gegenüberstellung zwischen „Anglo-Saxon empiricism " und „ Gemwn idealism " nur einen von mehreren Unterschieden aus, die ich behandelte; endlich vertreten die vier von Finscher genannten angeblichen Befürworter dieses „empiritism" - Charles Rosen, Daniel Heartz, Leonard G. Ratner, Eugene K Wolf- erheblich verschiedene Ziele bzw. Methoden; dazu weiter unten. 7 Zu diesem Urteil über Haydn vgl. den Beitrag von Georg Feder in diesem Band. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 77 Angesichts der anderswo in diesem Band veröffentlichten Beiträge erübrigt sich eine eingehende Erläuterung der verschiedenen Schichten des Klassik-Begriffs in der Kunst. Da aber die Debatte z. T. um die Unterschiede zwischen deutschen und englischsprachigen Auslegungen geht, soll hier die Handhabung des Begriffs bzw. des einschlägigen Vokabulars kurz verglichen werden: Tabelle 1 Bedeutungen und Vokabular des Klassik-Begriffs in der Kunst Bedeutung Deutsch English I. Norm A. Adj.: vorbildlich usw. (Werk, Autor) B. Ubeitr.: Substantiv klassisch [ein klassisches Werk] classic a classic [i.e., a work; common] ein Klassiker [= Autor] a classic [i.e., an author; now rare] IL Epoche A. Antik 1. Griechisch-Römische Zeit 2. Davon: Werke, Autoren die klassische Antike die Klassiker Classical antiquity the classics B. Úbertr.: Später i. eine vorzügl. Kunstepoche (allg.) 2. eine besondere 3. Davon: Werke, Autoren eine klassische Periode; eine Klassik die [adj.] Klassik z. B. die Weimarer Klassik die [adj.] Klassiker; z. B. die Weimarer Klassiker die [adj.] Klassische Schule a classic period the [adj.] Classical Period; the [adj.] Classicism e.g., French Classicism (17-Jh.) the [adj.] Classics; e.g., the Weimar Classics the [adj.] Classical School III. Stil A. Griechisch-Römischer Stil B. Übertr.: Gr.-Röm. Stil ähnlich bzw. jeder vorzügliche Stil die Klassik; Klassizität ein klassischer Stil; eine Klassik; Klassizität Classical style; Classicism a classic style; [adj.] Classicism e.g., French Classicism 78 James Webster C. Auf eine Gattung bezogen: vorzügliche Autoren, Werke z. B. Schüben als Klassiker des Lieds the Beatles als Klassiker des Rock IV. Nachahmung Klassizismus klassizistisch V Allgemeiner Begriff das Klassische Die wesentlichsten Unterschiede sind folgende: - Norm: Während auf deutsch das Substantiv „ein Klassiker" fast ausschließlich auf einen Autor angewandt wird, ist es im Englischen eher umgekehrt: Das Substantiv „a classic" bezeichnet heute fast nur noch ein Werk, kaum mehr einen Autor; - Klassizismus: Im Englischen wird für Klassizismus usw., zumal im Substantiv, das leicht in andere Richtung weisende „neoclassicism" usw. gebraucht, und zwar nicht nur im begrenzten Sinn der Musik von Strawinsky, Hindemith usw. in den 1920er und 30er Jahren, sondern überall; - Allgemeinbegriff: Es gibt im Englischen eigentlich kein Gegenstück zum Ausdruck „das Klassische" in diesem Sinn8. Ein besonderes Problem im Englischen ist die häufige, oft unbewußte Verwechslung der beiden adjektivischen Formen „classic" und „Classical". Was damit zur Sprache kommen sollte, ist folgender Unterschied: „classic", ohne Großbuchstaben, bezeichnet etwas, das im allgemeinen Sinn klassisch ist: „a classic work", „the classics", „a classic period" oder „style"; „Classical", mit Großbuchstaben und der Nachsilbe „-al", trägt dagegen die Bedeutung eines Eigennamens: zunächst „Classical antiquity", dann im übertragenen Sinn jede spezifische Klassik, also „the Classical style" der Antike, oder in Wien um 1800. Die Inkonsequenz kommt gerade bei Übersetzungen der verschiedenen Bedeutungen von ,Wiener Klassik' zutage (siehe Tabelle 2): Die Epoche wird zumeist „the Classical Period" genannt, aber auch falsch „Classic" (z. B. im 8 Als Beispiel des deutschen Usus sei der Titel des von Rudolf Bockholdt herausgegebenen Buchs genannt: Über das Klassische, Frankfurt a. M. 1987; auf englisch müßte das „On Classicism" heißen, doch würde man wohl eine passende Umschreibung vorziehen. e.g., Schubert as a classic of the lied the Beades as Classics of Rock neoclassicism neoclassical); classicizing, -istic the classic/Classicism [rare] Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 79 bekannten Buch von William S. Newman9). Der Stil wird zumeist als „the Classical Style" wiedergegeben, wie im bekannten Buch von Charles Rosen10, aber auch irri-tierenderweise einfach als „Classic Music", wie im bekannten Buch von Leonard G. Ratner". Tabelle 2 Bezeichnungen für den Wiener Klassik-Begriff Begriff Deutsch Englisch Epoche Stil Haydn, Mozart, Beethoven die Wiener Klassik; die Klassik [selten?] die Wiener Klassik bzw. die Neuklassik*; der Wiener Klassische Stil; der Klassische Stil [selten?] die Wiener Klassik(er); die Wiener Klassische Schule [jetzt selten?] the Vienna /Viennese Classical Period; the Classical (Classic) Period [common] Viennese Classicism; the Vienna/Viennese Classical Style; the Classical (Classic) Style [common] the Viennese Classics; the Vienna/Viennese Classical School [now uncommon] * Ein von Adler und seinen Anhängern geprägter Terminus, um die Wiener Klassiker von Bach und Händel zu unterscheiden; diese wurden als , Altklassiker" rubriziert, in Anlehnung an Johann Nikolaus Forkels bekannte Erhebung von Bach als den klassischen deutschen Komponisten. Dieser Usus fand im Englischen kaum Verbreitung. Bei uns wird das Eigenschaftswort „Vienna" bzw. „Viennese" bald miteinbezogen, bald ausgelassen, und zwar öfters unabhängig davon, ob wirklich nur die Wiener bzw. österreichische Musik gemeint ist oder die Musik des späteren 18. Jahrhunderts überhaupt. Viele Autoren gebrauchen die Bezeichnung „Classical)" nur mehr im nomi-nalistischen Sinn einer bloßen Perioden- bzw. Stilbezeichnung (z. B. Newman), analog dem Barock und (wenigstens äußerlich) ohne ein positives Werturteil oder eine unmittelbare Beziehung zum Dreigestirn Haydn-Mozart-Beethoven. Das erinnert an die Einstellung Friedrich Blumes, der die Zeit von 1750 bis 1900 in eine einzige, Rassisch-romantische' Periode zusammenfaßte, wobei die Klassik auf die gesamte europäische Musik von 1750 bis 1800 bzw. 1815 angewandt wurde, d . h. praktisch nur 9 William S. Newman, The Sonata in the Classic Era, Chapel Hill 1963. 10 Charles Rosen, The Classical Style. Haydn, Mozart, Beethoven, New York und London 1971. 11 Leonard G. Ratner, Classic Music. Expression, Form, and Style, New York 1980. 8o James Webster noch als Epochenbegriff fungierte12. Bei uns wird „the Classical Style" mal verallgemeinernd auf ganz Europa ausgedehnt, mal nur auf das Dreigestirn, namentlich wieder bei Rosen. Ludwig Finscher hat also Unrecht, wenn er behauptet: „im angelsächsischen [...] Schrifttum dominiert ein pragmatischer Klassikbegriff, in dem ein Einverständnis über das, was gemeint ist, vorausgesetzt wird'"3. Andererseits bieten gerade diese vielen Umschreibungen im Englischen potentiell die Möglichkeit, reale Unterschiede verbal festzuhalten: „the Classical period" als Epochen-, „the Classical style" als Stilbegriff, „the Viennese Classics" für das Dreigestirn. Auf deutsch dagegen ist der Begriff „Wiener Klassik" von Haus aus mehrdeutig, da ein und derselbe Terminus zumeist für alle drei Begriffsschichten verwendet wird. Das ist meiner Meinung nach ein Hauptgrund dafür, daß im deutschsprachigen Schrifttum die verschiedenen Aspekte des Begriffs trotz manchen Versuchs ihrer Auseinanderhaltung noch heute zumeist verschmolzen werden. Sogar der geschichtsphi-losophisch sehr versierte Carl Dahlhaus z. B. stolperte immer wieder über den vermeintlichen Unsinn, Gyrowetz oder Pleyel einen „Klassiker" nennen zu müssend, während man auf englisch diese Komponisten ohne weiteres als zur klassischen Periode bzw. zu dem (allgemeinen) klassischen Stil gehörig betrachten kann, ohne sie gleich zu „Klassikern" erheben zu müssen. Wie sehr von deutschen Autoren der Wiener Klassik-Begriff in einem übermäßig idealisierenden Sinn verwendet wird, beweist z. B. die Aussage von Hans Heinrich Eggebrecht: „Wenn wir [...] die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens klassisch nennen, im spezifischen Sinn der Wiener Klassik [...] so gebrauchen wir diese Benennung in einem doppelschichtigen, nämlich in einem normativen und einem historischen Sinn. Und diese beiden Sinnschichten werden von einer dritten Schicht überlagert, dem exzeptionellen Begriff von Klassik [...] Was der Klassikbegriff seit jeher an normativen Inhalten aufweist, das gelangte in der Wimer Klassik zur Verwirklichung, und diese historische Verwirklichung des normativen Begriffs von Klassik ist exzeptioneller, einmaliger Art, so daß es nur eine musikalische Klassik gab."15 Ob diese Interpretation, wie 12 Friedrich Blume, „Klassik", in: MGG, i. Ausgabe, Bd. 7, Sp. 1030-1036; „Romantik", ebenda, Bd. 11, Sp. 791-802. 13 Finscher, Klassik, Sp. 231. 14 Carl Dahlhaus, „Das 18. Jahrhundert als musikgeschichtliche Epoche", in: Die Musik des 18. Jahrhunderts, hg. von dems. (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 5), Laaber 1985, S. 6-8. Für eine scharfsinnige, aus amerikanischer Sicht stammende Kritik an der historiographischen Einstellung dieses Buchs vgl. Eugene K. Wolf, „On the History and Historiography of Eighteenth-Century Music. Reflections on Dahlhaus's Die Musik des 18. Jahrhunderts'1, in: Journal of Musicological Research, Bd. 10,1991,8.239-255. 15 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1991, S. 472. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 81 Finscher (a. a. O.) behauptet, „heute die differenzierteste [ist], hinter welche die Diskussion nicht mehr zurückfallen dürfte", ist zu bezweifeln. Andererseits muß ich gerade in diesem Rahmen wiederholen, daß auch im angelsächsischen Raum der zentrale Begriff „Classical Style" auf verwirrend mehrfache Art verwendet wird und daß diejenigen, die sich auf das Dreigestirn konzentrieren, oft auf eine ebenso normative Weise vorgehen (das spiegelt unter anderem den starken Einfluß wider, den die vielen emigrierenden deutschsprachigen Musikwissenschaftler ab den 1930er Jahren auf die damals neue Disziplin in Amerika und England ausübten). Wenn ich also gegen die „Wiener Klassik" bzw. „Classical Style" polemisiere, richtet sich meine Kritik im selben Ausmaß auf meine amerikanischen Kollegen, namentlich Rosen, wie die deutschen. Ein weiterer Problembereich kann hier nur kurz erwähnt werden: die schiere Unmöglichkeit, die Musik der „Wiener Klassik" zu bestimmen, ob nun chronologisch, geographisch oder in bezug auf den Unterschied zwischen den persönlichen Stilen der Trias und (wenn es so etwas gibt) dem allgemeinen Epochenstil. Solche Meinungsverschiedenheiten treten zwar bei jeder Periodisierung bzw. Stilauslegung auf, doch sind die daraus resultierenden Probleme, im Vergleich etwa zur Weimarer Klassik, bei der Wiener Klassik sowohl mannigfaltiger als schwerwiegender (Zitate der einzelnen Auffassungen dürften in diesem Rahmen überflüssig sein). Was die Chronologie angeht, fängt sie schon gegen 1750 an oder erst um 1780? (Wenn eine Vorklassik bzw. galante Periode festgestellt wird, gehen die Zeitgrenzen ebenfalls auseinander, öfters bei ein und demselben Autor; Dahlhaus z. B. setzt ihren Anfang wechselweise mit „1720-30"16, „ij3o"'7 und „um 1740"^ an.) Dauerte sie nur bis gegen 1800, also ist sie hauptsächlich mit dem Haydn-Mozart-Stil gleichzusetzen? Oder bis gegen 1815, also den mittleren Beethoven mit einschließend? Oder sogar bis gegen 1830, also zum Ende seiner und Schuberts Laufbahn? Ist wirklich nur die in und um Wien komponierte Musik darunter zu verstehen oder auch die, die aus anderen Regionen der Donaumonarchie stammt, oder auch aus Bonn und Salzburg, oder in ganz Deutschland, oder gar ganz Europa? Das gleichsam großzügigste Extrem stellt wohl Blumes oben zitierter, an sich immer noch diskutabler Begriff einer europaweiten ,klassisch-romantischen' Periode dar; dabei gehen freilich nicht nur die meisten stilistischen Unterschiede verloren, sondern auch der Sinn dafür, worin der Vorrang der drei Genies Haydn, Mozart und Beethoven besteht. Andererseits, wenn z. B. Fin- 16 Dahlhaus, Das 18. Jahrhundert, S. if. 17 Carl Dahlhaus, „Epochen und Epochenbewußtsein in der Musikgeschichte", in: Epochenschwelle und Epochenbemußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 81. 18 Carl Dahlhaus, JSfeue Musik" als historische Kategorie, 1969, zitiert nach: Schönberg und Andere. Gesammelte Aufsätze zur neuen Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Mainz usw. 1978, S. 31. 82 James Webster scher, einer Anregung Raphael Georg Kiesewetters folgend, in seinen jüngeren Schriften sogar nur die Musik von Haydn und Mozart aus den Jahren 1781 bis 1803 als „ Wiener Klassik " anerkannte19, mag das mit gutem Grund auf dem Zusammenwirken beider Meister inmitten eines regen und konzentrierten Musiklebens basieren, in Analogie zu Goethe und Schiller in Weimar, also eigentlich im Sinn einer begrenzten ,Schule'; damit wird aber nicht nur das Drei- auf ein Zweigestirn geschrumpft, sondern zugleich der Epochenbegriff praktisch preisgegeben; dazu komme ich am Ende zurück. Die Wiener Klassik bleibt prinzipiell unbestimmbar. Einige Alternativen zum herkömmlichen Wiener Klassik-Begriff sind schon vorgeschlagen worden. Eine grundsätzlich abweichende Auffassung geht davon aus, daß das echt „Klassische" im 18. Jahrhundert just im Klassizismus bestand, also in der bewußten Nachahmung von Stilzügen und Werten, die man als charakteristisch für die klassische Antike betrachtete. Da gibt es zunächst die Opera seria, die infolge ihrer Funktion als (Selbst-)repräsentation des höfischen Standes die vermeintlichen Tugenden der Antike immer wieder beschwor; jedenfalls war sie auf sowohl kulturellpolitischem als auch musikstilistischem Gebiet die zentrale Gattung der europäischen Musik von etwa 1720 bis 1780, in Italien und auch einigen transalpinen Zentren bis in das 19. Jahrhundert hinein. Ihr Vorrang in der Entwicklung des „Stile communo" am Ende des Jahrhunderts ist z. B. von so wichtigen, doch verschiedenen Persönlichkeiten wie Dahlhaus und Daniel Heartz gleichermaßen betont worden20. Oder man könnte mit Ratner daran zweifeln, ob der Stil-Begriff „klassisch" überhaupt auf das Dreigestirn angewendet werden sollte: „[Many] meanings of classic — objectivity, austerity, noble simplicity, purity of style, lack of disturbing irregularities or mixtures - do not apply".21 An ihrer Stelle schlägt er erwartungsgemäß Gluck vor, dessen Opern bekanntlich von klassizistischen Zügen durchdrungen sind. Er fahrt fort: Recording to late 18th-century views, [this period] would be called the galant style, possibly qualified as late Franco-Italian galant [...]. There is hardly a mention of Vienna throughout 18th-century comments on style".1* Mit dem „galant" wird die in mancher Hinsicht vorrangige 19 Ludwig Finscher, „Haydn, Mozart und der Begriff der Wiener Klassik", in: wie Anm. 14, hg. von Carl Dahlhaus, S. 236-239; substantiell wiederholt in Finscher, Klassik, Sp. 236-238. 20 Dahlhaus, Das 18. Jahrhundert, S. 4í.; Daniel Heartz, „Classical", in: The New Grave Dictionary of Musk and Musicians, Bd. 4, London '1980, S. 451. 21 Ratner, Classic Music, S. xv. 2 2 Ebenda; vgl. Finscher, Klassik, Sp. 2 3 3í. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 83 europäische Stellung der französischen Kultur angesprochen, die im Wien des dritten Viertels des 18. Jahrhunderts einen enormen Einfluß ausübte. Auch kann man der These von Anselm Gerhard beipflichten, daß die Musik von Clementi viel eher eine klassizistische Ästhetik prägt als die von Mozart2'. Doch laufen solche Einwände Gefahr, nicht nur die Selbständigkeit und Eigenartigkeit der Wiener Musik ab 1750 zu unterschätzen, sondern zugleich die Einmaligkeit und Großartigkeit des Dreigestirns zu unterdrücken. Bei Gerhard z. B. bekommt man kaum einen Eindruck vom gewaltigen Unterschied zwischen dem Talent Clementi und dem Genie Mozart {den Fehler begeht Rosen nicht! Er verwendet den Begriff Klat sik konsequent im Sinn von „Klassikern" und behandelt prinzipiell nur die Musik des Dreigestirns). Wie kann man denn allen drei Geboten - (1) den komplexen geschichtlichen Prozessen, (2) der Vermeidung von ungerechtfertigten Abschätzungen und (3) der hervorragenden Leistung des Dreigestirns - simultan gerecht werden? 11. „Erste Wiener Moderne" In diesem Rahmen kann ich meine These einer „Ersten Wiener Moderne", die zugegebenermaßen zunächst etwas komisch klingen mag, nur in groben Zügen ausführen. Historiographisch basiert sie immer noch auf dem Epochenbegriff2'*, und zwar nicht allein auf der Frage nach dem Anfang bzw. Ende einer Epoche, sondern auch der nach ihrem ,Warum', also den Erklärungsprinzipien oder fundamentalen Erzählarten, nach denen Epochen bestimmt bzw. verstanden werden. Z. B. verkörpern die meisten Epochendarstellungen eine der drei folgenden Gestalten: ,originär', also die Annahme eines Verfalls aus einem vorangegangenen goldenen Zeitalter; ,organisch', also mit Aufstieg, Höhepunkt in der Mitte und Verfall bzw. Manierismus; oder teleologisch', also die Annahme der Entwicklung zu einem Endpunkt hin, als Ziel25. Wichtig ist, daß 2 3 Anselm Gerhard, „Zwischen Aufklärung und Klassik. Überlegungen zur Historiographie der Musik des späten 18. Jahrhunderts", in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 24/1, Wolfenbüttel 2000, S. 37-53. In manch anderer Hinsicht aber ist dieser Aufsatz, besonders was die Analysen betrifft, in hohem Maße anfechtbar. 24 Dahlhaus, wie Anm. 17; Gerd Rienäcker, „Epochengliederung, -begriffe, -Umbrüche", in: Zu Problemen der „Heroen"- und der „Genie"-Musikgeschichtsschreibung, hg. von Nico Schüler, Hamburg 1998, S. 11-52; über „Klassik" S. 31-37. 25 Vgl. James Webster, „The Concept of Beethoven's ,Early' Period in the Context of Periodizations in General", in: Beethoven Forum, Bd. 3,1994, S. 1-27, wo dieses .System' der Periodisierungen ausführlich erörtert wird. 84 James Webster Periodisierungen alles andere als objektive, auf Tatsachen fest basierende Konstruktionen sind, vielmehr sind sie Deutungen, die wir schaffen und erzählartig beschreiben, um befriedigende Lösungen zum schier unüberschaubaren Fluß der Geschichtsereignisse zu erzielen. Doch impliziert das keine prinzipielle Skepsis gegen Periodisierungen; es kann keine Geschichte im begrifflichen Vakuum geschrieben werden, und die einzige Alternative zum problematischen Verständnis dieser Art ist - überhaupt kein Verständnis. Unter „Erster Wiener Moderne" verstehe ich die gesamte Musik der Donaumonarchie von 1740 oder 1750 bis 1810/15 oder 1827/30, also eine Zeit- und Raumspanne, die sich äußerlich mit einer chronologisch relativ großzügigen, geographisch relativ beschränkten (das ist wesentlich), jedenfalls geläufigen Auslegung des Wiener Klassik-Begriffs deckt. Ihr Anfang wird durch den Tod Karls VI. 1740 bzw. J. J. Fuxens 1741 und den wenigstens spekulativ damit verbundenen, bis 1750 sich klar abzeichnenden Anfängen einer einheimischen galanten Instrumentalmusik markiert (die oben zitierte These Dahinaus', daß die .Wende' in der Musik des 18. Jahrhunderts schon um 1730 stattfand, trifft auf die Wiener bzw. österreichische Musik nicht zu). Ihr Ende kann entweder zwischen 1809 und 1815 oder zwischen 1827 und 1830 datiert werden: in jenem Fall in der Epoche zwischen der Besetzung Wiens durch die Franzosen und dem Zerfall der heimischen Wirtschaft und dem Wiener Kongreß; eine weitere Zäsur ist das vorübergehende Schweigen Beethovens 1815-17, nach dem sein eher hermetischer Spätstil und der Siegeszug Rossinis ein qualitativ anderes Bild darstellten; die zweite Datierung erfolgt mit dem Tod Beethovens bzw. Schuberts und der Verlagerung der europäischen schöpferischen Schwerpunkte zum Paris der i83oer-Restauration und der Symphonie Fantastique26. Über solche Details wird man freilich immer streiten; daß aber die hier umrissene Skizze wenigstens diskutabel ist, steht wohl außer Frage. Der Begriff bedarf sicherlich der Erklärung, und zwar in bezug auf jeden seiner drei Termini: „Erste"; „Wiener"; „Moderne". Von diesen ist „Moderne" der wichtigste. Aber wenn die Periode 1750-1815 bzw. -1830 überhaupt als eine Art musikalischer Moderne rubriziert werden sollte, dann eben nur als eine frühe: Der Begriff der „Moderne" schlechthin kann unmöglich von der gewaltigen, alle intellektuellen und kulturellen Bereiche umfassenden Wende um 1900 bzw. von der damit eingeleiteten, bis etwa 1975 reichenden Periode getrennt werden. „Erste" aber auch, um sie von der 26 Diese Auffassung ist der von Dahlhaus verpflichtet, der die Jahre 1814 (das ich eher als ,1814-15' umschreiben würde) und 1830 zu Eckpfeilern einer (Unter-) Periode macht; vgl. die Überschriften und Einleitungen der ersten zwei Kapitel in: Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6), Wiesbaden-Laaber 1980. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 85 musikalischen Moderne der sogenannten „zweiten Wiener Schule" zu unterscheiden, deren Dreigestirn Schönberg-Berg-Webern in ausdrücklicher Nachahmung des originären „klassischen" Dreigestirns erkoren wurde. Für „Wiener" sollte man sich eigentlich des unschönen Wortes „Wiener-Europäisch" bedienen: Waren ihre Anfänge lokal und bescheiden, wurde ihre dauernde Wirkung europaweit und geschichtsbestimmend. Zwar schöpfte die Wiener Vokal- bzw. Bühnenmusik um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus vielen fremden Quellen, namentlich der anspruchsvollen, italienisch orientierten Kirchenmusik, der opera seria und dem französischen Ballett bzw. der opera; ab den späten 1760er Jahren kam die opera buffa dazu. In der Instrumentalmusik dagegen waren es zumeist lokal gepflegte Gattungen, mehrheitlich dem Galanten verpflichtet, die schon im dritten Viertel des Jahrhunderts bedeutende Erfolge erzielten und unmittelbar zur großen Musik der letzten zwei Dezennien führten2?. Der Einfluß C. Ph. Em. Bachs / z. B. kann sowohl dokumentarisch als auch in der kompositorischen Rezeption erst j ab den späten 60er Jahren bewiesen werden28; d . h. zu einem Zeitpunkt, wo Haydn í schon Dutzende von anspruchsvollen Meisterwerken komponiert hatte, wie z. B. die \ Tageszeiten-Sinfonien Nr. 6-8 (1761) oder die Missa Cellensis (1766). Umgekehrt hatte diese Musik nach außen hin zunächst kaum Resonanz; die Gelehrten und Schriftsteller, die die heißen Themen des Tages debattierten bzw. über musikalische Themen veröffentlichten, nahmen von Wien kaum Notiz2?, es sei denn, sich über die Vermischung der Stilebenen in ihrer Instrumentalmusik zu beklagen. Auch Haydns erste Instrumentalwerke fügten sich zunächst in dieses Bild ein - mit dem Unterschied, daß z. B. die Streichquartette aus den 1750er Jahren, „trotz" ihrer äußeren Bescheidenheit bzw. Gattungsbezogenheit, schon originell und meisterhaft waren und daß viel Inhalt in ihnen steckte'0. Somit hatte diese Musik keine, Synthese' verschiedener Stile nötig, wie es sich der dem Evolutionsgedanken verpflichtete 27 Daniel Heartz, Haydn, Mozart and the Viennese School 1740-17Í0, New York 1995. 28 A. Peter Brown, Joseph Haydns Keyboard Musk. Sources and Styk, Bloomington 1986, Kap. VII; Ulrich Leisinger, Joseph Haydn und die Entwicklung des klassischen Klavierstils bis ca. J7Í5 (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 23), Laaber 1994, Kap. 7. 29 Vgl. Anm. 21-22. 30 James Webster, „Freedom of Form in Haydn's Early String Quartets", in: Haydn Studies. Proceedings of the International Haydn Conference, hg. von Jens Peter Larsen, Howard Serwer und James Webster, Washington, D.C. 1975-New York 1981, S. 522-530; ders., „Haydns frühe Ensemble-Divertimenti. Geschlossene Gattung, meisterhafter Satz", in: Gesellschaftsgebundene instrumentale Unterhaltungsmusik des 18. Jahrhunderts (Eichstätter Abhandlungen zur Musikwissenschaft, Bd. 7), hg. von Hubert Un-verricht, Tutzing 1992, S. 87-103. 86 James Webster „Wiener Klassik"-Begriff vorstellen muß; sie entwickelte sich gleichsam aus eigenen Kräften. Aber auch ohne ,Synthese' war der Aufstieg dieser modernen Musik ein gewaltiger; die Anregungen zum Kunstvollen bzw. zur Vertiefung, die sich sowohl um 1765 mit dem sogenannten „Sturm und Drang" als auch um 1780 verzeichneten - mit der Gründung eines einheimischen Verlagswesens, der damit verbundenen Blüte des Streichquartetts und verwandten Gattungen, Haydns zunehmender kompositorischer Unabhängigkeit vom Esterházyschen H0131, der Ankunft Mozarts, der Gründung des ,Nationaltheaters' bzw. des darauffolgenden italienischen Buffo-Ensembles -, kamen ebenso stark von den traditionellen Gattungen der Vokalmusik (nur die Kirchenmusik ab 1782 ausgenommen) wie von den galanten und wurden sowohl von einflußreichen Gönnern wie (in Haydns Fall) Baron van Swieten, Hofrat Sales von Greiner, Liebe von Kreutzner, Hofrat Keeß u. v. m. getragen32, als auch durch hohe künstlerische Ziele gekennzeichnet. Mit alldem wies diese Musik eine konsequente, immer wachsende Produktivität aus, verbunden mit einer sich immer weiter vertiefenden kompositorischen Technik und einem steigenden künstlerischen Anspruch. Als sie sich entwickelte, brachte sie nicht nur immer hervorragendere Beispiele der neueren Instrumentalmusik zutage, sondern auch radikale, programmatische Meisterwerke wie die Abschiedssinfonie und die Eroica-Sinfonie sowie humanistdsch-erbauungsvolle Vokalwerke größten Schnitts wie die Zauberflöte, die Schöpfung und Fidelio. Darüber hinaus wurde ihre Rezeption mit der Zeit immer positiver und enthusiastischer und breitete sich immer weiter aus, um gegen 1800 in einem europaweiten Triumph zu gipfeln. Genau dieser doppelte Erfolg - kompositorisch und wirkungsgeschichtlich -liefert die Rechtfertigung, diese Musik als einen ,Stil' im emphatischen Sinn zu betrachten. Der herkömmliche „Wiener Klassik"-Begriff dagegen hält diese drei geschichtlichen Stadien - lokaler Ursprung; kompositorischer Aufstieg; internationale Wirkung - nicht klar auseinander. „Moderne", endlich, aus wenigstens vier Gründen. Vorweg sei bemerkt, daß die Moderne des 20. Jahrhunderts, ob nun die musikalische oder irgendeine andere, gleich wie die Klassik verschiedene Begriffsschichten vereinigt, nämlich den Epochen- und den Stilbegriff sowie - aber nur für ihre Anhänger bzw. (vorübergehend) die meisten Historiker der Künste - den Wertbegriff. 31 Zu diesem Punkt vgl. James Webster, „Haydn, Joseph", in: The New Grove Dictionary ofMusic and Musicians, Bd. 11, London '2000, S. 181. 32 Ebenda. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 87 i. Schon ab ca. 1765 wurde die Wiener Musik als ,neu' rezipiert, zunächst nicht immer mit Beifall, dann ab ca. 1780 fast immer positiv als bahnbrechend, ohnegleichen, d . h. als im emphatischen Sinn modern. Ihre Modernität muß also keinesfalls nur im nachhinein als solche begriffen werden, wie es bei ihrer Klassizität der Fall ist (bei einer Klassik ist es immer so"); im Gegenteil, ihre spätere Rezeption als „klassisch" steht der Wahrnehmung ihrer originären Modernität gerade im Weg. 2. Sie brachte die Entwicklung der scheinbar bzw. quasi-autonomen Instrumentalmusik mit sich. Das gilt nicht nur für die bekannte Auslegung des Dreigestirns als „Romantiker" durch E. T. A. Hoffmann, sondern auch für die Tatsache, daß Haydn und Beethoven die ersten Komponisten überhaupt waren, die gleichsam ,Musik über Musik' schrieben34; oft scheinen ihre Werke nicht bloß komponiert, sondern die Musik auch zu problematisieren^. Solche Selbstreflexivität, obwohl bekanntlich zuerst durch radikale romantische Schriftsteller wie Schlegel verbreitet, gilt als Inbegriff der Moderne in der Kunst. 3. Sie ist - mit der in diesem Zusammenhang unbedeutenden Ausnahme der Oratorien von Händel in England - das früheste Repertorium, das im allgemeinen Musikleben bis in unsere Tage hinein kontinuierlich gewirkt hat. Dieses Faktum erklärt übrigens, warum der Wiener Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Status einer Moderne im emphatischen Sinn auch dann gebührt, wenn man das den meisten anderen Beispielen einer ,neuen' Musik - der „ars nova" des späten Mittelalters oder der „seconda practica" (den „nuove musiche") um 1600 - verweigern würde36. 33 Bezeichnenderweise weist selbst Rosen in Haydn Studies, wie Anm. 30, S. 345, daraufhin; zu den späten', konservativ geprägten Anfangen des Wiener Klassik-Begriffs siehe die in Anm. 1, 6, 14 und 20 genannten Arbeiten. 34 Einige Forscher würden wohl schon Carl Philipp Emanuel Bach für diesen Verdienst reklamieren; dieses Thema muß einer späteren Abhandlung vorbehalten bleiben. 35 Für Haydn genügt es, auf die bekannten Sätze aus op. 33 hinzuweisen: den ersten von Nr. 1 in h-Moll, siehe Webster, wie Anm. 1, S. 127-130 sowie das Finale von Nr. 2 in Es-Dur, über die jetzt eine riesige Literatur besteht, aus der ich nur die jüngste zitiere: Hermann Danuser, „Das Ende als Anfang. Ausblick von einer Schlußfigur bei Joseph Haydn", in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift flir Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal, Kassel u. a. 1995, S. 818-827; Robert Hatten, „Interpreting Deception in Music", in: In theory only, Bd. 12,1992, S. 31-50; J. London, „Musical and Linguistic Speech Acts", in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Bd. 44,1996, S. 49-64; Andreas Ballstaedt, ,„Humor' und ,Witz' in Joseph Haydns Musik", in: AfMw, 55. Jg., 1998, S. 195-219. - Im Fall Beethovens sind wohl keine Zitate erforderlich. 36 Zu dieser Problematik vgl. besonders Dahinaus, „Neue Musik" ah historische Kategorie, wie Anm. 18; er stellt ebenfalls fest, daß eine wirkliche Moderne (obwohl er hier diesen Terminus nicht gebraucht), im Gegensatz zum bloß .Neuen', erst durch die dauerhafte Wirkung zutage tritt. 88 James Webster 4. und vielleicht am wichtigsten: Diese Musik fiel mit den Anfangen der moder- \ nen (d. h. nachrevolutionären) Geschichte zusammen. Die Wirkung der Musik der zentralen Jahre dieser Periode ging weit über sich hinaus und wurde zu einem zentralen Bestandteil der gesamten europäischen intellektuell-kulturellen Entwicklung. ;; Wie in der Geistesgeschichte die Jahre von etwa 1780 bis 1800 als die kantische \ Periode gelten, bedeuteten in der Musik die Jahre von etwa 1780 bis 1810/15 die ' Periode, in der sie ihren neuen Status als die höchste und romantischste der Künste verwirklichte, zunächst jedoch - noch in den Spätwerken von Haydn und Mozart -in einer Form, die ihre ältere ästhetische Funktion als Mimesis noch in sich aufhob. Man ist versucht, diesen Höhepunkt als Periode für sich zu definieren. Sie knüpft an die Aufklärung an, die trotz aller damit zusammenhängenden Problematik der Schlüsselbegriff zum Verständnis der vor-revolutionären Zeit ist37; in Wien blieb sie auch nach 1789 in vieler Hinsicht maßgebend, wie die Zauberflöte und die Schöpfung zur Genüge veranschaulichen. Das heißt, daß diese Periode, gleich wie die kantische in der Philosophie, die Aufklärung mit der Romantik verbindet, statt sie zu trennen. Eine Einteilung der Musikgeschichte nach schlichten Jahrhunderten, wie es (mit einigen Freiheiten) von Dahinaus im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft und jüngst durch Wolfram Steinbeck in diesem Band befürwortet wird, ist gar nicht imstande, dieser Periode (1750 bzw. 1780 bis 1810/15) gerecht zu werden. Obwohl sie (noch) keinen Namen trägt, darf sie nicht zu den bloßen ,Übergängen' gezählt werden. Vielmehr stand sie im Zeichen vom neuen Musikalisch-Erhabenen, das von der Trias, kulturpolitisch am wirkungsvollsten durch Haydn in der Schöpfung, geschaffen und kurz danach von Christian Friedrich Michaelis und E. T. A Hoffmann verbindlich rezipiert wurde'8. Der Begriff einer ersten „Moderne" wäre dieser über sich selbst hinausweisenden Schlüsselfunktion eher gerecht als irgendein „Klassik"-Begriff. Und was den Status dieser Musik angeht, reichte die Idee einer emphatischen Moderne doch aus, die des „klassischen" einigermaßen zu ersetzen. Der Begriff einer „Ersten Wiener Moderne" in der Musik bringt freilich eine Relativierung der umfassenden, intellektuell-kulturellen „Moderne" um 1900 mit sich. Obwohl dieser Gedanke zunächst als verhängnisvoller Einwand39 erscheinen mag, stellt er sich bei näherem Hinsehen als ganz akzeptabel, sogar produktiv heraus. Denn 37 Gerhard, Zwischen Aufklärung und Klassik, der aber mit der Annahme fehlgeht, die Ideen von Kant könnten um 1800 in Wien nicht rezipiert gewesen sein. 38 James Webster, „The Creation, Haydn's Late Vocal Music, and the Musical Sublime", in: Haydn and his World, hg. von Elaine Sisman, Princeton 1997. 39 Wie es bei der mündlichen Vorführung meiner These durch Dieter Borchmeyer und Oswald Panagl zur Sprache gebracht wurde. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 89 für die Ereignisse um 1900-1914 bzw. die Periode ca. 1900-1975, auch wenn sie fast alle Gebiete des intellektuell-kulturellen Lebens umwälzten und (scheinbar) beherrschten, kann der frühere Status der Moderne schlechthin, im emphatischen und daher exklusiven Sinn, kaum mehr aufrechterhalten werden. Das gilt im besonderen Maße für die ideologisch geprägte, vom elitären Entwicklungsgedanken durchdrungene Auffassung der musikalischen Moderne, die von Adorno, Dahlhaus und ihren Gleichgesinnten verbreitet wurde; ein Begriff, nach Dahlhaus, „der dazu dient, einen Teil der im zo. Jahrhundert entstandenen Werke von der Masse der übrigen abzuheben"*?. Heute aber gehört diese Periode unrettbar zur Vergangenheit: Wir leben in der postmodernen Epoche oder wenigstens einem postmodernen Klima; die Hegemonie der früheren, gleichsam heroischen Moderne ist auf immer gebrochen worden. Kein Mensch glaubt noch an den teleologischen Mythos der Moderne als das Ziel der postrevolutionären Geschichte oder glaubt mit Dahlhaus zu wissen - siehe das vorhergehende Zitat -, was aus der Vergangenheit überdauernswürdig, was mülleimerbedürftig sei. Übrigens hat sich die Postmoderne fast so vielfältig ausgebreitet, wie es die Moderne selbst vor dem Ersten Weltkrieg tat, sodaß diese auch nicht durch einen Appell an ihren vermeintlich einmaligen Zeitgeistcharakter zu retten wäre. Heute könnte man die Periode 1900-1975 sogar die „klassische" Moderne nennen'*1, auf die folgte (je nach Auffassung) die Postmoderne, in ihrem verwickelten Verhältnis zur Moderne selbst, oder das getrübte, wohl auf immer „unvollendete Projekt'1 der Spätmoderne, im berühmten Wort von Habermas^2. D. h. die Moderne fungiert heute fast nur mehr als Epochen- bzw. Stilbegriff, wenigstens in bezug auf die Kunst. All das legt nahe, daß es auch andere bzw. frühere, auf ihre Art ebenfalls berechtigte Modernen gegeben haben kann. Der Gedanke also, daß ,die' Moderne des 20. Jahrhunderts der „Ersten Wiener Moderne" in der Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Wege stünde, hält nicht stand. Ein großer Vorteil des Begriffs der „Wiener Moderne" ist, daß er uns wie von selbst vom allzu begrenzten Bild einer „Wiener Klassik", die schon 1800 zu Ende ging, befreit. Im besonderen scheint er wie dafür geschaffen, die kompositorischen Taten und 40 „Neue Musik" als historische Kategorie, wie Anm. 18, S. 29. 41 Z. B. Fredric Jameson, Postmodernism; or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham (N.C.) 1991, S, 55; Jameson spricht von der „high modern", was auf dasselbe wie „klassische Moderne" kommt. 42 Jürgen Habermas, „Die Moderne - Ein unvollendetes Projekt", in: ders., Kleine politische Scbrifteit, Bd. I-IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 444-464. 9° James Webster die Wirkung Beethovens mit einzubeziehen, und zwar ohne auf die müßige Querele eingehen zu müssen, ob er ein Klassiker oder ein Romantiker gewesen sei. Das hat (natürlich) drei Aspekte: i. Für Beethoven bedeutete Mozart und Haydn eben die Neue, ja Neueste Musik; in den Gattungen Streichquartett und Sinfonie bedurfte es ab 1792 fast eines ganzen Jahrzehnts höchsten Strebens, um sie sich anzueignen. Erst die spätere Rezeption, gleichsam als Nebenprodukt der Rezeption seiner eigenen Musik, wandelte Haydn und Mozart in eine „klassische". Man denkt an das Adornosche Wort vom Altern der neuen Musik"4*, obwohl er das in einem scheinbar ganz anderen Sinn meinte. 2. Es besteht eine starke Analogie zwischen der unzulänglichen Herabwürdigung von Haydns Musik vor 1781 aufgrund ihrer angeblich noch nicht erreichten Vollkommenheit und der wenigstens fraglichen Herabwürdigung von Beethovens ,früher' Musik der 1790er Jahre aufgrund ihres angeblich noch nicht erreichten ,neuen Wegs' bzw. ,heroischen' Stils. In beiden Fällen ist es hauptsächlich der „Klassik"-Begriff, der die verhängnisvollen Urteile verursacht. Denn Haydns Streichquartette aus den 1750er Jahren waren schon modern, umso mehr etwa die Abschiedssinfonie, zu der es, wie ich anderswo festgestellt habe*4, kein Gegenstück bis zu Beethovens „Fünfter" gab. Im Fall Beethoven erlaubt es der „Moderne"-Begriff, seine Musik der 1790er Jahre nicht im Kontext eines vermeindich klassischen Stils zu beurteilen, den er zu ,überwinden' hatte; auch nicht als ein bloß vorbereitendes Stadium für seine späteren Triumphe abzutun; auch nicht primär aufgrund des anfänglichen Lehrer-Schülerbzw. Meister-Gesell-Verhältnisses zu Haydn oder der später einsetzenden Spannungen zwischen den beiden zu deuten (was immer die Wahrheit um diese Lektionen gewesen sein mag, beiden Komponisten wichtiger waren zweifellos Haydns Bemerkungen über die Komposition als solche sowie über die Frage, wie man beruflich vorwärts kommt; dies sind jedenfalls die Themen, die Haydn mit jüngeren Komponisten zumeist besprach45). 3. Das Haydn-Beethoven-Verhältnis der 1790er Jahre war ein einander ergänzendes, und zwar im produktiven Sinn, speziell im Kontext der beruflichen und sozialen Umstände des Wiener Musiklebens der 90er Jahre (hier kann ich nur auf die gleichsam äußeren Aspekte dieses Verhältnisses eingehen, und das nur andeutungsweise, obwohl eine neue Untersuchung über die innermusikalische Entwicklung beider 43 Theodor W. Adorno, „Das Altern der Neuen Musik" (1956), in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, hg. von Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a. M. 1973,2i98o, S. 143-167. 44 Webster, „Farewell"Symphony, S. 365-372. 45 Horst Walter, „On Haydn's Pupils", in: Haydn Studies, wie Anm. 30, S. 60-63; ders., „Kalkbrenners Lehrjahre und sein Unterricht bei Haydn", in: Haydn-Studien, Bd. 5,1982-85, S. 23-41. Die „Erste Wiener Moderne" als historiographische Alternative ... 91 Komponisten dringend erforderlich ist). Sie trafen sich häufig und arbeiteten nicht selten in Konzerten zusammen. Viele der in Wien führenden Gönner ließen beiden Komponisten ihre Großzügigkeit zuteil werden, fast als ob sie gleichsam ein ,Projekt' der gemeinsamen Förderung durchrührten. Der springende Punkt ist, daß diese Unterstützung just in einem ausgesprochen modernen Kunstklima stattfand, in dem viele dieser Gönner sich auf immer neuere, anspruchsvollere Kunstwerke höchsten Ranges freuten. Die Soziologin Tia DeNora hat überzeugend dafür argumentiert, daß wenigstens ein Grund für Beethovens radikale künstlerische Einstellung eben das Bedürfnis war, solche Erwartungen sowohl zu erwecken als auch zu befriedigen46. Wurden Beethovens Wutausbrüche beim Fürsten Lichnowski zum Teil „inszeniert", oder ist die „unerhörte" Faktur der Eroica z. T auf einen Wunsch oder gar eine Forderung des Fürsten Lobkowitz zurückzuführen? Sicher ist, daß Haydns Triumph mit der Schöpfung zum Teil durch van Swieten „arrangiert" wurde. Beide Komponisten blieben unaufhaltsam produktiv, bis im Winter 1802/03 Haydns schöpferische Kräfte, die schon ab 1799 infolge seines abnehmenden Durchhaltevermögens bzw. seiner zunehmenden Gedächtnisschwäche gemindert waren, völlig nachließen; trotzdem blieb auch er in seinen vollendeten Kompositionen immer auf höchstem Niveau, sodaß beide Komponisten eine immer fortwährende Serie von Meisterwerken produzierten. Die Werke beider Komponisten zusammengenommen deckten fast alle bedeutungsvollen Gattungen, vokal wie instrumental, geistlich wie weklich, klavierbezogen wie das Gegenteil davon, nur die Oper ausgenommen, ab. Am wichtigsten ist, daß das Erbe des an Kant mahnenden Musikalisch-Erhabenen, das Haydn in den Londoner Sinfonien und besonders in seinen späten Vokalwerken geschaffen hatte, allein durch Beethovens spätere Großtaten wahrgenommen wurde. - Ein letzter Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, daß sie uns von der Belastung von Begriffen wie „Nachahmung" und „Einfluß", von der Suche nach „Vorlagen" und „Mustern" für bestimmte Beethovensche Werke der 90er Jahre - besonders diejenigen, die uns nicht resdos befriedigen - zum Teil befreien kann. In Finschers Darstellung einer begrenzten, kaum mehr als Epoche zu verstehenden „Wiener Klassik" wird dieses Haydn-Beethoven-Verhältnis der 1790er Jahre überraschenderweise überhaupt nicht erwähnt, obwohl es ein ganz analoger Fall zu dem zwischen Haydn und Mozart in den 80er Jahren ist, das er als fundamental betrachtet, und obwohl seine Periode, 1781 bis 1803, auch dieses Schlüsseljahrzehnt mit einschließt. Ich deute es ganz anders. Während der 90er Jahre machte sich Beethoven 46 Tia DeNora, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, IJ92-1803, Berkeley 1995, S. 5-8,143-146. 92 James Webster nach und nach den Wiener Modernen Stil zu eigen, um ihn dann in Werken wie den visionären Klaviersonaten um 1800 oder der Dritten und Fünften Sinfonie bedeutend weiterzuentwickeln. Das heißt aber, daß die Wiener Moderne zwischen 1780 und 1815 einen Doppel- oder sogar Tripelhöhepunkt feierte; gerade diese Wieder-Mo-dernisierung einer schon modernen Musik verlieh ihr jene stereoskopische Tiefe und Mannigfaltigkeit, die das Gegenstück zu ihrer oben besprochenen mehrfachen historischen Bedeutung ausmacht. Zwar hat weder Beethovens ,heroische' Manier noch die darauffolgende ,lyrische' Phase ab 180947 diesen Stil gründlich verändert (zugegeben, der ,späte' Beethoven macht einen anderen und z. T. schwierigeren Fall aus). Um mit Goethe zu sprechen: Obwohl Beethovens Musik die Mozarts oder Haydns vielfach .überboten' hat, war sie nicht imstande, sie zu übertreffen'; Beethoven hat die „Wiener Moderne" nicht aufgehoben, vielmehr schließt diese ihn ein. Was er dagegen vollbrachte, war schon genug: Durch eine letzten Endes doch heroische Leistung hat er das Altern dieser neuen Musik verhindert - bis in unsere Tage hinein. Wenn sie in (nur) diesem Sinn deshalb als „klassisch" verstanden würde, so hätte ich nichts dagegen. 47 Carl Dahlhaus, Beethoven. Annäherungen an seine Musik, Laaber 1987, S. 245-254. Georg Feder Klassische Züge im Schaffen Joseph Haydns Einige Werke Joseph Haydns wurden schon zu seinen Lebzeiten als klassisch bezeichnet. So nannte der erste Haydn-Biograph, Georg August Griesinger, in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom 20. Mai 1801 die Schöpfung und Sie Jahreszeiten „klassische Werke",1 und am 25. Februar 1809 erwähnte ein Berliner Konzertbericht „die classischen Quartette und Quintette von Haydn und Mozart".1 Es wurden auch nähere Vergleiche gezogen. Am 29. Dezember 1801 schrieb Griesinger nach einer Aufführung der Schöpfung unter der „Gewalt dieser Eindrücke": „So trennt man sich von der Iliade, von einem Rajfaekchen Gemäldecyklus, von dem Belvederschen Apoll und von jedem andern großen Kunstwerke mit immer neuer Begeisterung und Erstaunen."} Wenn der Direktor des großen Opernhauses in Paris die Schöpfung vor ihrer dortigen Erstaufführung am 24. Dezember 1800 ebenfalls mit dem Apoll vom Belvedere verglich,4 so sagt uns dies unmißverständlich, daß man Haydns Schöpfung als ein Werk gleichen Ranges und Geistes wie die genannten literarischen und künstlerischen Werke der Antike und der Renaissance ansah und als ein solches, das wie jene die Zeiten überdauern werde - womit man bisher zwei Jahrhunderte lang recht behalten hat. Ob Werke Haydns oder andere Werke der mehrstimmigen Tonkunst zwei Jahrtausende überdauern werden wie Werke der Antike in Marmor oder Bronze und sich wie die klassischen Dichtungen als „aere perennius" s erweisen werden, ist eine nicht beantwortbare Frage. 1 Sp. 579. 2 Christoph-Hellmut Mahling, „Zur Entwicklung des Streichquartetts zum professionellen Ensemble, insbesondere in der Zeit Felix Mendelssohns", in: Aspekte der Kammermusik vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Ch.-H. Mahling, K. Pfarr und K. Böhmer, Mainz 1988, S. 32. - Weitere Beispiele im Beitrag von Otto Biba, S. 53-63. 3 Otto Biba, JSben komme ich von Haydn ..." Georg August Griesingers Korrespondenz mit Joseph Haydns Verleger Breitkopf iľHärtel ľjpý-181^, hg. und kommentiert, Zürich 1987, S. 122. 4 Charles Malherbe, Joseph Haydn und Die Schöpfung", in: Musikalisches Wochenblatt, 40. Jg., Leipzig 1909, S. 231. 5 Horaz, Carmina, Buch Hl, 30,1. ^ Matthias Schmidt Mozart und die Differenz des „Klassischen". Überlegungen zur musikalischen Ähnlichkeit I Der „klassische" Mozart? Will man bei der Verwendung des Wortes „klassisch"1 die Fallstricke eines verengenden Historismus und einer ungreifbaren Kunst-Metaphysik, mithin die fruchtlose „doppelte Buchhaltung" (Karl Kraus) von Zeitgebundenheit und Zeitenthobenheit, umgehen, sollte man sich auf ein pragmatisches Verständnis zwischen musikalischer Struktur und Wirkungsgeschichte beschränken2. Ein solches mag insbesondere im Hinblick auf das Schaffen Mozarts statthaft sein, mit welchem das Epitheton „klassisch" wohl häufiger in Verbindung gebracht worden ist als mit jedem anderen CEuvre der abendländischen Musikgeschichte. Erstaunlich früh hat sich eine inhaltlich auch später noch gültige Kernaussage über das „Klassische" bei Mozart verfestigt, die sein erster Biograph Franz Xaver Niemetschek wie folgt formulierte: In Mozarts Musik erweise sich der „reine Ausdruck der Empfindung", „Individualität" und Harmonie zwischen Originalität und „Ökonomie", „größter Mannigfaltigkeit" und „strengster Einheit"'. Diese Kennzeichnung als vollkommen und ausgewogen mag umso erstaunlicher erscheinen, als noch die unmittelbaren Zeitgenossen Mozarts Musik vielfach mit offenkundiger Ratlosigkeit und scharfer Kritik, vor allem an deren Reichtum i Ähnliches gilt fiir die Differenzierung der benachbarten Begriffe „klassizistisch", „Klassiker", „Klassik" oder „Klassizität" (vgl. hierzu etwa: Colloqium Klassizität, Klassizismus, Klassik in der Musik i82o-i8$o, hg. von Wolfgang Osthoffund Reinhard Wiesend, Tutzing 1988). Für das Verständnis der folgenden Begriffsdifferenzierung zwischen „klassizistisch" und „klassisch" sei hier lediglich angedeutet, daß der Terminus „klassizistisch" als Reflex auf den Begriff „klassisch" aufgefaßt wird. Er orientiert sich stets in deutlichem Geschichtsbewußtsein an dessen Normbildungen. Zugleich bedingen „Klassisches" und „Klassizistisches" einander, insofern sie hier das Einmalige, den singulären Rang, dort das Fortwirkende, den musterhaften Anspruch eines Kunstwerkes, hervorheben (vgl. Friedhelm Krummacher, Art. „Klassizismus", in: MGG, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 5, Kassel-Stuttgart21996, Sp. 246). 2 Vgl. hierzu: Hermann Danuser, „Beethoven als Klassiker der Klaviersonate", in: Gattungen der Musik und ihre Klassiker, hg. von dems. (Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Bd. 1), Laaber 1988, S. 198. 3 Franz Xaver Niemetschek, zit nach: Gemot Grübet, Mozart und die Nachwelt, Salzburg-Wien 1985, S. 70fr. I42 Matthias Schmidt und innerer Unruhe gegenüberstanden. Spätestens aber in den Jahren um 1800 wandelte sich die Situation nachhaltig: Im Zeichen einer vom Weltgeist Hegels umwehten Epoche, deren wesentliche Bestrebung es unter anderem war, die ästhetischen und gesellschaftlichen „Gegensätze zusammenzuzwingen", welche die nachrevolutionäre „Moderne" aufzuzeigen begann4, verwunderte es kaum mehr, daß Mozarts Kunst nahezu bruchlos der Denkfigur einer coincidentia oppositorum untergeordnet wurde. Dialektisch ließ sich das vordem als disparat und „styllos"' Gekennzeichnete in Mozarts Musik nicht nur kausal aufeinander beziehen, der zuvor empfundene Mangel konnte ohne große Mühe zu einem Vorzug nobilitiert werden. Daß Mozarts Musik spielend das Höchste erfülle, tändelnd das Wunderbare, scherzend das Dunkle fühlbar mache (Wilhelm Heinrich Wackenroder), in der Ruhe den Sturm entfessele (Ludwig Tieck) oder Tiefes oberflächlich zu sagen wisse (Richard Wagner), wurde fortan zwar vielfach festgestellt. Im selben Ausmaße jedoch, wie sich eine solche Behauptung verfestigte, erwiesen sich differenzierte Begründungsversuche dafür offenbar als unnötig. Die dialektische Domestizierung der Musik Mozarts ging mit der kunstphilosophischen Vorstellung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einher, daß die Geschichte einem gesetzmäßigen Ablauf folge. Beides, die Sehnsucht nach dem „Klassischen" und diejenige der Musik nach einer philosophischen Ordnung der Geschichte, verband sich durch die Idee der Aufhebung einer als Entzweiung gedachten Wirklichkeit in der Idealität des Kunstwerks, als Zeiterscheinung eines „ästhetischen Absolutismus" 6. Ob bei Friedrich Schlegel, Friedrich Schiller oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Der variantenreich wiederholten Vorstellung einer Synthese der Gegensätze lag die Idee der Überwindung und Versöhnung einer immer deutlicher als zerrissen empfundenen „Moderne" zugrunde. Daß eine Einheit sich unter den veränderten politisch-kulturellen Bedingungen nach 1800 wieder herstellen könne, war eine der wesentlichen Bestrebungen, mit denen sich das Denken des deutschen „Idealismus" beschäftigte7. Und die Annahme, daß das Medium Kunst (und seit der Frühromantik insbesondere die Musik) dazu tauge, ein harmonisches 4 Carl Dahlhaus, „Bach und der romantische Kontrapunkt", in: Musica, 43. Jg., 1989, S.u. Siehe auch Anm. 35. 5 In diesem Sinne urteilte Nägeli freilich noch 1826 (Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten, Stuttgart-Tübingen 1826 [Reprint Darmstadt 1983], S. 158). 6 Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus, Wiesbaden 1983, S. 119, Anm. 1 (den Begriff übernahm Paetzold von Bernhard Lypp). 7 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M.' 1985, S. 43ff. bzw. S. 59ff. Vgl. auch Peter Szondi, „Friedrich Schlegel und die romantische Ironie", in: Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 1978, S. 15. Mozart und die Differenz des „Klassischen" J43 Ganzes zu verwirklichen, war eine Hoffnung, die offenbar zu kompensieren trachtete, was in der Wirklichkeit einer politisch-gesellschaftlichen Dichotomisierung ausblieb. Insbesondere Hegel versuchte so auf spekulativem Wege zurückzugewinnen, was Jahrzehnte zuvor durch Kants Kritiken (etwa in deren Erörterung der Willensfreiheit) preisgegeben worden war: die Einheit von Subjekt und Objekt, von Geist und Natur8. Es verwundert kaum, daß das um 1800 von Niemetschek unterstrichene Bild des ausgewogen musterhaften Mozart (im Sinne einer singulären ästhetischen Höhe, die dauerhaft aktualisierbar schien) zusehends mit einem eigentümlichen Geschichtsbewußtsein angereichert wurde. Was sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts als Epochenbegriff des „Klassischen" zu verfestigen begann, bestimmte Mozarts Musik nachgerade exemplarisch als synthetisierende Kraft, die als solche gegenüber der mitunter als trocken empfundenen „Verstandes"-Kunst Haydns und den Innovationen der herausfordernden „Phantasie" Beethovens an Profil gewann. Im Sinne von Schillers ästhetischem „Idealismus", der die Aufhebung von „Notwendigkeit" und „Freiheit" im schönen Kunstwerk forderte, erschien Mozarts Musik das Synonym für „Einheit zwischen Idee und Form", das Signum einer „Vollendung der Kunst"", der „völligen Durchdringung der Form und des Stoffes"10. Dem suggestiven Reiz, den Totalitäts-, Vollendungs- und Synthesegedanken mit der geschichtsphilosophischen These zu verbinden, daß gerade in Mozarts Kunst die Musik sich „ihrer Natur und ihren Grenzen nach" vollendet habe", erlag die Historiographie (freilich mit beträchtlichen qualitativen Unterschieden) nicht selten bis in unsere Tage. Daß die Musik durch Mozart „zu einer universalen Einheit" geführt worden sei12 bzw. sich an der Idee des „Universalen" entwickelt habe1', daß sich in ihr eine „vollkommenene Harmonie zwischen Inhalt und Form" ausbilden bzw. sich „Geist und Form aufs engste" „durchdringen"1*, hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als musikgeschichtlicher Gemeinplatz mit eigentümlicher Hartnäckigkeit 8 Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. I, Frankfurt a. M. '1976, S. 221. 9 Amadeus Wendt, Über die Hauptperioden der schönen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte, Leipzig 1831, S. iof. 10 Amadeus Wendt, Über den gegenwärtigen Zustand der Musik besonders in Deutschland und wie er geworden, Göttingen 1836, S. 5. n Vgl. den vermutlich von Gottfried Wilhelm Fink stammenden Beitrag in: AMZ, 39. Jg., Leipzig 1837, Sp. 309t 12 Alexander Ulibischeff, Mozart's Leben und Werke, Bd. 3, Stuttgart '1859, S. 7. 13 Karl Reinhold von Köstlin, „Die Musik", in: Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Bd. V, München '1922 (Stuttgart 1847-1857), § 829, S. 447. 14 Ludwig Nohl, W.A. Mozart. Ein Versuch aus derAesthetik der Tonkunst, Heidelberg i860, S. 73. 15 Heinrich Sattler, Mozart. Erinnerung an sein Leben und Wirken, Langensalza 1856, S. 46. 144 Matthias Schmidt behaupten können. Den zahlreichen wirkungsgeschichtlichen Paradigmenwechseln des letzten Jahrhunderts zum Trotz blieb Hegels Idee des „Klassischen" als „Identität von Bedeutung und Körperlichkeit", die „keine Trennung der Seiten" zulasse16, eine kaum hinterfragte, sondern bestenfalls um Nachweis bemühte Grundlage der Mozart-Forschung. Zu ihren ausdrücklichen Verfechtern zählten in jüngerer Zeit etwa Hans Heinrich Eggebrecht17 und - unmittelbar an diesen anschließend - Ludwig Finscher18. Während Eggebrecht die „klassische Identität" von „Gehalt" und „Form", später auch eine „notwendig erscheinende Einheit" bei Mozart rühmte19, unterstrich Finscher wiederholt den „universalen" Anspruch auf Synthesis in dessen Musik. Aber etwa auch Peter Gülke hielt es für ebensowenig notwendig, die Termini „Einheit" und „Synthese" nuancierter einzusetzen20 wie er diejenigen von „Freiheit" und „Humanität" unhinterfragt in ein triadisches Modell einband21. (Ahnliche Beispiele ließen sich u. a. bei Heinrich Besseler, Thrasybulos Georgiades oder Arnold Feil anführen.22) Jüngste Versuche freilich, der unhintergehbaren rezeptionsgeschichtlichen Bürde des „Klassischen" durch begriffliche Neubestimmungen zu begegnen, scheinen dem angedeuteten Kern der Problematik eher auszuweichen als ihn in seiner innermusikalisch wirksamen Tragweite destabilisieren zu wollen. James Websters Vorschlag, die Musik der Donaumonarchie durch den Terminus einer „Ersten Wiener Moderne"2' auszutauschen, oder Anselm Gerhards Versuch, auch im deutschsprachigen Schrifttum die musikalische „Aufklärung"24 als Epochenbegriff zu etablieren, vermögen weniger die Ursache für wirkungsgeschichtliche Fehlentwicklungen als vielmehr nur deren Symptome bekämpfen zu können. Gewichtiger erscheint mir dagegen eine zeitlich frühere, wiewohl bisher kaum angemessen gewürdigte Denkfigur Gernot 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Ästhetik", in: Werke in 2o Bänden, hg. von Ernst Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 14/2,2, Einl., S. 13 bzw. S. 19. 17 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht, Versuch über die Wiener Klassik. Die Tanzszene in Mozarts „Don Giovanni", Wiesbaden 1972. 18 Ludwig Finscher, Art. „Klassik", in: MGG (wie Anm. 1), Sachteil Bd. 5, Sp. 223. 19 Eggebrecht, Versuch (wie Anm. 17), S. 1 und S. 5 bzw. Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. P?'ozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München-Zürich 1991, S. 487. 20 Gernot Gruber, Mozart verstehen, Salzburg-Wien 1990, S. 233fr. 21 Peter Gülke, „ Triumph der neuen Tonkunst". Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld, Kassel u.a./ Stuttgart-Weimar 1998, S. 245ff. 22 Vgl. dazu Anselm Gerhard, „Zwischen Aufklärung' und .Klassik'. Überlegungen zur Historiographie der Musik des späten 18. Jahrhunderts", in: Das 18. Jahrhundert, 24. Jg., 2000, S. 37-53. 2 3 Vgl. hierzu James Websters Beitrag im selben Band, S. 75-92. 24 Gerhard, Aufklärung (wie Anm. 22), S. 50. Mozart und die Differenz des „Klassischen" H5 Grubers: Sein analytischer Befund von „unauflöslichen Divergenzen" bei der Anwendung der Begriffe von „Einheit" und „Synthese"25 führte ihn dazu, Mozarts Kunst als solche einer „radikalen Differenzierung" zu beschreiben26. Neuartig erscheint an dieser Überlegung die Möglichkeit, die Kompositionen Mozarts nicht als Objekt einer überformenden Wirkungsgeschichte zu tradieren oder ausblenden zu wollen, sondern deren Beweisführung am musikalischen Denken des Künstlers selbst zu erproben: in diesem Fall mit dem überraschenden Ergebnis, daß der gewohnte gedankliche Prozeß einer Synthese des Vielfältigen aus guten Gründen zu einer Differenzierung des Einheitlichen umgekehrt werden kann, ohne daß der geschichtliche Kontext außer acht gelassen werden muß. Die folgenden Ausführungen nehmen diese Anregung als Ausgangspunkt zu weiterführenden Betrachtungen: Im Hintergrund stehen dabei die Fragen, warum gerade Mozarts Werke zu einer bestimmten Zeit ihre ganz eigentümliche Wirkung entfalten konnten und weshalb diese ungeachtet wechselnder ideologischer Gemengelagen bis heute ungeschmälert anzuhalten vermag. Ist die Faszination durch seine Musik Resultat einer bestimmten Form der Wirkungsgeschichte, entsteht sie im eng verzahnten Wechselspiel mit ihr, oder besteht sie vielleicht gar trotz einer Rezeptionsweise, die den innermusikalischen Befunden und der zeitgenössischen Betrachtung Mozarts so deutlich zu widersprechen scheint? Im Mittelpunkt der folgenden Bemerkungen werden hauptsächlich Mozarts Wiener Werke der achtziger Jahre stehen, mithin jene Kompositionen, auf die sich auch der wirkungsgeschichtliche Anspruch der „Klassiksprechung"27 Mozarts verdichtet hat. Das Ziel der Ausführungen ist es weniger, den Begriff des „Klassischen" für historisch obsolet erklären zu wollen, als vielmehr, sich durch die in ihm spiegelnden Probleme der Musik Mozarts zumindest abseits der ausgetretenen Wege der Forschung zu nähern. Schließlich könnte das Verständnis dafür, was das Beiwort „klassisch" im Hinblick auf Mozart heute bedeuten mag, eine gedankliche Bereicherung erfahren, die von rezeptionsgeschichtlich verfestigten Sichtweisen abweicht. 25 Gruber, Mozart verstehen (wie Anm. 20), S. 262. 26 Gernot Gruber, „Stil und Ausdruck klassischer Musik", in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2, hg. von Gernot Gruber und Rudolf Flotzinger, Wien u. a. 1992, S. lóoff. 2 7 Jürgen Wertheimer, „Goethes Glück und Ende: Vom verhängnisvollen Schicksal, Klassiker zu sein", in: Über das Klassische, hg. von Rudolf Bockholdt, Frankfurt a. M. 1987, S. 102. 146 Matthias Schmidt II „Einheit" - zielgerichtet Einer Bemerkung Theodor W. Adornos zufolge tritt Mozarts Musik kaum zufällig genau in jenem geschichtlichen „Augenblick" ins öffentliche Bewußtsein, als „die libertine Freiheit und Souveränität des Feudalen in die bürgerliche übergeht, die aber auf dieser Stufe noch der feudalen gleicht. [...] Humanität und Fessellosigkeit fallen hier noch zusammen. In dieser Koinzidenz erscheint die Utopie. Mozart ist genau gestorben ehe die französische Revolution in Repression umschlug."28 Wie immer man eine solche, vor allem gesellschaftspolitisch gefärbte Beobachtung bewerten will: Treffend empfunden scheint die Betonung einer wirkungsträchtigen kultur- und kompositionsgeschichtlichen Umbruchs- und Schnittstelle, einer „Schwelle der Zeitwende"2!», an der das Schaffen Mozarts anzusiedeln ist. Der geschichtliche Wandel nach 1780 läßt sich im kulturellen Denken Mitteleuropas vor allem durch die Entwicklung eines allgemeinen Bewußtseins für die eigene Existenz auf eine „Epochenschwelle" und die damit verbundene Ausbildung eines „vorwärtsgerichteten Horizonts"}0 dingfest machen. Ein solches Bewußtsein entfaltete sich im Zuge der wachsenden Verzeitlichung sozialer und historischer Abläufe'1. Die Hauptmerkmale des sich allmählich festigenden Geistes der „Moderne"'2 - die gesellschaftliche Umstellung auf kapitalistische Produktionsmethoden und die Geburt des reflexiven Selbstbewußtseins aus dem Geiste der säkularisierenden Aufklärung - bestimmten immer deutlicher die gesellschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Bezirke der Lebenswelt. Den zuvor noch in unmittelbaren gesellschaftlichen Funktionsbindungen tätigen Künstlern stellte dieses Reflexivwerden vor allem die Aufgabe, ihr Denken von der Einbindung in politische und religiöse Institutionen zu einer nur mehr selbstbezüglichen ästhetischen Produktionsweise umzuwandeln. Das Auseinandertreten der Kategorien „Vergangenheit" und „Zukunft", welches den Terraingewinn des ge-schichtsphilosophischen Denkens begleitete, wurde im 19. Jahrhundert zu einer causa 28 Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 1993, S. 6of. 29 Karl Gustav Feilerer, „Mozart in der Musik des 19. Jahrhunderts", in: MJb 1980-83, Kassel 1983, S. 1. 30 Thomas Luckmann, „Gelebte Zeiten", in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhard Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 287. 31 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zrite», Frankfurt a. M. 2i992, S. 321. 32 Konrad Paul Liessmann, Philosophie der modernen Kunst, Wien '1994, S. 13fr. Die Studie geht im folgenden von einem „Moderne"-Begriff aus, der sich weder auf die Zeit seit der Frühaufklärung noch als Terminus eigenen Rechts auf die Epoche um 1900, sondern vielmehr auf die Kunst seit Mitte des 18. Jahrhunderts bezieht (vgl. zu dieser historischen Einschränkung ausführlicher etwa Lutz Neitzert, Die Geburt der Moderne und die Tonkunst, Stuttgart 1990 bzw. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schonen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995). Mozart und die Differenz des „Klassischen" 147 prima dieses verzeitlichten Bewußtseins. Der Wechsel zu einem anderen „Zeithorizont" nach 1780 zeigte sich als ein von den Menschen erstmals tatsächlich als ein solcher zur „neuesten Zeit" begriffen. Zwar blieb ihnen ein gemeinsamer „Erfahrungsraum", in dem sie lebten; selbst dieser aber erwies sich je nach politischem und sozialem Standpunkt als perspektivisch gebrochener. Man wußte sich in einer Übergangszeit, die die Differenz von „Erfahrung" und „Erwartung" zeitlich staffelte. Dies bedeutete, daß die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht nur größer wurde, sondern die Differenz zwischen „Erfahrung" und „Erwartung" dauernd neu, und zwar auf immer schnellere Weise, überbrückt werden mußte, um leben und handeln zu können». Die neu erwachte Verpflichtung zur Pflege des geschichtlich Gegebenen förderte das Verlorengehen unmittelbarer Wahrnehmungszusammenhänge der Überlieferung. Dadurch wurde auch im Bereich der Musik nicht nur die vordem unhinterfragte imitatio des classicus auctor fragwürdig, die Forderung nach dem eigentümlichen Rang eines Werkes verbot geradezu eine Nachahmung. Der rasche Wechsel bzw. die zunehmende Gleichzeitigkeit stilistischer und technischer Eigenarten in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts setzte mit der Ausbreitung eines solchen geschichtlichen Denkens ein, der Vorstellung also, daß die Entstehungszeit eines Werkes zu dessen Wesen gehöre und das Moment der Neuheit seine ästhetische Glaubwürdigkeit belegen könne. Das Verhältnis zwischen einer Ausrichtung an Konventionen und deren kreativ begründeter Übertretung entwickelte sich zu einem Wechselspiel aus Normen und bewußt hiervon abgesetzten Abweichungen. Die Phase, in der diese „Zeitenwende" auch in Wien spürbar wurde, erscheint musikgeschichtlich gemeinhin mit dem Begriff des „Klassischen" in Verbindung gebracht. Und die Merkmale dieser „klassischen" Musik (etwa „ein Höchstmaß an Zusammenhang, Faßlichkeit und Folgerichtigkeit", welches „zugleich unerschöpfliche Möglichkeiten der kunstvoll spielerischen Individuation der Normen" bietet'*) zeigen sich darin folgerecht vom vorangehenden ästhetischen Denken der musikalischen „Empfindsamkeit" abgesetzt. Bemerkenswert am geschichtlichen Weg zur Ästhetik der „Empfindsamkeit" war bekanntlich, daß man noch bis zum frühen 18. Jahrhundert eine ästhetische „Einheit" des Affekts, seit etwa 1740 dagegen häufig schon eine „Mannigfaltigkeit" des Wechsels der Gefühlsregungen bevorzugte: Dem „spätbarocken", auf gestalthafte Einheitlichkeit bedachten Kompositionsverlaufstand in charakteristischen musikalischen Satzstrukturen des Zeitalters der „Empfindsamkeit" ein mitunter zum Formzerfall neigender, die Kontinuität zersplitternder Reichtum an ex- 33 Koselleck, Zukunft (wie Anm. 31), S. 369. 34 Eggebrecht, Musik (wie Anm. 19), S. 487. 148 Matthias Schmidt pressiv begründeten melodisch-rhythmischen Einzelheiten gegenüber. Die musikalische Formgeschichte des späteren 18. Jahrhunderts läßt sich daher insgesamt nur als von Fall zu Fall geschlichteter Widerstreit zwischen dem aus einer älteren Tradition stammenden Einsatz eines einheitlichen thematischen Gefüges (und des hierdurch hervorgebrachten „Hauptaffekts") und dem Verfahren eines ständigen Stimmungsumschlags, der seine beispielhafte Ausprägung in der formalen Vielfalt der „Freien Fantasie" fand, auffassen3'. Eine solche Haltung spiegelt sich auch im theoretischen Denken der Zeit: Vor Kants drei Kritiken und der durch sie ausgelösten, in Mitteleuropa ein Jahrhundert lang währenden Vorherrschaft des geschichtsphilosophischen Systemdenkens lag mit dem Zeitalter der „Empfindsamkeit" eine Tradition der „Popularphilosophie"'6. Es ist bezeichnend, daß die Ästhetik, die von Kant als Theorie des Schönen von der übrigen Reflexion getrennt wurde, im 18. Jahrhundert vorrangig moralischen, anthropologischen und sozialphilosophischen Ideen verbunden war. Sie zielte wie bei Johann Joachim Quantz oder Carl Philipp Emanuel Bach, Leopold Mozart oder Daniel Gottlob Türk auf die pädagogische Unterweisung, auf den „ganzen Menschen". Tendenziell läßt sich etwa noch aus den Kompositionslehren von Joseph Riepel und Heinrich Christoph Koch ablesen, wie im späteren 18. Jahrhundert musikalische Form hörend aufgefaßt wurde: weniger nämlich als fließender Zusammenhang denn vielmehr als aus Teilen gefügtes Nebeneinander. So zeigten sich in Kochs Formenlehre die Mittel zur Bildung und Erweiterung von Phrasen und Perioden (Wiederholung, Einschaltung, Vervielfältigung von Absatzformeln) detailliert beschrieben. Und eine solche Darstellung beanspruchte ein Formhören, das Phrasen zu Perioden und Perioden zu Variations-, Rondo- und Sonatenformen verbinden konnte. Ästhetisch läßt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nun aber ein allmählicher Wandel des Komponierens beschreiben, der von einer auf den Augenblick des Ertönens gerichteten, gleichsam parataktischen, zu einer diskursartig logischen Abfolge der Klangereignisse führte, die mittels Ergänzungs- und Wiederholungsstrukturen auf eine innere „Einheit" zielte. Die unterschiedlichen formbildenden Wahrnehmungsmodelle allerdings zwischen reihendem Nebeneinander und dialektischem Miteinander legen es nahe, die Betrachtung von innermusikalischen Zeitverhältnissen in den Werken der kulturgeschichtlichen Umbruchssituation des späteren 18. Jahrhunderts besonders aufmerksam zu differenzieren. Die in Wandlung befindliche Auffassung von 35 Carl Dahlhaus, Geschichte der Musiktheorie, Bd. 2, Darmstadt 1989, S. 8f. 36 Carl Dahlhaus, „Musikalische Popularphilosophie", in: Die Musik des 18. Jahrhunderts, hg. von Carl Dahlhaus, Laaber 1985, S. 16. Mozart und die Differenz des „Klassischen" 149 musikalischer Werkzeit kann jedenfalls kaum stets als dieselbe vorausgesetzt werden. Die Musik kennt durch Takt und Metrum zwei Bewegungsarten - als gemessene und messende Zeit -, aus deren Synchronisierung ein bestimmtes musikalisches Zeitempfinden erwächst: Man sollte beachten, daß neben der veränderlichen Substanz des Taktes (deren Zeitstruktur der Rhythmus ist) das Metrum als „Gleichmaß" dieses Taktes keineswegs ein „objektiv" bestimmbares Raster ausbildet, sondern vielmehr ebenfalls an die „subjektive Erfahrung" des Wahrnehmenden gebunden ist. Diese gliedert den Zeitverlauf in eine Folge von Jetztpunkten", welche sich durch die je aktuelle Perspektive des Wahrnehmenden unablässig wandeln. Nicht nur die zeitliche Gliederung der musikalischen Gestalten, sondern auch ihr Maßstab, das Metrum, ist so stetig in Bewegung. Koch unterschied den „materiellen" und den „formellen" Faktor einer musikalischen Einheit37, die zwar aus drei oder fünf Takten bestehen, jedoch auf ihre „wesentlichen Bestandteile zurückgeführt"38 und im Verhältnis zu benachbarten Viertaktern selbst den Wert eines Viertakters beanspruchen und so eine ebenmäßige musikalische Struktur ausbilden konnte. Das Ausgehen von syntaktischen Gliedern, die man „quadratisch" wie nicht-„quadratisch" zusammenfügen konnte, ließ das Moment des Maßes mithin am „Wechselspiel seiner Bewegungsphasen"39 bestimmbar werden. Diejenige Musiktheorie und -ästhetik dagegen, welche an Kant und das erkenntnistheoretische Denken anknüpfte, hat zunehmend außer acht gelassen, daß die quantifizierbare Zeit nicht gleichsam „naturhaft" gegeben oder die absolut gesetzte Grundlage eines „Bewußtseins überhaupt" ist, sondern durch die verhältnismäßige Synchronisierung von Bewegungen entsteht und mithin eine veränderliche „Anschauungsform" ist40. Sätze und Perioden, deren Länge dem geradtaktigen Idealmaß nicht entsprachen, wurden zunehmend nur mehr als Abweichungen von einer Regel oder als vorrangig diastematisch zu ordnende Gestalten, mithin unabhängig von ihrem inneren Taktgewicht, wahrgenommen. Mit diesem wirkungsgeschichtlichen Auseinandertreten in der Auffassung von Rhythmus und Metrum offenbarte sich jener „Absttaktions"-Schub, von dem im Zusammenhang mit der Verzeitlichung des Bewußtseins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Rede war. Die „Einheit" zwischen dem menschlichen Subjekt und der Wirklichkeit, zwischen seiner Reflexion und der Natur, bildete bei Kant eine dialektische Denkanforderung, deren synthetischen Bezug auf die Mannigfaltigkeit es erst zu suchen galt. 37 Wilhelm Seidel, Art. „Rhythmus, Metrum, Takt", in: MGG (wie Anm. 1), Sachteil Bd. 9, Sp. 296. 38 Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Bd. 2, Leipzig Rudolstadt 1782-1793, S. 343f. 39 Wilhelm Seidel, Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1976, S. 13. 40 Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Erster Teil, Darmstadt 1984, S. 100. i5o Matthias Schmidt III Pluralistisches Denken Von der differenzierten Vielfalt des öffentlichen Lebens und (damit einhergehend) der institutionellen Strukturen und Stilrichtungen der Kunstproduktion im Wien der 1780er Jahre ist bereits vielfach die Rede gewesen«1. Die neuartige Pluralität des kulturellen Angebots und der Rezipientenschichten ging für die Komponisten der Zeit mit der Auflösung verbindlicher stilistischer Vorgaben sowie der Möglichkeit einher, zwischen einer Vielzahl von kompositionstechnischen Variablen innerhalb des Materials souverän und nur dem eigenen Werkzusammenhang verpflichtet wählen zu können. Daß Mozart 1778 schrieb, „so ziemlich [...] alle art und styl von Compositions annehmen und nachahmen"*2 zu können, ergänzte er 1784 mit einer scheinbar gegenteiligen Äußerung: „Unter allen opem, die wehrender zeit bis meine fertig seyn wird aufgeführt werden können, wird kein einziger gedanke einem von den meinen ähnlich seyn, dafür stehe ich gut!"43 Seine Vielseitigkeit in der beweglichen Aneignung von „art und styl" war bereits durch die Reisetätigkeit vorgezeichnet, die ihn seit seiner Kindheit als gefeierter Virtuose durch ganz Europa geführt hatte. Die gleichsam zentrifugale Bewegung in der Assimilation von fremden Stilen und Techniken, welche er sich mit spielerischer Virtuosität anzueignen wußte, schlug mit der endgültigen Übersiedelung nach Wien 1781 in eine solche zentripetalen Charakters um«. Es lassen sich nun weit weniger unmittelbare Vorbilder in Mozarts Werken dingfest machen. Das „Imitieren" (als Nobilitierung einer nicht selten nur mittelmäßigen Vorlage) war, wie das Beispiel seiner Wiener Bach- und Händel-Rezeption verdeutlicht, in ein „Lernen" am hochrangigen Leitbild verwandelt worden. „Originalität" bestand in den früheren Werken Mozarts vor allem darin, „die zuhandenen Bauelemente in jeweils neuer tektonischer Organisation anzuordnen"«, in einem Bereich also, der bei seinen Zeitgenossen weitgehend im Verfahren vorherbestimmt war. Es bahnte sich darin aber bereits im Frühwerk, dessen Nachbildungsversuche Mozart selbst als den Vorbildern „gar nicht gleich" erschienen*6, ein Verhältnis von Satzver- 41 Moritz Csáky, „WA. Mozart und die Pluralität der Habsburgermonarchie", in: Europa im Zeitalter Mozarts, hg. von Moritz Csáky und Walter Pass (Schriftenreihe der Osterreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Bd. 5), Wien 1995, S. 275. 42 Zit. nach: Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A Bauer und Otto Erich Deutsch, 7 Bde., Kassel u. a. 1962-75, Bd. II, S. 265. 43 Mozart, Briefe (wie Anm. 42), Bd. HI, S. 300. 44 Stefan Kunze, Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 23. 45 Kunze, Opern (wie Anm. 44), S. 29. 46 Mozart, Briefe (wie Anm. 42), Bd. II, S. 304. Mozart und die Differenz des „Klassischen" I5I fahren, Gattung und Einzelwerk an, das sich in den achtziger Jahren dann noch feinsinniger auf verschiedene Satzebenen, Stilmittel und Formverfahren ausdehnte. Betont werden sollte dabei, daß der Einsatz unterschiedlicher historischer Stilebenen in einer Komposition einer gerade in Wien lebendigen Überlieferung verpflichtet war. Mozarts Unbedenklichkeit im Vermischen von Alt und Neu (auch im Einsatz „spätbarocker" Formprinzipien) hätte er daher kaum, wie es von der Nachwelt an der Verbindung von Sonatensatz und Fuge der ,Jupiter"-Symphonie gerühmt wurde, im Sinne einer „klassischen" Synthese empfunden. Vielmehr stellte er sich damit nur in eine von den theoretischen Handwerkslehren und der musikalischen Aufführungspraxis seiner Zeit lebendig erhaltene Überlieferung eines ungetrennten „Doppelblicks"* auf Vergangenheit und Zukunft, die hier beispielsweise an Werken Galup-pis über solche des jüngeren Haydn nachzuverfolgen wäre. Selbst ein „historistisch" erscheinendes Aufgreifen von solchen Überlieferungssträngen, deren Kontinuität unterbrochen war (wie etwa diejenige Händeis oder Bachs), vollzieht sich daher kaum auftrumpfend geschichtsbewußt, sondern eher spielerisch und pragmatisch. Schon die Ästhetik der „Empfindsamkeit", geistesgeschichtlich zunächst vom protestantischen Pietismus getragen, besaß in Mozarts Lebensumfeld keine geschichtliche Parallele. Es sollte zwar nicht unerwähnt bleiben, daß Mozart künstlerisch nachdrücklich auch von Carl Philipp Emanuel Bach profitiert hat. Sein kaum geringeres Interesse galt aber beispielsweise genauso dessen Bruder Johann Christian, jenem als „italienischer" Bach bezeichneten „Volkscomponisten" (J. N. Forkel), der gegenüber Carl Philipps Bekenntnis zur ausarbeitenden, von Ethos und Würde getragenen deutschen Musiktradition einer plastischen Leichtigkeit und oftmals diskontinuierlichen Freiheit des musikalischen Verlaufs den Vorzug gab. Die beschriebene Pluralität der Musikkultur und das geschichtliche Kontinuitätsempfinden in Mozarts Wiener Umfeld förderten eine solche mehrfaltige Sichtweise. Innerhalb von Mozarts Salzburger und Wiener Erfahrungshorizont hatte sich nicht nur die Verbürgerlichung der Musik (gegenüber dem höfisch und kirchlich gebundenen Zeremoniell) zögerlicher vollzogen, als dies im protestantischen Norden der Fall gewesen war. Auch die Popularisierung der „Empfindsamkeit" besaß in Wien vergleichsweise ebenso geringe Auswirkung auf die Musikanschauung wie die sich ihr folgerecht anschließenden Ideen einer „idealistischen" Musikästhetik. 47 Ludger Heidbrink, „Die zerbrochene Zeit. Zum Ausfall des Zeitgetriebes in der europäischen Moderne", in: Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne, hg. von Ludger Heidbrink, München-Wien 1997, S. 130. !52 Matthias Schmidt Für die zeitgenössische Musiktheorie und -kritik zumal außerhalb Wiens bedeutete eine solche Form „intertextuellen Denkens"48 mithin eine Herausforderung: Nicht zufallig stammen aus jener Zeit die wohl einhelligsten, in ihrer Wortwahl am deudichsten ablehnenden Bemerkungen innerhalb von Mozarts gesamter Wirkungsgeschichte. Während Heinrich Christoph Koch noch eher neutral von der „eigen-thümlichen Vermischung des gebundenen und freyen Stils"49 sprach, rügte Johann Friedrich Reichardt Mozarts Instrumentalwerke bereits 1782 wegen ihres fehlenden einheitlichen Charakters als „höchst unnatürlich", da es bei ihnen „erst lustig, denn mit einmahl traurig und straks wieder lustig hergeht"'0 (an anderer Stelle hielt er Mozart vor, die „Vermischung der entgegengesetzten Charaktere und Style" zu betreiben*1). Und Bernhard Anselm Weber betonte die fehlende „Einheit des Stils" aufgrund einer unzulässigen Vermengung von Gattungstraditionen voneinander abgegrenzter Musikstile*2. Eng verbunden mit dem Vorwurf der Stilvermischung war die Kritik an einer unangemessenen Mannigfaltigkeit der Satzgestaltung, welche verhindere, daß Mozarts Werke als Ganzheit erfaßt werden könnten; so hielt ihnen Friedrich Rochlitz eine „allzuausschweifende Phantasie" vor". Man sprach auch etwas später noch (wenngleich insgesamt wohlwollender) von „gar zu vielen" Schönheiten in seiner Musik - „gar zu gedrängt"*4, von einem „erstaunlichen", nichtsdestotrotz aber zu „verschwenderischen" „Reichthum der Gedanken"** oder davon, daß die „Fülle von Schönheiten die Seele beinahe ermüde und daß der Effekt des Ganzen zuweilen dadurch verdunkelt" werde*6. Die musikalische Ereignisdichte überstieg offenbar das Auffassungsvermögen vieler zeitgenössischer Hörer. Wogegen Mozarts Vielgestaltigkeit verstieß, war (als ästhetisches Prinzip betrachtet) das „Gesetz der edlen Einfalt" und der „Einheit in der Mannigfaltigkeit" als unabdingbarem Signum des Schönen in der Kunst des 18. Jahrhunderts*7. Der Musiktheoretiker Johann Baptist 48 Ludwig Finscher, „Bemerkungen zu den späten Streichquintetten", in: Mozarts Streichquintette, hg. von Cliff Eisen und Wolf-Dieter Seiffert, Stuttgart 1994, S. 155. 49 Koch, Versuch (wie Anm. 38), Bd. 3, S. 326í. 50 Zit. nach Walter Salmen, Johann Friedrieb Reichardt, Freiburg 1963, S. 189 und S. 314. 51 Sahnen, Reichardt (wie Anm. 50), S. 55, S. 317 und S. 266. 52 Zit. nach Otto Jahn, Mozart, Bd. 3, Leipzig 1856-59, S. 472. 53 Friedrich Rochlitz, in: AMZ, 1. Jg., Leipzig 1798/99, Sp. 145. 54 Rez. in AMZ, 4. Jg., Leipzig 1801/02, Sp. 27. 55 Karl Ditters von Dittersdorf, zit. nach: Georg Nikolaus von Nissen, Biographie WA. Mozarts, Leipzig 1828 (Reprint Hildesheim 1964), S. 496. 56 Zit. nach Jahn, Mozart (wie Anm. 52), Bd. 4, S. 319. 57 Vgl. hierzu Werner Strube, Art. Mannigfaltigkeit, ästhetische", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Jürgen Ritter, Bd. 5, Basel-Stuttgart 1980, Sp. 735fr. Mozart und die Differenz des „Klassischen" J53 Schaul dachte daran wohl im Sinne der an die französische klassizistische Ästhetik angelehnten Musikästhetik Johann Matthesons, gleichsam als später Anhänger des „empfindsamen" Zeitalters der Jahrhundertmitte, wenn er Mozart „Überladung" und „prunkvolle Verschwendung" vorwarf*8. Die „Vermischung der entgegengesetzten [...] Style", die 1796 der Rezensent einer Musikzeitung kritisierte, wurde damit von vielen Zeitgenossen gerade nicht als die gelungene Realisierung eines deutschen „Stile misto, des vermischten Stils" (weder im Sinne von Johann Joachim Quantz noch von Carl Philipp Emanuel Bach) verstanden*». Die Musik „als Medium subjektiver Gefühlsbotschaften"60 besaß für Carl Philipp ihr einheitsstiftendes Mittel der Formbildung im unmittelbaren Ausdruck einer inneren Natur. Zwar wurde die Idee, daß die „sogenannte Natürlichkeit" in der Musik „nur die Sprache der Empfindung sein soll", um die Jahrhundertwende bereits als überholt empfunden61, und dem Einfachen wurde das selbstbezüglich Künstliche, dem „Natürlichen" nunmehr das Wunderbare entgegengesetzt. Dennoch brauchte die ästhetische raison d'etre in der zweiten Jahrhunderthälfte lediglich in ihrer Anschauung als innerer Natur von einem in sich begründeten und geschlossenen Funktionszusammenhang bemessen zu werden: Die Abwendung vom „Einheits"-Begriff durch eine subjektive „Sprache der Empfindungen" hin zu einem Denken, das „Einheit" aus den Faktoren Entwicklung und Verknüpfung in wesendich musikalischer Hinsicht stiftete, kann als durchaus folgerecht erscheinen62. Die „Form" der Komposition, so betonte 1795 Christian Friedrich Michaelis, müsse „den Stoff der bloßen Töne" als Produkt „genialer" Ideen „gleichsam bewältigen, sich selbst unterwerfen und ganz anpassen"6'. Schlagwortartig formuliert: Die Subjektästhetik bildete eine komplementäre Voraussetzung des Autonomieverständnisses der Kunst seit 1800. Wo nun läßt sich Mozart innerhalb dieser geschichtlichen Situation wiederfinden? Ein kompositionspraktisches Beispiel mag das Ausgeführte schlaglichtartig beleuchten: Kochs noch in der Idee eines einheidichen Grundaffekts wurzelnde theoretische Vorstellung, daß satztechnische „Einheit" darin bestehe, denselben „Gegenstand aus 58 Vgl. Johann Baptist Schaul, Ueber Tonkunst, die berühmtesten Tonkünstler und ihre Werke, Karlsruhe 1818, S.61. 59 Hans Heinrich Eggebrecht, „Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang", in: Musikalisches Denken, Wilhelmshaven 1977, S. 74t 60 Ruth E. Müller, Erzählte Tone. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhunden, Stuttgart 1989,8.51. 61 Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 87. 62 Wolfgang Ruf, „Mozart in der Musiktheorie des frühen 19. Jahrhunderts", in: Mozart -Aspekte des 18. Jahrhunderts, hg. von Hermann Jung, Mannheim 1995, S. 44ff. 63 Christian Friedrich Michaelis, Über den Geist der Tonkunst. Mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urtheilskraft, Leipzig 1795, S. 60 bzw. S. 118. !54 Matthias Schmidt vielen Gesichtspunkten" darzustellen, scheint sich kompositorisch etwa im Kopfsatz von Mozarts F-Dur-Sonate KV 332 zu spiegeln. Es ist hier nicht der Ort einer eingehenden Analyse dieses bekannten und vielzitierten Beispiels für Mozarts eigentümliche Kompositionstechnik: Für die folgenden Ausführungen mag es genügen, daran zu erinnern, daß in seinem ersten Teil eine Reihe thematischer Gedanken ohne dialektische Hebelwirkung in der Harmonik oder entwickelnden Ableitungsverfahren der Motivik aufeinander folgt (Diether de La Motte und Clemens Kühn^ zählen innerhalb der Exposition sechs voneinander unabhängige musikalische „Ideen"). Wird das „Einheitliche" dieses vielgestaltigen Satzes zu bestimmen versucht, so ist der Ausgangspunkt einer solchen Suche von entscheidender Wichtigkeit: Geht man erstens vom synthetischen Anspruch des „klassisch"-idealistischen Denkens aus, so wird man weder eine strenge „Regelmäßigkeit" noch die „Aufhebung aller Kontraste in einer höheren Einheit" finden; sucht man zweitens nach dem musikalischen Pendant einer Ästhetik der „Aufklärung", mag man als Manko empfinden, daß sich Mozarts Schaffen nicht mithilfe dialektischer Rationalität „in einen erklärten Gegensatz zu den vorgefundenen ästhetischen und formalen Prämissen" zu setzen scheint. Es fragt sich drittens allerdings, ob man aus dem Blickwinkel der „spätbarocken" Musiktradition fündig werden kann, wenn man die „Einheit" des Satzes von Mozarts Sonate etwa „allein" im „durchgehenden Charakter der Anmut" verwirklicht sehen will und aus einer starken Nähe zum „älteren Prinzip der Affektdarstellung" folgert, daß „ein guter Teil von Mozarts Komponieren musikästhetischen Konventionen der ersten Jahrhunderthälfte verpflichtet ist"; Konventionen mithin, die bei „anderen" Komponisten der 1780er Jahre „längst" durch eine spielerische, „musikalisch-autonome Formgebung" abgelöst werden65. Fehlt Mozarts Satzbau das Moment der diskursiv vorgehenden motivisch-thematischen „Arbeit" und das bewußte Spiel mit dem musterhaft Gewohnten, um ihn einer „aufgeklärten" Ästhetik zuzuweisen? Ermangelt seiner „Arbeit" die Fähigkeit, in der Gesamtstruktur der Sonate aufzugehen, damit man sie musikhistorisch und ästhetisch als „klassische" einschätzen könnte? Von vornherein einsichtig erscheint wohl, daß Mozarts Stück nicht allein auf eine Abfolge 64 Diether de La Motte, Musik formen, Augsburg 1999, S. 290; Clemens Kühn, Formenlehre, Kassel u. a. •»1994, S. 71. 65 Gerhard, Aufklärung (wie Anm. 22), S. 42m An anderer Stelle beschreibt Gerhard die „Negation des ,klassischen Stils'" bei Mozart, ohne freilich genauer zu erläutern, was er unter „klassischem Stil" versteht, vor allem aber, was auf dieser ungesicherten Bezugsgrundlage „Negation" bedeuten könnte. Deutlich wird lediglich ein apriori vorausgesetztes dialektisches Denkmodell von Norm und Abweichung (Anselm Gerhard, „Stilübung oder Karikatur? Mozarts Klaviersuite KV 399 und die Negation des ,klassischen Stils'", in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal, Kassel u. a. 1995, S. 3981í.). Mozart und die Differenz des „Klassischen" 155 heterogener Gestaltbildungen unter einem „einheitlichen" Affekt verkürzt werden kann, ohne in eine interpretatorische Schieflage zu geraten. Überspringt der Komponist also vielleicht rückwärts die Ästhetik der „Empfindsamkeit", indem er zwar deren impulsive Gestaltvielfalt verwirklicht, aber nicht deren Affektreichtum ? Mozarts Satzidee ließe sich gefahrlos zumindest wohl als Gruppierung von ähnlichen und kontrastierenden Teilen mit einer sich nach und nach ausbreitenden Beziehungsvielfalt beschreiben, die durch proportional gleichgewichtige Entsprechungen im Formalen zusammengehalten wird. Ein kleinster gemeinsamer Nenner mag so dennoch aus der offenkundigen Ratlosigkeit der aufgeworfenen Fragen abgezogen werden: Der Satz scheint am wenigsten wohl einer wie immer gearteten synthetischen Wechselwirkung aus Norm und Abweichung eingepaßt werden zu können. Wie aber mag seine Musik auf der Basis dieser Erkenntnis historiographisch einzuholen sein? IV Synthese oder Gegenwärtigkeit Ein nachdrücklicher Zuspruch zu Mozarts Werken fand sich neben der Kritik freilich bereits auch zu Lebzeiten des Komponisten: Interessanterweise zeitigten am Ausgang des Jahrhunderts gerade jene Werke, die den Einwand der Kritik am heftigsten provozierten (etwa Figaro, Don Giovanni, Zauberflöte), zugleich mitunter nachdrücklich zu nennende Erfolge. Es verwundert mithin kaum, daß sich zu den skeptischen Stimmen gegenüber Mozart bald auch eine überaus wohlwollende Beurteilung gesellte. Wesentlich erscheint hierbei freilich, daß Kritik und Apologie von denselben Argumenten ausgingen: Die Leistung der positiven Wertung Mozarts bestand rezeptionsgeschichtlich darin, die Kritik aufzunehmen und nahezu unverändert als Vorzug beurteilbar zu machen66. Übereinstimmung zwischen Kritikern und Befürwortern herrschte darin, daß Mozarts Kompositionen durch einen Reichtum schöner Ideen ausgezeichnet seien. Die Mozart-Apologie forderte nun aber gerade nicht die Reinheit der Stile, sondern deren Verbindung, etwa als „höchster Kompositionskunst mit Lieblichkeit und Anmuth"6?, der auch die Vermischung zweier Nationalstile, was zu einem Topos der Mozart-Rezeption wurde: die Verbindung von „deutscher Kraft mit italienischer Anmuth"68. Mit diesem national motivierten, synthetischen Verfah- 66 Vgl. zu dieser historischen Entwicklung: Dieter Demuth, Das idealistische Mozart-Bild 1785-1860, Tut-zing 1997. 67 Franz Xaver Niemetschek, Leben des K.K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, Prag 1798, S. 47. 68 Ignaz Ferdinand Arnold, Mozarts Geist. Seine kurze Biographie und ästhetische Darstellung seiner Wei'ke, Erfurt 1803, S. 135. i56 Matthias Schmidt ren war die Basis für einen späteren Topos des musikalischen „Klassik"-Begriffs gelegt. So verfolgte Friedrich Rochlitz (ganz im Sinne etwa der Hegeischen Organismus-Lehre) die Idee einer Einheit zwischen Teil und Ganzem einer Komposition, bei der das Besondere nicht zugunsten des Allgemeinen an Bedeutung einbüße09. Nie-metschek betonte vielfach die „Vereinigung" von „größter Mannigfaltigkeit und die strengster Einheit" bei Mozart70. Schließlich diente auch der „Genie"-Begriff Kants gerade zur Unterstützung der Eigentümlichkeiten von Mozarts Kunst. Just nämlich die Zeugnisse subjektiver Originalität: der „unerschöpfliche Reichthum" der „Erfindung", von dem Rochlitz sprach, oder die „reichste Phantasie", „Neuheit und Originalität", die Niemetschek betonte, wurden als „getreue Beurkundung seines Genies"71 betrachtet. Die vordem noch mahnend ins Feld geführte Abhängigkeit des Künsders von den Vorgaben des Publikumsgeschmacks zeigte sich hier bewußt nicht mehr berücksichtigt. Damit aber konnte auch das „Schwere" in Mozarts Werken weniger als „Absicht" denn vielmehr als „Folge der Größe und Originalität seines Genies" qualifiziert werden72. Die Stile wurden als in ihrer Verschiedenheit noch wahrnehmbare, aber einander ergänzende und bedingende gedeutet: als Synthese von erhaben „Gelehrtem" und reizvoll „Empfindsamem"7'. Es wird deudich, wie sich paradoxerweise in der Kritik und der Apologie Mozarts gleichermaßen (und voneinander abhängig) bereits der Geist einer „idealistisch" geprägten Ästhetik abzeichnet. Kants Betonung von subjektiven „Formen des Urteilens" hatte am Ende des 18. Jahrhunderts deudiche Auswirkungen auf das Verständnis des Dualismus von Kunst und Natur: „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei erscheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei."7"* Die Idee von Kunst war nicht mehr die der Naturnach-ahmung, sondern ein durch höchste artifizielle Konstruktion erreichtes Erscheinen als Natur, sodaß das Kunstwerk als vollendete Einheit von „Freiheit" und „Notwendigkeit" zu Bewußtsein kommen sollte75. Dieser Umstand betraf mithin auch den Künsder selbst und begründete mit einer allgemeinen Aufwertung des Subjekts in der 69 Vgl. hierzu Szondi, Poetik I (wie Anm. 8), S. 343í?. 70 Niemetschek, Mozart (wie Anm. 67), S. 50. 71 Niemetschek, Mozart (wie Anm. 67), S. 45. 72 Niemetschek, Mozart (wie Anm. 67), S. 70. 73 Niemetschek, Mozart (wie Anm. 67), S. 48. 74 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Immanuel Kant, Werkausgabe, Bd. X, hg. von Wilhelm Wei-schedel, Frankfurt a. M. I0io89, S. 240. 75 Vgl. dazu: AllanJanikund StephenToulmin, Wittgensteins Wien, Wien ^998, S. 145. Mozart und die Differenz des „Klassischen" J57 Kunst den „Genie"-Begriff des 19. Jahrhunderts: Die „Originalität" des „Genies" bestand in jener Fähigkeit, „Zwangsfreiheit von den Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt"76. Diese Bestimmung bewahrte das „Genie" davor, nur „originalen Unsinn" zu produzieren: Seine Produkte mußten „Muster, d. i. exemplarisch sein"77. Der „Genie"-Begriff wurzelte so in der „empfindsamen" Ästhetik und entwickelte sich aus ihr, indem er zumindest in scholastischer Tradition die Teilhabe der hervorgebrachten Natur (natura naturata) an der hervorbringenden Natur (natura naturans), der menschlichen Setzung am Naturgegebenen, reklamierte. Genau eine solche Verehrung für die „Flügel des Genies"78 und die Musterhaftigkeit seiner Produkte aber bestritt man in der Nachfolge des „empfindsamen" Denkens Mozart gegenüber zunächst genauso heftig, wie man beides wenig später - unter „idealistischen" Vorzeichen - wie selbstverständlich anerkennen sollte. Wenn aber Mozarts Musik von den unmittelbaren Zeitgenossen nicht mehr mit dem „vermischten Stil" der „Empfindsamkeit" (geschweige denn mit Vorbildern des „Spätbarock") in Verbindung gebracht wurde und erst von der Nachwelt den Vorzug des Synthetischen zugestanden bekam, sollte noch ein anderer Erklärungsansatz als der einer (je nach Blickpunkt) innovativen „Universalität" (L. Finscher) der Stile oder der rückwärtsgewandten Affektvielfalt (A. Gerhard) in Betracht gezogen werden, will man Mozarts musikalische Eigentümlichkeit angemessen begründen. Die kritischen Äußerungen gegenüber Mozarts Werken, welche „lauter Verschiedenheiten" produzierten und „aus tausend Mannichfaltigkeiten zusammengesetzt" seien79, könnten dabei zunächst im Sinne eines zeitgenössischen Wandels des kulturphilosophischen Denkens gedeutet werden, der im nördlicheren Deutschland erheblich nachdrücklicher, ja in seiner Ausrichtung an geschichtlicher Systematik „gewalttätiger"80 Platz griff als in den Donauländern. Die angedeutete Struktur der ästhetischen Werturteile läßt nicht allein die Geschmacksbekundung oder den Hintergrund der ästhetischen Ansichten, sondern auch die kompositionstechnischen Sachverhalte der beurteilten Werke deutlicher hervortreten. Die Kritik verwarf die Eigentümlichkeiten der Musik Mozarts nämlich nicht nur als kompositionstechnische Fehler, sondern bewertete 76 Kant, Urteilskraft (wie Anm. 74), S. 255. 77 Kant, Urteilskraft (wie Anm. 74), S. 255. 78 Diese bewunderte etwa Rousseau an Komponisten wie Pergolesi (vgl. Jean-Jacques Rousseau, Art. „Opera", in: Jean-Jacques Rousseau, Dictionnaire de Musique, Paris 1768, zit. nach: Musik - zur Sprachegebracht, hg. von Carl Dahinaus und Michael Zimmermann, München-Kassel 1984, S. 91). 79 Vgl. die Rezension eines Konzertes vom Februar 1796 in Berlin, zit. nach: Jahn, Mozart (wie Anm. 52), Bd. 4, S. 773f. 80 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff, Frankfurt a. M. 1991. i58 Matthias Schmidt diese zugleich als Verstöße gegen wesentliche Prinzipien der Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Im Hintergrund der Anwürfe mag die enttäuschte Vorstellung gestanden haben, daß der Komponist es nicht gewährleisten zu können schien, daß die Anschauung ästhetischer Ideen als „reine Form der Musik" (Immanuel Kant) bzw. als die „blose Form der Musik" (Christian Friedrich Michaelis) verwirklichbar sei. Wesentlich war daran, daß die Möglichkeit einer einheitlichen Anschauung ästhetischer Ideen, die sich über eine bloße Transitorik erhaben meinte, fundamentalphilosophisch die „Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewußtseins in der Synthesis" erforderte81. „Einheit" als „Naturzweck" bedeutete für Kant eine der „reflektierenden" (nicht der „bestimmenden") „Urteilskraft". Die Philosophie hatte es Kant zufolge daher nicht mit einer „abstrakten Einheit, der bloßen Identität und dem leeren Absoluten, sondern mit der konkreten Einheit (dem Begriffe)" zu tun82. Berücksichtigt man angesichts der vor allem für den Bereich Nord- und Mitteldeutschlands beschriebenen Entwicklung noch einmal eingehender die lokale Situation des geistig-kulturellen Lebens, die Mozart in den achtziger Jahren in Wien vorfand, so lassen sich hier einige deutliche Abweichungen kaum leugnen. Nicht zuletzt aufgrund politischer Restriktionen kennzeichnet sich die österreichische Philosophiegeschichte bereits der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts durch eine erheblich verspätete und deutlich eingeschränkte Rezeption der Gedankenwelt Kants8' (mit weitreichenden Folgen für die weitere, auch musikästhetische Entwicklung im 19. Jahrhundert, die Robert Zimmermann später dazu veranlassen sollte, in philosophiis von einer „geistigen Scheidewand" zwischen Österreich und Deutschland zu sprechen84). Nicht nur war Kants spekulative Philosophie zu Mozarts Zeit in Wien nahezu unbekannt, während beispielsweise Ideen Gottfried Wilhelm Leibniz' (der Reflexion und Darstellung auf einer empirischen Grundlage als identisch betrachtete) teils noch ungebrochene Nachfolge fanden85. Auch die in Wien verbreiteten Ansichten über Stil und „Compositionswissenschaft" der Musik vollzogen den Schritt von der Kunstlehre zur modernen Ästhetik in jener Zeit noch kaum mit. Die Wiener praxisorientierte Musiktheorie folgte einer ausgeprägten Handwerksgesinnung, die sich 81 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant, Werkausgabe (wie Anm. 74), Bde. ID7IV, S. 113. 82 Hegel, Werke (wie Anm. 16), Bd. 10, S. 470. 83 Gernot Gruber, „Nachmärz und Ringstraßenzeit", in: ders., Musikgeschichte (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 79. 84 Zit. nach: Kurt Blaukopf, „Philosophisches Denken in Osterreich", in: ders., Unterwegs zur Musiksoziologie. Auf der Suche nach Heimat und Standort, Wien 1998, S. 2 56. 85 Georg Gimpl, „Die wahre Philosophie. Zum Paradigmenwechsel der österreichischen Philosophie im Maria-Theresianischen Reformkatholizismus", in: Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung. Osterreichische Philosophie zur Zeit der Revolution und Restauration (1750-1820), hg. von Moritz Benedikt, Wien 1992, S. 296fr. Mozart und die Differenz des „Klassischen" *59 in den Lehrschriften von Fux über Daube bis Albrechtsberger dokumentiert. Und auch an Mozarts eigener Unterrichts-Tätigkeit läßt sich eine pragmatische, jenseits aller ästhetischer Vorgaben angesiedelte Lehrauffassung erkennen, die weniger starre Regeln voraussetzt als vielmehr Sensibilität für die Verschiedenheiten konkreter satztechnischer Konstellationen fördern wollte86. Kurzum: Von den Gedankengängen Kants und seiner Epigonen fand sich im Wien vor 1800 (natürlich auch in Mozarts eigenen Briefen und anderen Dokumenten) keine Spur. Unter „Genie" verstand Mozart selbst kaum mehr als ein „superieures Talent". Und er favorisierte das Wort „natürlich", bezogen auf den Schaffensvorgang, weder im Hinblick auf die Nachahmungsästhetik noch eine Herzenssprache der Musik, sondern als eine Art innere Balance der Gedanken, im Sinne von „vernünftig" und „einsichtig". Damit richtete er sich aber weder an einem naiven Sensualismus noch an einer gespreizten Subjekt-Philosophie aus, sondern allein an seinen „Ohren" und seinen „Empfindungen"8?. Entsprechend war er, entgegen dem hartnäckig reproduzierten Klischee vom leichthin schaffenden und kaum durch eine übermäßige Intellektualität angefochtenen Götterliebling, ein „gerne langsam und mit Überlegung" arbeitender Komponist88, der mit Vorliebe „speculierte - studierte - überlegte"89. Der Wunsch, „originell zu sein"90, hätte ihn wohl kaum je beschäftigt. Das Zusammenfallen von Mozarts Aufenthalt in Wien mit dem der „Entwicklungsdiktatur"91 Josephs IL zwischen 1780 und 1790 ist für eine solche Einstellung nicht unbezeichnend. Der eben umrissene Theorie-Anspruch der neuzeitlichen Philosophie wurde im österreichischen zeitgenössischen Diskurs häufig auf eine politisch-praktische Argumentation reduziert: Das fremde Gedankengut zeigte sich so in die bare Münze eines „konservativen Reformismus" übertragen. (Ahnliches gilt auch für die grundlegend dienende Funktion der Philosophie innerhalb des Bildungssystems, die freilich sowohl ein grundlegend skeptisches Denken beförderte wie sie zu den Hervorbringungen einer ancilla scientiae maßgeblich beitrug.) Eine geistige „Aufklärung" als Kritik der eigenen kulturellen Situation verblieb oftmals auf der 86 Gemot Gruber, „Zu Wolfgang Amadeus Mozarts Lehre im 'basso fondamentale'", in: Gedenkschrift Hermann Beck, hg. von Hermann Dechant und Wolfgang Sieber, Laaber 1982, S. 127-131. 87 Zit. nach: Gruber, Mozart verstehen (wie Anm. 20), S. 96 bzw. S. 99. 88 Mozart, Briefe (wie Anm. 42), Bd. HI, S. 278. 89 Mozart, Briefe (wie Anm. 42), Bd. IL S. 427. Vgl. dazu auch: Ulrich Konrad, „Fragmente aus der Gegenwart. Mozarts unvollendete Kompositionen fur Streichquintett", in: Eisen, Streichquintette (wie Anm. 48), S. 167. 90 Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter, sein Werk, Frankfurt 1967, S. 104. 91 Peter Hersche, „Die alte katholische Kultur vor der Herausforderung der Aufklärung", in: Csáky, Europa (wie Anm. 41), S. 131. i6o Matthias Schmidt Ebene von Geschmacksfragen, brachte aber nicht etwa wie zur gleichen Zeit in Deutschland großangelegte geschichtsphilosophische Systeme hervor»2. Es verwundert kaum, daß Gottfried van Swieten, der Gönner und geistige Förderer Mozarts, ein „leibhaftiger Gegenpol" zu Kant genannt worden ist. Kants „Aufklärungs"-Be-griff, abgeleitet aus der Selbsterkenntnis einer vorweg freien und autonomen Vernunft und der a priori sittlichen Natur des Menschen, steht van Swietens handgreiflichem Modell eines durch und durch zweckmäßigen, natürlich-rationalen und also vernünftigen, erklärbaren menschlichen Geistes diametral gegenüber. Josephs aufgeklärtes Reformprogramm unter zentralabsolutistischen Vorzeichen, das Vernunft und „Aufklärung" gleichsam von oben verordnete, ließ Mozarts waches politisches Bewußtsein jedenfalls nicht unbeeinflußt. Auch die liberale Kunst- und Wissenschaftspolitik van Swietens sollte von ihm nicht unbeachtet geblieben sein93. Insofern läßt sich zunächst festhalten, daß die geschichtliche Schnittstelle, an der man Mozarts Denken gewinnbringend betrachten könnte, anschließend an das frühere Adorno-Zitat in der Tat zwischen den freilich genauer zu definierenden Begriffen von „Humanität" und „Fessellosigkeit" zu suchen sein mag. Diese Schnittstelle aus der Sicht der Zeitgenossen als „Utopie" zu beschreiben, bedeutete allerdings eine ebensolche Überformung der geschichdichen Gegebenheiten wie die spätere „idealistische" Ausprägung des Mozart-Bildes. Denn wesentlich erscheint, daß beide Begriffe für Mozart, wenn überhaupt, dann nicht als Konstruktion eines „vorwärtsgerichteten Horizonts", sondern nur in ihrer anschaulichen Gegenwärtigkeit selbst Bedeutung hätten entfalten können. V „Ähnlichkeit" als Kategorie Mozart stand innerhalb der Traditionsbildungen des „idealistischen" Denkens für das unhinterfragte Modell der synthetischen Einheit von Idee und Form. Und das Bild vom „klassischen" Mozart ließ diese Ideologie des Einheitlichen gar nicht erst als dialektische Ableitung aus motivischen Prozessen (wie bei Haydn) oder als ein ideell verbrämtes Ringen miteinander konfrontierter Formstrategien (wie bei Beethoven) verstehen. Die ehedem bemängelte Vielfalt des Mozartschen Schaffens stand mithin bald schon neben ihrer behaupteten Einheit selbst. Erklärungsversuche wie die zur pro- 92 Franz M. Wimmer, „Philosophiegeschichte in Österreich nach 1750", in: Benedikt, Humanismus (wie Anm. 85), S. 92Íf. 93 Herta Blaukopf, „Musik als Wissenschaft und umgekehrt", in: Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne, hg. von Friedrich Stadler, Wien 1997, S. i2iff. Mozart und die Differenz des „Klassischen" 161 zessualen und entwickelnden musikalischen Gestaltung der Werke Mozarts wurden im Begriff des Synthetischen ästhetisch zwar nahegelegt; da sie sich kompositionstechnisch aber kaum in solcher Weise aufzudrängen schienen, umging man (etwa in den Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts) entsprechende Erläuterungen oder betrachtete sie als bereits vorausgesetzt. Stellvertretend hierfür sei etwa an Adolf Bernhard Marx erinnert, der Mozarts Sonatensätzen im Hinblick aufsein Ideal einer „dialektischen Logik"9* vorwarf, selten den „tiefern Bezug" zwischen ihren Einzelheiten herstellen zu können und insgesamt einer „tieferen Einheit" zu ermangeln95. Die geistesgeschichtliche Stabilität zwischen einer konservativen Ästhetik und einer offenbar nur unzureichend erklärbaren Technik setzte sich bis ins 20. Jahrhundert vielfach ungebrochen fort. Hingewiesen sei etwa darauf, daß sich etwa Musikwissenschaftler wie Heinrich Jalowetz96, Hans Keller97 oder Hans Heinz Stuckenschmidt darum bemühten, Mozart als Vorläufer der Reihenkomposition, jenes „Entwicklungsziel der europäischen Musik", das erst „130 Jahre später erreicht"98 werden konnte, vorstellbar zu machen. Bezeichnend mag schließlich auch Karlheinz Stockhausens Versuch genannt werden, seine musiktheoretischen Thesen dadurch zu nobilitieren, daß er eine „synthetische Beziehung"99 zwischen Mozart und der seriellen Musik herstellen wollte. Daß Mozart irgendwann einmal auch ausdrücklich und mit Emphase im Kreise der „dialektischen Komponisten" begrüßt werden würde100, erschien so nur als eine Frage der Zeit. Eine unverhohlene „Fortschritts"-Ideologie und die deutliche Sympathie für ein normativ klassizistisches Gedankengut fallen in solchen Vorstellungen noch als spätes Erbe der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts101 in eins. „Einheit" stellt sich geschichtlich betrachtet als Begriff dar, der aufgrund seines Gegenbildes, der Vielheit, existiert, und der vor allem eine dynamische Darstellbarkeit in binären Mustern (zwischen Idee und Wirklichkeit, Begriff und Anschauung) nahelegt. Diese begründen sich innerhalb des „idealistischen" Denkens über die Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt (etwa des Künstlers auf das von ihm darzu- 94 Adolf Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, Dritter Teil, Leipzig 1845. 95 AdcMBzmhardMsirx, Ludwigvan Beethoven. Leben und Schaffen, Bd. 1, Leipzig 1902, S. 75í. 96 Heinrich Jalowetz, in: MQ, 30. Jg., 1944, S. 387. 97 Hans Keller, „Epi/Prologue: Criticism and Analysis", in: Music Analysis, i. Jg., 1982, S. 14í. 98 Hans Heinz Stuckenschmidt, in: Humanismus und Technik 1,1953, S. 157. 99 Ulrich Dibelius, „Mozarts Geltung bei der Nachkriegsavantgarde", in: Mozart in der Musik des 20. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Gratzer und Siegfried Mauser, Laaber 1992, S. 223í. 100 Rainer Riehn, „Die Zauberflöte=MachwerkWerk-Stück/Stück-Werk=Lehr-Stück, oder Mozart, der dialektische Komponist", in: Mozart. Ist die Zauberflöte ein Machwerk?, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Musik-Konzepte, Bd. 3), München 1978, S. 34-68. 101 Gruber, Mozart verstehen (wie Anm. 20), S. 222. IÓ2 Matthias Schmidt stellende klangliche Material) und bezeugen musikalisch eine nur innerhalb ihres zeitlichen Ablaufs wahrnehmbare Gestaltung, die aus dem funktionalen Wechselverhältnis der Pole von Wiederholen und Entwickeln, Gleichbleiben und Verändern, hervorgeht. Beides freilich vermag dasjenige an Mozarts Kunst, was eben zu umreißen versucht wurde, nur unzureichend zu treffen. Aus den historisch und ästhetisch dargelegten Gründen muß in der Betrachtung von Mozarts kompositorischem Denken sowohl die Grundidee eines normativen künstlerischen Maßstabes (auf dessen Basis nur Abweichungen möglich sind) wie jene einer völligen Unabhängigkeit von einem solchen Maßstab (sozusagen als Reihung von Abweichungen) verworfen werden. Es soll im folgenden der Versuch gemacht werden, durch die Einführung eines auch musikanalytisch tragfähigen Begriffs auf bedeutende Eigentümlichkeiten des Mozartschen Denkens aufmerksam zu machen: ohne den ideologischen Ballast der Rezeptionsgeschichte weitertragen zu müssen, ohne ihn gleichzeitig aber auch gänzlich außer acht zu lassen. Dieser Begriff heißt „Ähnlichkeit". Spricht man von „Ähnlichkeit", so ist das Wort stets innerhalb eines Feldes von anderen Begriffen wie „Analogie" und „Korrespondenz" zu verstehen, die nicht als ausdrücklich voneinander unterschiedene behandelt werden. In der vorliegenden Beschränkung auf ästhetische Fragen wird der Begriff „Ähnlichkeit" allerdings zumindest unabhängig von seiner Bedeutung für die Geometrie oder Theorien der mentalen Repräsentation eingesetzt. Seine Verwendung betrifft nicht den Bereich möglicher „Ähnlichkeiten" etwa zwischen einem Gegenstand und seinem Abbild im Sinne der traditionellen Mimesis-Konzeption (die im Bereich der Musik ohnedies ganz eigentümliche Probleme aufweist). In diesem Fall würde es sich um eine wenig produktive Kategorie handeln, die vor allem um den Grad von Defizienz kreist, den eine Abbildung gegenüber dem Vorbild aufweist102. Die Wahrnehmung oder das Denken in der Kategorie der ,Ahnlichkeit" zeichnet sich durch eine Komplexität aus, die in Begriffen wie „gleich" oder „verschieden" kaum zu erfassen ist. Dies gilt vor allem deshalb, weil solche stets den Bezug auf einen Maßstab oder eine festgelegte Perspektive voraussetzen. Darin übrigens stimmen sie auch mit der geschichtsphilo-sophischen Kategorie der „Einheit" überein: in der zeitlichen Richtungsbezogenheit sowie dem stillschweigend vorausgesetzten Maßstab eines normativen Systems. Der Blick auf das „Ahnliche" dagegen ist direkt, weil er nicht den Bezug auf ein Drittes I02 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang der Streit mit Nelson Goodman, dem es aber um „Denotation" geht (ders., Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1995, S. 17). Vgl. im Hinblick auf die folgenden Überlegungen grundlegend: Ästhetik des Ahnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, hg. von Gerald Funk, Gert Mattenklott und Michael Pauen, Frankfurt a. M. 2001. Mozart und die Differenz des „Klassischen" 163 voraussetzt (mithin eben jenen Maßstab, der zur Bestimmung der Gleichheit notwendig ist und zugleich den Kern dialektischer Bewegung darstellt). Die Voraussetzungen für den Einsatz des „Ahnlichkeits"-Begriffs sind bereits historisch im Hinblick auf die Umbruchsepoche und kompositorisch auf eine mannigfaltige, hierarchisch kaum verfestigte stilgeschichtliche Situation nach 1780 angedeutet worden. Wie kann sich angesichts dieser Feststellungen ein zumindest vermeintlicher Widerspruch zur Kunst Mozarts, an der die Neigung zu einem inneren Gleichgewicht (im Zusammenhang mit der Erörterung des „Natürlichen") beobachtet wurde, innermusikalisch erklären lassen? Mozarts Suche nach dem „mittelding -dem wahren in allen Sachen"103 ordnet die Vielfalt der Gestalten nicht innerhalb von polaren Strukturen an, sondern als wohlabgewogenes Gefalle von Geistesgegenwart und Asymmetrien, Disproportionen und einander durch Austausch verbundene Systeme. Im Inneren solcher Systeme sind der Zufall, das Undefinierbare und das Vage nicht nur als notwendiges Übel miteinbezogen. Mozarts künstlerische Strategie erscheint als sich beständig ausweitender Beziehungsreichtum im kompositorischen Detail, das keine Raster ausbildet, obgleich es auch schematische Einzelelemente in das bewegliche Netzwerk der Töne einbeziehen kann. Die Schwierigkeiten bei der historischen Bestimmung des Phänomens Mozart mag genau daher rühren: In Mozarts Musik erscheinen eindeutige Pole wie kontrasthafte Reihung und durchführungsartiges Geflecht, Nebeneinander und logische Folge selten nachvollziehbar miteinander konfrontiert. Stets machen diese einander nur in „radikaler Differenzierung" ihre jeweilige gestalterische Existenz streitig. Nicht etwas im voraus Bestimmtem „ähnlich" zu sein, ist das Ziel dieser Kunst, sondern die „Ähnlichkeit" als solche. Entscheidend ist das Hin und Her von Beständigkeit und Variation, Wiederholung und Modulation selbst. Der erwähnte Anspruch Mozarts, das Komponieren vor allem an seinen „Ohren", mithin an den empirischen Funktionen seiner mentalen Apparatur, auszurichten, bestimmt das „Wesentliche des Geistes", wie es Paul Valéry einmal ausdrückte, als „transitorische Funktionen, Akte und Ereignisse"104. Dieser Gedanke sei im Hinblick auf einen Aspekt von Mozarts Kompositionsweise vertieft: Die Fähigkeit zur Aneignung von und dem „Spiel mit Versatzstücken"105 besitzt eine wesentliche Voraussetzung in einer „Prävalenz des Räumlichen" seines 103 Mozart, Briefe (wie Anm. 42), Bd. m, S. 246. 104 Paul Valéry, Cahiers/Heße, Bd. HI, hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 1989, S. 157. 105 Gruber, Mozart verstehen (wie Anm. 20), S. 124. 164 Matthias Schmidt musikalischen Denkens106. Mozarts Kunst kann - betrachtet man sie mithilfe einer Begrifflichkeit verräumlichter Bildschichten - oftmals in die selbst mehrfaltig auftretenden Ebenen „Vordergrund (Melodie)" und „Hintergrund (Begleitung)" gegliedert werden. Ungeachtet der Tatsache, daß der Dramatiker Mozart hierbei in seiner Musik von der perspektivischen Kulissengestaltung im Theater des 18. Jahrhunderts (als Erbe des Barocktheaters, das Raumtiefe bis zur Unendlichkeit vorzutäuschen verstand) beeinflußt worden sein könnte, läßt sich die „Vordergrund"-„Hintergrund"-Relation in einem steten Changieren immer wieder neu hergestellter szenisch-räumlicher Klangbeziehungen beschreiben. In der Kunstform des Dramas, die Mozarts eigentümliches kompositorisches Denken auch in der Instrumentalmusik treffend zu erhellen vermag, entsteht Spannung vor allem durch das Verhältnis der Zeitmodi zueinander. Es ist in jedem Augenblick des Dramas schon etwas geschehen, und „es steht noch etwas aus, das aus dem Vorhergehenden gefolgert und vorbereitet wird. Jeder Moment greift Vergangenes auf und nimmt Zukünftiges vorweg. Die dramatische Handlung besteht in der sukzessiven Vergegenwärtigung von vorweggenommener Zukunft und nachgeholter Vergangenheit".107 Der vorrangig keinem schematisierten Vernunftgesetz oder Formmuster verpflichteten Gestaltung von Raum und Bewegung sind vor allem die Verhältnisbestimmungen zwischen Körpern wesentlich. Und im Gegensatz etwa zu Opernwerken, die eine musikalisch kunstvolle Abschilderung einer tatsächlichen Bühnensituation, deren Desintegration vorgegeben sei, darstellen, wird bei Mozart der „Zerfall des Aktionsraumes, das Chaos und die Disharmonie" durch den musikalischen Satz selbst vorgestellt108. Wollte man solche Beobachtungen auf Mozarts Instrumentalschaffen zurückführen, könnte man zahlreiche Beispiele anführen109. Wesentlich erscheint, daß die erwähnte Vorstellung der Zeit als unveränderliche Grundlage eines „Bewußtseins überhaupt" (Kant) einer solchen Anschauung kaum einzupassen ist. Musikalisches Fortschreiten bedeutet innerhalb der Werke Mozarts oftmals nicht analytische Verringerung von Komplexität, sondern gerade erst die Schaffung eines komplexen Gefüges und verhält sich damit der Spannungskurve eines dramatischen Hergangs gemäß, die für gewöhnlich nicht 106 Nicole Schwindt-Gross, Drama und Diskurs. Zur Beziehung zwischen motivischem Prozeß und Satztechnik am Beispiel der durchbrochenen Arbeit in den Streichquartetten Mozarts und Haydns (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 15), Laaber 1989, S. 141. 107 Peter Pütz, Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung, Göttingen 1970, S. 11. 108 Kunze, Opern (wie Anm. 44), S. 355. 109 Vgl. hierzu etwa ausführlich: Manfred Hermann Schmid, Italienischer Vers und musikalische Syntax in Mozarts Opern (Mozart-Studien, Bd. 4), Tutzing 1994, S. 219fr. Mozart und die Differenz des „Klassischen" 165 als Entwicklungszug eines zielgerichteten Verlaufs, sondern als Kombination von „Ahnlichkeits"-Beziehungen entfaltet wird110. Das verbindlich geforderte Formenrepertoire, die tradierte Symbolik, wird dabei - mitunter im Kompositionsverlauf nachvollziehbar - gleichsam aufgezehrt. Mozarts Werke müssen ihre Formensprache und ihre Inhalte immer wieder neu erfinden, und es sind „Ahnlichkeits"-Beziehungen, die hierbei eine wesentliche Rolle spielen. „Ähnlichkeit" steht für die bewußt ausgehaltene Spannung zwischen Identität und Differenz. Ihre Beschreibung bedeutet die Suche nach Alternativen zu den Reduktionsmechanismen eines rationalistischen Denkens, die in ihrem Versuch einer Bezugnahme zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Wirklichkeit und theoretischer oder ästhetischer Abbildung, überkommenen künstlerischen Schematismen entgehen will, zugleich auch nicht in bloße Beliebigkeit abgleiten darf. In diesem Sinne sollte eine analytische Betrachtungsweise von Mozarts Musik gefunden werden, die sich gleichermaßen gegen die naheliegenden Verführungen von Angleichung wie Verfremdung wehrt. „Ähnlichkeit" obliegt nicht der Verfügungsgewalt eines im Sinne des „Idealismus" definierten, selbstgewissen Subjekts, sondern der Funktionsweise der künstlerischen Intelligenz, die ihrem Erlöschen in Identität oder Alterität ausweichen will. Nicht der Mensch, wie es die „idealistische" Philosophie (noch unterfüttert von den Ausläufern einer „empfindsamen" Ästhetik) auf Mozart rückprojizieren wollte, steht für Mozart als Maß aller Dinge im Mittelpunkt, noch ordnet er sich spätfeudalistischen Hierarchien unter, wie es die spätere Kritik am „Quadratur"-Musiker sah111: Nicht das Ich, sondern dessen ausbalancierende Tätigkeit steht im Zentrum seines musikalischen Denkens. Der kulturelle Umbruch, der mit Mozarts Lebenszeit zusammenfällt, vermag das Bild dieses Zustandes von Gleichgewicht eindringlich zu spiegeln. Das Subjekt Mozart muß sich nicht als solches (geschweige denn als „Genie") betrachten, um seinem Material angemessene Gestalt zu verleihen; seine Musik besitzt ein äußerst reflektiertes Zeitbewußtsein, ohne daß ihr Bewußtsein bereits verzeitlicht wäre. Mozarts „Ahnlichkeits"-Denken charakterisiert sich durch die grundlegende Verflüssigung der Dichotomien von Subjekt und Objekt, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem. 110 Schwindt-Gross, Drama (wie Anm. 106), S. 208. Vgl. auch die entsprechende Analyse des Hauptthemas aus dem Finale des Streichquartetts KV 589 bei Wulf Konoid, Das Streichquartett. Von den Anfängen bis Franz Schubert, Wilhelmshaven 1980, S. ioof. in Norbert Elias hat gezeigt, daß die ästhetischen Relikte höfischen Denkens in Mozarts Musik gerade Bestandteil jener „radikalen Differenzierung" (innerhalb eines freilich streng geformten Satzgefüges) waren, die auf den Maximen der Distanzierung als Selbstzweck, einer Bändigung der Affekte und (als Folge hieraus) einer durchnuancierenden Haltung gegenüber der Materialordnung gründete (vgl. Norbert Elias, Mozart. Zur Soziologie eines Genies, Frankfurt a. M. 1991). i66 Matthias Schmidt VI Beispiele Mit dem Wort „Unnachdrücklichkeit"112 läßt sich vielleicht recht gut umschreiben, was die Hörwirkung einer kompositionstechnisch wirksamen Kategorie der „Ähnlichkeit" ausmacht: der Triumph des Unscheinbaren, vermeintlich Nebensächlichen, das an Bedeutung gewinnt, je mehr es die gewohnten hierarchischen Strukturen eines binären Codes zwischen Gleich und Verschieden, Nähe und Distanz, unterläuft. Zwei kurze analytische Beispiele sollen dies im folgenden verdeutlichen. Beim ersten Exempel handelt es sich um den langsamen Satz des C-Dur-Streichquartetts KV 465. Die Formgliederung dieses Andante fällt bei näherem Hinsehen weniger leicht, als es zunächst den Anschein haben mag: Das Stück beginnt mit einem mehrgliedrigen Formkomplex, der in harmonischen und figurativen Varianten wiederholt wird, ohne daß eine erkennbare Verarbeitungsstrategie zwischen seinen Teilen Platz greifen würde. Hieran schließt sich ein weiterer größerer Formabschnitt an. Auch er läßt mehrere funktionale Deutungen zu"3, die sich mitunter wechselseitig auszuschließen scheinen: Für einen bloßen Anhang ist der Teil zu gewichtig, für eine erweiterte Wiederholungsform zu selbständig, für die unabhängige Partie einer dreiteiligen Anlage müßte eine weit größere Differenz zwischen diesem und den beiden anderen Abschnitten als zwischen diesen untereinander festgestellt werden - ihm fehlt der traditionelle Kantilenencharakter eines langsamen Satzes. Einerseits legen die formalen Zäsuren eine gänzlich problemlose Einteilung nahe, andrerseits erweist sich die Verhältnisbestimmung der einzelnen Teile zueinander aber als umso komplexer. Der sich geradtaktig über zwölf Takte erstreckende erste Abschnitt (der in drei mal vier bzw. jeweils zwei mal zwei Takte untergliedert werden kann) bildet auf den ersten Blick ein Musterbeispiel für ein kantables Andante der „Wiener klassischen" Tradition: Er präsentiert vermeintliche Geschlossenheit und zeigt einen weitgespannten Melodiebogen. Bei näherer Betrachtung jedoch kann bereits in den ersten Takten keine funktionale Einheit im Sinne der vorangehenden oder der folgenden Satzgestalten dingfest gemacht werden. Zwar entsprechen einander die ersten beiden Taktpaare harmonisch und melodisch, ihre Position zueinander erscheint dabei aber nicht unproblematisch: Zum einen nämlich tariert Mozart ihre isolierte Stellung zueinan- 112 Etty Mulder, „Mozart jenseits der Aufklärung. Zur Entwicklung der musikalischen Subjektivität", in: Csáky, Europa (wie Anm. 41), S. 183. 113 Friedhelm Krummacher, „Kantabilität als Konstruktion. Zum langsamen Satz aus Mozarts Streichquartett KV 465", in: Analysen. Beiträge zu einer Problemgeschichte des Kamponierens. Festschrift fiir Hans Heinrich Eggebrecht zum Ö5. Geburtstag, hg. von Werner Breig, Reinhold Brinkmann und Elmar Budde, Stuttgart 1984, S. 220. Mozart und die Differenz des „Klassischen" 167 der (abgeschlossene Phrasen mit Zäsur in der Melodiestimme) dadurch aus, daß er die jeweiligen Enden in T. 2 bzw. T 4 auf eine unbetonte Zählzeit legt, zum anderen verknüpft er die Teile, indem er eine diatonisch in drei Achteln fortschreitende Auf-taktmotivik zum Bindeglied bzw. zur Uberbrückungsgestalt der Pausen macht. Vergleichbare Anknüpfungsmomente zeigen in noch verschärfter Dringlichkeit (da das Instrument hier gänzlich solistisch auftritt) die Nahtstellen in T. 4 bzw. T 8; in T. 10 und 12 finden sich wiederum andere Instrumentenkombinationen eingesetzt. Das unscheinbare auftaktige Drei-Achtel-Motiv wird so zum Scharnier des in Gruppen durch Kadenzwirkung abgegrenzten Melodiebogens und stellt damit - eigendich als Marginalie innerhalb des Satzgebäudes - das wesentliche funktionale Element dieser ersten 12 Takte dar. Das in T. 1 und 2 der Melodiestimme noch bezeichnenderweise auftaktig auftretende Motiv f-g-b-a erscheint in der zweiten Phrase bereits zu Beginn vollständig und markiert darin seine Bedeutung für den weiteren Satzverlauf. Die als Wiederholung angesprochene erneute Aufnahme des ersten melodischen Gebildes stellt sich als nachhaltig variierte dar. Sie verändert den gesamten Charakter ihres ersten Erscheinens bereits durch ein deutlich forciertes Bewegungsmaß. Einzig die Cellostimme hält Rhythmik und Melodik gegenüber dem Beginn bei, die Melodiestimme verändert auch ihren diastematischen Verlauf deutlich. Die Varianten stellen freilich mehr als nur beliebig austauschbare Verzierungsfiguren dar, sie verweisen vielmehr auf die eigentliche künsderische Substanz des Satzes. Unverändert bleibt nur - sozusagen als harmonischer Rahmen - das Baßfundament des Cello. Die Varianten werden dagegen betont, indem sie etwa geterzt ausgeführt werden; die bisher vermeintlich nebensächliche Chromatik dringt in die Melodiestimme ein (T. 48, 50, 51), welche dafür an konturbildendem Gewicht verliert"! Noch bedeutsamer aber ist, daß gerade die Auftaktfolge aus drei Achteln gegenüber dem Anfang wiederum unangetastet bleibt. Dies betont umso stärker ihre wesentliche Funktion für die Gestaltung des Satzes. Die Anreicherungen des thematischen Gefiiges sind nicht beliebig, obgleich sie beim flüchtigen Hören floskelhaft-ornamental wirken mögen. Sie leiten sich vielmehr aus vorangegangenem Motivmaterial ab und weisen auf künftige Gestaltbildungen voraus. Das bisher nebensächlich Erscheinende gibt sich nunmehr als das Substantielle des thematischen Zusammenhangs zu erkennen und verändert zugleich dessen gesamten Charakter - die chromatisch gefügten Satzbestandteile gewinnen an Vordringlichkeit (T 48), und der Komponist führt eine Doppelschlagfigurierung ein (T. 49). Gleichbleibend ist hier neben dem Celloeinsatz wieder das beim ersten Höreindruck scheinbar nur ornamental eingesetzte Scharnier der Drei-Achtel-Auftaktfigur vom Beginn. 114 Vgl. hierzu Krummacher, Kantabilität (wie Anm. 113), S. 228. i68 Matthias Schmidt Es läßt sich ersehen, wie hier die wesentliche formale Bedeutung dieser vermeintlich unwichtigen Figur erst vom Komponisten selbst feinsinnig unterstrichen wird. Was zu Anfang den Charakter eines kantablen Andante suggeriert, kehrt im weiteren Satzverlauf nicht mehr wieder. Lediglich als mutmaßlich thematisch wirksames Gebilde erscheint es zu Beginn der „Reprise" erneut. Weder ist dieses vorgebliche thematische Gebilde jedoch durchgeführter Gegenstand des Satzes noch prägt es nachdrücklicher seinen Charakter. Allein deshalb, weil alle seine Elemente permanenten Veränderungen unterworfen sind, ließe sich dieser kaum als einheitlich oder auch nur als in sich geschlossen bezeichnen. Es fehlt der Komposition im Hinblick darauf ein vorausgesetztes Muster, eine unzweifelhaft gegenwärtige Norm, die nach individueller Ausprägung verlangen würde. Stattdessen lebt das Stück aus den freischwebenden Verhältnisbestimmungen von Kontrast und verkettender Annäherung, die gleichsam in ständiger Transitorik erscheinen. In T. 47 wird nun auch noch die metrische Geradtaktigkeit der Wiederholung durch einen eintaktigen Einschub aufgegeben, der aus einem Zwölf- einen Drei-zehntakter entstehen läßt. Er bewirkt zum einen die anschauliche harmonische Vorbereitung auf die zentrale Steigerungspartie des Satzes. Zum anderen stellt er wieder ein balancebildendes Scharnier zwischen dem vorangegangenen und dem folgenden Teil her: Der Begleitrhythmus entspricht in seiner beständigen Achtelführung bereits dem sich anschließenden, die Sechzehnteldiatonik der ersten Geige noch der Gestaltungsweise des vorangehenden Teils. Notenbeispiel 1: W.A. Mozart, Streichquartett KV465, 2. Satz, T. 41-55 Mozart und die Differenz des „Klassischen" 169 Die „Coda" bildet damit ein formales Gleichgewicht zum vermeintlich zusammenhanglos reihenden, bausteinartigen Charakter des Satzes aus. Sie verdichtet diese Bausteine hier nämlich zu einer Art Gleichzeitigkeit und gibt damit ihr eigentümliches Konstruktionsverfahren als absichtsvolles zu erkennen. Am Schluß finden sich Elemente aller bisher in Erscheinung getretener Teile zusammen. Das Thema des Beginns wird dabei nicht zum Vehikel einer konfiiktlösenden Synthese. Seine Wiederkehr ist nicht Bestätigung, sondern vielmehr Anzeichen einer konstitutiven Veränderung: in Gestalt von Überlagerungen verschiedener, graduell wohlbedacht entfalteter Verfahren. Entsprechend findet keine thematische Bestätigung oder sinnfällige Vermittlung zuvor getrennt erscheinender Elemente statt. Bestätigt im Sinne der Überlieferung wird lediglich eine an der Oberfläche floskelhaft auftretende, materialtechnisch wenig greifbare, da aus gedanklichen Verhältnisbestimmungen gebildete Satzstruktur. Es geht also nicht um den Komplexitätsgrad von Harmonik und Motivik, es sind vielmehr gerade unscheinbare, nachgerade formelhafte Motivbildungen, die im Mittelpunkt des Satzgefüges stehen"5. Sie bestimmen sich durch eine Vielfalt von Strukturelementen und deren gleichsam beständigen Wechsel. Mozart verwendet gerade konturarme oder schematische Wendungen, um die wesentliche kompositorische Idee nicht zu verdecken. Die Form des Satzes stellt weniger ein unabhängig von seiner aktuellen Existenz lebensfähiges Schema dar, als daß sie sich erst 115 Krummacher,Kantabilität(wieAnm. 113), S. 2 3 2 f. 170 Matthias Schmidt aus der Verhältnisbestimmung der Einzelglieder zueinander ausbildet. Die elastische Bewegung, die Veränderung der Perspektiven, die verhältnisbedingte Verschränkung der traditionell weniger gewichtigen Elemente bilden diesen wesentlichen Kern der Kompositionsidee. Der Quartettsatz stellt das Beispiel für ein Komponieren als Akt radikaler „Ahn-lichkeits"-Bestimmung vor. Das vermeintlich Nebensächliche (die Auftaktfiguren, das vermeintlich Ornamentale, ein motivisches Bruchstück des ersten thematischen Zusammenhangs) erweist sich als die triftige und formtragende Hauptsache des Satzes, die scharnierartigen Bindeglieder zwischen harmonisch gewichtigeren Gruppen sind die eigentlichen Angelpunkte der Komposition. Wesentlich erscheinen die Verhältnisbestimmungen zwischen durchaus konventionellen Figuren und Formelementen, die sich wechselseitig in einem ganz eigentümlichen Licht erscheinen lassen. Die Substanz des Werkes bestimmt sich aus der Pluralität seiner Details, Konvention und Abweichung, noch unverfestigte Idee und gestalthafte Form treten wesentlich vergleichzeitigt in Erscheinung, als nicht voneinander ablösbare Wahrnehmungskategorien. Das zweite Beispiel betrifft den Schlußsatz des g-Moll-Streichquintetts KV 516. Die analytischen Befunde des Streichquartetts bestätigen sich hier unter vergleichbaren Gesichtspunkten. Nach einer fließenden, harmonisch unspektakulären Adagio-Einleitung über 32 Takte setzt in G-Dur eine thematische Fügung ein, die der Erwartungshaltung eines Rondofinales der Zeit durchaus entspricht: ein zumeist auf der Tonika verbleibender, rhythmisch schlichter, stabil gebauter Achttakter mit einem sechzehnmal wiederkehrenden Begleitmodell. Der zweite Teil des dreiteiligen Liedthemas (T. 46-53) besteht aus einer rezitativartigen Fortspinnungsfigur ohne ausgreifendere melodische Konturierung. Schließlich wird das Thema durch den Nachsatz des Beginns beschlossen. Interessant erscheint zunächst, daß der Zuhörer im weiteren Verlauf des Satzes eine immer stärkere Verflüssigung dieser zunächst stabil erscheinenden Satzbestandteile wahrnehmen kann. Was das Stück strukturell zusammenhält, ist die Tatsache, daß die folgenden Abschnitte - trotz ihrer zunächst locker wirkenden Fügung - in einzelnen Motiv- oder Rhythmusbestandteilen nachhaltige „Ähnlichkeiten" mit dem Satzbeginn aufweisen. Mozart setzt zwar Wiederholungsperioden, Fortspinnungsperioden, dreiteilige Liedformen und eine zweiteilige Liedform als Ordnungsglieder des Satzgefüges ein. Zugleich aber wird etwa der Gegensatz zwischen stabilen und instabilen Teilen verwischt, indem sich zäsurbildendes, mithin kontrastschärfendes Material als solches deutlich zurückhaltender angewendet zeigt: So endet anscheinend fest Gefugtes in „fehlerhafter" Unregelmäßigkeit, oder eine folgende Entwicklung greift vermeint- Mozart und die Differenz des „Klassischen" 171 liehe Abweichungen von einem vermeintlichen Modell korrekt auf und begründet mithilfe dieses Materials einen soliden Anschluß. Eine vielgestaltig lockere Fügung erscheint dadurch stabiler gebaut, daß ihre Elemente mehrfach (und zum Teil in span-nungsintensivierend gesteigerter Form) in Erscheinung treten. Obwohl das Thema erst in T 145 in seiner ursprünglichen Gestalt wiedererscheint, ist der Eindruck eines rondoartigen Formgefüges mithin stets gegenwärtig. Bei der Wiederkehr des dritten Melodieteils (T. 161) erscheint statt des Nachsatzes allerdings der Beginn des Melodiethemas, der sich zudem alsbald modulierend auflöst. Mithin wird der festeste Teil des gesamten Satzes in Material überleitenden Charakters verwandelt. Das Begleitmodell und die Fünfstimmigkeit werden nach und nach dissoziiert. Notenbeispiel 2: W.A. Mozart, Quintett KV516, letzter Satz, T. 159-175 órMomd» ~f Dies scheint zu geschehen, um dem folgenden, hierarchisch zunächst scheinbar untergeordneten Teil stärkeres Gewicht als stabilisierendes Formelement zugestehen zu können. Aber auch die Zusammengehörigkeit der gefestigt erscheinenden Gestalten, die der Vorstellung des Themas folgen, wird nun immer deutlicher in Frage gestellt. Es ist schließlich nur noch eine vage „Ähnlichkeit" zu den Figuren des Beginns erkennbar, die symmetrische Periodik ist aufgegeben. Verschiedene Elemente des vorangegangenen Satzzusammenhangs (beispielsweise die Trillerfigur aus T. 80 in T. 172 Matthias Schmidt 2 io) verbinden sich mit neuen Satztechniken (etwa als Kanonik mit Engführung ab T. 196). Auch beim nächsten Auftreten des Themas ist die Stabilität mit ihrem Erscheinungsmerkmal der Wiederholung als wichtigstem Baufaktor des Satzes zerstört. Dem Kontrastteil folgt nicht mehr die Wiederaufnahme des Themabeginns. Dieser wirkt nun vielmehr deutlich dominanter, sein Material bereitet die Wiederkehr vor, in ihr nimmt er einen größeren Raum ein als der erste Themateil (15 gegenüber 8 Takten, der Anfangsteil mit gleichbleibend 10 Takten). Beide Teile nähern sich in ihrem Stabilitätsgrad einander an: Der Beginn erscheint flüssiger, der Kontrastteil allmählich gefestigter strukturiert. Die Abgrenzung sich zunächst voneinander hörbar unterscheidender Bauelemente wird im Verlauf des Stückes wesentlich verringert. Typisch für den gesamten Satz ist das Fehlen schlußfähiger Kadenzbildungen, die nur selten deutlich wahrnehmbar in Erscheinung treten. Der Überlieferung zufolge sollte sich ein Rondosatz harmonisch in regelmäßigen Abständen zur Tonika des Hauptthemas zurückwenden. Hier ist ausgerechnet dieses Thema der (auch rhythmischmetrisch) instabilste, zugleich drängendste und den Fluß des Satzverlaufs am deutlichsten fördernde Faktor des Stücks. Mozarts Spiel mit öffnenden und sich festigenden „Ähnlichkeits"-Beziehungen läßt wiederum keine normative Voraussetzung erkennbar werden, die ein dialektisches Spiel zwischen Erwartung und Überraschung zuließe. VII Die Norm des Abweichenden Als vor allem auf die empirische Anschauung der verlaufenden Zeit verdichtet erscheint das musikalische Denken zahlreicher Werke Mozarts aus den Wiener Jahren. Der feinsinnig zum Verfahren gemachten Wandelbarkeit ursprünglich festgefügt erscheinender Formteile könnte man dabei die ästhetische Zeitqualität eines „absoluten Präsens'"116 zuschreiben. Dem Eindruck des eigentümlich Inkalkulablen einer als Werkganzes betrachteten Vielfalt von Einzelheiten steht deren jeweils momentane Folgerichtigkeit und dafür großflächig gedachte innere Ausgewogenheit gegenüber. Hörerwartung und -erfahrung sind im Sinne einer kausallogischen oder formelhaft mustergültigen Konvention als Wahrnehmungsraster getilgt, und dennoch scheinen sie in höchster Verdichtung im Augenblick des Erklingens jeder Einzelheit ineinander überblendet zu sein. Mozarts Musik folgt dem Impuls des dramatischen Augenblicks, ohne daß sie jedoch ihren Halt gefährden oder verlieren würde, den sie oft- 116 Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens. Zur Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994. Mozart und die Differenz des „Klassischen" *73 mals der Faßlichkeit des harmonischen Rhythmus verdankt. Dieser wird durch metrisch-syntaktische und formale Differenzierung vor dem Hautgout des Trivialen bewahrt und die Differenzierung durch die Anschaulichkeit des Satzbildes wiederum vor den Gefahren des Zusammenhanglosen und Unökonomischen117. Das einzelne Thema, der einzelne Formabschnitt, erfährt keine Aufhebung in einer zeitlichen (dabei womöglich semantisch aufgeladenen) Gerichtetheit, sondern wird strategisch durch sein augenblickliches In-Erscheinung-Treten genutzt. Mozart, der „allem ideelichen Apriori mißtrauende Pragmatiker"118, läßt seine Musik als Wechsel von Zuständlichkeiten bestimmbar werden. Deren qualitatives Sosein in detaillierten und präzisen Bestimmungen verkümmert hierbei nie allein zum untergeordneten Funktionsträger, es zeigt sich vielmehr wie selbstverständlich in der Fähigkeit hervorgehoben, einen gewaltlosen, unhierarchischen Formverlauf auszubilden. Ein solcher Formverlauf ist beim Hören im Moment seiner Gestaltung als sinnvoller und anschaulicher mitzuvollziehen, Erfahrung wird dabei als gegenwärtige Vergangenheit und Erwartung als gegenwärtige Zukunft wahrnehmbar. Beides wiederum verbindet sich im Begriff der ,Ähnlichkeit". Deren Nachvollzug ist wesentlich an den Moment ihres Aufscheinens gebunden. Dieser geht flüchtig vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann kaum festgehalten werden, erscheint innerhalb des Zeitverlaufs so wandelbar wie eine „Gestirnkonstellation"11'. Mozarts gerade durch die vermeintlich so strenge Regelhaftigkeit vielfach mißverstandene Auffassung von „Freiheit" in der Musik könnte als potentiell unaufhörliche Differenzierungsbewegung begriffen werden: Weder gründet diese allein auf einer Selbstbeschränkung durch „Notwendigkeit" noch aber folgt sie den Eigenmächtigkeiten einer „empfindsamen" Individualität. Mozarts „Freiheit" ist nicht, wie oftmals behauptet, „die Freiheit Kants"120. Sie erscheint vielmehr als eine Freiheit des musikalischen Selbstver-gessens, die keiner philosophischen Metaebene, sondern nur der Reflexion durch sich selbst bedarf. 117 Lars Ulrich Abraham und Carl Dahlhaus, Mehdielehre, Laaber 1976, S. 61. 118 Gülke, Triumph (wie Anm. 21), S. 128. 119 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IĽi, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser, Frankfurt a. M. 1974fr., S. 2o6f. Nicht zu verwechseln ist ein solches Vorgehen mit dem Einsatz des gerade auf einem kalkulierten Zusammentreffen von Erwartung und Überraschung gründenden „Imprévu". Es ist nicht unbezeichnend, daß Mozarts Scharfen für diese besondere Form der Darstellung kaum Beispiele bietet (vgl. dazu Hermann Danuser, Das imprévu in der Symphonik: Aspekte einer musikalischen Formkategorie in der Zeit von Carl Philipp Emanuel Bach bis Hector Berlioz, in: Musiktheorie 1, Laaber 1986, S. 6iff.). 120 Thrasybulos Georgiades, Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1954, S. 119. 174 Matthias Schmidt Diese Überlegungen haben auch Folgen für die Methodik des Betrachtens: Die Kategorie des „Ahnlichen" könnte für die Musikwissenschaft eine zusätzliche Option jenseits der verbreiteten geschichtlichen Erklärungsmodelle von Hermeneutik und Dekonstruktion eröffnen121. Das Verstehen der Hermeneutik zielt auf die weitestgehende Reduktion des Fremden zwischen dem vorausgesetzten Subjekt und dem Objekt einer Betrachtung. Das Andere soll als Variation eines Gleichen erkannt, das Feld des Identischen weitestmöglich ausgedehnt werden. In dekonstruierenden Verfahrensweisen dagegen geht es gerade um die Kritik dieser Identitätsforderung selbst. Entsprechend neutralisiert sind die Versuche, Nähe oder Angleichung als Modi der Selbstvergewisserung bestimmbar zu machen. Das Erkenntnisziel ist die Profilierung des Anderen, insofern es sich von anderem unterscheidet. Die Verwendung der musikalischen Epochenbegriffe „Klassik" und „Aufklärung" steht oftmals für solche Zugangsweisen ein: Soll das „Klassische" einer Komposition im herkömmlichen Sinne erläutert werden, drängt sich ein ästhetisch-hermeneutischer Erklärungsweg auf; um ein Werk als dem Zeitalter der „Aufklärung" zugehöriges einzuordnen, bietet sich als Alternative hierzu ein sozialgeschichtlich dekonstruierend vorgehendes Verfahren an"2. Gleich allerdings, ob der Erkenntnisgegenstand verstehend einverleibt oder dekonstruierend auf Distanz gebracht wird: Es ließe sich sowohl dem Erläuterungsmodell zum „Klassischen" wie jenem zur „Aufklärung" die Neigung unterstellen, jeweils von der Voraussetzung auszugehen, daß das Denken eines Komponisten von der reflektierten Spaltung zwischen Idee und Form, einer bestehenden Norm und der zu ihr gehörigen Abweichung, geprägt werde. Beide Auffassungen zeigen lediglich im Ergebnis (und dabei vor allem im Hinblick auf ihre intellektuelle Ausrichtung) unterschiedliche Schwerpunkte, in ihrer methodischen Ausgangslage erweisen sie sich als vergleichbar. Das erläuterte Erklärungsmodell des „Klassischen" betont zwar verstärkt das bewahrend Normative, das der kritisch-rationalen „Aufklärung" zielt deutlicher auf das originär Abweichende, innerhalb der Dynamik des Geschichtsverlaufs Folgenreichere; beiden gemeinsam jedoch ist die Rahmenbedingung einer dialektischen Denkbewegung unausweichlich vorausgesetzt. Das beschriebene Musikverständnis der „Ähnlichkeit" unterläuft eine so geartete Polarisierung (obwohl diese freilich beständig durch eine vom Musikrepertoire des 19. Jahrhunderts geprägte Hörerfahrung gefördert wird). Werke aus der Tiefe und 121 Vgl. zum Beispiel: Kunst-Verstehen/Musik-Verstehen, hg. von Siegfried Mauser, Laaber 1993; Christopher Norris, Deamstruction, Musicology and Analysis: some recent approaches in critical review, in: Thesis Eleven 56, 1999, S. 107-18. 122 Vgl. dazu: Steve Sweeny-Turner, The sonorous Body: Music, Enlightenment, and Deconstruction (Diss., University of Edinburgh 1994). Mozart und die Differenz des „Klassischen" !75 Breite des historischen Bewußtseins, die unsere Erfahrung einnehmen und in ihr anregen, was uns auch jenseits allzu fragloser Harmonie als Elementares unverzichtbar erscheint, sind auch in ihrem Rang jenseits formelhafter Verfestigungen herausgehoben. Wenn solche Werke Mozarts als „Klassische" bezeichnet werden könnten, dann verdankte sich dies keiner abstrakten Hierarchie der Werte, sondern der Erfahrungsgeschichte. In ihr wird das Wissen der Tradition unter wechselnden Perspektiven immer wieder umgeschlagen, angeeignet, vergessen. Trotz der wachsenden geschichtlichen Distanz scheint sich eine Verbindlichkeit zu zeigen, die damit zu tun hat, daß die Werke sich selbst vermitteln, der Abstand der Zeit zu ihnen fur den Moment der Erfahrung aufgehoben ist. In Mozarts Musik scheint sich zusammenzuschließen, was dem historischen Bewußtsein zu vereinigen nicht gelingen will: Vergangenheit und Gegenwart, ein fremder Sinn, der etwas bezeugt, und ein Sinn für uns, der sich bezeugt. Vielleicht bezeichnet der gegen Anfang erwähnte „Augenblick" Adornos, in dem Mozart die eigentümlichen Zeitläufte spiegelte, gerade jenen Moment, der besonders denkwürdig auf etwas verweist, was jenseits der gewohnten ideologischen Zuweisungen dennoch als „Klassisches" erscheinen könnte. Die vielbeschworene Stabilität von Mozarts Musik zeigte sich durch das Flüchtige selbst dem Zeitlichen enthoben und wäre vielleicht gerade hierin aufs „Klassische" zu beziehen - indem sie dem Flüchtigen „ähnlich" wird.