Die Wende im Kopf Zwanzig Jahre nach der Wende versteht Christian Bangel immer noch nicht wirklich, was seit 1989 mit ihm geschah. Ein Ostdeutscher zieht Bilanz. © Hulton Getty/ddp Die historische Dimension des Mauerfalls ist ihr noch nicht bewusst - doch wird er sie begleiten und herausfordern Die historische Dimension des Mauerfalls ist ihr noch nicht bewusst - doch wird er sie begleiten und herausfordern Ich war zehn Jahre alt, als mich meine Mutter an einem Novemberabend 1989 umarmte und rief: „Wir können jetzt in den Westen fahren. Wann wir wollen!“ Dort drüben welche Lichter! Es gab Geschmäcker und Gerüche, die Farben hatten. Ein ganz neues Leben begann, so viel stand fest. Anzeige dot article;tile=4;sz=300x250;ord=123456789? Dann gibt es da dieses Foto aus dem Juni 1990. Wir verbrachten unsere ersten Tage im richtigen Westen; nicht in jenem aufgeregten Westberlin in den Tagen des Mauerfalls. Freunde, die meine Eltern vor der Wende gewonnen hatten, luden uns zu sich ein. Auf dem Bild sind die Söhne der Freunde, meine Schwester und ich vor einer Plastik der Bremer Stadtmusikanten zu sehen. Die Söhne schauen eher desinteressiert in die Kamera. Meine Schwester sieht unwillig aus. Sie wollte den Rock nicht tragen, den die Freunde ihr gekauft hatten. Ich schaue ängstlich von unten. Als die Mauer fiel Am Abend des 9. November 1989 versuchten die DDR-Grenzschützer noch, die Besetzung der Mauer am Brandenburger Tor zu verhindern - vergeblich Das Foto ist nicht schön. Meine Mutter sagt, wir seien verunsichert gewesen von den liberalen Freunden und deren Kindern, die sich wie Erwachsene benehmen durften: schimpfen, genervt sein, nicht mitmachen. Ich spürte aber auch, dass ich anders aussah als die Einheimischen. Ich trug die falschen Sachen und die falsche Frisur. Alle erkannten den Ossi, obwohl ich nichts weniger sein wollte als das. Meine erste Westerfahrung: Ich bin peinlich. Und die Schwester auch. Die Eltern sowieso. Dann wurde es ungemütlich in meiner Heimatstadt Frankfurt/Oder. Unsere Eltern sagten oft, dass wir uns darauf gefasst machen müssten, bald kein Geld mehr zu haben. Papa könnte arbeitslos werden. Papa wurde nicht arbeitslos. Aber die Furcht begleitete mich und meine Schwester, bis wir erwachsen waren. In der Schule hieß es, von nun an würde alles anders. Einige Lehrer erklärten uns, dass wir lernen müssten, uns anzupassen und durchzusetzen. Nicht jeder würde es schaffen. Andere Lehrer schwiegen. Und plötzlich gab es Schläge. Immer mehr Klassenkameraden trugen Bomberjacken. Je mehr es wurden, desto größer wurde der Druck. Immer häufiger die Frage: Ob ich nicht stolz sei, Deutscher zu sein? Ein ums andere Mal lief ich davon, drei Mal war ich zu langsam. Als ich zwanzig war, zog ich nach Hamburg. Ich arbeitete in einem Zoofachmarkt am Rand der Stadt. Der Chef sagte, Ossis müssten lernen, dass es nicht alles geschenkt gäbe und man sich anstrengen müsse, um etwas zu erreichen. Ich gehorchte. Bemühte mich, so westdeutsch wie möglich zu werden. Gewöhnte mir meinen Dialekt ab und trank das richtige Bier. Später, an der Uni, machte ich in linken Hochschulgruppen mit und schimpfte manchmal über Ossis. Die Wende im Kopf Erst langsam begriff ich, dass ich mich über meine Vergangenheit verständigen wollte. Das mit den Stadtmusikanten aber wollte niemand wissen. Gleichaltrige Bekannte, die aus dem Westen kamen, waren ganz anders aufgewachsen. Vielen war die Kirche ein Feindbild. Ich hatte kein schlechtes Bild von dieser Institution. Sie war einer der Anlaufpunkte der DDR-Opposition und ansonsten bedeutungslos gewesen. Ich hatte andere Fragen. War nicht eben erst alles zusammengebrochen? Dort, wo ich herkam, herrschten Gewalt und Angst. Was sollte denn jetzt geschehen? Doch hier war nichts zusammengebrochen. Studenten waren links und wurden wie eh und je mit den Jahren rechts. Es gab Hausbesetzer, deren Eltern auch schon Hausbesetzer gewesen waren. Ich suchte nach Menschen, mit denen ich mich besser austauschen konnte und wunderte mich. Zehntausend Ostdeutsche, schrieb das Abendblatt, zögen Jahr für Jahr nach Hamburg. Wo waren die nur alle? 2008 fanden in der Hamburger Hafencity die zentralen Einheitsfeierlichkeiten statt. Politiker würdigten das Zusammenwachsen von Ost und West, sprachen aber auch von Härten für einige. Die Kanzlerin führte ihr Amt als Beleg dafür an, dass die Einheit gelungen sei. Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust sagte, das Kind sei mit achtzehn zwar nicht erwachsen, aber auf einem guten Weg. In den Tagesthemen hieß es, die Einheit sei längst Normalität, Optimismus sei an diesem Tag erste Staatspflicht. Und es hieß noch, das Land Mecklenburg-Vorpommern habe den Bratwurst-Wettbewerb der Bundesländer gewonnen. Mehr zum Thema * Thema 20 Jahre Mauerfall Wenige Kilometer entfernt, auf der Reeperbahn, geriet ich währenddessen in einen Demonstrationszug. Viele der etwa 3000 Teilnehmer waren jünger als ich, viele Studenten. Die Stimmung war aufgeheizt, behelmte Polizisten begleiteten den Marsch. Auf den Transparenten wurden Nationalismus und Volkstümelei angeprangert. Es hieß, die Einheitsduselei sei Opium, welches die kapitalistische Repression vertiefen sollte. Einer, den ich nach dem Grund der Demo fragte, sagte: „Gegen die Einheit.“ Gut möglich, dass Ostdeutsche mitmarschierten. Um nicht aufzufallen. Wende-Jugend Die Kinder der Freiheit Sie wurden um 1989 in der DDR geboren. Anders als ihren Eltern steht ihnen die Welt offen. Aber viele der Jungen fühlen sich allein gelassen und empfinden sich als die "unberatene Generation". © Jörg Gläscher für DIE ZEIT Linkes Bild: Matej Zieschwauck, 22, Leipzig: "Manchmal denken meine Eltern, ich verarsche sie." - Rechtes Bild: Cindy Hammer, 20, Dresden: "Wie sie sich wohl anfühlt, die DDR? Zu Hause war sie nie ein Thema." Linkes Bild: Matej Zieschwauck, 22, Leipzig: "Manchmal denken meine Eltern, ich verarsche sie." - Rechtes Bild: Cindy Hammer, 20, Dresden: "Wie sie sich wohl anfühlt, die DDR? Zu Hause war sie nie ein Thema." Cindy Hammer stand mit einem Bein im Stasi-Knast. Stell dir Isolation vor, hat man ihr gesagt. Also stellte sich Cindy Hammer, 20 Jahre alt, Isolation vor, und sie überlegte, wie das wohl wäre, unschuldig eingesperrt zu sein, diese Qual. Dann tanzte sie. Anzeige dot article;tile=4;sz=300x250;ord=123456789? Es war nur ein Training. Bald, am Abend des 9. November 2009, muss Cindy Hammer aus Bad Muskau wieder nach Bautzen, Weingangstraße 8a. Hier, hinter den dicken Mauern, wird sie tanzen. Es ist ein Auftritt im Gedenken an den Mauerfall, ein Geschichts-Event auf vier Quadratmetern. Und Cindy, Tanzstudentin der berühmten Palucca-Schule in Dresden, probt seit Wochen dafür. Sie hat sich vorbereitet. Mit Büchern, vor Schaubildern, mit der Hilfe von Choreografen. Zum ersten Mal macht sie sich klar, was die DDR war. Wie sie war. Kinder der Wende Welche Bedeutung hat die Wiedervereinigung Deutschlands für Jugendliche? Wir fragten an einer Hamburger Schule Cindy Hammer ist ein Kind der Freiheit. Hineingeboren in die Nachwehen der Wende, weiß ihre Generation von der DDR nur, was ihr erzählt wurde. Die Freiheitskinder kennen nur ein Deutschland aus eigenem Erleben. Das trennt sie von ihren Eltern. Sie verbringen eine andere Jugend. In einer anderen Welt. Mit dem Untergang der DDR ist ein Erfahrungsschatz wertlos geworden "Ich denke manchmal, früher war es leichter, erwachsen zu werden", sagt Elisa Huth, 22, die Kommunikationspsychologie studiert. "Ich habe bis heute keine Ahnung, was ich machen soll. So viel Auswahl. So wenig Orientierung." 20 Jahre Mauerfall Vor 20 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Berichte, Analysen und Kommentare © Gerard Malie/afp/Getty Images Vor 20 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Berichte, Analysen und Kommentare Elisas Mutter hatte, als sie im gleichen Alter war, schon zwei Kinder, Mann und Beruf. All das schien damals, irgendwie, geplant und gelenkt. Elisas Leben plant keiner. Und die Eltern können ihrer Tochter nicht helfen, sie haben keine Gebrauchsanweisung für das, was Elisa umtreibt. Selbst die Berufsberater aus dem Arbeitsamt, alle im Alter der Eltern, haben überwiegend die DDR erlebt, berichtet Elisa. "Sie kennen sich, teilweise, dort besser aus als im Hier und Jetzt. Helfen wollen mir alle immer nur mit dem Hinweis, ich solle tun, was mir gefällt. Na prima." Die Geschichte der DDR ist nicht die Geschichte der Kinder der Freiheit. Jene ist allein die Heimat der Eltern. Das birgt Konflikte. Mit dem Untergang der alten Gesellschaft ist ein Schatz an Erfahrungen weitgehend wertlos geworden, auch für die Jungen. Der Leipziger Soziologe Bernd Lindner spricht von ihnen als der "Generation der Unberatenen". Die dann oft ratlos ist. Christian Grochau aus Dresden, 25, war nach dem Abitur zunächst ein Jahr lang arbeitslos – für die Zeit nach der Schule hatte er keinen Plan. Er war wie gelähmt von den vielen Möglichkeiten, die er hatte, und der geringen Orientierung, die man ihm gab. "Ich habe in dieser Phase von meinen Eltern gar nicht erwartet, dass sie mich beraten", erzählt Grochau, "das hätten sie ohnehin nicht gekonnt. Was ich wollte, war Vertrauen." Er hatte Glück. Mit seiner Band, Polarkreis 18, landete Schlagzeuger Grochau einen nationalen Hit. Der Titel, ausgerechnet: Allein, allein. Die Kinder der Freiheit sind also unberaten. Deswegen grübeln sie; deswegen finden sie aber auch zu mehr Selbstständigkeit. Soziologen beobachten, dass Junge aus dem Osten "aufstiegsorientierter" sind als die übrigen. Weil der Aufstieg, anders als zur DDR-Jugendzeit der Eltern, möglich ist. Weil der Aufstieg, anders bei vielen Jugendlichen im Westen, die erben werden, nötig ist. Ich bin allein, also muss ich sehen, wo ich bleibe. Ich denke, also werde ich. Genauso sieht Grochau sich und seine Generation: "Jeder ist viel zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Vorankommen zu planen, an der eigenen tollen Karriere zu basteln. Darüber vergessen wir völlig, über unsere Vergangenheit nachzudenken und darüber, was sie für unsere Generation heute bedeutet." Stattdessen Schweigen. Manche meinen bereits, dass der Osten etwas Vergleichbares brauche, wie es der Westen mit 1968 hatte. Philipp Mißfelder, ein Wessi, Chef des CDU-Nachwuchses Junge Union, forderte jüngst, die gegnerische Linkspartei im Visier: "Wir brauchten jetzt auch ein 68er-Erlebnis für die DDR-Vergangenheit. Oft wird eben so getan, als sei in der DDR nichts passiert. Der SED-Staat wird verharmlost." Das stimmt vielleicht nicht so ganz. Es gibt, und das ist anders als in der alten Bundesrepublik, kein Vergangenheitstabu. Wer will, kann sich satt lesen an den Artikeln, Büchern, Sendungen und Gedenkstättentafeln zur DDR-Geschichte. Die Kinder der Freiheit sehen ihre Eltern auch nicht als Täter; weil ihnen diese Eltern oft als schwach erscheinen, als Opfer der Einheit. Eltern sagen: "Sei nicht egoistisch!", "Setz dich durch!" Was denn nun? Gerade deshalb, sagt der Musiker Christian Grochau, sollte es doch möglich sein, dass Eltern und Kinder in Ruhe miteinander reden. Dass das geschichtliche Erbe nicht nur bei den großen Feiern aus Anlass der Jahrestage ein Thema ist. Dass die Erinnerung das Geschehen nicht verklärt oder verzerrt. Nach einer Studie der FU Berlin, bei der Schüler der Klassen 9 bis 11 interviewt wurden, halten viele der Befragten die DDR für ein ärmliches, skurriles und witziges Land, das "aber irgendwie sozial" war. Von den Spitzeln ist keine Rede. Auch nicht von den Erfahrungen der Umbruchs. Man spricht allenfalls über Bückware und Brühwurst. Weil Eltern und Kinder selten über die Vergangenheit der einen, die Zukunft der anderen und beider Gegenwart wirklich redeten, gebe es nur dieses schwache Bild der eigenen Identität, sagt Christian Grochau. Die Musiker von Polarkreis 18 haben versucht, dieses Bild zu vertonen. 20 Jahre nach der Wende haben sie sich gefragt, welchen Einfluss die gewonnene Freiheit auf ihr Leben hatte, was sie ihnen gebracht hat. Das Ergebnis ist diffus. Die Musiker haben ihre Lieder mit einem Orchester aufgeführt. Die Arrangements enthielten versteckte Melodien, verschlüsselte Hinweise und auch ein Eingeständnis. Nämlich zu wissen, welche Chancen die Freiheit bringt und welche Ängste; aber nicht bewerten zu können, was die Geschichte der Eltern eigentlich für die eigene Gegenwart bedeutet: Diese Unsicherheit bleibt – ein Spannungsverhältnis. Da gäre es, meint Hans-Joachim Maaz, langjähriger Chefarzt für Psychotherapie und Psychosomatik aus Halle an der Saale. Maaz befürchtet, dass sich die Spannungen zwischen diesen Generationen, zwischen den Kindern der Freiheit und deren Müttern und Vätern, entladen könnten. Den Eltern sei in der DDR beigebracht worden, nicht zu egoistisch zu sein, nicht zu individualistisch; diese Botschaft sei auch an die Jüngeren weitergegeben worden. Andererseits mahnen die Eltern die Kinder zur Leistung. Mach was aus dir! Setz dich durch! Was aber, wenn Kinder einmal scheitern? "Die große Frage ist", sagt Maaz, "ob die Kinder dann die Schuld bei ihren Eltern suchen, von denen sie sich nicht richtig beraten fühlen. Oder ob sich die Wut gegen das System, die kapitalistische Lebensweise, richten wird." Es gärt in Dreikretscham bei Bautzen, einem Ort mit 78 Bewohnern. "Manchmal", sagt Matej Zieschwauck, "denken meine Eltern, ich verarsche sie." Bei ihnen war der Werdegang übersichtlich. Waren die Noten in Ordnung, kam nach der Oberschule die Ausbildung und nach der Ausbildung der Job. Bei Matej kommt, wenn die Credit Points ausreichen und er in die richtigen Module gelangt, wenn Plätze frei sind und er zudem etwas Glück hat, nach dem Bachelor der Sorabistik-Master an der Universität Leipzig. Und was danach kommt, wer weiß, sagt Matej. Der 22-Jährige moderiert eine Radiosendung für junge Sorben, vielleicht wird er sich selbstständig machen als Hochzeitsfotograf, aber er muss das allein entscheiden in einer Welt, in der sich die Eltern nicht auskennen. Wenn er ihnen heute erklärt, was an der Uni schon wieder nicht passt, "dann schalten sie so schnell ab". Mehr zum Thema * Thema 20 Jahre Mauerfall * Jugend Kinder der Revolution * Sachsen DIE ZEIT Sachsen Seine fünf Geschwister haben geheiratet und Kinder bekommen, sie waren Jugendliche, als die Revolution nach Leipzig kam. Auch sie berichten von Wrangler-Jeans-Aufnähern, die in der Schule gehandelt wurden wie Goldbarren. Matej hat echte Jeans. Er hat die Wahl. Die Freiheitskinder müssen auf viele Fragen Antworten finden: Wo kommen wir her? Wer sind unsere Eltern? Wie war das, als sie jung waren? Kann man sich verstehen? Natürlich. Es geht darum, sagt Hans-Joachim Maaz, Interesse zu zeigen. Es geht um Auseinandersetzung. Auch wenn man dafür Zeit braucht. Und wenn man dadurch noch einmal in einem Stasi-Knast landet.