Per Autopilot durch die Weihnachtstage Eigentlich ist es das Fest der Liebe und der Familie. Für manche Studenten dagegen ist Weihnachten die einsamste Zeit des Jahres. Es ist meist um den 1. Dezember herum, dass Alexandra* nervös wird. Weihnachten steht dann ins Haus, höchstens 24 Tage blieben ihr nun noch, um den Heiligen Abend zu planen. Alexandra, die in Berlin Kunstgeschichte studiert, hat zum letzten Mal 1995, vor elf Jahren, den 24. Dezember zu Hause verbracht. Etwa drei Mal war sie seitdem am Heiligen Abend allein, die anderen Male bei Freunden, der Cousine oder - wie dieses Jahr - bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Den Heiligen Abend zu planen, das sei im wahrsten Sinne des Festes vergleichbar mit der Herbergssuche von Maria und Josef, findet Alexandra. Wo fühle ich mich zu Hause, wo bin ich am ehesten willkommen, das sind die Fragen, die sie sich stellt. "Weihnachten - das ist für mich, wie zu versuchen, den letzten Bus zu erwischen", sagt sie. Selbst mit Ende 20 fahren die meisten von uns zu Weihnachten nach Hause. Wir studieren oder arbeiten zwar in einer anderen Stadt als die Eltern, leben schon lange mit dem Partner zusammen und haben vielleicht auch ein Jahr im Ausland gelebt - und doch sitzen wir am 24. Dezember wieder auf dem heimischen Sofa. Wer nicht nach Hause fährt, ist im Freundeskreis fast schon Außenseiter. Doch auch innerhalb der Familie wird Druck gemacht: Widersetzen wir uns den Erwartungen und wollen mit anderen Menschen die Feiertage verbringen, müssen wir uns noch lange die Vorwürfe der eingeschnappten Verwandten anhören. Wütende Mutter Vergangenes Jahr sei er aus der Routine ausgebrochen, erzählt der 20-jährige Michael, der in Berlin an der TU Bauingenieurwesen studiert. 2005 war seine Freundin als Au-pair in England. Sie wollte nicht nach Hause kommen, da sie sonst Heimweh bekommen hätte, erzählt er. Deshalb trafen sich beide in Amsterdam. "Meine Mutter war richtig böse", sagt er. Noch lange habe sie ihm Vorhaltungen gemacht und angeordnet: "Das war für die nächsten zehn Jahre das einzige Mal, dass du Weihnachten nicht zu Hause warst!" Heiligabend, das Fest der Liebe, ist mit seiner friedlichen Stimmung eine geradezu intime Veranstaltung - und deshalb für manche, die alleine in der Fremde leben, auch am schwierigsten zu überstehen. In so einem Fall hilft nur, schon möglichst früh den eigenen Autopiloten einzuschalten. Schnurrt man ein bisschen betäubt durch die Weihnachtszeit, spürt man die eigene Sehnsucht nach einem vertrauten Ort schon nicht mehr so stark. Die Fragen der Freunde, was man denn vorhabe an Weihnachten, werden zur Pein: Zugeben zu müssen, dass man nicht so richtig weiß, wohin mit sich, ist für Alexandra am unangenehmsten. Schwierig wird es auch, die unerträglich satte Selbstgewissheit der Anderen zu spüren, die genau wissen, wohin sie gehören. Manchen hilft es da, an Weihnachten arbeiten zu gehen, denn zwischen Kopierer und Computern kommt keine Festtagsstimmung auf. Die Gründe, weshalb Studenten Weihnachten nicht zu Hause verbringen wollen oder können, sind ganz verschieden. Einige, wie Alexandra, mögen zwar die Eltern, doch fühlen sie sich unbehaglich bei dem Gedanken, im engen Familienkreis ein so intimes Fest wie Weihnachten zu verbringen. Manche schrecken auch vor familiären Problemen zurück. Vielleicht gibt es dann einen Freund oder eine Freundin, die einen einladen: Doch auch dort fühle sie sich fehl am Platz, sagt Alexandra: "In der Familie oder Zuhause zu feiern - das ist einfach etwas anderes." "Das ist nicht cool." Am Heiligen Abend die Tür zu ihrer leeren Ein-Zimmer-Wohnung aufzuschließen, wenn die Straßen und Bahnhöfe genauso einsam sind wie sonst nachts um drei, das sei "nicht cool", sagt Alexandra. Doch immer habe sie versucht, sich ein schönes Fest zu machen. Sie habe eingekauft, gekocht, die Wohnung dekoriert, Musik gehört, mit Freunden telefoniert oder gelesen, berichtet sie. In einem Jahr habe sie das ganze Zimmer voller Kerzen gestellt. "Ich habe immer versucht, das Beste daraus zu machen", sagt sie, "aber natürlich waren es trotzdem auch immer traurige Abende." Das komplizierte Verhältnis zu ihrer 60-jährigen Mutter und ihrer Schwester ist der Grund, weshalb Alexandra nicht nach Hause fahren will. "Ich weiß ganz genau, was mich erwartet, und ich weiß auch, dass es unmöglich ist, mit meiner Mutter einen Kompromiss für unsere unterschiedlichen Vorstellungen von Weihnachten zu finden." Wenn sie und ihre Schwester zu ihrer Mutter in die Kleinstadt in Schleswig-Holstein fahren, sei die Stimmung nur schwer auszuhalten, sagt sie. Alles beginne bereits damit, dass ihre inzwischen allein lebende Mutter eine "Weihnachts-Hasserin" sei: "Ein ganz normaler Tag" sei der Heilige Abend, betone die kleine, aber drahtige Frau immer, weshalb sie die Wohnung auch nicht weihnachtlich schmückt. "Trotzdem versucht sie krampfhaft, gute Laune zu erzwingen. Später jammert sie die ganze Zeit über die Vergangenheit", erzählt Alexandra. Im besten Falle sitze am 24. Dezember jeder alleine und lese. Würde sie mit ihrem Vater und dessen neuer Frau feiern, würde sich ihre Mutter zurückgesetzt fühlen, ist sich Alexandra sicher. Lieber in den Urlaub als zur Familie Für andere Studenten wie Christopher ist der Flug in seine Heimatstadt Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah schlicht zu weit und zu teuer. Doch auch er hat sich, seitdem er von zu Hause ausgezogen ist, von seinen Eltern "getrennt", wie er es nennt. Vater und Mutter gehören den Mormonen an, einer extrem konservativen Religionsgemeinschaft, zu der sich in Utah 60 Prozent der insgesamt etwa 2,2 Millionen Einwohner zählen. Christoper und seine sechs Geschwister mussten schon früh die strengen Regeln der Eltern befolgen: Schon als seine Schwester Ohrringe gewollt habe, habe es riesigen Ärger gegeben, erinnert sich der junge Amerikaner. Und als er seinem bibeltreuen Vater, der jede Form der Wissenschaft ablehnt, eröffnete, dass er Physik studieren wolle, sei es zum Eklat gekommen. Inzwischen lebt der 26-Jährige in Berlin und promoviert. Über die Weihnachtsfeiertage fährt Christopher nun nach Irland. Dort wolle er dann zwei Wochen Urlaub machen, erzählt er. Trauer oder Sehnsucht nach seiner Familie komme bei ihm kaum auf. "Klar merke ich manchmal, dass mir etwas fehlt", sagt er, "aber dann muss ich nur an die anstrengenden Feste mit meinen Eltern zurückdenken, und schon geht es mir wieder besser." Er sei jetzt frei, erklärt er, könne reisen und müsse keine Rücksicht auf seine Eltern nehmen. Selbst entscheiden zu können, wie und wo man die Weihnachtstage verbringt, ist also auch der Vorteil eines etwas distanzierteren Verhältnisses zu den Eltern. Man könnte es auch Erwachsenwerden nennen. * alle Namen geändert ZEIT Campus online, 24.12.2006 04/2006 Wer nicht nach Hause fährt, ist im Freundeskreis fast schon Außenseiter. Doch auch innerhalb der Familie wird Druck gemacht: Widersetzen wir uns den Erwartungen und wollen mit anderen Menschen die Feiertage verbringen, müssen wir uns noch lange die Vorwürfe der eingeschnappten Verwandten anhören. Champagner statt Glühwein, Austern statt Gänsebraten, Dunst statt Schnee - Inge Kutter erlebt ein melancholisches Weihnachten in Paris. Seit ein paar Tagen ist es kalt in Paris, sehr kalt. Die spanischen und griechischen Erasmus-Studenten reden über nichts anderes mehr. Sie sind diese Kälte einfach nicht gewöhnt. Für sie ist der mitteleuropäische Winter ein echtes Erlebnis. Wir deutschen Erasmus-Studenten hingegen werden immer melancholischer. Wir reden über Lichterketten, Glühwein und Lebkuchen. Und seufzen dann leise vor uns hin. Warum kann es in Paris nicht richtig Weihnachten werden? Natürlich fehlt der Schnee. Ein paar Flocken konnte man auf der Spitze des Eiffelturms ausmachen, doch keine von denen ist unten angekommen. Die Dunstglocke über der Stadt lässt ihnen keine Chance und schmelzt sie gnadenlos. Anstelle des Weiß, das so rein und herrlich im Lichte der Münchner Straßenlaternen glitzert, ist hier alles von dreckigem Grau: Der Himmel ist grau, die Häuser sind grau und die Pappeln entlang der Seine sind es auch. Graue Penner breiten ihre Decken auf den Lüftungsschächten aus, um wenigstens ein bisschen Wärme zu erhaschen. Auch die wohlhabenden Pariser frieren und schauen noch mürrischer drein als sonst. Meine Vermieterin hat ihren grauen Pelz aus dem Schrank geholt und zerrt ihren Pudelhund schneller über das Trottoir. Man sollte das bisschen Licht am Himmel ausknipsen, damit man das Grau nicht sehen muss. Doch dann würde man merken, dass es kaum Weihnachtsbeleuchtung gibt: Lediglich über der Rue de Rivoli tanzen rote Leuchtstäbe, die wohl Kerzen darstellen sollen. In die Fenster des Rathauses ist farbige Folie geklebt, aber damit ähnelt es eher einem Spukschloss. Keine funkelnden Lichterketten, keine Sterne über den Straßen. Wenigstens steht vor Notre Dame ein großer Christbaum. Doch dieser sapin trägt blaue und silberne Schleifen statt der roten, die wir zu Hause haben. Auch einen Weihnachtsmann sucht man im lasziven Paris vergebens. Den heiligen Nikolaus gibt es denn auch nur im Deutschland-nahen Elsaß. Glühwein, vin chaud, ist bei den Franzosen sowieso verpönt: Sie empfinden es als würdelos, das edle Nationalgetränk mit Zimt und Nelken zu verpantschen und auch noch zu erhitzen. Den Geruch nach Weihnachtsgewürzen, mit denen hier auch kaum gebacken wird, sucht man vergebens. Das Einzige, was ein wenig nach Lebkuchen schmeckt, ist ein klebriger Honigkuchen namens pain d'épices. Ansonsten gibt es nur pappsüße, rosa Makronen. Die Pariser schlürfen an den Feiertagen sowieso Austern zum Champagner und die Weihnachtsgans wird zu foie gras, der politisch inkorrekten Stopfleberpastete, verarbeitet. Überhaupt kein Vergleich zum knusprigen Braten nebst Blaukraut und Knödeln, wie meine Mama ihn macht! Apropos Mama, sie hat gerade angerufen: Ihr seien soeben die Elisenlebkuchen verbrannt, erzählt sie, und gestern habe der Nachbarssohn nach einer Weihnachtsfeier seinen Glühwein in den Schneehaufen vorm Haus gekotzt. Die Nachbarn hätten schon wieder das gesamte Haus dekoriert: Ganze Regimenter von Nikoläusen erklömmen jetzt die Fenster mit Strickleitern, und der überdimensionale Nikolauskopf an der Haustür lasse ein frohlockendes "Hohoho!" ertönen, sobald auch nur die Katze vorbeistreiche. Ach, ja. Bei dieser Schilderung wird es mir so richtig warm ums Herz. Plötzlich merke ich: Meine Melancholie liegt nicht daran, dass blaue Christbaumschleifen hässlicher sind als rote. Kruste oder Pastete, Blaukraut oder Austern - meine Präferenzen sind völlig irrational: Ich habe einfach Heimweh. Und dagegen hilft kein Champagner, sondern nur das Zugticket nach Hause. ZEIT Campus online, 22.12.2006 04/2006