Universität Konstanz ■ n II 4+ 44- u Universität Konstanz Fach 164 78457 Konstanz Masarykova Univerzita Filozofická fakulta Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno PD Dr. Matthias Schöning AOR, Bereich Neuere deutsche Literatur Fachbereich Literaturwissenschaft Universitatsstraße 10 D-78464 Konstanz +49 7531 88-3125 Fax +49 7531 88-3298 matthias.schoening@uni-konstanz.de www.uni-konstanz.de 08.03.2017 Gutachten zur Habilitationsschrift von Aleš Urvalek: „Hier ist niemand Arzt, sondern alle sind Leidende, Befallene." Reflexionen der Nachkriegsdeutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft Seite: 1/7 Von Beginn an begleiten Intellektuellendebatten die Entwicklung der .verspäteten Nation' zum Nationalstaat. Das hohe Aufkommen an Reflexionen darüber, was deutsch ist und welche Rolle Deutschland in Europa oder gar der Welt spielen soll, wird einerseits durch seine Lage zwischen Ost und West, aber auch zwischen Katholizismus und Protestantismus bedingt, und andererseits dadurch, früher Kuiturnation als Territorialstaat gewesen zu sein. Letzteres hat zur Folge, dass Deutschland zwar keine französische Intellektuellentradition hat, aber eine Affinität zu eigentlich intellektuellen Operationen wie der reflexiven Selbstthematisierung insbesondere in Sachen .Nation'. Nach '45 wird diese Tradition auf eine besonders verspannte Art und Weise fortgesetzt. Typisch ist nun, dass sich die Konzepte .Intellektuelle' und .Nation1 programmatisch schlecht vertragen. Während sich Intellektuelle als Agenten von Universalität und Internationalität verstehen, erscheint das .typisch Deutsche' als etwas, das geradezu überwunden werden muss. Bis zur Wiedervereinigung und vielfach auch noch danach haben die Deutschen geradezu Angst vor ihrer eigenen .Deutschheit' - weshalb der Begriff in Deutschland auch kaum Verwendung findet. Trotzdem konstituiert sich Öffentlichkeit mit schöner Regelmäßigkeit - allerdings mit nachlassender Intensität - darüber, dass diskutiert wird, wie man über Deutschland, die Deutschen und ihre Geschichte sprechen darf. Während die Theorie kommunikativen Handelns eine universalprag- Universität Konstanz Sf i [S Li IM . \ ! Seite 2/7 08.03.2017 matische Grundlegung anstrebt, kreist die Öffentlichkeit in der Praxis um spezifische deutsche und mithin höchst partikulare Fragen. (Zugespitzt könnte man behaupten, dass es zum besonderen Hintersinn der Philosophie von Habermas gehört, dem Deutschlanddiskurs ein Fundament einzuziehen, das historisch und systematisch post-national ist.) Die von Ales Urvalek vorgelegte Habilitationsschrift „Hier ist niemand Arzt, sondern alle sind Leidende, Befallene." Reflexionen der Nachkriegs-deutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft zeichnet den deutschen Deutschlanddiskurs seit 1945 nach. Dabei zeigt gleich das erste Kapitel eine dem Skizzierten ähnliche Doppelheit. Beleuchtet man einen einzelnen Text des vom Verf. klug ausgewählten Korpus, dann ordnet sich dieser mehr oder weniger problemlos in bis zum Überdruss vertraute links-rechts-Schemata ein. Hat man allerdings eine Konstellation vor Augen, dann gruppieren sich Texte und Redner nach anderen Regeln. Walser korrespondiert mit Lübbe, Grass mit Walser und Weizsäcker. Der Verf. bezieht daraus eine wichtige Begründung seiner Studie. Die Nachkriegszeit ist hinreichend historisch geworden, um ihre Diskurse jenseits ererbter Muster zu analysieren und eine andere Geschichte des Redens über Deutschland zu schreiben. Dass Urvalek den Begriff „Deutschheit" gebraucht und sogar im Titel seiner Studie führt, zeigt bereits an, dass er als auswärtiger Beobachter auf Deutschland schaut und sich von Rücksichten und Sprachregelungen frei zu halten vermag. Das zweite, dritte und vierte Kapitel zeichnen den politisch-historischen Diskurs nach und darin nicht zuletzt die Kontroversen der Historiker: Fischer-Kontroverse, Habermas-Nolte bzw. ,Historiker'-Streit, Goldhagen-Debatte. Dabei werden wichtige Kontinuitäten und Muster aufgezeigt, an denen sich vor allem ablesen lässt, wie schwierig es fällt, nationale Denktraditionen umzudirigieren. Dazu gehört z.B. die deutsche Eigenart, Einheit und Freiheit fast zweihundert Jahre lang als Gegensatz zu interpretieren. Zu einer historisch spezifischen Angewohnheit wird es nach '45, Einheit und Schuldbekenntnis als ausschließende Alternative zu begreifen. Dann wird bereits „das persönliche Bestehen auf dem geteilten Deutschland [recte: der deutschen Teilung]" für ei- Universität Konstanz r- ii ii. 1 Seite 3/7 08.03.2017 ne hinreichende Form gehalten, sich an der ,,geschichtliche[n] Schuld ab[zu]arbeite[n]. Hier wird die Teilung mit der Schuld kurzgeschlossen, und wer auf dieser Identifikation besteht, glaubt bereits dadurch die Schuld abzubüßen" (S.40). Die genannten Historikerstreite werden nicht mit Blick auf die programmatischen Positionen der Streitführer untersucht - der Verf. führt mit Recht an, dass das oft genug geschehen sein - sondern als Lackmuspapier der historischen Entwicklung einerseits und mit besonderer Aufmerksamkeit für vermittelnde Positionen andererseits. Im Historikerstreit der Achtzigerjahre ist es z.B. Immanuel Geis, der insofern als Mittler agiert, als er zwar Noltes aus der historischen Reihenfolge von Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus bloß abgeleiteten Kausalitäten klar zurückweist, das Vergleichen der gegensätzlichen totalitären Regime aber als legitimes und intellektuell produktives Vorgehen ausweist. Was den Verf. an solchen Manövern besonders interessiert, ist, dass dadurch die Voraussetzungen, durch die auch die Sieger einer Debatte geprägt werden, besser zum Vorschein kommen. Zu den unausgesprochenen Voraussetzungen der linken Kritiker von Nolte gehört z.B. kritisches Verhältnis zum Kapitalismus. Die Intention, den Kommunismus, den man gar nicht aktiv befürworten muss, in seinen Alternativcharakter gegenüber dem Kapitalismus nicht stärker zu beschädigt als nötig, limitiert die Bereitschaft, ihn einem Vergleich mit dem Nationalsozialismus auszusetzen. Das fünfte Kapitel leitet die zweite Hälfte der vorgelegten Studie ein. Der Verf. wechselt von der Diskursgeschichte zu den literarischen Strategien einzelner Autoren. Im Zentrum stehen Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß. Flankiert werden sie von Bodo Morshäuser {nur skizzenhaft: S. 166-169) Günter Grass und Peter Schneider (abermals nur kurz: S. 285-287). Die Autorenkonstellation ergibt sich daraus, dass alle fünf „die Macht der Wächter der political correctness zu spüren" (S. 144) bekommen haben. So unterschiedlich ihr jeweiliges Werk auch ist, sie alle geraten zwischen die Stühle oder besser noch, sie suchen offensiv nach einer Position zwischen den Fronten, weil nur dort - wenn überhaupt - intellektuelle Freiheit möglich ist. Universität Konstanz — ■ Al Seite 4/7 08.03.2017 Bevor das erste Autorenkapitel in Angriff genommen wird, folgen dem Aufriss des Folgenden noch ein Überblick zum Generationenbegriff, eine Skizze zur Perspektivierung der Fünfzigerjahre als janusköpfiger Epoche aus Restauration und Modernisierung sowie eine Reverenz an Joachim Ritter und dessen „an Hegel herausgearbeite[r] Figur der positiven Entzweiung" (S. 174). Wie der Rückgriff auf Joachim Ritter und stellenweise auch auf Odo Marquardt andeutet, ist der gemeinsame Nenner eine Figur des ,Sowohl-als-auch'. Der inklusi-ven Janusköpfigkeit der Bundesrepublik, die es mit der Vergangenheit nicht so genau nimmt und manches beschönigt, sich aber gleichzeitig rasant modernisiert, entsprechen kulturell letztlich nur solche Haltungen, die Vorstoß und Vorbehalt, Modernisierung und Rücksicht einschließen - wie spannungsreich auch immer. Als einfaches Beispiel zieht der Verf. zunächst Günter Grass heran (S. 179-199), als dessen Vermittlungsmodus letztlich der Kompromiss bestimmt wird. Martin Walser, dem ein eigenes Kapitel gilt, das sechste, wird als .Dichter' des Gewissens porträtiert. Der von mir uneigentlich gebrauchte Begriff des Dichters ist insofern angemessen als Martin Walser „das Gewissensgespräch, also das literarisierte Bekenntnis [...] analog zum Schreibprozess [...] [von], Poesie" versteht. „Wer sich bekennt, gibt sich genauso preis, wie derjenige, der im Walserschen Sinne dichtet" (S. 211). In beiden Fällen stößt man an die Grenzen des Sagbaren, da es für echte und nicht bloß inszenierte Authentizität eine intersubjektiv geteilte Sprache und damit Sprache überhaupt grundsätzlich nicht geben kann. Auf diese Weise schreibt Walser sein Ringen mit den nationalen Diskursregeln in eine romantische Poetik-Tradition ein. Dieser letzte Punkt ist keine direkte Schlussfolgerung des Verf., doch es wird auf überzeugende Weise deutlich, wie Martin Walser in vielen seiner Werke, von frühen Dramen über die Essayistik bis zum Roman, ein mehrdeutiges Ringen mit den Möglichkeiten und Grenzen authentischen Sprechens inszeniert. Hans Magnus Enzensberger hat mit Authentizität nichts am Hut. Doch auch seine notorische Ironie ist ein Modus der Vermittlung zwischen den Gegensätzen. Zunächst fällt auf, dass Enzensberger „'die sterile Aufgeregtheit der Universität Konstanz Seite 5/7 08.03.2017 bundesrepublikanischen Debatte um die deutsche Vergangenheit [...] kalt'" lässt, wie der Verf. Jörg Lau zustimmend zitiert (I.e. S. 234). Wenn es um Deutschland allein geht, zeigt Enzensberger sich ostentativ uninteressiert. Seine Strategie ist vielmehr, „ins deutsche Kulturleben .einzuschmuggeln', was Deutschland versäumt hat" (S. 236). Anders als bei Grass und Walser ist der Reibungspol nicht Auschwitz. Enzensberger umkreist vielmehr .Achtundsechzig' und nutzt es geradezu, um eine Juxtaposition zu entwickeln, die es ihm ermöglich in nahezu beliebigen Diskussionen spielerisch die Gegenseite zu besetzen. Interessanterweise lässt sich Enzensbergers Ironie, obwohl in sich doppelwendig, als lediglich eine Seite seiner Polyvalenzstrategie verstehen, denn „Enzensberger ist einerseits wohl biegsamer, flexibler, andererseits in den ,zum Totalitären tendierenden Phasen' dann doch, wenn auch vorläufig, ideologieanfälliger" (S. 251). Weil aber die Nähe zum linken Radikalismus keine vergleichbare Schuldbelastung nach sie zieht wie etwa die Anfälligkeit für den Nationalsozialismus, kann Enzensberger seine Vergangenheit aber eher umkreisen und spielerisch bearbeiten, ohne den Fixierungen eines Grass zu verfallen. Eine dritte Position kommt mit Botho Strauß ins Spiel. Strauß teilt mit Enzensberger den Ausgangspunkt .Achtundsechzig', ist aber 15 Jahre jünger als dieser. Während die Prägung durch Krieg und Trümmerjahre beim Geburtsjahr-gang 1944 nur mehr subkutan erfolgt, sind die Sechzigerjahre kein Spielfeld, sondern eine Zeit der Reife. Um intellektuell tatsächlich selbständig zu werden, muss Botho Strauß sich erst von der Kritischen Theorie befreien, in deren Aura er wie so viele andere herangewachsen war. Mehr als das Verhältnis zu Weltkrieg und Holocaust ist es deren Folge, mit der Strauß sich herumschlägt, nämlich dem linksliberalen Konsens mit seinen Sprachregelungen. Weil aus dem Konsens längst ein Mainstream geworden ist, der das Dichten und Denken behindert, reicht Strauß die Kündigung ein und zieht sich postwendend den Vorwurf zu, von links nach rechts gewechselt zu haben. Dem hält der Verf. entgegen, dass es sich genau besehen um eine linke Augentäuschung handelt. Unfähig, die eigenen Voraussetzungen zu problematisieren, erscheint auf der Linken jede Abweichung als Lagerwechsel. Tatsächlich, so der Urvalek, müsse Universität Konstanz TW, Seite 6/7 08.03.2017 das Werk von Strauß als ein Versuch bezeichnet werden, „den Bann der Nachkriegszeit zu brechen" (S. 305). Strauß wechsele nicht die Seiten, sondern zwischen die Stühle. In Die Fehler des Kopisten erklärt Botho Strauß seine Strategie explizit: „Das Wort Nation z.B. muß man dem, der seine chauvinistischen Rülpsel über dem Bierglas von sich gibt, mit Nachdruck vermiesen, während man es anderen, die sich zur aufgeklärten Elite ihres Volkes zählen, gar nicht antiaufklärerisch genug entgegenhalten kann" (I.e. S. 316). Allerdings bleibt Strauß nicht bei solcher Anti-Performanz in politischen Fragen stehen. Um das Feld zwischen den Stühlen langsam auszudehnen, werden nach politischästhetischen Symbiosen auch zunehmend Brücken zur Naturwissenschaft geschlagen. Alle die Beschränkungen, in denen sich die links-liberale Intelligenz eingerichtet hat - und dazu gehört nicht zuletzt die Privilegierung alles Sozialen resp. Sozialwissenschaftlichen gegenüber der Natur der Naturwissenschaften -soll aufgebrochen werden. Nach dem Mauerfall sucht Botho Strauß neben der Antike genau hier nach Konzepten zur Darstellung der innerdeutschen Wiederannäherung. Und auch sein Plädoyer für George Steiners Poetik der realen Gegenwart koinzidiert mit dem historischen Ereignis, der „'Lektion, die das Unerwartete als geschichtliche .Ankunft' dem skeptisch verschlafenen Dahinwursteln erteilt hať" (I.e. S. 334). Am Schluss des großen Bogens durch die noch immer viel zu wenig untersuchte Landschaft der Mittler und Mittleren steht ein kurzes Resümee, an dessen Anfang die Begründung steht, wieso es legitim sei, „die Deutschheit aus dem deutschen Selbstgespräch herauszunehmen" (S. 337), nämlich weil die Geschichte Deutschlands zur Geschichte Europas wurde. Das ist vielleicht etwas zu stark gesagt und gilt nicht für jedes europäische Land gleichermaßen. Gleichwohl darf man eine Germanistik, die nach wie vor ein instruiertes Medium deutscher Selbstbespiegelung ist, gelegentlich daran erinnern. Wichtig ist die Studie von Aleš Urvalek aber nicht deswegen, weil sie von außen auf Deutschland blickt, sondern ein Feld auslotet, das von den ausgetretenen Pfaden des Nachkriegsmainstreams umgangen wird. Was Botho Strauß anstrebt, ist auch germanistisch nicht falsch, nämlich die Nachkriegszeit zu Ende zu brin- Universität Konstanz Seite III 08.03.2017 gen und die Denkmuster aufzulösen, die uns heute lediglich noch gefangen halten. Urvalek leistet dazu einen wichtigen Beitrag, indem er ein Feld erschließt und seinen Verästelungen nachgeht. Weil Kontroversen jede Neuerung begleiten, wäre es falsch, alle Urteile als letztgültig zu betrachten. Revisionen wird es hier und da geben, auch wenn der Verf. die Leser nicht zuletzt durch sein sicheres Urteil für sich zu gewinnen vermag. Der Verf. argumentiert nicht nur dezi-diert, sondern auch überzeugend. Daher liest man seine Studie jederzeit mit Gewinn, egal ob man seine Vorannahmen in jeder Hinsicht teilt oder einzelnem kritisch gegenüber steht. Verantwortlich ist dafür auch die enorme Materialmenge, die verarbeitet wurde. Der Überblick über die intellektuelle Szene von Historikern, Philosophen und Schriftstellern ist mehr als beachtlich. Auch sprachlich ist die Arbeit sehr gelungen. Einige Verstöße gegen die Idiomatik werden von Formulierungen mit eigenartiger Schönheit aufgewogen. Als einziges Monitum könnte man die Architektur der Studie kritisieren. Der Einstieg ist nicht besonders leserfreundlich. Man wird direkt in die Materie geworfen. Eine Explikation von Gesamtidee und rotem Faden würde nicht nur den Einstieg erleichtern, sondern auch die Rekursivität einiger Verknüpfungspassagen mindern helfen. Das ändert freilich nichts am Gewinn, mit dem man die Studie liest. Das Gesamturteil ist daher klar: Die von Ales Urvalek vorgelegte Habilitationsschrift „Hier ist niemand Arzt, sondern alle sind Leidende, Befallene." Reflexionen der Nachkriegs-deutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft erfüllt die an eine Habilitationsschrift im Bereich der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft gestellten Anforderungen: The habilitation thesis meets the Standard requirements placed on habilitation theses in the field of modern german stu- fx. £^ Matthias Schöning