Henning Lobin ist Professor fUr Angewandtc Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an cler Universitar GieGen. Seir 2007 leiter er don das interdisziplinare Zentrum fur Medien und Intcraktivitat (ZMI), in dem die Auswirkungen von neuen Kommunikationsformen auf Wissenschaft, Bildung und Kultur unrersucht werden. http://www.lobin.de Henning Lobin Engelba rts Traum Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt Campus Verlag Fra nkfu rtlNew York IJFSC --~ MIX Papl" .us verentwortung.vollen QU911en FSC"' C089473 Bibliografische Information def Dcutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche NatjonalbibliOlhek ver7eichnet diese Publikation in def Deutschen Nationalbibliogr,lfie. Detaillierte bibJi()grafi~che Daten sind im Intcrncr (iber http;lldnb.d-nb,deabrufbar. ISBl\ 978-j-5'J3-501R5-3 Das Werk eimchlieLUich aller seiner Teilt is! urheberrcchrlich geschiita. Jede Verwenung ist ohne Zustimmung des Verlags llllzulassig. Das gilt insbe~ondere fur VervielB-ilrigungcn, Obcrs('(zungcn, Mikrovcrfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systcmen. Copyright © 2014 Campus Verlag GmbH, Frankfurr am Main Umschlaggcqalrung: Guido Kliilsch, Ketn Um~chlagmotiv: Douglas C. Engelban in seiner Icgendaren Demonstration cIes Online-Systems am 7. De7.ember 1968 im Convention Center, San ~rancisco. Screenshot aus: htrp:llwch.stanf(lfd. eduldept/SULIlibrarylcxtra4/doan/mousesirei 1968Demo.html, siehe auch: hUp:!/""'¥i\.li.dougengei bart.0 rgllibrary/permissiom.htinI Satz: Campus Verlag, hankfun am \1ain Druck unci Bindung: Beltz Bad Langcnsalza Printed in Cermany Dicses Buch i,t auch als E Book erschienen. www.carnpus.de Fur Antje Inhalt Vorwort ............................................. 11 Ein Traum wird wahr ..... .. . .. .. .. ... .. . .. .. .. ..... 13 2 Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben ..... .. .. .. . 21 2.1 Kulturtechniken .................................. 22 2.2 Das Zcichensystem Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3 Der Trager der Schrift .............................. 28 2.4 Schrifr in unseren Kopfen ........................... 32 2.5 Wet liest und schreibt, und wie geschieht Jies? 38 3 Schriftkultur ...................................... 43 3.1 Kulrur als Zeichensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Kulturelle Kommuoikation .......................... 50 3.3 Manuskriptkultur, Buchkllirur, Schriftkulrur . . . . . . . . . . . . . 55 3.4 Inlrasrrukruren ................................... 59 3.5 Institutionen ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 64 3.6 Auffassllngen, Kamepre, Werte, Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . 70 8 ENGELBARTS TRAUM 4 Digitalisierung und die Triebkrafte digitaler Kultur 77 4.1 Ocr digitale Code ................................. 79 4.2 Tricbkrafte der Turing-Galaxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84 4.3 Digitale Texte ..................................... 86 4.4 Digitale Kommunikation ........................... 92 4.5 Digitale Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5 Neue Tech nologien des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 98 5.1 Digitales Lesen 5.2 Hybridcs Lesen . .. . .. .. .. ..... .... .. .. . .. .. .. .. .... 99 5.3 Mulrimediales Lesen 5.4 Soziales Lesen ................................... . 104 113 lIS 6 Neue Technologien des Schreibens ... .... .. . .... .. .. 123 6.1 Digitales Schreiben 6.2 Hybrides Schreiben 125 131 6.3 Multimediales Schreiben .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 141 6.4 Soziales Schreiben ................................. 146 7 Was vergeht? Was entsteht? ....................... 154 7.1 Lesen .. .. .. .. .. . .. .. ... .. .. . .. .. .. .. . .. .... ... .. 156 7.2 Schreiben ....................................... 161 7.3 Forschen ........................................ 166 7.4 Lemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 173 7.5 Inlormiercn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177 INHALT 9 8 Die Evolution der Kultur . .. ..... .... . .. ..... ..... ... 185 8.1 Memetik ........................................ 187 S.2 Replikation dllrch Sprache und Schrift ................. 194 8.3 Memetik der Schrilikultut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200 8.4 Digitale Meme ................................... 207 S.5 Der digitale Code als DNA dcr Kliitur 212 9 Digitalkultur ...................................... 219 9.1 Von det Schriftkultur zur Digitalkllltlir . . . . . . . . . . . . . . . .. 221 9.2 Verlag und Bllchhandel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 225 9.3 Schule und Universitat 9.4 Bibliothek und Forschungsinstitution ................. . 231 236 9.5 Presse und Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 10 Alte und neue Traume.. ..... .. .... ... ... .... .. ..... 248 Anmerkungen ....................................... 256 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268 Vorwort »Experte: >Google-Generation< hat Schwierigkeiteo« - so war es am 11. Mai 2010 in def Bild-Zeitung zu lescn. Junge Menschen wiirden elementare Kulturtechniken verlernen und nicht mehr in def Lage sein, Bucher und Bibliotheken angemessen zu nutzen. Es kommt niche oft vor, class ein Fachvortrag das Interesse einer Boulevard-Zeitung erregr. Unci erst recht erwartet man das nicht, wenn es urn Oberlegungen zur Zukunft des Lesens und Schreibens geht, die auf clem Hessischen Bibliothekstag geauBert wurden. Das aUes uberraschte mich deshalb sehr, denn def besagte )ExperteH war ich selbst. Der Leiter det Universiditsbibliothek in Gid~en, Dr. Peter Reuter, def in jenem Jahr die Tagung def hessischen Bibliorhekare organisierte, hatte mich zu einem Vortrag eingeladen mit del' Bitte, etwas uber den digitalen Wandel unter Berucksichtigung der Rolle von Bibliorheken zu sagen. Oa ich mich im Zentrum fUr Medien und lnteraktivitat (ZMI) an der Universitat Giegen seit einiger Zeit mit den Veranderungen dieser Kulturtechniken befasst hatte, sagte ich zu. Mir waren zudem noch Eindrucke frisch in Erinnerung, die ich auf einer Reise nach New York in der grandiosen New York Public Library gewonnen harte. (Diese werden am Anfang von Kapitel 3 gcschildert.) Der BildArrikel, in dem meine Aussagen etwas uberakzentuiert wurden, sowie weitere Berichte in der uberregionalen Prcsse und nicht zuletzt zahlreiche fragen, die nach dem Vorrrag gestellt wurden, machten mir bewusst, wie sehr das 'lhema Lesen und Schreiben unter digitalen Vorzeichen viele Menschen beschafi:igt. Diese Erfahrung war der Ausgangspunkt fur das vorliegende Buch. Wahrend der Arbeit daran konnte ich von einigen grofSeren Forschungsvorhaben profitieren, die in den vergangenen Jahren am ZMI durchgefUhrt worden sind. Dies war zum einen der Projektverbund »Kulturtechniken und ihre Medialisierung«, der vom Hessischen Wissenschafrsministerium im Rahmen des sogenannten LOEwE-Programrns geforderr wurde, zurn anderen die Forschungsgruppe )>Interactive Science - Interne Wissenschafrskommunikation uber digitale Medien«, gefordert yon der Volkswagen-Stifi:ung, und 12 ENGELBARTS TRAUM schlieBlich das noch laufende Projekt »GeoBib«, das yom Bundesministerium flir Bildung und Forschung im Rahmen der »E-Humanities«-Initiative finanziert wird. Auch wenn diese Forschungsvorhaben nieht aufdirektem Wege in das vorliegende Buch eingeflossen sind, so haben sie doeh entseheidend dazu beigetragen, dass in der Zusammenarbeit einer Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschafdern am ZMI eine ganz besonders inspirierende Atmosphare entstehen konnte. Daflir bin ich den verschiedenen Drittmittelgebern und naturlich diesen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar. Zu groBem Dank bin ich auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenuber verpflichtet, mit denen ich viele der in diesem Buch behandelten Entwicklungen diskutieren konnte. Auch die verschiedenen Vortragseinladungen, bei denen ich in den letzten Jahren zu diesem Themenkomplex spreehen durfte, haben aufgrund der sieh daran ansehlieBenden Diskussionen immer zur weiteren Scharfung des Gedankengangs beigetragen. Besonders danke ieh in diesem Zusammenhang Sabine Homilius fUr die Einladung in die Vonragsreihe der Polyteehnisehen Gesellschaft Frankfurt, Michael Schindhelm fiir eLnen gemeinsamen Aufenthalt am Strelka-Institut in Moskau und Hans-Georg Knopp fUr die Gelegenheit, das Thema mehrfach beim Goethe-Institut in Munchen mit »Kulturpraktikern« diskutieren zu konnen. Alexander Mehler danke ieh fur die Demonstration des noch in def Enrwicklung befindlichen WikiNect-Sysfems, das Zll Beginn von Kapitel 6 dargestellt wird. Meinen Kolleginnen und Kollegen an Universitaten in Brasilia, Sofia, Warschau, Posen, Shanghai und Zhengzhou sowie beim Germanistentag in Kiel danke ich fiir besondere Impulse, die dort aufTagungen in den lenten beiden Jahren hervorgegangen sind. Fur eine exzellente Betreuung dieses Buehprojekts danke ich Judith WilkePrimavesi vom Campus Verlag, die auch wichtige Anregungen und Hinweise Zll Auibau und Inhalt beigetragen hat. Sabine Heymann gebuhrt als langjahriger Mitarbeiterin, Beraterin und Freundin ein ganz besonderer Dank. Sie hat das Vorhaben in jeder denkbaren Weise unterstutzt, das Manuskript vollstandig durchgesehen und sehr wertvolle Kommentare dazu gegeben. Meine erste Leserin jedoeh, meine unermudliche Gespraehspartnerin und kluge Ratgeberin war und ist meine ge!iebte Frau, Antje Lobin, die mit ihrer Begeisterung fur das Thema und durch ihre sehr konkrete und zugleich ganzheidiche Unterstiitzung, selbst in Zeiten der FertigsteUung ihrer eigenen Habilitationsschrift, vie! mehr zurn Gelingen dieses Buchs beigetragen hat, als sie wohl selbst zugestehen wiirde. Ihr sei es deshalb von ganzem Herzen gewidmet. Frankfurt am Main, im fuli 2014 1 Ein Traum wird wahr Auf der gemeinsamen Herbsttagung der amerikanischen Informatiker im Jahr 1968, der Fall joint Computer Conference in San Francisco, ist fLir den Nachmittag des ersten Tages, den 9. Dezember, etwas Besonderes vorgesehen. Dr. Douglas C. Engelhart vom Stanford Research Center in Menlo Pafk, knapp SO Kilometer vom Tagungsort entfernt, soil anderthalb Stunden uber sein »Forschungszentrum zur Erweiterung des menschlichen Geistes« reden.] Auch wenn dieser Tirel perfekt zur damals in Kalifornien gerade entstehenden Hippie-Kuhur zu passen seheint, erwartet die etwa 2.000 Zuschauer in der vefdunkelten Brooks Hall, einem def grolltcn Sale des die 'Jagung behefbergenden Convention Center, eine High-Tech-Show, wie man sic noch nicht gesehen hat. An der Stirnseite des Saals findet sich eine sechscinhalb Meter breite Videoprojektion und statt eines Rednerpults rechts aufder Buhne ein Smh!, vor den eine Art Kontro11pult geschwenkt werden kann, ausgestattet mit einigen merkwurdigen Geraten: Die Schreibmaschinentastatur kennen die an der Tagung teiInehmenden Computerwissenschaftler von ihren eigenen Reehnern. Die Gerate rechts und links dane ben sind ihnen dagegen fremd. Das Teil auf der linken Seite besteht aus funf Tasten und nennt sich »Akkord-Tastatur« (Chord Keyset). Die Tasten sind sowohl einzeln mit Zeichen belegt als aueh untereinander verkniipft, so dass sich cine Vielzahl von Eingabemoglichkeiten ergibt - wie Akkorde auf dem Klavier. Auf der rechten Seite befindet sich ein kleines Kastchen mit drei Tasten, das hin- und hergeschoben werden kann. »lch weiB nieht, warum wir es )Maus( nennen. Es fing einfach so an, und wir anderten es nicht mehr«, sagt Engelbart dazu etwas spater.: Beide Eingabegerate lassen sich gut miteinander kombinieren: die linke Hand aufden Tasten def Akkofd-Tastaruf, die fechte aufdef Maus, det Blick aufden Fernsehmonitor davor gerichtet. In der hundert Minuten dauernden Demonstration ist der Leiter des 17-kopfigen Forschungsteams immer wieder in dieser Haltung zu sehen, in weiGem Hemd mit dunkler Krawatte und 14 ENGElBARTS TRAUM mit einem ersraunlich modern wirkenden Headset auf clem Kopf. Hin und wieder blickt er nach eechts oben, urn die korrekre Funktion def Videoprojektion zu i.i.berpriifen. Ganz ahnliche BUder aus dem Kontrollzentrum def ersten Mondlandung, def Mission Control, sollten our wenige Monate sparer auf def ganzen Welt zu seherr sein. Engelbart hatte nach seiner Zeit als Marinetechniker im Zweiten Weltkrieg die Idee verfolgt, eineo Radarbildschirm mit eioem Computer zu verbinden, urn darauf Schriftzeichen und Liniengrafiken anzeigen und den Computer interaktiv, ohoe das Jangwierige Einlesen von Lochkarren, nutzen zu k6nnen. 1968 gab es zwar schon Computer, die den interaktiven Betrieb mehrerer Benurzer ermoglichten, allerdings erfolgte die Ausgabe des Computers dabei ausschlieRlich uber Drucker. Engelbart und sein Team )ldruckten« die Ausgabe stattdessen auf cineo Radarbildschirm, wo sie zudem veranderlich war - Fernsehbildschirme erlaubten noch keine Textdarstellung. Leider waren Radarbildschirme ausreichender GroRe immens teuer und Aackenen sehr, da sie nach einem anderen Prinzip arbeiten als Fernsehmonitoreo Die Losung, die auch bei der Demonstration 1968 schlieRlich angewandt wurde, war die: Man verwendete cinen kleinen, billigeren Radarbildschirm und lief~ dessen Bild von einer Fernsehkamera aufnehmen. Das Bild konnte..· dann auf einen oder mehrere groRere Fernsehmonitore oder eben auf die..' GroRleinwand ubertragen werden. Dabei wurde es farblich umgedreht, so dass schwarzer Text auf weiRem Grund erschien, und auch das Flackern war verschwunden. Staunend erleben die Zuschauer an jenem Dezembernachmittag, wie ein Text auf dem Bildschirm durch Loschen, Einfugen und Verschieben von Wortern verandert wird, wie zwischen verschiedenen Darstellungsanen hinund hergeschaltet und mit der Maus ein Won angeklickt werden kann, lllll eine andere Textdatei zu offnen, die dann aufdem Bilclschirm erscheint - da~ Anklicken eines Hyperlinks. Engelbart demonstrien mit seinem wichtigstcn Mitarbeiter William K. English sogar, wie man gemeinsam cinen Text hearbeiten kann - gleichzeitig! English sitzt dabei im Labor des Teams in Menlo Park, von wo aus er nicht nur per Video- und Audioleitung live in das LfUlvention Center zugeschaltet ist, sondern auch uber eine eigens eingerichtete Funkdatenleitung. Die Demonstration zeigt somit erstmals auch die koopcrative Nutzung des Computers und eine Videokonferenz. All das war mil ungeheurem technischem Aufurand umgesetzt und solite die Ergebnisse von fast zehn Jahren Enn.vicklungsarbeit dokumentieren. Engelbarts Demon~·aration kann zugleich als die erste computerbasierte Prasentation gelten, th er EIN TRAUM WIRD WAHR 15 d.l~ vorgestel1te Textverarbeitungs- und Hypenextsystem namens »Online\y....IClll«, kurz NLS, wiederum zur Unterstutzung seiner AusfUhrungen verwender. Oberhaupt verfolgt das ganze Projekt einen evolutionaren Ansatz: N LS sclbst wird fUr die Prasentation, fur die technische Weiterentwicklung IJlld Hir das Management des Projekts eingesetzt. So demonstrieren Engelhll"t Llnd seine per Video zugeschalteten Mitarbeiter auch, wie sie mit Hilfe dl'''' Systems Texrnachrichten verschicken, verschiedene Programmversionen \'tTwalten und eine Hypertext-Dokumentation pBegen. Man hofft, das Sys(Cill dutch den Einsatz im cigenen Team und die Nutzungserfahrungen, die d.ldurch gewonnen werden, nach und nach immer besser an die Arbeitsvor!',:inge anpassen zu konnen. Nachdcm Engelbart am Ende seinen Mitarbeitern und schliefSlich seiner IT,ll! und den Tochtern gedankt hat - ihnen widmet er die Demonstration-, nhl'bt sich der Applaus. Es ist der Hohcpunkt seiner Tatigkeit als Compu(l'l"L'nn.vickler, vielleicht seines Lebens uberhaupt. Nur wenige Zeit spater lichen sich einige Geldgeber aus seinem Forschungszentrum ZUftick, eine [ll"citL're Nutzung von NLS im enrstehenden Internet wie auch die Kommerli,disierung gelingen nicht. Engelbarts Ideen aber wirken fort. Einige Mitar[lciter des zerfallenden Teams wechseln zur Firma Xerox, die sich in einem h)r~chungszenrrum in def Nahe mit Buroautomation befasst. Von Ihnen wird in Fortfuhrung des Engelbart-Projekts 1973 der erste Personal CompuIn vorgestellt, der eine grafische BenutzeroberAache besitzt, der Alto. Eines ,ler wcnigen Exemplare, die nie in den Handel gelangt waren, bekommt dort ('in junger Firmengrtinder zu sehen, dessen Vision es ist, billige und vor alkill [eicht bedienbare Computer fUr nOfmale Menschen herzustellen, Steve jllh:-.'. Er isr fasziniert von dieser ganz anderen Art, einen Computer zu bedieIll'll. 1983 bringt seine firma Apple den ersten kommefziellen Computer mit !~r,di5cher Benutzersteuerung auf den Markt, zu der auch eine Maus gehort, ,[«11 l.isa.,l Ein Jahr spater erscheint der wesenrlich gunstigere Macintosh und 11Lu.:hr Jobs zum Milliardar. o I, Ilgclbarts Demonstration des Online-Systems war auch ein Hohepunkt in ,ler !loch kurzen Geschichte des Computers, die zu jener Zeit kaum 25 Jah- 1(' lurtickreichte. Als erster harte er erkannt, dass cler Computer vieI mehr \\'i 11 kann als ein Automat, der lediglich Berechnungen schnell durchfUhren k,lllll. Engelbarts Ziel war es, den Computer als ein Werkzeug des Men- 16 ENGELBARTS TRAUM scherr neu zu erfinden. Computer solIten immer verftigbar sein und den Menschen bei seiner geistigen Arbeit umersriirzen. Zuvor war kaum jemand aufdie Idee gekommen, diese monsrrosen Maschinen in einer solchen Weise zu verwenden. Daten und Programme wurden noch in Lochkarten gestanzr und von Berriebspersonal eingelesen, erst Stunden sparer konnte man die Ergebnisse clef Berechnungen aIs Papierausdruck abholen. Engelbart erfand den »Benurzef«, def kontinuierlich mit dem Computer verbunden ist und, anstatt von diesem Differentialgleichungen ausrechnen zu lassen, per Mausklick Woner in einer Einkaufsliste umsortiert, wie er es in seiner Demonstration zeigre. Fur viele war das damals eine groteske, vollig sinnlose N urzung dieser reuren Wunderwerke der Technik. Engelbart aber wollte dem Menschen ein Gerar an die Hand geben, das ihm nichts weniger als die »Erweiterung« seines Geistes ermoglichte. In Engelbarts System laufen erstmals drei getrennte Enrwicklungslinien der Computertechnologie zusammen. Das ist zum einen die von Anfang an zemrale Eigenschaft von Computern, Berechnungen automatisch durchftihren zu konnen, Zahlen und Schriftzeichen programmgesteuert zu manipulieren. 1m Online-System gibt es verschiedene Moglichkeiten, mit denen sich ein Benutzer einzelne Arbeitsschritte beim Verfassen von Texten durch den Computer abnehmen lassen kann, zum Beispiel die Nummerierung einer verschachtelten Liste. Zweitens konnen im Computer aUe unterschiedlichen Arten von Daten integriert werden. Engelbart kombiniert die Einkaufslisre mit einer stilisierten Karte der Orte, an denen die Erledigungen zu machen sind. Grundlage dafiir bildet die Digitalisierung, die Kodierung von Informationen durch nur zwei Zustande, die Null und die Eins, der sogenannte Binarcode. Oer Binarcode wird dafUr verwendet, aile Datentypen in eine einheitliche Form zu bringen und ohne Riicksicht auf ihre Bedeutung durch Programme handhabbar zu machen, gleichgultig, ob es sich urn Zahlen, Texte, Tabellen, Bilder, Grafiken, Karren, Tone oder Filme handelt. Und drittens ist das Online-System vernetzt - vernetzt mit anderen Computern und Werkzeug in einer vernetzt arbeitenden Gruppe von Menschen. In Engelbarts Demonstration gab es auBerdem eine aufwandig eingerichtete, mit eigens dafiir entwickelter Software betriebene Telefon-Funkver- bindung.4 Wahrend er in San Francisco die Vorstellung des Online-Systems vorbereitete, wurden an anderer Stelle bereits die technischen Voraussetzungen fur das Internet entwickelt. Engelbart erwahnt am Ende seiner Demonstration die Moglichkeiten, die sich damit »schon irn nachsten Jahr« ergeben EIN TRAUM WIRD WAHR 17 wiirden. Und tatsachlich sollte das Internet im Herbst 1969 als Netzwerk von zunachst vier Rechnern seinen Betrieb aufnehrnen.S Der 9. Dezember 1968 Hisst zurn ersten Mal erahnen, wie dutch die Verbindung von Auromatisierung, Datenintegration und Vernetzung erwas Neues entsteht - nicht nur eine technologische Innovation, sondem eine neue kulturelle Dimension des Lesens und Schreibens, des Umgangs mit geschriebener Sprache und schriftlicher Information. Hybrid, multimedial und sozial - mit diesen Begriffen lasst sich charakterisieren, wie Lesen und Schreiben durch Engelbarts Erfindungen geworden sind. Nicht nur der Mensch ist es, der liest und schreibt, es liesr und schreibt auch der Computer. Nicht nur Schrift ist es, woraus digitale Texte bestehen, sondern auch aus Grafiken, Bildem, Videos und anderem. Und man liest und schreibt nicht mehr nur selbst, sondern gemeinsam mit anderen. Das digitale Lesen und Schreiben ist hybrid, multimedial und sozial, und damit unterscheidet es sich grundlegend vom Lesen und Schreiben, wie es bis dahin in der Schriftkultur gewesen ist. o Die Kulturtechniken der Schrift pragen seit Jahrtausenden die menschliche Kultur. Wahrenddessen sind sie immer wieder an die gesellschaftlichen und rechnischen Bedingungen angepasst worden. Die Erfindung des Buchdrucks irn 15. Jahrhundert etwa fiihrte zu bedeurenden Veranderungen des Lesens und Schreibens, was einen Wandel des ganzen kulturellen Gefiiges der folgenden Jahrhunderte zur Foige harte. Biicher konnten von da an leicht in groBcr Sriickzahl hergestellt werden und wurden so fur jedermann erschwinglich. Immer mehr Menschen konnren anhand von Biichern in der Schule lesen und schreiben lernen und sich weitergehende Bildung aneignen. Durch den Buchdruck begann die Wissenschaft zu Aorieren und durch Zeitungen eine komrnunikative Offenrlichkeit zu entstehen, aus der wiederum gesellschafrliche und politische Veranderungen hervorgingen. Eines blieb aber uber all die Jahrhunderte unverandert: Der Text, def zuerst per Hand geschrieben, sparer mit technischer Hilfe gesetzt und gedruckt WUfde, bedurfte nur des menschlichen Auges, urn gelesen zu werden, Er war in unmittelbar lesbaren Schriftzeichen verfasst. Das Lesen selbst musste zwar gelemt werden, blieb aber immer ein »natiirlicher«, durch technische Entwicklungen kaum beeinAusster Vorgang. 18 ENGELBARTS TRAUM Mit def Digitalisierung hat sich dies geandert: Die Texte sind nicht roehr in sichtbaren Schrihzeichen verfasst, sondern im Binarcode. Urn in diesem Code Texre lesen oder schreiben zu konnen, brauchen wit den Computer als Lese- und Schreibgeriit sowie spezielle Programme, die dies ermoglichen. Das Textverarbeitungssysrem Word von Microsoft ist so ein Programm: Es iibersetzr Folgen von Nullen und Einsen in Buchstabeo, nutz( darober hinaus weitere digitale Angaben, urn die Buchstaben in bestimmter GroBe, Farbe und Art darzusrellen und sie aufdef BildschirmRiiche zu positionieren. Erst wenn das geschehen ist - und es werden dazu sehr umfangreiche Berechnungen durchgefiihrt -, konnen wit den Text aufclem Computerbildschirm lesen. Gleiches gilt fiir den Web-Browser aufdem Tablet oder die News-App auf dem Smartphone. Wurden von einem Tag auf den anderen alIe Computer, also aIle Server, Laptops, Tablets, Smartphones und E-Book-Reader ausfallen, wurde nicht nur unsere gesamte offenrliche Infrastruktur zusammenbrechen, wir konnren auch groBe Teile des Menschheitswissens nicht mchr nutzen, denn es ware uns ohoe die computerisierte Obersetzuog aus dem Binarcode nicht mehr zuganglich. Wenn die Schriftkultur dadurch gekennzeichnet ist, dass Wisscn und Erfahrung der Menschheit durch Schrifr auf Papier und anderen Schrifttragern ohne technische Hilfe unmittelbar zuganglich ist, dann fiihrt die Digitalisierung zum Ende der Schriftkultur, wie wir sie bislang kannren. In der nun beginnenden Digitalkultur leben wir Menschen in Symbiose mit den Maschinen, sind auf Gedeih und Verderb Vall ihnen abhangig und dadurch zum Spielball der technischen Evolution geworden. Die Speicherung von Texten im Binarcode macht den Umgang mit ihnell zwar aufwandiger und risikoreicher, man gewinnt dabei aber auch sehr viel. Der erste Mensch, der dies erkannre, war die Mathematikerin Grace Hopper - sie brachte es spater fertig, in der US-Marine als Wissenschaftlerin bis zum Flottillenadmiral aufzusteigen. Schon in den 1940er Jahren war sie ais junge Frau an der EnrwickJung der ersten Computer beteiligt gewesen.(' Die Programme, die diese fruhen Computer steuerten, wurden von Spezialisten wie ihr per Hand in binare Steuerungsbefehle ubertragen - eine esoterische Tatigkeit, die detaillierte technische Kennrnisse der jeweiligen Computersysteme voraussetzte, langwierig und fehleranfallig war. Anfang der 1950er Jahre harre Grace Hopper die Idee, diese Obersetzungsarbeit durch den Computer selbst erledigen zu lassen. Der Mensch sollte Programme in fur ihn verstandlicher Sprache schreiben und sich nichr mit den technischen Anforderungen des Computers auseinandersetzen musEIN TRAUM WIRD WAHR 19 sen. So entwickeltc sie 1952, 16 Jahre vor Douglas Engelbarts Demonstration des Online-Systems, das erste Programm zur auromatischen Obersetzung von Programmen, den »A-O«(-Compiler.- Mit diesem Programm rechnete ein Computer zum ersten Mal nicht mit Zahlen, sondern mit Texten. Zwar waren diese Texte nicht in naturlicher Sprache verfasst, sondern in einer formalisierten Programmiersprache, doch nie zuvor hatte jemand anderes aIs ein Mensch cinen Text gelesen und ubersetzt. Nur kurz danach begannen Wisscnschafrler in den USA und der Sowjerunion, sich im Zeichen des Kalren Krieges auch mit der Oberserzung von Texten in englischer und russischer Sprache in die jeweils andere Sprache zu beschaftigen. Legendar wurde das sogenannre Georgtown-IBM-Experiment Anfang 1954, die erste offenrliche Demonstration eines Systems zur maschinellen Obersetzung. Trotz des groBen Aufsehens, das damit in der Offenrlichkeit und beim amerikanischen Militar erregt wurde, besaB das vorgestellte System nur ein Vokabular von wenigen Hundert Wortern und konnte lediglich einige sorgfaltig ausgewahlte Satze cler russischen Sprache ins Englische tibersetzen.~ Fur die Automatisierung des Lesens und Schreibens war damit aber ein Anfang gemacht, und vieles andere folgte. Seitdem is( der Mensch nicht mehr der einzige, der liest und schreibt, auch der Computer beherrscht es, auf seine Weise. Seitdem haben wir unser MonopoI uber die Schrift verloren. o Mit den Verandcrungen des Lesens und Schreibens durch die Digitalisierung werden weitreichende kulturelle Veranderungen einhergehen. Die Schriftkultur, die mit der Erfindung des Buchdrucks eine immense Verbreitung erfahren hatte, manifestiert sich in BibIiotheken und Archiven, durch Buchhandel, Verlags- und Pressewesen. In Gestalt von Buchern, Zeitungen und Zeitschriften werden Texte Gegenstand einer gewaltigen Infrastruktur, in der es urn Produktion, Reproduktion, Lagerung, Organisation und Distribution geht. Auch flir die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen sind Bucher und Texte auf Papier jahrhundertelang das zentrale Instrument in der Schule und an der Universitat, aIs Teil von Wissensproduktion und Forschung, bei der Nutzung von Kenntnissen und Erfahrungen in Firmen und Organisationen. Und auch die Gesellschaft sdbst IUBt auf gedruckten Texten, in der Verwaltung, in der Justiz und in det Ptesse, im Literaturbetrieb. Urn all diese kulrurellen Infrastrukturen und Institutionen ranken sich Interessen und Verbande, Ausbildungen und Studiengange, Finanzstrome 20 ENGElBARTS TRAUM und politische Programme. In einzelnen Bereichen, in denen Krisenerscheinungen schon hervorgetreten sind, werden die Herausforderungen der Digitalisierung bereits diskutiert: Was wird in Zukunft aus den Zeitungen? Vor welchen Herausforderungen werden die Bibliotheken stehen? Welche Rolle kann das Internet in der Hochschullehre spielen? In welcher Weise mussen Buchverlage ihr Geschaftsmodell verandern? Fur andere Bereiche, etwa die Schule, hat die Diskussion gerade erst begonnen. Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, und wenn sich die technischen Voraussetzungen verandern, verandert sich auch das Lesen und Schreiben selbst. WiT lesen und schreiben anders, wenn es hybrid, multimedial und sozial geschieht - was wir lesen, nehmen wir anders auf, was wir schreiben, sieht anders aus und ist anders aufgebaut. Neben den institutionellen Veranderungen nach dem Ende der Schriftkultur wird es deshalb auch Veranderungen in jedem Einzelnen von uns geben. Unsere Gehirne passen sich den Bedingungen des digitalen Lesens und Schreibens an, schrifdiche Informationen werden kognitiv anders verarbeitet und gespeichert, werden uns ganz anders pragen. Unser Denken erfahrt eine Kolonisierung durch den Computer und die digitale Schrift, so wie es fruher durch das Buch mit seiner gedruckten Schrift kolonisiert war. In den folgenden Kapiteln will ich diese Zusammenhange im Einzelnen nachzeichnen. Wir werden uns die Kulturtechniken der Schrift ansehen und was eigendich unter Schriftkultur zu verstehen ist. Wir werden die technischen Veranderungen des Lesens und Schreibens betrachten und den Wandel, der sich daraus in verschiedenen Anwendungsbereichen ergibt. Und es soli auch eine Voraussage unternommen werden, in welcher Weise sich die Veranderungen aufdie Infrastrukturen und Institutionen des Lesens und Schreibens in der Digitalkultur auswirken werden. Voraussetzung dafur ist ein evolutionarer Blick auf Kultur, mit dem viele scheinbar zufallige Entwicklungen erkIarbar werden. Denn aus der Digitalisierung der Kulturtechniken der Schrift ergeben sich nicht nur wirtschafdiche, politische und gesellschafdiche Konsequenzen, auch die traditionellen Werte der Schriftkultur werden sich verandern. Nach dem Ende der Schriftkultur werden die Menschen weiterhin Lesen und Schreiben, aber im digitalen Medium, stets in Symbiose mit dem vernetzten Computer, hybrid, multimedial und sozial. Nicht nur der Mensch, nicht nur die Schrift, nicht nur ich selbst - genau an diesen grundlegenden Tendenzen der Digitalisierung wird erkennbar, wie eine Kultur jenseits der Schriftkultur einmal aussehen wird. Engelbarts Traum ist unsere Wirklichkeit geworden und beginnt sich zu entfalten. 2 Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf und konnen nicht mehr lesen und schreiben. Sie haben es komplett verlernt und konnen auch Buchstaben nicht einzeln zu Wortern zusammensetzen, es sind fur Sie nur noch geometrische Gebilde ohne Sinn und Bedeutung. Eine schreckliche Vorstellung! Auf einen Schlag werden Sie Ihren AIltag kaum noch bewaltigen konnen. Zwar konnen Sie sich noch problemlos Ihr Fruhstuck zubereiten, doch schon der Blick aufIhr brummendes Handy, wo eine Nachricht eingegangen ist, wird Sie ratlos machen. Sie werden nicht verstehen, wer Sie kontaktiert hat und warum, und Sie werden noch nicht einmal antworten konnen, denn Sie konnen ja auch nicht schreiben. Wer auch immer Ihnen geschrieben hat, wird denken, dass Sie die Nachricht nicht erreicht hat oder Sie sich bewusst nicht zuruckmelden. In der U-Bahnstation werden Sie nicht die richtige Linie identiflzieren konnen, und wenn Sie dann doch Ihre Arbeitsstelle erreicht haben sollten, konnen Sie vermudich nicht sehr viel machen - alles hat mit Schrift, Lesen und Schreiben zu tun. Wollen Sie abends ins Kino oder ins 'lheater gehen, werden Sie die Programme nicht verstehen und online keine Karten reservieren konnen, und beim Abendessen im Restaurant konnen Sie die Speisekarte nicht entziffern. Nahezu alles, was uns umgibt, ist irgendwie an Schrift gekoppelt, und der Verlust der Fahigkeit, sie nutzen zu konnen, kommt einer sozialen Katastrophe gleich - im Beruf~ im personlichen Umfeld, fur die Teilhabe an der sozialen und medialen Welt und fur die Bewaltigung des Alltags insgesamt. Es gibt Menschen, die erleiden genau dies. Ein Schiaganfallioscht die Fahigkeit des Lesens und Schreibens aus. Meist ist dies verbunden mit halbseitigen Lahmungen und der Beeintrachtigung der Sprache, der sogenannten Aphasie.9 Durch Alexie, den Verlust der Lesefahigkeit, und Agrafle, den Verlust der Schreibfahigkeit, erleben die Betroffenen, dass es nicht nur ein isoliertes Problem fur sie ist, diese Fahigkeiten zu verlieren, sondern sich ihnen dadurch auch die soziale und kulturelle Welt verschlieBt, die gesellschafdiche 5 Neue Technologien des Lesens Blickt man auf dieses E-Book, geschehen merkwiirdige Dinge: Als ob es wiisste, welchen Satz man gerade liest, erscheinen neben dem Text passende Bilder, werden Regionen auf einer Landkane hervorgehoben oder Erlauterungen eingeblendet. Ansehen kann man es sich am Deutschen Forschungszentrum fiir Kiinstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. Natiirlich ist es keine Zauberei, was dieses System leistet, sondern beruht auf einer simplen Grundidee: das Verfolgen des Blicks beim Lesen. Das eyeBook, wie die Entwickler urn Ralf Biedert das System nennen, nutzt dazu eine Vorrichtung, mit der genau dies realisiert werden kann, einen sogenannten Eye Tracker.149 Solche Blickverfolgungssysteme gibt es schon langer, sie waren aber bisher sehr teuer, schwierig anzuwenden und wurden deshalb fast ausschliemich zu Forschungszwecken verwendet. Mittlerweile hat sich das geandert, und das eyeBook nutzt dies aus. Auf der Unterseite eines Computerbildschirms befindet sich ein fiir den normalen Benutzer kaum wahrnehmbar Eye Tracker. Liest dieser auf dem Bildschirm einen Text, dann ermittelt das Gerat, wo er gerade hinschaut. Auf dem Bildschirm wird der digitale Text also nicht nur statisch priisentiert, das System erkennt vielmehr, wie der Benutzer den Text liest, und stimmt die Textprasentation darauf abo Die DFKI-Forscher haben sich eine ganze Reihe von Funktionen iiberlegt, mit denen sie das Lesen auf diese Weise anreichern. Neben zusatzlichen Materialien, die passgenau zu einer bestimmten Stelle im Text eingeblendet werden, sind dies etwa Erlauterungen einzelner Warter: Betrachtet der Leser in einem englischsprachigen Text ein Wort langer als gewahnlich, wird dariiber seine deutsche Dbersetzung angezeigt. Auch das Umblattern entfallt - Textpassagen werden dem Lesefortschritt entsprechend eingeblendet. Eine besondere Funktion hat man sich fiir Schnellleser ausgedacht: Registriert das System, dass der Blick in graBeren Spriingen iiber den Text gefiihrt wird, hebt es die bedeutungstragenden Waner (Substantive, Verben, Adjektive) hervor, wahrend alles andeNEUE TECHNOlOGIEN DES LESENS 99 Ie vcrblasst. Dadurch wird es einfacher, beim schnellen Lesen den Sinn des 'I L'xtcs zu erfassen. Erganzt wird all dies durch eine Sprachein- und -ausgabe. BI ickt der Leser auf ein Wort und fragt danach, wie dieses Wort auszusprechen ist, antwortet ihm eine computergenerierte Stimme und lasst das Wort in der korrekten Aussprache erklingen. Eine Bedienung mit einem Stift ist cbenfalls maglich. Das eyeBook ist ein Prototyp, man kann es nicht kaufen. Die verwendeten Texte miissen extra dafiir aufbereitet sein. Aber es funktioniert und zeigt, wie das Lesen digitaler Texte einmal aussehen kannte. Schon heute aber werden ahnliche Systeme verkauft, sofern die Steuerung durch Blickbewegung nicht nur eine neuartige Art des Lesens ermaglichen soli, sondern schlichtweg notwendig ist, urn iiberhaupt zu lesen. Die schwedische Firma Tobii hat einen Tablet-Computer entwickelt, der sich komplett durch Blicke steuern lasst.1SO Auf diese Weise kannen etwa yom Hals abwarts gelahmte Menschen selbstandig lesen, schreiben, im Internet surfen und kommunizieren. 5.1 Digitales Lesen Das Lesen digitaler Texte ist ein Lesen mit Hilfe des Computers. Der Computer ist nicht nur dafiir zustandig, die Bits, aus denen der Text besteht, in eine fiir Menschen lesbare Gestalt zu iiberfiihren, der Mensch muss den Computer auch dazu bringen, beim Lesen bestimmte Aufgaben zu erfiillen, beispielsweise von einer Bildschirmseite zur nachsten Bildschirmseite zu blattern. Urn zu lesen, muss der Mensch mit dem digitalen Text interagieren. Interaktion zwischen Mensch und Text ist nicht neu, es gab sie schon immer: Die Schriftrolle musste auf der einen Seite abgerollt, auf der anderen Seite im gleichen Umfang aufgerollt werden. Wenn Sie bei einem Buch eine Seite umschlagen, urn auf die nachste zu gelangen, dann interagieren Sie mit dem Buch. Die Interaktion mit einem Buch ist dabei iibrigens fortschrittlicher als die mit einer Schriftrolle, da der »Funktionsumfang« graBer ist. Zwar gelingt es einem auch bei einer Schriftrolle, den Text durch gleichzeitiges Auf- und Abrollen linear zu lesen, nur ein Buch aber lasst sich an einer beliebigen Stelle aufschlagen. Fiir die Interaktion mit dem Computer benutzen wir derzeit meistens eine Tastatur und eine Maus. Mit der Maus kannen wir zeigen und klicken, durch das Klicken wird an daHir vorgesehenen Stellen eine Funktion 100 ENGELBARTS TRAUM im Computer ausgelost. Welche Gerate am besten fiir die Interaktion mit dem Computer geeignet sind, war beinah von Anfang an eine der zentralen Fragen der Computerentwicklung. Tastatur und Maus in Verbindung mit einem Bildschirm liefern seit den 1970er Jahren eine Antwort auf diese Frage, Touchscreen und Gestensteuerung per Finger eine sehr viele neuere. AIle Methoden versuchen irgendwie, das Problem, Daten in das Innere des Computers zu bringen, auf eine uns moglichst natiirlich erscheinende Weise zu losen. Dass diese Entwicklung noch immer in vollem Gange ist, kann man daran sehen, dass uns der Computer standig in neuem Gewand gegeniibertritt. War noch vor zwanzig Jahren der Desktop-Rechner das Leitbild des Computers, wurde es spater der Laptop. Mit Apples iPhone und ahnlichen Geraten fand ab 2007 das Smartphone groBe Verbreitung - ebenfalls veritable Computer, die raumfiillende Rechneranlagen gar nicht so Ferner Zeiten im Hinblick auf Prozessorgeschwindigkeit und SpeichergroBe mit Leichtigkeit schlagen wiirden. Kurz danach eroberten Tablet-Computer den Markt; sie verbinden Eigenschaften von Laptop und Smartphone. Parallel dazu wurden E-Book-Lesegerate zunehmend genutzt - fiir die Darstellung von Texten optimierte Gerate, deren Displays nicht leuchten, deshalb wenig Strom verbrauchen, und die sehr einfach zu bedienen sind. 2014 schlieBlich kam eine Datenbrille auf den Markt, das Glass der Firma Google, eine Art Smartphone, das als Brille zu tragen ist. Mit jeder dieser Geratekategorien sind neue Interaktionsformen zwischen Mensch und Computer eingefiihrt worden. Googles Glass etwa wird aktiviert durch ein Nicken und das Aussprechen der Wortfolge »OK Glass«."1 Und all diese Gerate sind Computer, mit deren Hilfe wir auch Texte lesen, das heiBt mit Texten interagieren. Die Moglichkeiten zur Interaktion, die diese Gerate aufweisen, bestimmen, was mit den Texten getan werden kann. Urn in einem Text zu navigieren, gab es zunachst Tasten, die ihn nach oben oder unten vor- oder zuriickrollen (engl. »scroll«) lassen. Sehr viel anders als aufPapier kann ein digitaler Text auf diese Weise nicht genutzt werden, eigentlich war es sogar ein Riickschritt ins Zeitalter der Schriftrolle, einen Text nur linear durchlaufen zu konnen. Dies anderte sich aber mit der kommerziellen Einfiihrung der Maus in den 1980er Jahren. Gleichzeitig mit der Maus kam auch das Fenster auf das Computer-Display, das an der Seite Navigationsbalken fiir den Text aufweist. Dadurch wurde es moglich, eine Stelle in einem langeren Text direkt anzusteuern. Der Navigationsbalken steht fiir die komplette Textlange, die NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 101 Markierung fiir den sichtbaren Teil des Textes kann darauf per Maus direkt an eine bestimmte Stelle verschoben werden. o Ein echter Mehrwert gegeniiber dem gedruckten Buch entstand aber erst mit dem Hypertext-Prinzip. Schon 1945 gab es die Idee, Dokumente mitcinander zu verbinden, so dass man im Leseprozess von einem zum anderen gelangen kann (siehe Kapitel 10). Aber erst durch die Maus konnten Hypertext-Systeme praktikabel umgesetzt werden. Mit der Maus steuert der Benutzer ein besonders markiertes Textstiick an, den Link-Anker, klickt darauf und gelangt iiber den dadurch aktivierten Link zu einem neuen Text, einem anderen »Knoten« im Netz der Texte.1Ol So etwas lasst sich nur mit einem Computer realisieren, der im Hintergrund die verschiedenen Texte in einer Datenbank verwaltet und Programme bereitstellt, die die Eingriffe des Benutzers passgenau mit Bildschirmdarstellungen verbinden. Vorlaufer des Hypertexts gibt es auch in der Gutenberg-Galaxis: Inhaltsverzeichnisse, Schlagwortregister, FuBnoten und Querverweise haben eine ganz ahnliche Aufgabe. Aber erst durch vernetzte Computer wird das Wechseln von einem Text zum nachsten durch einen Klick mit der Maus so einfach, dass es auch als »Surfen« erlebt werden kann. Das World Wide Web ist das bekannteste und mit Abstand groBte Hypertext-System, das es gibt. Friihere Hypertext-Systeme waren zwar eingeschrankter, hatten aber zuweilen Funktionen, die bis heute nicht ins Web integriert wurden. Besonders der Harvard-Forscher Ted Nelson hatte sich schon in den 1960er Jahren Gedanken zu einem hypertextuellen Informationssystem gemacht, das zugleich Copyright- und Abrechnungsfunktionen, eine Versionsverwaltung von Dokumenten, Links in beide Richtungen, auch yom Benutzer selbst gesetzt, und viele weitere Eigenschaften besaK151 Er nannte das System Xanadu, nach dem legendaren Sommerpalast des chinesischen Kaisers Kublai Khan, von Marco Polo als ein Ort marchenhaften Reichtums beschrieben. Realisiert wurde Nelsons Marchenpalast des Wissens trotz jahrzehntelanger Arbeit nie. Das heute verwendete Web besitzt nur einen Bruchteil der fiir Xanadu entwickelten Hypertext-Funktionen.154 Das Lesen von Hypertexten unterscheidet sich yom Lesen »normaler«, linearer Texte erheblich. Hypertexte liest man nicht so, wie es der Autor vorgibt, sondern man entscheidet selbst, welchem Link man folgt. Klickt man sich dann von Text zu Text, kann man schnell den Uberblick verlieren - der 102 ENGElBARTS TRAUM urspriingliche Sinnzusammenhang geht verloren. Man weiB dann nicht, ob man wichtige Informationen iibersehen hat, und bewegt sich zuweilen im Kreis. Deshalb ist es bei Hypertexten wichtig, Navigationshilfen anzubieten. Auf guten Webseiten wird eine Navigationshilfe dadurch gegeben, dass immer auch der groBere Zusammenhang dargestellt wird, in dem sich die Seite befindet. Der Browser selbst merkt sich, von wo man auf eine Seite gelangt ist, so dass man den bislang gegangenen Weg durch die Texte auch zuriickgehen kann. All das lost aber nicht das Hauptproblem des Lesens von Hypertexten: Man nimmt die Informationen aus den einzelnen Textteilen nicht nach und nach in einem linearen Verlauf auf, den ein Autor vorgegeben hat (wie etwa bei einem Roman), sondern erschafft sich selbst eine Reihenfolge, die niemand genau so geplant hat. Deshalb sind die Textteile nicht zwangslaufig in der Weise aufeinander abgestimmt, dass sich ein sinnvolles Ganzes ergibt, der Leser muss vielmehr die Zusammenhange selbst erschlieBen und Liicken aktiv fiillen. Stellen Sie sich etwa einen Text vor, der eine Reise durch Italien beschreibt. Als linearer, traditioneller Text weiB der Leser an jeder Stelle, zu welchen Orten die Reise zuvor schon gefiihrt hat, und der Autor kann bei der Beschreibung von Rom und seiner Kunstwerke auf die von Florenz zuriickgreifen, etwa auf Michelangelo, der in beiden Stadten bedeutende Werke hinterlassen hat. Wird die Reisebeschreibung als Hypertext verfasst, bei der ich jede Station einzeln anklicken kann, habe ich beim Textstiick zu Rom zuvor vielleicht den Teil zu Florenz bereits gelesen - vielleicht aber auch nicht. Der Rom-Textteil kann deshalb nicht einfach die Kenntnis der Person Michelangelos voraussetzen, sondern muss ihn entweder erneut einfiihren oder auf den Florenz-Textteil verweisen. Der Leser muss Informationsliicken seinerseits aktiv fiillen, wenn er ein zusammenhangendes Bild aufbauen mochte. Das Lesen eines Hypertexts ist also einerseits verfiihrerisch leicht, weiI das Klicken so einfach ist, es erfordert aber mehr Eigenleistung des Lesers, wenn tatsachlich etwas verstanden sein will. Ein Weg, den Leser zu entlasten, ist der, die Textteile dynamisch, in Abhangigkeit yom Weg des Lesers, zusammenzustellen. Wie eine solche inhaltliche Dynamik realisiert werden kann, sehen wir uns im nachsten Abschnitt an. Digitale Texte sind aber schon im Hinblick auf ihr Aussehen veranderlich, dies ist ja eine ihrer herausstechenden Eigenschaften. Beim digitalen Lesen kann man sich deshalb nicht mehr auf die eine Textfassung beziehen, vielmehr bestehen je nach Lesegerat, Leseprogramm und Benutzervorlieben viele unterschiedlich aussehende Fassungen. Gut kann man dies bei E-BookNEUE TECHNOlOGIEN DES LESENS 103 I,cscgcraten sehen: Weil die Nummerietung von Seiten sinnlos ist, wenn sic bci jeder Veranderung von SchriftgroBe oder Zeilenabstand anders vorgCllommen werden muss, wird stattdessen der Lesefortschritt als Prozentwert angegeben. Fiir das Zitieren einer Textstelle in einem digitalen Text, der nicht seitenweise abgespeichert ist (wie es bei PDF-Dokumenten geschieht), gibt es allerdings bis heute kein allgemein anerkanntes Verfahren, das iiberall lInterstiitzt wird. Der Text erscheint dem Leser dadurch genauso »virtuell«, wie er ja eigentlich als Ansammlung einer langen Liste von Bits auch ist. Bei der Suche nach einer Textstelle hilft es einem nicht sehr viel weiter, wenn man weiB, dass diese irgendwo unten links auf der Seite gestanden hat - bei anderer SchriftgroBe oder bei kiirzeren Zeilen erscheint die gesuchte Stelle an ganz anderer Position auf dem Display. Oem steht fiir den Leser der Vorteil gegeniiber, dass er sich digitale Texte in der Weise anzeigen lassen kann, wie es fiir ihn oder das Medium am passendsten ist. Das ist nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern macht Texte auch »barrierefrei« - Menschen mit eingeschrankter Sehfahigkeit konnen sich eine Textfassung anzeigen lassen, die ihren Anforderungen entspricht. Die meisten Menschen bevorzugen bislang beim Lesen langerer Texte die Papierfassung gegeniiber Lesegeraten wie Tablet oder E-Book-Reader. Das hat eine Gruppe von Psycholinguisten und Buchwissenschaftlern in einer experimentellen Studie kiirzlich herausbekommen.ISl Altere und jiingere Versuchspersonen mussten verschiedene Texte in unterschiedlichen SchriftgroBen lesen. Danach wurde iiberpriift, wie gut sie den Text verstanden hatten. Wahrend des Lesens wurden die Blickbewegungen und mittels EEG die elektrische Aktivitat des Gehirns aufgezeichnet. Sowohl die alteren als auch die jiingeren Versuchsteilnehmer gaben mit groBer Bestimmtheit an, dass die Papierfassung des Texts fiir sie am angenehmsten zu lesen sei. Beim Verstandlichkeitstest zeigten sich dann aber keine Unterschiede. Doch nicht nur das: Die genauere Untersuchung der Blickbewegungen und der Hirnaktivitat zeigte, dass insbesondere den alteren Versuchspersonen das Lesen iiber das Tablet wesentlich leichter gefallen war. Bei den jiingeren Versuchspersonen war dieser Effekt schwacher ausgepragt. Dies zeigt, dass das subjektive Empfinden nicht unbedingt mit den tatsachlichen Gegebenheiten iibereinstimmen muss. Ein Buch muss eben aus Papier bestehen, urn ein Buch zu sein, genauso wie eine WeinRasche einen echten Korken haben muss oder ein Tontrager aus Vinyl zu sein hat. Einen tatsachlichen Grund dafiir gibt es aber nicht. 104 ENGELBARTS TRAUM 5.2 Hybrides Lesen Nicht nut der Mensch, nicht nut die Schrift und nicht nut ich - die drei kultutellen Tendenzen der Digitalisierung gelten auch fiir die Kultuttechnik des Lesens. Wie sich Hybrididit, Multimedialitat und Sozialitat auf das Lesen schon heute auswirken und welche Enrwicklungslinien erkennbar sind, sehen wir uns in diesem und den beiden folgenden Abschnitten an. Was also ist hybrides Lesen, die Automatisierung des Umgangs mit Ceschriebenem? Hybrides Lesen kann man zunachst ganz naheliegend verstehen als das Lesen des Computers. Der digitale Text, die Kodierung von Informationen dutch Bitfolgen im Speicher des Computers, muss ja irgendwie dort hineinkommen. Das geschieht per Tastatur. Wenn aber gedruckter Text zu digitalisieren ist, kann dies auch optisch geschehen, mit einer Kamera als dem Auge des Computers. Einen Text einfach mit einer Digitalkamera zu fotogra£leren, hilft einem dabei allerdings nicht weiter. Das aufgenommene Bild ist noch kein digitaler Text, es bleibt ein Bild, da es nicht aus kodierten Schriftzeichen besteht, vielmehr aus Bildpunkten, die hinsichtlich Farbe, Helligkeit und Sattigung beschrieben werden. Bilddateien sind ganz anders aufgebaut als Textdateien. Urn aus einem digitalen Bild, das einen Text zeigt, ein digitalen Text zu machen, muss es von einem Computerprogramm erst iibersetzt werden. Dieser Vorgang wird als Texterkennung bezeichnet. Texterkennung lasst sich mit dem Einscannen von Texten verbinden. Wenn man ein Dokument beispielsweise ohne Texterkennung im PDF-Format einscannt und es sich anschliefSend mit einem PDF-Anzeigeprogramm, erwa Acrobat, anzeigen lasst, dann erscheint es als Bild - man kann darin nicht nach einem bestimmten Wort suchen. Scannt man das Dokument aber in Verbindung mit einer Texterkennung ein, sind die Textelemente des Dokuments in ihrer Unicode-Kodierung erfasst, lassen sie sich suchen, kopieren und in einer Textverarbeitung verandern. Die Firma Coogle benutzt fiir ihr Google Books-Projekt diese Art der Digitalisierung: digitales Fotogra£leren von Buchseiten, danach Texterkennung. Beides wird integriert gespeichert, so dass man bei einer Textsuche auch das utspriinglich aufgenommene Bild der Seite erhalt. So unsichtbar und scheinbar miihelos die Texterkennung heute ablauft, so langwierig war ihre Enrwicklung. Das Problem besteht darin, in einer zweidimensionalen Ansammlung von Bildpunkten wiederkehrende Muster zu erkennen. Da Buchstaben je nach Schriftart und Druckqualitat sehr unterschiedlich aussehen konnen - man denke nut an Schriftarten wie Cotisch NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 105 h.lktm oder Schreibschrift -, fliefSen im Problem der Mustererkennung ei"igc Aspekte der Kiinstliche-Intelligenz-Forschung zusammen. Zunachst wllrdcn fur die automatische Texterkennung sogar spezielle Schriftarten vl'Iwcndet, die sich zum Teil noch heute in Textverarbeitungssystemen £IndCIl lassen (in Word 2010 erwa OCR A Extended). Mittlerweile ist das nicht IIlchr notig, nach wie vor beherrscht aber der Computer die Texterkennung Iloch nicht mit der gleichen Verlasslichkeit wie der Mensch. Das liegt dar.111, dass wir Menschen beim Lesen nicht nut Schriftzeichen erkennen, sondcrn gleichzeitig den Sinnzusammenhang erfassen. Das Verstandnis fiir den Silln eines Textstiicks erlaubt es uns, Unklarheiten im Schriftbild im Riickschluss zu beheben. Texterkennungsprogramme hingegen beriicksichtigen dcn Sinnzusammenhang bislang nicht. Ttotzdem funktioniert die Texterkennung dutch den Computer inzwischen erstaunlich gut, und das fiihrt zu ganz neuen Anwendungsmoglichkciten. So bietet Coogle eine Handy-App namens Goggles an, die eine Art visuelle Suche erlaubt. Nicht ein Suchwort wird dazu eingetippt, sondern mit der Handy-Kamera ein Foto geschossen. Fotogra£lert man einen Text, wird dieser per Texterkennung in einen »echten« digitalen Text iiberfiihrt. Die App bietet dem Nutzer dann an, den Text enrweder zu iibersetzen oder zu verschicken. Fotogra£lert man einen Bucheinband, werden die bibliogra£lschen Angaben angezeigt. Man kann auf diese Weise sogar Schilder fotogra£leren und sich Zusatzinformationen aus Wikipedia anzeigen oder eine Speisekarte iibersetzen lassen. Die einst grofSe Barriere zwischen Bild und Text ist damit fast nicht mehr vorhanden. o Mit Texterkennung wird das Problem gelost, wie Ceschriebenes iiberhaupt in den Computer kommt. Lesen umfasst aber mehr, als nut Schriftzeichen korrekt zu erkennen. Wenn jemand lesen kann, dann erwarten wir, dass das Celesene in seinem Kopf irgenderwas bewirkt. Man konnte den Leser zum Beispiel fragen, wovon der Text handelt; wenn er mit einer Zusammenfassung darauf anrworten kann, dann glauben wir auch, dass er den Text tatsachlich gelesen hat. Schwieriger ware es wohl fiir einen Menschen, ein langeres Stiick aus dem gelesenen Text aus dem Cedachtnis vorzutragen. Zusammenhange herstellen und Sinn erkennen - das beherrschen wir Menschen sehr gut, die exakte Reproduktion von Daten hingegen weniger. Beim Computer verhalt es sich genau umgekehrt: Wahrend das maschinelle Ver- 106 ENGELBARTS TRAUM stehen von Texten noch immer weit hinter den Fahigkeiten des Menschen zuriickbleibt, kann der Computer viel besser als der Mensch den Text als Datensammlung verarbeiten und Warter und Textstiicke auffinden, und zwar sehr schnell. Der Mensch erfasst den Textsinn, liest aber langsam, der Computer verarbeitet die Textteile sehr schnell, ohne aber den Sinn zu erfassen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist eine Suchmaschine wie Bing von Microsoft oder Googles Web-Suche nichts anderes als eine gewaltige Lesemaschine - schnell, aber dumm. Und genau diese Eigenschaft machen wir uns zunutze, wenn wir ein Thema im Web recherchieren. Das dumme, aber schnelle Lesen vernetzter Computer kombinieren wir mit dem langsamen, aber sinnerfassenden Lesen, das wir selbst beherrschen. Die Maschine liest fiir uns Milliarden von Seiten und greift diejenigen heraus, in denen bestimmte Textstiicke gefunden werden. Das Ergebnis dieses Computerlesens, einen winzigen Teil der maschinell gelesenen Seiten, sichten und bewerten wir vermage unserer menschlichen Lesefahigkeit. Wollen Sie beispielsweise Naheres zum Leben Johann Wolfgang Goethes erfahren und geben »Goethe« in die Suchmaschine Bing ein, dann beziehen sich die ersten zehn Ergebnisse auf sehr verschiedene Dinge: auf den Goethe-Eintrag in Wikipedia, auf das Goethe-Institut, die Goethe-Universitat, einen Goethe-Film. Vier der Eintrage"56 jedoch verweisen aufSeiten, die Informationen zu Leben und Werk des deutschen Dichters enthalten. Dies kann man als Mensch schnell aus den zwei Zeilen entnehmen, die zu jedem Link aus der Seite eingeblendet werden. Indem wir Suchmaschinen nutzen, lesen wir also schon heute hybrid - Mensch und Maschine im Verbund. Das maschinelle Lesen von Web-Seiten geschieht nicht erst in dem Moment, in dem die Suche abgeschickt wird. Suchmaschinenbetreiber lassen srandig im Web Programme nach neuen oder geanderten Seiten fahnden, indem sie sich ausgehend von bereits bekannten Seiten von Link zu Link hangeln. Die gefundenen Seiten werden analysiert und die vorgefundenen Waner in einer riesigen Tabelle abgelegt, dem sogenannten Index. Bei einer Suchanfrage wird im Index nachgeschaut, welehe Web-Seiten bei einem Suchwon vermerkt sind, und aus diesen Treffern wird eine Antwortliste erstellt. Nach welchen Kriterien allerdings die gefundenen Seiten in der Liste angeordnet werden, ist die eigentlich interessante Frage. Fiir die Suchmaschinenbetreiber sind diese Algorithmen ein Betriebsgeheimnis, da die Qualirat der Suchergebnisse das wichtigste Auswahlkriterium fiir den Benutzer darstellt. Bei Google etwa werden neben einer zentralen Reihungsfunktion, NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 107 delll PageRank-Algorithmus, mehr als zweihunden weitere Kriterien heran- !',l"/'ogen."'7 [)as Fachgebiet, das sich mit deranigen Fragestellungen befasst, nennt sich Information Retrieval,158 das Auffinden von Informationen in sehr gro(-(ell Textmengen. Der dabei vorgenommene Indizierungsvorgang ist so etwas wie ein maschinelles Schnelllesen. In einem Teilgebiet davon, dem Text Mining,"59 gibt man sich damit nicht zufrieden. Beim Abbau von Informarionen in einem Text-Bergwerk, so kannte man diesen Begriff auf Deutsch iibersetzen, geht es nicht darum, einzelne Vorkommen eines Wones aufzuhnden, sondern Eigenschaften dieses Wones aus dem Zusammenhang seines Vorkommens zu ermitteln. Dazu werden statistische Mittel eingesetzt. Wenn Sie beispielsweise etwas iiber die Verwendung des Wones »wegen« im Deutschen in Erfahrung bringen wollen, dann kannen Sie sich im digitalen Textbestand auf den Web-Seiten des Instituts fiir deutsche Sprache in Mannheim eine lange Liste von Belegstellen ausgeben lassen.1GU Interessanter ist es aber, wenn diese Belegliste so ausgewenet wird, dass man etwas iiber die Hauf1gkeit bestimmter nachfolgender Waner erfihrt. Dabei sieht man dann, dass zwar die Artikel »der« und »des« sehr hauf1g Folgewaner sind (22,1 und 11,3 Prozent), das im Dativ stehende »dem« kommt allerdings ebenfalls mit einer Hauf1gkeit von immerhin 0,4 Prozent im Textbestand als Folgewort VOr." o" Eine solehe Analyse arbeitet heraus, was man als Mensch sonst allenfalls erahnt: In der Schriftsprache gilt »wegen« mit dem Dativ als falsch, kann aber trotzdem gefunden werden. Grammatiker miissen nun entscheiden, ob dieses Faktum eine Ausnahme von der Genitiv-Regellegitimiert oder nicht. Eine solehe Anwendung des Text Mining ist linguistisch gepragt. Betrachtet man aber statistisch, welche Waner typischerweise im naheren Umfeld eines Suchwons erscheinen, bef1ndet man sich sofon in einem Netz von Bedeutungen. Gerhard Heyer von der Universitat Leipzig betreibt seit Jahren das Projekt Deutscher Wortschatz, bei dem taglich online verfiigbare Texte in deutscher Sprache in einer Datenbank abgelegt und statistisch ausgewertet werden.162 Bei einer dieser Auswertungen wird untersucht, welche anderen Waner besonders hauf1g im gleichen Satz mit dem Suchwon erscheinen. Bei einem Suchwort »Goethe« erscheinen als Ergebnis unter anderem die Waner »Johann Wolfgang« (das war zu erwanen), »Schiller«, »Dichter«, »Weimar«, »Faust«, »Shakespeare«, »Dichterfiirst«, »Farbenlehre«, »Reichskammergericht«, »Leiden des jungen Werther« und »Lotte«. Ohne dass also ein einzelner Mensch diese Informationen irgendwann bewusst zusammen- 108 ENGELBARTS TRAUM getragen hatte, erbringt allein die statistische Auswertung von Satzen einige Kernbegriffe fur einen Lexikoneintrag zu Johann Wolfgang Goethe. Derartiges Wissen ist in grogen Textbestanden im Oberfluss enthalten und kann durch die statistische Auswertung maschinellen Lesens zutage gefordert werden. Heyer bezeichnet deshalb im Titel seines Buchs Texte auch als einen »Wissensrohstoff«. In der Biomedizin setzt man beispielsweise Text Mining-Verfahren ein, urn in den Tausenden von Aufsatzen und Forschungsberichten, die dort Jahr fur Jahr publiziert werden, versteckte Zusammenhange aufzudecken, etwa zwischen Proteinen und Genen. Die Firma Google hat inzwischen die Potentiale dieses Verfahrens erkannt und mit Calico eine eigene Firma gegrundet, die die Erforsch ung von Krebserkrankungen ausschlieGlich uber Text Mining betreiben will.";; Mit der Analyse von Tweets in Twitter im Hinblick auf darin zum Ausdruck kommenden Stimmungen kann sogar die Veranderung von Aktienkursen vorausgesagt werden. Text Mining ist eine Spielart von Big Data, dem neuen Megatrend der Informationsverarbeitung. Mit Big Data werden sehr groge, heterogene Datenmengen bezeichnet, die mit statistischen Mitteln nach inneren Zusammenhangen durchforstet werden. Derartige Zusammenhange konnen fur die gezielte Suche nach Informationen oder fur die Vorhersage zukunftiger Ereignisse genutzt werden.'e" Inzwischen sind solche Methoden auch auf historische Textbestande angewendet worden. Moglich wurde dies durch die millionenfache Digitalisierung von Buchern im Rahmen des Google Books-Projekts. 1m Dezember 2010 uberraschte eine interdisziplinar zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftlern die FachotTentlichkeit mit einem Forschungsansatz, den sie Cltlturomics nannten.]('; Mit Mitteln des Text Mining untersuchen sie dabei kulturhistorische Phanomene im Datenbestand von Google Books. Dabei verwenden sie ein frei zugangliches Auswertungsprogramm, mit dem tatsachlich faszinierende Phanomene zutage gefordert werden konnen. Gibt man in diesem Programm, dem Ngram Viewer,166 etwa die Begriffe »Freiheit« und »Demokratie« ein und sucht diese in deutschsprachigen Buchern zwischen den Jahren 1800 und 2000, wird einem ein Diagramm mit zwei Linien ausgegeben, die jeweils fur die relative Haufigkeit beider Begriffe im Buchbestand eines Jahres stehen. NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 109 Abbildung 1: Grafik zum Ngram-Viewer-Beispiel deutsch FreiheitlDemokratie Die Grafik zeigt deutlich, dass die Begriffe »Freiheit« (obere Linie) und »Demokratie« (untere Linie) erst im 20. Jahrhundert in einen Zusammenhang geraten und korrespondierende Haufigkeiten aufWeisen. 1m 19. Jahrhunderr hingegen erscheinen sie vollkommen voneinander entkoppelt: Offenbar mit der Freiheitsbewegung urn 1848 herum erlebt der Freiheitsbegriff eine groge Konjunktur, wahrend der Begriff der Demokratie im gesamten Jahrhundert kaum vorkommt. Das maschinelle Lesen und die nachfolgende statistische Auswertung von Millionen von Buchern fuhren damit zu Erkenntnissen, die dem menschlichen Lesen verschlossen bleiben. Selbst in den Geisteswissenschaften haben sich diese »geistiosen« Forschungsmethoden inzwischen etabliert.167 Fotis Jannidis, einer der Wegbereiter der digitalen Geisteswissenschaften in Deutschland, setzt diese Verfahren in der Literaturgeschichte ein. Ein Programm, mit dem automatisch Gruppen von zusammengehorenden Elementen gebildet werden, hat er auf einen Bestand von mehreren Hunden Romanen angewandt. Allein aufgrund der Verteilung der Worthaufigkeiten in den Texten kann er einzelne Epochen, ja sogar einzelne Autoren voneinander unterscheiden. Wird uberdies berucksichtigt, welche Worter in Textabschnitten besonders haufig zusammen auftreten, kann man augerdem inhaltliche Schwerpunkte und Erzahlweisen in den Texten erkennen und Informationen daruber erhalten, wie sie sich in der Literaturgeschichte gewandelt haben.]('" 110 ENGELBARTS TRAUM o Zwei Auffassungen von hybridem Lesen haben wir uns bislang angesehen: Texterkennung und Informationsgewinnung. Der eyeReader, der in der Einleitung zu diesem Kapitel beschrieben wurde, steht fiir eine dritte Auffassung, das unterstiitzte Lesen. Die Unterstiitzung des menschlichen Lesens durch den Computer kann auf vielfaltige Weise erfolgen. Notwendig ist die maschinelle Unterstiitzung, urn die digitalen Texte iiberhaupt aufs Display zu bekommen. Der Lesemodus von Textverarbeitungs- oder Dokumentverwaltungsprogrammen wie Word oder Acrobat sieht dariiber hinaus verschiedene Funktionen vor, die das Lesen vereinfachen sollen: die Maglichkeit zur Veranderung der Schriftgralk eine fiirs Lesen optimierte Seitendarstellung oder das einfache Navigieren. Der Lesevorgang wird auch dadurch unterstiitzt, dass Lesezeichen und Kommentare gesetzt oder Textteile markiert werden kannen. Wenn es urn Hypertext-Funktionen im Text geht, unterstiitzt der Computer den Leseprozess, indem er den durch Mausklick oder Fingertippen aktivierten Zieltext eines Links auf das Display bringt. Augerdem vereinfachen einige Funktionen zur Navigation den Leseprozess in Hy- pertexten. All dies ist angenehm, verandert das menschliche Lesen aber kaum. Der Text erscheint weiterhin Zeile fiir Zeile aufeiner Oberflache, die in der Regel wie ein Blatt Papier anmutet. Die Warter stehen statisch in der Zeile, so als ob sie dort fest aufgedruckt waren. Dies beginnt sich aber zu andern. Der eyeReader etwa, der in der Einleitung zu diesem Kapitel vorgestellt wurde, hat einige Funktionen, die den Text in Abhangigkeit yom Lesevorgang dynamisch vedindern. Beim Oberfliegen eines Textes werden die inhaltstragenden Warter hervorgehoben. Dass der Leser den Text iiberfliegt, registriert das Gerat anhand der grageren Spriinge in seinen Blickbewegungen. Einen anderen Weg verfolgen Programme, die dem Leser einen Text in schneller Abfolge wortweise prasentieren, die sogenannte Rapid Serial Visual Presentation.169 Der zu lesende Text wird dabei wortweise in einem kleinen Lesebereich »abgespielt«, in einer yom Leser festgelegten Geschwindigkeit. Weil man dabei die Augen nicht iiber die Zeilen springen lassen muss, sind auch ohne Obung erstaunliche Lesegeschwindigkeiten zu erreichen.170 Vor allem aber stellt diese Art der Textprasentation eine alternative Maglichkeit dar, wenn es urn das Lesen aufkleinen Displays geht. Selbst aufSmartphoneDisplays lassen sich mit dieser Methode Lesegeschwindigkeiten von 400 bis 500 Wartern pro Minute erreichen - allerdings bei Verlust des Textlayouts. NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 111 AI>I).'.; nir Smartphones, die durch Antippen in einen derartigen Schnellle\l'Il]()dus iibergehen, sind denkbar. Die App Spritz bietet dieses Leseprinzip illl Jahr 2014 erstmals zum Lesen von E-Books auf Smartphones an.17I Die I'irma weist auf Anwendungsmaglichkeiten aufkleinen Displays wie Smart Watches oder Googles Datenbrille Glass hin, da es bei derartigen Geraten fiir die Darstellung von Textzeilen und Absatzen in ausreichender Grage keinen I'latz gibt oder die Hande zur Steuerung nicht zur Verfiigung stehen. Die Spritz-App ist als Standard-Software fiir einige Gerate der Firma Samsung vorgesehen.I72 Die maschinelle Unterstiitzung des Lesens kann sich auch auf die inhaltliche Seite des Textes beziehen. Schon heute nutzbar ist die automatische Obersetzung von Webseiten im Browser Chrome der Firma Google. Bei Texten, die nicht in der Standardsprache des Browsers erscheinen, wird dem Benutzer die Maglichkeit einer Obersetzung angeboten. Dazu ist es notwendig, zuvor die Sprache des Textes erkannt und natiirlich ein Obersetzungsprogramm zur Verfiigung zu haben. Chrome nutzt ein statistisches Obersetzungsverfahren, das auf sogenannten »parallelen Korpora« basiert: Textsammlungen, die ein und denselben Text in mehreren Sprachen enthalten, so dass fiir einzelne Textstellen die iibersetzten Entsprechungen aufgefunden werden kannen. Eine Fundgrube fiir parallele Korpora sind internationale Organisationen wie die EU oder die Vereinten Nationen, da die offiziellen Dokumente hier in sehr hoher Qualitat in die Sprachen der Mitgliedslander iibersetzt werden. An maschinellen Obersetzungsprogrammen wird mit unterschiedlichen Ansatzen schon fast so lange gearbeitet, wie es Computer gibt. Doch erst die grogen Textmengen im Internet haben es moglich gemacht, einfache Verfahren zu entwickeln, die sogar in Web-Browsern eingesetzt werden konnen. Auf die Qualitat kommt es dabei nicht so sehr an, eher auf die Geschwindigkeit - selbst chinesische Web-Seiten kann man damit verstehen und daraus niitzliche Informationen gewinnen. Inhaltlich unterstiitzt werden kann der Leser auch dadurch, dass er yom System auswahlen lasst, was ihm iiberhaupt als Text angezeigt wird. Wenn ein Hypertext-System inhaltlich die Seiten auswerten kann, die ein Benutzer zuvor gelesen hat, kann der Inhalt der nachsten Seite darauf abgestimmt werden.P3 Beim Reisefiihrer zu Italien, dessen Hypertext-Realisierung wir uns im vorigen Abschnitt angesehen haben, wiirde das bedeuten, dass Informationen zu Michelangelo auf der Rom-Seite angezeigt werden, wenn die Florenz-Seite zuvor noch nicht besucht worden ist, andernfalls bleiben sie verborgen. Ein ahnlicher Effekt kann erzielt werden, wenn man geogra- 112 ENGELBARTS TRAUM fische Daten in die Textprasentation einbezieht. Eine Erlauterung zu einem Bauwerk kann lang oder kurz ausfallen in Abhangigkeit davon, ob man sich gerade vor diesem Gebaude befindet oder nicht. Systeme zur automatischen Textzusammenfassung berucksichtigen dabei nicht die Situation, sondern den Informationsbedarf des Benutzers.174 o Die maschinelle Unterstutzung des menschlichen Lesens besitzt allerdings auch eine Schattenseite. Wir beni:itigen den Computer zwingend dafur, digitale Texte in fur uns lesbarer Form angezeigt zu bekommen - der Computer arbeitet also, wahrend wir lesen, im Hintergrund immer mit. Was ist, wenn er sogar mitliest? Wenn er die Texte aufzeichnet, die wir lesen, wenn er die Teile, die wir langsam, und die, die wir schnell oder gar nicht lesen, vermerkt? Die Geschwindigkeit, in der wir lesen? Die Reihenfolge, die wir beim Lesen eines langeren Werks wahlen? Oder die Kommentare, die wir einfugen, und die Markierungen, die wir setzen? Das ist leider keine Science Fiction, sondern schon heute RealitatY' Gehen Sie einmal auf die Seite https:llkindle.amazon.com/moscpopular. Dort finden Sie eine Liste der am haufigsten angestrichenen Stellen in den E-Books, die Amazon verkauft. Dort kann man sehen, dass 17.784 Benutzer des E-Book-Lesegerats Kindle im Buch Catching Fire die Stelle »Because sometimes things happen to people and they're not equipped to deal with them« markiert haben.176 Nicht im Internet, auf ihrem privaten Lesegerat! Ohne dass ein Leser dies beeinflussen kann, werden individuelle Daten erfasst und per Internet oder Mobilfunknetz an Amazon gesandt. Fur die Verleger sind solche Daten Gold wert: Erstmals bringen sie etwas daruber in Erfahrung, wie die Leser ein Buch tatsachlich lesen. Sie wissen, dass sie den dritten Teil von Suzanne Collins' Hunger Games in einer Geschwindigkeit von 57 Seiten pro Stunde lesen und nach Beendigung des ersten Bandes der Trilogie gleich den zweiten Band herunterladen.!77 Sie erfahren etwas daruber, wie lange die Leser durchschnittlich am Stuck lesen und wie lange es dauert, bis sie weiterlesen - und alles bezogen auf unterschiedliche Genres und Autoren. Und sie ziehen Konsequenzen daraus: Nachdem die Analyse des Leseverhaltens bei Sachbuchern des amerikanischen Verlags Barnes & Nobel ergeben hatte, dass die Leser die Lekture langerer Texte oft abbrechen, brachten sie Bucher mit kurzeren Reportagen zu einem buntgemischten Themenstrau~ auf den Markt. NEUE TECHNOLOGIEN DES LESENS 113 I bs Leseverhalten, fruher die gro~e Unbekannte im Verlagsbusiness, wirkt nun also auf die Texte zuruck. Es ist davon auszugehen, dass auch lkstscllerautoren solche Analysen nicht unberucksichtigt lassen. Bucher, vor .dlelll bclletristische, werden sich dadurch in ahnlicher Weise verandern, wie dies durch die Analyse der Zuschauerdaten - Stichwort Einschaltquoten heim fernsehen geschehen ist. Sogar »Testbucher« werden inzwischen digil.d platziert, urn das Leserverhalten noch vor dem offiziellen Buchstart als l'rintausgabe zu testen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Die » Ubcrwachung« des Lesers wirft naturlich auch die Frage auf, ob diese Daten nicht auch von Behi:irden genutzt werden, wenn es darum geht zu erfahren, was ein Verdachtiger gelesen hat, also mi:iglicherweise wei~, oder wodurch cr beeinflusst worden ist. In Bildungszusammenhangen ki:innen anhand des Leseverhaltens Ruckschlusse auf die Intensitat des Lernens einer Person gezogen werden. Der Computer macht das Lesen leicht und angenehm, gleich,>citig kontrolliert er uns. Auch das ist »hybrides« Lesen. 5.3 Multimediales Lesen Geschriebenes ist nie nur fixierte Sprache gewesen, Schrift folgt schon immer auch Gesetzen der Visualitat. Erst recht gilt dies fur die Flachen, auf denen sich die Schrift befindet - sie sind durch Farben, Linien, Zeichnungen, Schemata und Fotos angereichert, geometrisch gegliedert und vom Zusammenspiel unterschiedlicher Textelemente gepragt. Dies gilt im gleichen Ma~e fur die Manuskripte aus dem Nachlass Leonardo da Vincis wie fur die Hauptseite von Bild.de, der meistgenutzten Nachrichtenseite im deutschsprachigen Raum. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Wahrend die Produktion und Reproduktion von Bildern und grafischen Elementen in der Manuskriptkultur, aber selbst noch nach Erfindung des Buchdrucks eine aufWandige und kostspielige Angelegenheit war, wurden die Kosten durch die Digitalisierung stark reduziert. Ein digitales Foto aufzunehmen und zu drucken kostet nicht viel, und noch viel starker sanken die Kosten fur die Aufzeichnung bewegter Bilder. Durch den Computer wird die Speicherung und Verarbeitung in einer Universalmaschine vereinigt, Programme wie Powerpoint oder InDesign erlauben die Integration von Text, Grafik, Bild, Video und anderen Medienelementen aufeinfache Weise mittels Grafikdisplay, Tastatur und Maus. Die Leichtigkeit der Datenintegration in der digitalen 114 ENGElBARTS TRAUM Sphare versrarkt den Trend zur Multimedialitat, eine kulturelle Tendenz, die wir in Zeitungen und Zeitschriften, in Sachbiichern, im Fernsehen, im World Wide Web, ja im affentlichen Raum iiberhaupt erkennen kannen. Die FrankfurterAllgemeine Zeitung ist heute erheblich »visueller« als vor dreigig Jahren, die Bildschirmgestaltung von Nachrichtensendungen informativer, in Sachbiichern sind Gra£lken, Infokasten und visuelle Textgestaltung zu £lnden, und selbst im Internet kann man verfolgen, wie sich seit Mitte der 1990er Jahre die Multimedialitat verstarkt hat.178 Text ist also nicht nur Schrift, auch andere Medienelemente »besiedeln« den Bildschirm. Es entstehen multimediale Bedeutungsflachen, die bestimmten Gestaltungsregeln folgen und eine erweiterte LesefFreier« Rede.187 Gleichzeitiges Lesen praktizieren alle Schuler einer Klasse anhand des Tafelanschriebs des Lehrers. Auch die gemeinsame Bearbeitung von Textvorlagen oder Obersetzungsubungen konnen als synchrone Formen des sozialen Lesens betrachtet werden. Der Mensch ist ein »soziales Tier«,188 und sogar das »asoziale« Lesen wurde durch solche Formen der Vergemeinschaftung sozial uberbaut. Digitalisierung und Vernetzung erleichtern dies nun ungemein, so dass die Sozialitat seit einiger Zeit als ein kultureller Megatrend erkennbar wird. Bei der Kulturtechnik des Lesens ist heute von Social Reading die Rede.189 Amazon verkaufr nicht nur Bucher (und vieles andere), sondern ist zugleich eine Web-2.0-Plattform, in der die Leser der gekauften Bucher eigene Bewertungen und Rezensionen publizieren konnen. Diese Rezensionen konNEUE TECHNOlOGIEN DES LESENS 119 11('11 sclhst wieder bewertet (»War diese Rezension hilfreich? Ja/Nein«) und k<>llllllcnricrt werden. Die Rezensenten konnen durch die Anzahl ihrer Rell'llsiollcn, deren Bewertung und die Angabe eines Klarnamens besondere I{"jlllcarion aufbauen. Naturlich nutzr ein Online-Handler wie Amazon die'" Illf(lrmationen dazu, seinen Kunden moglichst passgenaue Kaufempfeh- 1IIIl hCl1 zu geben. Interessant ist es trotzdem, fur nahezu jedes Buch Ein,lh:itzungen erhalten zu konnen, die uber den Klappentext hinausgehen. I)ic Umsetzung der Idee der Lesegesellschaft im digitalen Medium finder sich bei Goodreads.190 Auch hier bewerten Leser ihre Lekture und schreiben Ikzcnsionen dazu, diese richten sich aber an Freunde und Bekannte, die 1 .'(17), I:i \ !',1 Illlcher & Schumacher (2007: 528). \" \1',1 1\\Il her (2007: 61~62). 111 \1',1 1\1olitor-Liibbert (1996) und Becker-Mrotzek & Schindler (2007). II \1,1 (:,,"I111"S (2003: 217~221) 258 ENGELBARTS TRAUM 42 Vgl. 1110massen (1996). 43 Vgl. Michel (1996). 44 Vgl. Reichen (1988). 45 Vgl. z.B. Durscheid (2006: 239-246) oder Scheerer-Neumann (1996). 46 Das "Funf-Phasen-Modell« von Gunther (1986). 47Vgl. z.B. Hayes & Flowers (1980) und Ludwig (1983). 48 Vgl. Feilke (1996). 49 In den meisten Lindem gibt es statr einer Schulpt1icht eine von der Unesco gefordertl" Bildungspt1icht, die nicht zwangslaufig den Besuch einer Schule voraussetzL 50 Vgl. Grorluschen & Riekmann (2011). 51 Vgl. Ludwig (1994). 52 Vgl. Gauger (1994) und Coulmas (2003: 210). Eine sehr lesenswerte kulmrhisrorischc Darsrellung des Lesens ist auch Manguel (1998). 53 Vgl. Gauger (1994: 67-68). 54 Vgl. Ludwig (1994: 58). 55 Als Oherblick zur Geschichte des Schreibens s. Ludwig (2005). 56 Vgl. Ludwig (1994: 61). 57 Vgl. heispielsweise die Faksimiles einer Seite aus einer Gutenberg-Bibel und eines etwa zeitgleich entstandenen handschrifrlichen Mainzer Kalendariums in Gunther & Ludwig (1994: Tafeln XVI-XVII). 58 Vgl. ScheIRer (1994). 59Vgl. Horning (2012). 60 Vgl. Stiftung Lesen (2008). 61 Zu Geschichte, Funkrion und Merkmalen des Gebaudes vgl. de Laubier & Bosser (2005: 226-235), Steffensen (2003) und die Webseite New York Publik Library (www.nypl.org). Der offizielle Name des hier beschriebenen Hauptgebaudes der New York Public Library lauret "Stephen A. Schwarzman Building<', 62 Es handelt sich um die auf Papier gedruckte sogenannte "Lenox-Bibek etwa von 145'5. Die Lenox-Bibel war 1847 die erste Gutenberg-Bibel auf amerikanischem Boden, erworben von einem weiteren Stifter der New };/rk Public Library, James Lenox. Vgl. Steffensen (2003) und http://exhibitions.nypl.org/treasures/items/showIl13. 63 Laur Worrliste des Proiekts Deutscher Worrschatz der Universitat Leipzig (vgl. http:// wortschatz.uni-leipzig.de/htmllwliste.html). Diese Erhebung beruht vor aUem auf Zeimngstexten, was sich in der Frequenz des Wortes "Kultur« niederschlagt. 64 Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Kulmr. 65 Vgl. Ort (2008). 66 Vgl. Eco (1977). 67 Diese [Jarstellung beruht im Wesentlichen auf der Zeichentheorie von Charles William Morris. Zur Obersicht uber sprachwissenschafrliche Zeichentheorien vgl. z.B. Lenke et al. (1995: 33-66). 68 Vgl. dazu die kulmrsemiotische Srstematik von Roland Posner (z.B. Posner (2008». 69 Vgl. Wirth (2008: 63-64). Wirth nimmt dabei u.a. Bezug auf die Auffassungen von (;certz (1994) und Cassirer (2011 (1942». 70 Popper & Eccles (1984 (1977)), im englischen Original "The Self and its Brain«. 71 Popper & Eccles (1984 (1977): 63-64). 72 Popper & Eccles (1984 (1977): 64) ANMERKUNGEN 259 7 \ Vgl. l.enke et al. (1995) zu verschicdenen linguistischen Kommunikationstheorien, die in dicscs Beispiel dnt1ieRen. /'1 hi ciner ausfuhrlichen Konzeption kulrureller Kommunikation vgl. Giesecke (2002: 11- 45). '~ Vgl. Luhmann (1995: 31-54). II, Vgl. auch Goody (1990). '7 Vgl. 7.B. Stein (2006: 94). :s Vgl. f\,hzal (1994) und Mazal (1999). ,") Vgl. Clauss (2003: 96-98). SI) Vgl. Stein (2006: 181). S I Vgl. Stein (2006: 176-181). S.' Vgl. Honemann (1999), Fussel (1999b: 91) und Stein (2006: 186). Die Schatzungen weil hen Zllm Teil erheblich voneinander abo Angegeben ist der jeweils kleinste Schatzwert. :-\,\ Vgl. Bangerter-Schmid (1999). :-\.( (;icsecke (1991: 134). ,~') Vgl. Giesecke (1991: 134). ,% Vgl. McLuhan (1962). Ahnlich auch Giesecke (2002). :-\ . Vgl. Stein (2006: 176). ,);,~ Vgl. Manguel (1998: 339-351). S'I Vgl. Stein (2006: 154-156). 'ill Vgl. dazu und auch fur das folgende Tischler (1994: 543ff). 'I I Vgl. Stein (2006: 179). 'I' Vgl. Stein (2006: 185ff). 'I \ Vgl. dazu und fur das folgende Hanebutt-Benz (1999: 408-409). '1·( Vgl. http://www.heidelberg.com/www/html/delcontent/products/sheetfed_offsetI70xlOO /sl'ccdmaster_xl_l06 und http://www.print.de/Top-l0/Top-10-Technik/Die-zehn-schnell s( cn-digitalen-Bogendruckmaschinen_4250 'I', Vgl. Brinkhus (1999). 'II, I.lll' (;eschichte der Schreibmaschine vgl. Kllnzmann (1979). 'I ' J Icilnunn (2010: 143-151). 'IS In dcr zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts wurde die Kopie per Durchschlag durch die I:i nfLlhrung des Kopiergerats in der Verwaltung noch vor dem Aufkommen der computerge,sllitzten Textverarbeirung obsolet. '1'1 Fine weitere Entwicklung, die mit der Schreibmaschine Zllsammenhangt, ist die des FernS( hreibers, eine Verbindung von Telegrafie und elektrischer Schreibmaschine. Vgl. allch kiltler (1986). 11111 I.ur Flltwicklung des Verbgswesens und des Buchhandels vgl. SchCinstedt (1999), Fussel (I ')')')a) und Stein (2006: 213-225). 1111 I.lll' Ceschichte der Bibliotheken vgl. Leonhard (1999). III! Vgl. Ll'Onhard (1999: 475). I II \ Vgl. (:rliscmann et al. (20U). 1111 Vgl. Srcin (2006: 69-70) und Vogt-Spira (1994: 519). III', Vgl. I~'icgg (1993). 1111, Vgl. Schwinges (1993: 213-216) und Muller (1996: 269-271). III' Vgl. Schwinges (1993: 215). IIIK Vgl, d.llU und zur Universit:itsentwicklung im europaischen Gesamtzusammenhang .' hI I p:l/worrschatz.uni-leipzig.de/. I I, \ VgI. llallwieser & Schultz (2013). 11,1 Vgl. Cciselherger & Moorstedt (2013). II,', Vgl. Michel et al. (2010). I1,1, IIII p:llhooks.google.com/ngrams. II> . ,\1,111 spricht dabei von Digital Humanities (Digitale Geisteswissenschaften). II>,~ 1,lIll1idis beschreibt diese Verfahren und weiterfiihrende Literatur in einer Prasentation, die .IIIi.sciner Wcbseite verfiigbar ist (s. Jannidis (2013)). II,') Vgl. Clquist & Goldstein (2002). I 'II Ilin I:isst sich nachvollziehen etwa anhand des kostenlosen Schnellleseprogramms J