Dramentheorie Die europ. D., im MA brachliegend, steht seit der Renaissance großenteils u. zunächst gänzlich unter dem Einfluß des Aristoteles. Erst im 18. Jh. wird eine antiklassizistische Form des Dramas ernsthaft denk- bar, die seither ihre Ebenbürtigkeit bewiesen hat. Einfluss des Aristoteles. Die aristotel. Poetik be- gründete zusammen mit einigen Versen der Ars poe- tica (179 ff.) des Horaz u. dem Beispiel der grie- chisch-röm. Tragödie (Aischylos, Sophokles, Euripi- des; Seneca) u. Komödie (Aristophanes, Menander; Plautus, Terenz) das Dramenverständnis der Neuzeit. Dieses Regelsystem blieb bis ins 19. Jh. (Schil- ler, Gustav Freytag) wirksam. Auch die Abkehr vom aristokratisch geprägten Barockklassizismus hin zur bürgerl. Dramatik der Aufklärung geschah, bes. durch Lessing, unter ständiger Berufung auf Aristoteles. Noch Brechts Entwurf eines antiaristotel. Dramas bezeugt die ungeheure Wirkung, die der griech. Philo- soph (nicht zuletzt dank der humanistischen Prägung der höheren Schule) auf die D. ausübte. Selbst das Manko seiner fragmentarisch überlieferten Poetik wurde maßgebend: Indem sie fast nur die Tragödie behandelt, wurde sie Späteren zum Anlaß, das genuin Komische theoretisch zu vernachlässigen u. die Ko- mödie aus fragwürdigen Analogie- u. Kontrastvorstel- lungen zur Tragödie zu konstruieren. Durch die theoriegeschichtl. Lücke bot sich andererseits für die Entwicklung von Varianten bei der Komödie mehr Spielraum als bei der Tragödie. Um das Fehlen von Aristoteles' Komödienpoetik kreist Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Auch eine ahistor. D. kommt schwerlich ohne die Begriffe u. Unterschei- dungen der aristotel. Tradition aus. Insofern bietet es sich an, mit den aristotel. Grundlagen der D. zu be- ginnen. Wesentliche qualitative Elemente: Aristoteles (Kap. 6) nennt für die Tragödie sechs qualitative Ele- mente: Mythos (Handlung), Ethe (Charaktere; Ein- zahl: Ethos), Lexis (Rede, Sprache), Diánoia (Gedan- ke, Absicht), Opsis (Schau, Szenerie), Melopoiía (Gesang, Musik). Rechnet man Ethe u. Diánoia zur Handlung u. läßt Musik als außerhalb der antiken Tragödie entbehrlich beiseite, so bleiben als tragende Elemente Handlung, Figurenrede (Monolog, Dialog) u. - als Teilelemente der Opsis - sinnl. Darbietung u. das von Aristoteles nicht eigens berücksichtigte Rol- lenspiel. Mit ihnen läßt sich das Drama definieren als Handlungs-sprech-schau-spiel. Bei der Dramenhandlung unterschied man nach Aristoteles (Kap. 10 u. 17): 1. einfache u. verfloch- tene Handlung, 2. Handlungskern oder -schema, auch >Fabel< genannt, u. episod. Zutaten. In der Neuzeit unterschied man 3. Haupt- u. Nebenhandlung, womit man auf eine Möglichkeit der Selbstinterpretation des Dramas stieß (vgl. die Amphitryon- u. die Sosias- Handlung in Kleists Amphitryon). Ferner trennt man 4. Handlungskern oder -schema (>Fabel<) u. komplet- te Handlung, 5. Rohstoff u. gestalteten Stoff. Bei der letzten Unterscheidung konkurrieren mehrere Be- zeichnungen: story/plot, Geschichte/Fabel (Eberhard Lämmert), Fabel/Sujet, histoire/discours. Auffällig ist der uneinheitl. Gebrauch des Wortes Fabel. Um die Handlung <> (Aristoteles, Kap. 9) zu machen, haben Dichter sie oft der Aufführungssituation angepaßt, v. a. durch die Ein- heiten der Zeit u. des Ortes, die im 17. u. frühen 18. Jh. verbindlich waren. Aristoteles bemerkt: <> (Kap. 5). Corneille gestattete bis zu 30 Stunden, empfahl aber, die Handlungszeit an die Spielzeit anzugleichen. Die Einheit des Ortes hat Aristoteles nicht gefordert; sie war in der Antike üblich wegen der Freilichtbühne u. des ununterbro- chen anwesenden Chors. Castelvetro (1570) u. die Franzosen des 17. Jh. faßten die Einheiten der Hand- lung, der Zeit u. des Ortes zu den bekannten drei Ein- heiten zusammen. Aus zeitl., techn. u. moralischen Gründen kann der Dramatiker manches, was zu seinem Stoff gehört, nur berichten lassen. Im klassizistischen Drama wird die Schlußphase des Geschehens in Szene gesetzt, alles Frühere als Vorgeschichte sprachlich vermittelt. In anderen Dramen werden Zwischenphasen übersprun- gen oder nur erwähnt. Genaugenommen sind nicht nur gespielte u. berichtete Handlung zu unterscheiden, sondern 1. die Inszenierung auf offener Bühne, 2. die hinterszenisch hörbare Realisierung (z. B. eines Todesschreis) in der Art einer Hörspielpassage, 3. der Augenzeugenbericht über gleichzeitiges Geschehen (Mauerschau, Teichoskopie), 4. der Bericht über in- zwischen Geschehenes (Botenbericht), 5. die Exposi- tion der Vorgeschichte. Das durch 2 bis 4 Vermittelte heißt in der Forschungsliteratur des 20. Jh. >verdeckte Handlung<. Den Inhalt von 3 bis 5 kann man >berich- tete Handlung< nennen. Bauteile: Neben den sechs qualitativen Elementen (s. o.) nennt Aristoteles (Kap. 12) vier quantitative Bestandteile des Dramas, speziell der Tragödie: Pro- log, Epeisodion, Exodos, Chorteil. Prolog ist der Be- ginn vor Einzug des Chors, Epeisodion (>dazugekom- men<, >eingeschoben<) heißt der Handlungsteil zwi- schen den Chorliedern, Exodos der Dramenschluß nach dem letzten Chorlied. Die Unterscheidung be- zeugt die Entwicklung des Dramas aus dem Chorlied, das in Athen beim Dionysosfest gesungen wurde. Die Tragödien des Aischylos enthalten zwischen Prolog u. Exodos meist drei Epeisodien, die von Sophokles u. Euripides vier, gelegentlich fünf. Mit dem Zurücktre- ten des Chors setzte sich in hellenistischer Zeit die fortlaufende Zählung der Teile durch, für die der lat. Ausdruck >actus< kanonisch wurde. Verdeutscht wurde actus im 17. Jh. als >Abhandlung< oder >Hand- lung<, seit dem 18. Jh. als >Aufzug<. Menanders Ko- mödien u. Senecas Tragödien haben fünf Akte. Horaz (Ars poetica. 189 f.) machte dies zur Vorschrift. Neben der formalen Einteilung in Akte gibt es eine inhaltliche. Aristoteles (Kap. 18) stellt sich die Hand- lung der Tragödie als Knüpfung (Desis) u. Lösung (Lysis) eines Knotens vor. Der Terenz-Kommentator Donat (4. Jh.) unterschied Protasis (Einleitung, Expo- sition), Epitasis (Verwicklung, Verwirrung, Intrige) u. Catastrophe (Lösung). Diese Dreiteilung bestimm- te die Dramentheorien bis ins 18. Jh. u. die spanisch- portugies. Theaterpraxis bis heute. Katastrophe ist in diesem Schema nicht nur der schlimme Ausgang der Tragödie, auf den sich der Begriff heute verengt hat, sondern auch der heitere der Komödie. Seit der Renaissance hat man die drei inhaltl. Teile mit der Fünfzahl der Akte verknüpft. Julius Caesar Scaliger ergänzte die Epitasis, die er als Herstellung der Verwirrung verstand, um die Catastasis, den an- haltenden Zustand derselben. <> (Lausberg 1960, § 1197). Die Entsprechung von Knüpfung u. Lösung, die Kennzeichnung der zentralen Handlungsveränderun- gen als Peripetie (Glückswechsel) u. - im Idealfall gleichzeitige - Anagnorisis (Wiedererkennen) durch Aristoteles (Kap. 11) sowie die Fünfaktigkeit führten dazu, daß Symmetrieüberlegungen die inhaltl. Eintei- lung überlagerten. Der dritte Akt wurde, etwa bei Schiller, zum Höhepunkt u. machte so der Katastro- phe Konkurrenz. Freytag hielt diese schon im 17. Jh. zu beobachtende Tendenz in einem Pyramidenschema fest, dessen fünf Teile (Einleitung, Steigerung, Höhe- punkt, Fall oder Umkehr, Katastrophe) sich mit den Akten decken. Im neuzeitl. Drama, ansatzweise schon in der Anti- ke, werden Akte in Szenen gegliedert. Für Shake- speare ist Szene, dem Ursprungssinn des Wortes (griech. skene, lat. scaena: Bühnenhaus) gemäß, ein Handlungsabschnitt mit gleichbleibendem Schau- platz. Für Scaliger u. die Franzosen des 17. Jh. be- ginnt mit jedem Auf- oder Abtreten einer Person eine neue Szene, ist Szene also gleich Auftritt. Im Deut- schen kommen beide Auffassungen vor, z. B. bei Schiller. In Stücken mit häufigem Schauplatzwechsel (Die Räuber, Wilhelm Tell) benennt u. zählt er die Szenen wie Shakespeare; sonst legt er die <> bzw. <> wie die Franzosen an. Auch bei der Organisation der Auftritte kam es zu Regelungen. Thespis stellte um 534 v. Chr. dem tra- gischen Chor einen Schauspieler gegenüber, Aischy- los fügte einen zweiten hinzu, Sophokles einen drit- ten. Dies wurde zum Maß der Beschränkung: Mehr als drei zusammen redende Personen ließ Horaz nicht zu. In diesem engen Rahmen war der - seit dem 17. Jh. oft kritisierte - Monolog eine wichtige Variante. Die Dialogszenen standen in Antike u. Früher Neuzeit im Zeichen langer Reden, aber auch schnellen Gesprächswechsels (Stichomythie), bei dem etwa - bes. im Barock - Sentenzen pro u. contra aufeinan- dertrafen. Die Franzosen des 17. Jh. verlangten die Verknüpfung benachbarter Auftritte (>liaison des scènes<) durch mindestens eine auf der Bühne verblei- bende Person. Tragödie und Komödie: Meistdiskutierter Punkt der D. ist das Verhältnis von Tragödie u. Komödie. Sie wurden seit der Antike als gegensätzlich begrif- fen, aber verschieden aufgefaßt. Zum wichtigsten Un- terscheidungskriterium entwickelte sich der Stand der Personen. Ähnlich wie schon Scaliger schreibt Martin Opitz (Buch von der Deutschen Poeterey. Breslau 1624, Kap. 5): <> Mit dieser Ständeklausel verbindet sich die Zu- ordnung der Tragödie zum hohen Stil bzw. Pathos, der Komödie zum mittleren oder niedrigen Stil bzw. Ethos (vgl. Quintilian, Institutio oratoria VI 2, 20). Weitere Unterscheidungskriterien sind Stoff (Trauerfälle, Verbannung, Mord; Liebesaffären, Ent- führungen u. dergleichen) u. Ausgang (unglücklich; glücklich). Zusammen mit dem Standeskriterium gehen sie über den lat. Grammatiker Diomedes auf Theophrast zurück: Ihm zufolge stellt die Tragödie heroische Schicksale, die Komödie ungefährliche pri- vate Handlungen dar. Neben Stand, Stil, Stoff u. Ausgang gibt es noch zwei Kriterien: die moralische u. die histor. Bedeu- tung der Personen. Es sind die einzigen, die Aristote- les in seiner Poetik formuliert hat. In Kapitel 2 heißt es: <>. Das ist, wie neuere Forschung be- tont, moralisch gemeint, schließt aber ständ. Assozia- tionen nicht aus. Im 16. u. 17. Jh. hat man hiermit die Ständeklausel begründet. In Kapitel 9 sagt Aristote- les, die Stoffe der Komödie, v. a. die Personen, seien erfunden, die der Tragödie historisch. (Daher kann man an Titeln u. an den Namen der Titelhelden oft die Gattung erkennen.) Berühmter als diese Abgrenzungen wurde der Satz, mit dem Aristoteles die Tragödie definiert (Kap. 6), speziell die umstrittene Formulierung, daß sie Mitleid (Eleos) u. Schrecken bzw. Furcht (Phobos) oder, wie man heute übersetzt, <>. Barocke Theoretiker wie Jakob Masen u. Sigmund von Birken bestimmten im Gegensatz hierzu die Wirkungen der Komödien als Hoffnung (spes) u. Freude (gaudium). Entwicklung in Deutschland. Die neuzeitl. Ent- wicklung der D. läßt sich als Variation, seit dem 18. Jh. zunehmend als Opposition zur D. des Aristoteles begreifen. Die Aufmerksamkeit richtet sich v. a. auf folgende Punkte: Handlung u. Charaktere, Rede- u. Gesprächsstil, Publikumswirkung, Arten des Dramas, Änderungen der Bauform. Renaissance und Barockzeit: Die D. dieser Epoche entspricht deren Ständegesellschaft. Hauptdiskus- sionspunkt war, wie schon angedeutet, die ständ. Un- terscheidung von Tragödie u. Komödie. Gemäß der v. a. in Märtyrertragödien (Jesuiten, Andreas Gryphius) ausgeprägten Neigung, die Helden auch moralisch herauszuheben, erwartete man vom Publikum weniger Mitleid als Bewunderung (vgl. Schings in: Grimm 1973). Die barocke Komödientheorie, bis heute <> (Alexander 1984), ist von Unsicherheit geprägt. Die Komödie wurde als Schimpf-, Scherz-, Freuden- u. Lustspiel uneinheitlich verdeutscht. Als Gegenpol der Tragödie war sie stän- disch weniger eingeengt als diese. Während Opitz nur Personen einfachen Standes zuließ, urteilte Kaspar Stieler: <> (Dichtkunst, v. 916). Georg Philipp Harsdörffer erlaubte für <> ausnahmsweise sogar Könige. Der theoret. Bandbreite entspricht in der Praxis (Gryphius' Horribilicribrifax, Stielers Mischspiele) öfters ein strukturbildender Kontrast zwischen edler Haupt- handlung u. possenhaftem Beiwerk, wie ihn noch Les- sing 1754 für die <> forderte. Alles in allem war man im 16. u. 17. Jh. weniger um Neuerungen als um Nachahmung antiker D. u. Dramenpraxis, speziell ihrer formalen Elemente, be- müht. Erwähnung verdient die Peripetie, die, als <> (Daniel Hein- sius 1611), also als plötzl. Glückswechsel verstan- den, mit dem barocken Fortuna-Denken eine außeror- dentl. Bedeutung erreichte. Deutsche Autoren waren, sofern sie nicht Latein schrieben (Jacobus Pontanus, Jacob Masen), an der D. der Zeit verhältnismäßig wenig beteiligt. Dramatiker deuten ihre Kenntnis der D. nur flüchtig an, etwa Gryphius seine zeittypische Auffassung der Tragödiendefinition des Aristoteles mit der Bemerkung, das Trauerspiel sei <> (Vorrede zu Leo Armenius). Die wohl ausführlichste dt. D. der Barockzeit enthält Stielers Dichtkunst mit über 1000 Versen (837 ff.). Er befaßt sich v. a. mit den Typencharakteren des Dramas. Aufklärung und Goethezeit: Der Epochenwechsel von der barocken Adelskultur zur bürgerl. Aufklärung u. ihn begleitende Tendenzen (Säkularisierung, Indi- vidualismus, Aufwertung der Sinne u. des Gefühls) brachten die überlieferten dramat. Gattungen u. Re- geln ins Wanken. Erst dadurch begann sich in Deutschland eine eigenständige D. zu entwickeln. In Johann Christoph Gottscheds Bemühungen um eine Reform des Dramas kündigt sich der Geist der neuen Zeit beiläufig an, wenn er etwa zu den Zauber- szenen in Gryphius' Trauerspielen bemerkt: <> Im übrigen waren Gottscheds Vorstellungen eher konservativ. Um von den niveaulosen Haupt- u. Staatsaktionen der Wandertruppen abzukommen, die das Theater des frühen 18. Jh. prägten, sprach er sich gegen die komi- sche Figur des Harlekins aus, empfahl er als Vorbild das Regeldrama der Franzosen. Auch an der ständ. Unterscheidung von Tragödie u. Komödie hielt er fest. Zu gründl. Neuerungen kam es nach 1750 in der Generation Lessings, v. a. durch Lessing selbst. <>, schrieb er 1754. Ausdruck dieser An- näherung sind das weinerliche oder rührende Lust- spiel (comédie larmoyante) u. vor allem das bürgerl. Trauerspiel, mit dem die Ständeklausel ihre Geltung verlor. Das rührende Lustspiel vertrat in Deutschland Gellert. Seine Abhandlung Pro comoedia commoven- te (Leipzig 1751) wurde von Lessing übersetzt. Les- sing selbst bürgerte das bürgerliche Trauerspiel in Deutschland ein. Seine Äußerungen zum Drama (Briefwechsel über das Trauerspiel mit Moses Men- delssohn u. Friedrich Nicolai. Entstanden 1756/57. Hamburgische Dramaturgie. Hbg./Bremen 1767-69) sind hauptsächlich auf diese Art ausgerichtet. Er wünschte sich keine vollkommenen Helden, sondern, die Fehlertheorie des Aristoteles (Kap. 13) variierend, gemischte Charaktere, die <> sind u. die statt der Bewunderung, die Corneille gefordert hatte, Mitleid wecken. <>, schrieb er im Nov. 1756 an Nicolai. Dem paßte er auch die Tragödiendefinition des Aristoteles an: Er mäßigte den Schrecken (Phobos) zur <> u. verstand diese als <> (Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück), ordnete sie also dem Mitleid (Eleos) unter. Hintergrund dieser Mitleidsdramaturgie ist der Glaube der aufkläreri- schen Philanthropen an eine mittels zwischenmenschl. Sympathie verbesserbare Gesellschaftsordnung. Mit ihm verband sich der Anspruch auf Gefühlswahrheit, den man der am Fürstenhof üblichen Kunst der Ver- stellung entgegensetzte. Neben Lessing trugen Johann Gottlob Benjamin Pfeil mit einer anonym erschiene- nen Abhandlung Vom bürgerlichen Trauerspiele (1755) u. Joseph von Sonnenfels (Briefe über die Wienerische Schaubühne. Wien 1768) zum Ver- ständnis der neuen Gattung bei (vgl. Martino 1972). Lessing war auch in anderer Hinsicht federführend. Er übersetzte Denis Diderots Beiträge zur D. (Das Theater des Herrn Diderot. Bln. 1760), die die neuen Vorstellungen am schlüssigsten repräsentieren u. bün- deln: den Versuch eines Dramas zwischen Tragödie u. Komödie (in der Folgezeit als Drama oder Schauspiel im engeren Sinn bezeichnet), die Absage an Wunder im Drama, die Kritik an den klassizistischen Regeln, eine neue Auffassung der Charaktere, die von den Si- tuationen abhängig seien u. nicht, wie bisher üblich, sich gleichbleiben sollen, die Aufwertung des Außersprachlichen (<>) u. damit die Einbeziehung der Pantomime. Auch zur Einführung des Wortes <> im Deut- schen (anstelle von <>) gab die Diderot-Übersetzung anscheinend den Anstoß. Für die Abkehr von der Tragödie Corneilles u. Racines u. damit auch von Gottsched, bei gleichzeitiger Hinwendung zu Shakespeare, ist Lessings 17. Literaturbrief von 1759 das berühmteste Zeugnis. Räumt Gottsched den höchsten Rang unter den dich- terischen Gattungen dem Epos ein, so Lessing dem Drama: den von Jean Baptiste Dubos, James Harris und Diderot angeregten Gedanken aufgreifend, daß Poesie sich in dem Maße von Prosa abhebe, als es ihr gelinge, die willkürlich sprachl. Zeichen durch natür- liche zu ersetzen, kam Lessing zu dem Schluß, daß die dramat. Kunst dazu am fähigsten sei. So schrieb er am 26. 5. 1769 an Nicolai: <>. Die Dichter des Sturm und Drang akzentuierten ihre Abneigung gegenüber dem klassizistischen Drama anders als Lessing. Sie begnügten sich nicht mit Durchschnittspersonen, sondern begeisterten sich für moralisch fragwürdige Charaktere von <> (Goethe: Zum Schäkespears Tag. 1771). Die Abkehr von Aristoteles, die Jakob Micha- el Reinhold Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater (Lpz. 1774) vollzieht, hatte nun auch formale Folgen: Seine tragischen <> Der Hofmei- ster (ebd. 1774) u. Die Soldaten (ebd. 1776) imitie- ren Shakespeares Fetzentechnik der kurzen Szenen u. des schnellen Ortswechsels. Sie begründeten in Deutschland jenen Dramentypus, den später Büchner, Grabbe, Wedekind u. Brecht weiterführten. Mit einem von Heinrich Wölfflin (Kunstgeschichtliche Grund- begriffe. Mchn. 1915) eingeführten Begriffspaar wird er als Drama der <> bezeichnet u. dem traditionellen Typ der <> gegen- übergestellt (vgl. Klotz 1960). Beachtung verdient Lenz' Auffassung von der Komödie. In seiner Rezen- sion des neuen Menoza (1775) nennt er sie ein <> bestimmtes <> u. stellt den Unterschied von Lachen u. Weinen als zweitrangig hin: <> Schillers Bedeutung für die D. liegt weniger in sei- nen großen Aufsätzen (z. B. Über die tragische Kunst), die Friedrich Dürrenmatt als <> abgetan hat, sondern eher in den Briefen u. Vorworten, die sein dramat. Schaffen begleiten. Le- senswert ist der Briefwechsel mit Goethe von Okt. bis Dez. 1797, der in dem gemeinsamen Resümee Über epische und dramatische Dichtung mündet. Am 2. Okt. skizzierte Schiller anhand von Sophokles' König Ödipus das sog. analytische Drama (<>). Hier geht es - wie in der Detektivgeschichte - weniger um Handlungs- als um Wissensfortschritt. Ein vor Stückbeginn liegendes Geschehen wird im Lauf des Dramas aufgeklärt. Diese Dramenart hat seit Schiller (Die Braut von Messina. Tüb. 1803) zunehmend Be- deutung erlangt (Kleist: Der zerbrochne Krug. Bln. 1811. Henrik Ibsens Lebenslügen-Dramen. Arthur Schnitzler: Komtesse Mizzi. Bln. 1909), da sie dem Bedürfnis nach sozialkrit. u. psycholog. Vertiefung entgegenkam. Schiller machte auch auf die Schwierig- keit aufmerksam, für das Orakel der antiken Tragödie einen modernen Ersatz zu finden. Interessant ist seine Idee einer Reform des Dramas <> (29. Dez.). Im Vorwort zur Braut von Messina rechtfertigt er die Wiedereinfüh- rung des Chors. Im frühen 19. Jh. liebte man es, die drei <> (Goethe 1819) mit Hilfe des Begriffspaars subjektiv/objektiv in einem dialekti- schen Dreischritt zu ordnen. Als subjektiv galt die Lyrik, als objektiv teils das Drama (Friedrich Schle- gel, Jean Paul, Heine), teils die Epik (August Wil- helm Schlegel, Hegel). Im letzteren Fall verstand man das Drama als subjektiv-objektiv. Dieses <> (Friedrich Sengle) war Voraussetzung für He- gels Feststellung, das Drama sei <>. Bedeutsamer sind die Bemühungen, in den antiklassischen Dramen Shakespeares u. Calderóns mit ihrer Vernachlässi- gung der Einheit von Ort u. Zeit, ihrer Vermischung tragischer u. komischer wie auch dialogischer u. lyri- scher Bestandteile <>, zu erkennen (A. W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 25. Vorlesung). Erwähnung verdient auch der von den Romantikern hergestellte Zusammenhang zwischen D. u. Ironie (Adam Müller, Karl Wilhelm Ferdinand Solger), der zum Begriff der tragischen Iro- nie führte (Connop Thirlwall 1833), ebenso die Ein- sicht in die strukturelle Verwandtschaft zwischen Drama u. Novelle (A. W. Schlegel), der <> (Theodor Storm). Vom Realismus bis heute: Angesichts der Indu- strialisierung u. der sich anbahnenden Massenkultur gestalteten die Dramatiker seit dem 19. Jh. ihre Stücke mehr als früher <> (Hebbel: Vor- wort zu Maria Magdalene. Hbg. 1844), wurden auch die Probleme der sozialen Unterschicht zum Thema. Schon Georg Büchner erteilte <> in der Art Schillers eine Absage, verstand den Dramatiker als Geschichtsschreiber (Brief an die Familie, 1835). Die Naturalisten waren auch sprachlich auf Wieder- gabe der sozialen Wirklichkeit bedacht; <>, verkündete Arno Holz (Vorwort zu [...] Sozialaristokraten. Rudolstadt/Lpz. 1896). Als formale Merkmale der neuen Dramaturgie nennt Alfred Kerr im Hinblick auf Ibsen: Wegfall des Monologs u. des Beiseitespre- chens, Bevorzugung der indirekten Charakteristik, Dialekt, Unordnung in der Redeweise, Wegfall der pathet. u. geistreichen Rede (Technik des realisti- schen Dramas. 1891). Andererseits lieferten die Dra- matiker des späten 19. Jh. nicht nur <> (Gerhart Hauptmann). In den Dramen von Ibsen, Strindberg, Tschechow u. Hauptmann u. in an- derer Weise bei Schnitzler u. Hofmannsthal kamen auch Probleme allg. Art (Psyche, Kommunikation, Sprache) zur Darstellung. Bei alledem verlor die Handlung gegenüber den Charakteren, verlor auch das bewußt u. gezielt handelnde Individuum an Ge- wicht, gewannen nicht-intentionales (Traumszenen) u. kollektives Verhalten Bedeutung. Diese Umschich- tungen sprengten die gewohnte Form, brachten auch strukturelle Änderungen mit sich (Einakter usw.), die den endgültigen Abschied von der klassizistischen Dramaturgie besiegelten. Diesen Umbruch am Ende des 19. Jh. hat Szondi (1956) als <> diagnostiziert u. ausführlich beschrieben. Im 20. Jh. verlor das Bühnendrama die Vorzugs- stellung, die ihm im 18. u. 19. Jh. zugewachsen war. Das Interesse verlagerte sich anfangs auf das Erzählen u. dessen Theorie, dann v. a. auf die mediendramat. Formen Hörspiel, Film u. Fernsehspiel. Andererseits führten techn. Neuerungen (Elektrizität, Drehbühne, Ton- u. Bildträger) u. Aufwertung der Regie beim Drama selbst zu erhöhter Experimentierlust u. For- menvielfalt. Die Schauspielertheorie, bislang auf die Außenwirkung von Mimik u. Gestik konzentriert, nahm an Bedeutung insofern zu, als auch die innere Einstellung der Schauspieler zum Thema wurde (Konstantin Stanislawskij, Brecht). Unter den auf In- halt u. Aussage gerichteten Konzepten (Dokumentar- theater, krit. Volksstück u. andere) ragt Brechts Theo- rie des epischen Theaters heraus. Beachtung fand Dürrenmatts Gedanke, der Absurdität des modernen Daseins komme nur noch die Komödie bei. An der Theoriebildung waren auch Literaturwissenschaftler beteiligt. Ihre Begriffe u. Unterscheidungen (geschlos- sene/offene Form, gespielte/verdeckte Handlung, Haupttext/Nebentext, inneres/äußeres Kommunikati- onssystem) halfen v. a. die Struktur des Dramas klä- ren. Theater- u. Medienwissenschaft, Semiotik u. Kommunikationstheorie der Gegenwart befassen sich weniger mit dem gedruckten Text u. seiner Hand- lungsstruktur als mit den außersprachlichen Elemen- ten des Bühnenspiels, begreifen das Drama als <> (Pfister 1977). & LITERATUR: Texte, Textsammlungen: David E. R. George: Dt. Tragödientheorien vom MA bis zu Lessing. Mchn. 1972 - Ulrich Staehle (Hg.): Theorie des Dramas. Stgt. 1973. - Aristote- les: Poetik. Griech./dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Ebd. 1982. - Manfred Brauneck: Klas- siker der Schauspielregie. Positionen u. Kommen- tare zum Theater im 20. Jh. 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