BERNARD BOLZANOS BESSERE WELT Kurt F. Strasser Zuerst soll gezeigt werden, dass sich Bernard Bolzano bei seiner Berufswahl mit voller Absicht, trotz seines bereits erwiesenen Talents für philosophische Mathematik, für das Amt des Religionsprofessors und das damit verbundene schwierige Predigeramt entschieden hat. Danach kommen seine möglichen Gründe zur Sprache. Sie haben mit Bolzanos Vorstellung einer besseren Welt zu tun. Ich frage mich, wie seine »bessere Welt« aussehen mag, welcher Mittel er sich bedient, um sie herbeizuführen und schließlich, warum man ihn mit aller Gewalt daran hindert, diese Welt zu verwirklichen. 1. Entscheidung Wenn Peter Demetz in seinem Buch Prag in Schwarz und Gold Bernard Bolzano den vielleicht ersten »Sozialphilosophen einer zukünftigen multiethnischen europäischen Gesellschaft«5 nennt, so trifft er damit den vielleicht wichtigsten Wunsch des Philosophen, seinen Lebenswunsch nach einer besseren Welt. Die Rede von einer »besseren Welt« lässt zunächst an Utopie denken: Utopie wird im heute üblichen Sinn als »Ideal«, »Undurchführbares«, wie es im 19. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt worden ist, für einen nicht exixtierenden, in die Zukunft projektierten Ort der Verwirklichung einer ideal sozialen Welt verstanden.6 Bernard Bolzano hat eine Utopie in diesem Sinn verfasst: Das Büchlein vom besten Staate.7 Sein Lebenswunsch schimmert auch durch diese Utopie, wie durch sein ganzes Lebenswerk - aber das Büchlein 5 Peter Demetz, Prag in Schwarz und Gold. München: Piper 1998, 412, 6 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., bearb. von Elmar Seebold, Berlin-New York: de Gruyter, 1989, 754. 7 Erste Fassung 1831, endgültige Fassung zwischen 1840 und 1846. Veröffentlicht 1932. BGA IIA 14, 7-144]. ist eine abgeschlossene und aus der Zeit gehobene Fiktion im zeitgemäßen Gewand, wie viele andere sozialutopische Schriften auch, die in diesen Zeiten, besonders in Frankreich, gang und gäbe und schließlich namensprägend waren.8 Diese Utopie trägt vielleicht gerade deshalb so deutliche Züge seiner Zeit: starke Reglementierung, Vorbehalte gegenüber den freien Künsten... und über allem schwebt der Zwangsbeglücker Joseph II. Von ganz anderer Natur sind Bolzanos Vorstellungen einer besseren Welt, wie er sie (theoretisch) in seiner Berufstätigkeit als Religionsprofessor an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag und [praktisch) im damit verbundenen Predigeramt entwickelt: Sie spielen nicht im luftleeren Raum, sondern im Hier und Jetzt. Bolzanos »bessere Welt« liegt in ganz konkreten und gangbaren Vorschlägen zur Änderung der Lebensweise. Bolzano träumt seinen Lebenswunsch nicht, sondern macht ihn zu seiner Lebensaufgabe: Es war keine leichte Entscheidung für den jungen Studenten, die sich nach dem dreijährigen Philosophicums stellte. Werfen wir einen Blick auf die Vorgänge: Als Bolzano vor der endgültigen Festlegung im Studienjahr 1799/1800 noch verschiedene andere Materien studiert, Mathematik und Philosophie, und abschließend bei Franz Joseph Gerstner den Kurs für höhere Mathematik ablegt, berichtet dieser an das böhmische Landesgubernium, Bolzano habe bei weitem alle Schüler übertroffen, die dieser während seines siebzehnjährigen Wirkens an der Universität gekannt habe.9 Die Prüfung, auf die er sich bezieht, wird wegen der Krankheit des Beisitzenden, des Studiendirektors Karl Raphael Ungar, - er leidet an schmerzhafter Gicht - in dessen Woh- 8 Vgl. Etienne Cabets Voyage en Icctrie (1842); vgl dazu Jan Havránek, »Bolzanos >Vom besten Staate< und Cabets >Voyage en Ikarie<«. In: Bernard Bolzano 1781-1848, Praha: Univerzita Karlova 1981, 61-92. 9 Marie Pavlíková, Bernard Bolzanos Lehrjahre in: Bernard Bolzano Lehen und Wirkung. Hg. von Curt Christian. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981, 49. nung im Klementinum, dem ehemaligen Jesuitenkloster am rechten Moldauufer am Fuß der Karlsbrücke, nun Teil der Universität, abgehalten. Gerstner berichtet: »... hier zeigten sich [Bolzanos] ausgebreiteten Kenntnisse in dieser schwierigen Wissenschaft bei einem zweistündigen Examen in solchem Glänze, dass der Director darüber die innigste Freude offenbarte, sagend, er habe während dieser Zeit vor lauter Interesse keine Schmerzen empfunden«.10 Zu Beginn des folgenden Studienjahres 1800/1801 erkrankt Professor Wydra, Bolzanos Lehrer der Mathematik. Franz Joseph Gerstner, der Direktor der mathematischen Studien, will Bolzano, der ihm noch in bester Erinnerung ist, die Supplierung übertragen. Es ist aus formalen Gründen, - Bolzano ist mit 18 Jahren zu jung - nicht möglich.11 Bolzanos erste Publikationen, Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie12 von 1804 und Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik13 von 1810 sind Meilensteine in der Geschichte der mathematischen Grundlagenforschung. - Es besteht also kein Zweifel über sein besonderes Talent. Dennoch, er entscheidet sich für das Theologiestudium. Dies, obwohl (oder weil?) ihn zunächst tiefe Zweifel am christlichen Glauben und seiner Rechtmäßigkeit quälen. Die vollständige Auflösung seiner Zweifel geschieht dann in einer für unsere Begriffe sehr ungewöhnlichen Wendung. Er berichtet: Erst in dem letzten meiner theologischen Studienjahre waren es einige von dem Professor der Pastoral, Marian Mika, einem Manne, den ich ungemein hochschätzte, zufällig hin- 10 Gregor Zeithammer Biographie Bolzanos. (Orig. 1850) Hg. von Gerhard Zwerschke. BGA IV,2 1997, 45f. " Ebenda, 52. 12 Bernard Bolzano, Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie, Prag: Barth, 1804, [Neudruck Bernard Bolzano, Geometrische Arbeiten, hg. von Jan Vojtěch [Schriften, 5), Prag: Královská Česká Společnost Nauk, 1948]. 13 Bernard Bolzano, Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik. Prag: Caspar Widtmann 1810. [Neudruck Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1926] (10). geworfenen Worte, >daß eine Lehre schon gerechtfertigt sey, sobald man nur zeigen könne, daß uns der Glaube an sie gewisse sittliche Vortheile gewähre< - wodurch mir ein Licht aufging, welches allmählig alle noch übrigen Dunkelheiten zerstreute. Nun wurde mir nämlich mit Einem Male klar, daß es sich in der Religion, besonders in einer göttlichen Offenbarung so gar nicht darum handle, wie eine Sache an sich beschaffen sey, sondern vielmehr nur darum, was für eine Vorstellung von ihr für uns die erbaulichste sey; und es währte jetzt kaum einige Wochen, so war ich zu meiner völligen Beruhigung überzeugt geworden, daß wir am Christenthume, und zwar gerade an dem katholischen -eine wahre göttliche Offenbarung und die vollkommenste aller Religionen haben. Ich fühlte so lebhaft die Wohl-thätigkeit dieser Ueberzeugung, und wie ersprießlich es wäre, wenn alle gebildete Menschen dieselbe Ansicht von der Sache erhielten, daß ich mir die Verbreitung dieser Begriffe von nun an zu meiner Lebensaufgabe machte. Daß ich die Aufnahme in den geistlichen Stand ansuchen müsse, war mir nun vollends außer Zweifel [...] Mein fernerer Plan aber war, mich in diesem Stande um irgend eine Lehrkanzel an der Philosophie oder auch wohl an einem Gymnasio zu bewerben, und wenn ich erst angestellt wäre, um die Erlaubniß öffentlicher Vorlesungen über die gute Sache der Religion für freiwillige Zuhörer aus den gebildeten Ständen zu bitten. Kaum war ich einige Wochen mit diesem Plane umgegangen, kaum hatte ich ihn einigen meiner Vertrauten mitgetheilt; als ich aus dem Munde meines verehrten Lehrers Mika vernahm, daß der Monarch beschlossen habe, eigene Lehrkanzeln der Religion bei der philosophischen Facultät sowohl als auch an den Gymnasien zu errichten.14 14 Lebensbeschreibung des Dr. B. Bolzano. Sulzbach: J.E. v. Seidel 1836, 28. Dies scheint ihm eine gnädige Fügung zu sein: Mit Hofdekret vom 3. Feber 1804 richtet Kaiser Franz »an allen Universitäten und Lyceen« eigene Stellen für Religionslehrer ein. Am 22. März 1804 schreibt das böhmische Landesgubernium den Konkurs (Stellenausschreibung) für die Besetzung der Religionslehrerstellen an der Universität und an den Gymnasien aus. Bolzano bewirbt sich und die Kommission schlägt ihn für die Lehrkanzel der Religionslehre vor: Am 13. Februar 1805 wird Bernard Bolzano als erster »Katechet« oder »Religionslehrer« an der Universität Prag bestellt. »Freitags, den 19 April dieses Vormittags um zehn Uhr wurde an der hieror-tigen k. k. Karl ferdinandeischen Universität im Kollegio Kiementino und Hörsaale des lten Jahrgangs der Philosophie [...] die feyerliche Installazion des Herrn Bernard Bolzano von Kronstätten, Weltpriesters und Doctoren der freyen Künste und Weltweisheit, als allerhöchst ernannten Katecheten für die sämmtlichen Hörer der Philosophie der hierortigen Universität abgehalten«, berichtet die »Kaiserl. auch K.K. priv. prager Oberpostamtszeitung« vom 22. April 1805. In seiner Lebensbeschreibung bemerkt Bolzano später: Von dem Vorwurfe, welchen man mir bei Gelegenheit dieses Verfahrens theils scherzweise, theils auch vielleicht im Ernste gemacht hat, daß ich die Lehrkanzel der Mathematik jener der Religionslehre gern vorgezogen hätte, und dann wohl auch gar nicht geistlich geworden wäre, spricht mich mein innerstes Bewußtseyn los. Denn einem Manne, der einen großen Einfluß auf die Besetzung der Lehrkanzeln hatte, und weil er mich lieb gewonnen, mich eigends holen ließ, um mich zu fragen, welche von beiden mir denn die willkommenere wäre, gab ich zur Antwort, ich könne mit einiger Zuversicht hoffen, daß ich durch Vorlesungen über die Religion einen bedeutenderen Nutzen stiften würde, als es durch Vorlesungen über Mathematik je möglich sey.15 15 Lebensbeschreibung, 29. Die »Standeswahl« entscheidet den künftigen Lebensweg eines jungen Menschen. Bolzano hat sich intensiv damit auseinandergesetzt16 seine eigene Auswahl mit Akribie vorbereitet und klar entschieden: Er muss also einen stärkeren Beweggrund zur Berufswahl gesehen haben als jenen, den wir heute in solchen Fällen als den stärksten ansehen, nämlich seinen Talenten zu folgen: Das Kriterium heißt: Nutzen, für das Vaterland oder im weiteren Sinn für die Menschheit. Das ist ein unverkennbar josephinisches Kriterium. Bolzanos Zeiten sind durch Aufklärung und Reformkatholizismus in Böhmen wesentlich von Franz Stefan Rautenstrauch (1734-1845), Karl-Heinrich Seibt [1736-1806], Ferdinand Kindermann (1740-1801), Josef Dobrovsky (1753-1829) und deren nachhaltiges Erziehungswerk geprägt worden. Die josephinischen Reformer Böhmens messen auch die Religion an ihren Wirkungen, das heißt, an ihrem Beitrag für das Gesamtwohl, das für die Josephinisten identisch war mit dem Wohl des Staates. Joseph von Sonnenfels' programmatischer Aufsatz Ueber die Liebe des Vaterlandes17 und Karl Heirich Seibts Rede Von dem Einflüsse der Erziehung auf die Glückseligkeit des Staats,18 beide aus 1771, stecken dieses Feld ab. Bolzano ist in dieser Weltauffassung von josephinischen Beamten erzogen worden und gehört selbst noch zu dieser seltsamen species - das Kriterium des Nutzens für Staat und Bürger gibt den Ausschlag für seinen Lebensweg. (Nebenbei gesagt, er hätte wohl auch kaum eine Handvoll Schüler gefunden, die seinen mathematischen Ausführungen zu folgen in der Lage gewesen wären.) Einen wirklichen Nutzen konnte er nur in einem größeren Rahmen erreichen. Dass die Entscheidung so ausgefallen ist, heißt nicht, dass es eine Entscheidung gegen die Mathematik oder gar gegen deren Bedeutung 16 Vgl. dazu auch Bolzano, Uiber die Standeswahl. Prag: Rohlíček, 1853. 17 Joseph von Sonnenfels, Ueber die Liebe des Vaterlandes. Wien: Joseph Kurz-böckl771. 18 Karl Heinrich von Seibt, Von dem Einflüsse der Erziehung auf die Glückseligkeit des Staats Prag: Verlag der Mangoldschen Buchhandlung 1771. im Wissensgefüge wäre: Wo er nur konnte, beschäftigte er sich mit »philosophischer« Mathematik weiter, besonders nach seinem Berufsverbot. Es heißt auch nicht unbedingt, dass es eine Entscheidung für die Theologie im heutigen Sinn wäre. Bolzanos Entscheidung beruht nicht auf einem eigentlich religiösen Motiv oder gar Erweckungser-lebnis, sondern auf der Einsicht, dass es um »sittliche Vortheile« gehe, die mit dem Glauben verbunden seien. Dass die Würfel so gefallen sind, hat keine »utopischen«, es hat vielmehr konkrete, raum-zeitliche Beweggründe: 1} Die Sorge um sein Vaterland Böhmen. Es sieht es darniederliegen und von Sittenverfall und Armut bedroht. Bolzanos Entscheidung ist im Zusammenhang des böhmischen Landespatriotismus zu sehen, als Ausdruck der böhmischen Wiedergeburt vor und jenseits jeder nationalistischen und romantischen Einfärbung. Der Sitten- und Kulturverfall, den er wahrnimmt, bewegt ihn, etwas zur Rettung seines Vaterlandes zu unternehmen. 2] Die Einsicht in die »Tiefen der Zeit«. Säkularisierung, moderne Wissenschaftsauffassung und Industrialisierung führen zu einer radikalen Änderung die Lebensformen. All das entscheidet sich in dieser Zeit. Bolzano ist sich dessen bewusst und will in diesen Prozess eingreifen. 2. Impetus Betrachten wir diese beiden Beweggründe etwas genauer: (ad 1) Marie Pavlíková beschreibt die Situation an der Prager Universität in jenen Zeiten so: »Mit dem Abbau des jesuitischen Unterrichtssystems und dessen scholastischer Grundlage, dem Durchbruch der Aufklärung, und mit der fortschreitenden Rationalisierung des Unterrichts verschwand die Religion vollkommen aus der höheren Bildung. Das neue Unterrichtssystem an den philosophischen Fakul- täten und Lyceen führte aber nicht nur zur Meinungsfreiheit und Toleranz, sondern in seinen Folgen zur religiösen Gleichgültigkeit und erweckte in politischer Hinsicht revolutionäre Ideen«.19 Auch Bolzano bedauert den Abbau des jesuitischen Unterrichtssystems, wiewohl er gegen dessen Erstarrung mit allen Mitteln ankämpft. Er erkennt die »religiöse Gleichgültigkeit« als Gefahr für die Entwicklung der Kultur nicht nur Böhmens, sondern des ganzen Abendlandes. Die Liebe zum Vaterland ist das immer widerkehrende Motiv in Bolzanos Reden. »Sie werden, beydes, Kraft und Willen vereinigen, um dem gesunden Wohlstande unseres Vaterlandes aufzuhelfen!« -Aufrufe dieser Art sollen die Studierenden, und dabei handelt es sich um die zukünftige Führungsschicht des Landes, zur Umkehr aus ihrem gedankenlosen Dahinleben in ein verantwortungsvolles, nützliches Dasein bewegen.20 Bolzanos erstes Interesse gilt dem Vaterland, als überschaubare Vereinigung von weitgehend gleichgesinnten Menschen verstanden. Den Begriff »Vaterland« bestimmt er so, dass er für jedes Land der Erde gelten kann: »Nach unserer Vorstellung hat sich ein jeder Mensch das Land der Erde als sein Vaterland zu denken, von welchem er bisher die meisten Wohlthaten empfangen hat und dem er gegenseitig auch die meisten Dienste zu leisten sich im Stande fühlt.21 Er möchte seinen Dienst am Vaterland leisten. Es geht ihm konkret um Böhmen, als Land mit zwei Ethnien verstanden22 (und gar nicht so sehr um das Habsburgerreich). Das Wohl Böhmens ist das handfeste Teilziel seines Ringens um bessere Zustände für die Menschen; echtes Weltbürgertum, also das Wohl der Menschheit ist das Gesamtziel. 19 Marie Pavlíková Bolzanovo působení na pražské univerzitě. [Bolzanos Wirken an der Prager Universität] Praha: Univerzita Karlova 1985,133. 201812.3, BGA IIA 19/1, 49; 1812.4, BGA IIA 19/1, 53 . 21 1810.18, BGA IIA 17/1, 203-214, 205; (auch in: Bolzanos Kampf gegen Nationalismus und Rassismus. Hg. v. Edgar Morscher und Otto Neumaier 1996, 68 (BBF 4). 22 Bolzano ist der Vater des Bewegung des »Bohemismus«, der genau diese Ansichten vertritt. (ad 2) Die Welt, wie sie Bernard Bolzano vorfindet, ist im Umbruch. Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806, das den lockeren politischen Rahmen für vielfältige und beeindruckende geistige und künstlerische Entwicklungen in Europa abgegeben hat, bedeutet die Zerstörung eines tausendjährigen Gebildes. Zur Zeit der Gründung der Universität unter Karl IV. war Prag die glänzende Hauptstadt dieses Weltreiches in einem geräumigen gotischen Gebäude, das eben nicht nach allen Regeln der Baukunst errichtet war, wie Theodor von Dalberg am Ende feststellt, aber doch sehr lange Zeit wohnliche Sicherheit bot. Denken wir nur an Salzburg: Das bis dahin wohlhabende Land mit einer weithin bekannt aufgeklärt-kritischen Universität wird in die napoleonischen Kriegswirren gezogen, ausgeraubt, es verliert seine Unabhängigkeit, viele seiner territorialen Besitzungen, die Universität und damit ihr geistiges Zentrum (1811) und wird säkularisiert. Im Kampf der Aufklärung um das Vordringen der modernen naturwissenschaftlichen Denkweise stand eigentlich nicht die neue Kosmologie Galileis, sondern vielmehr die Frage nach dem Wahrheitsbegriff auf dem Spiel, so Ernst Cassirer, und die eigentliche Frage war:23 Liegt die Wahrheit nun nicht mehr im Wort Gottes, sondern in den Naturphänomenen selbst? Es ging dabei um den Zweifel, »ob das Universum als solches den exakten Begriffen der mathematischen Erkenntnis zugänglich und durch sie adäquat erfassbar sei«.24 Natürlich stellt sich diese Erkenntnisfrage zu Bolzanos Zeit ganz anders als zu Galileis Zeiten. Isaac Newton war es mithilfe »aperiodischer Größen« zuerst gelungen, die mathematische Analysis grundzulegen. Damit ist der wesentliche erste Schritt zu einer Mathematik getan, die in der Lage ist, Teile des Universums zu erfassen. Nur, wie die »aperiodischen Größen« in die Mathematik einzuordnen seien, darüber schwindelte sich Newton etwas hinweg, indem er den Leibniz-schen Begriff von »Differentialen« verwendete. Die Differentialrech- 23 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen: Mohr, 1932,43. 24 Ebenda, 57. nung setzte sich dann trotz Inkonsistenzen in allen Bereichen der Mathematik durch, man kam auch mit inkonsistenten Methoden zu nützlichen Anwendungen, die dazu beitrugen, das Universum besser zu begreifen.25 Bolzano lassen genau diese Unklarheiten keine Ruhe und er leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, die Analysis zu verschärfen und zur Auflösung eben dieser Inkonsistenzen beizutragen, indem er etwa »Stetigkeit« und »Differenzierbarkeit« trennt und damit zur Behebung gerade jenes Zweifels, - »ob das Universum als solches den exakten Begriffen der mathematischen Erkenntnis zugänglich und durch sie adäquat erfassbar sei« beiträgt. - Wenn es also zu seiner Zeit jemand gab, der die Frage nach der Wahrheit im Sinn der neuen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltsicht mit guten Gründen beantworten konnte - dann war es Bolzano. Aber das war ja längst nicht mehr die Frage; für Bolzano ging es vielmehr um die Frage, wie die Religion auf diese neuen Anforderungen reagiere. Er sah sich hier von der zeitgenössischen Philosophie, die von Immanuel Kant und seinen idealistischen Nachfolgern dominiert wurde, im Stich gelassen. Kant schließt die Möglichkeit, sich über metaphysische Verhältnisse vernünftige Urteile zu bilden, kategorisch aus. Für Bolzano gilt das Gegenteil: Er sieht gerade in der Weiterentwicklung der Begriffe über Religion die dringliche Aufgabe seiner Zeit. Eine Weltweisheit, welche »die Fähigkeit, über Gott und übernatürliche Gegenstände etwas zu urtheilen, ganz und gar absprechen will, [muss die] nicht eine falsche Weltweisheit sein?« so Bolzano.26 Er sieht Handlungsbedarf gegeben. Bolzanos Berufsentscheidung ist eine bewusste Stellungnahme gegen die Einseitigkeit -er spricht von »Gottvergessenenheit« - aufklärerischen Denkens und ein Versuch, angesichts des umfassenden Sittenwandels neben der 25 Peter Simons, »Viel Lärm um nichts. Mathematik ohne Objekte« In: Philosophie im Geiste Bolzanos. Hg. v. Alexander Hieke und Otto Neumaier. St. Augustin: Academia, 2003, 325-341, 332f; Rudolf Taschner Rechnen mit Gott und der Welt. Salzburg: Ecowin. 2009, 55; 26 1812.34, 414; WL § 315, 246ff. Vgl. Immanuel Kant, Critik der practischen Vernunft, Riga: Hartknoch 1786, 243ff, 699. anerkannten naturwissenschaftlichen die allgemein humanistischreligiöse Dimension des abendländischen Denkens zu retten ... kurz, Glauben und Wissen zusammenzuhalten. Entscheidend ist hier, dass Bolzano dieses Erkenntnisproblem gleichsam als menschliches Problem auffasst und nicht als technisches. Das heißt, die Frage nach dem Vorrang von Gottes Wort oder mathematischer Formelsprache stellt sich für ihn nicht als solche, nicht als Entweder-Oder. Er erkennt die Frage als falsch gestellt und wird in diesem Erkenntnisproblem der Bedrohung der ganzen abendländischen Kultur gewahr. Seine Perspektive, die Menschheit sozusagen von außen zu betrachten, setzt ein hohes Niveau der Distanzierung voraus.27 Das ist für uns heutzutage sehr ungewöhnlich, - denn während sich die Mathematik und die Physik heute fraglos auf diesem hohen Niveau der Distanzierung oder Adäquatheit bewegen, tun es die Sozialwissenschaften keineswegs.28 Bolzano hat erkannt, dass die Wissenschaften seit Newton und Leibniz zu einer im Kern mathematischen Unternehmung geworden sind und dass die Klärung der Grundlagen der Mathematik daher entscheidend für die ganze Kultur ist. Bei der Klärung ihrer wissenschaftlichen, also mathematischen Grundlagen geht es um die exakte (und »distanzierte« im Sinn von Norbert Elias] Beschreibung der Welt. - Auf einem anderen Blatt aber stehen die Lebensanweisungen der Menschen, die zu gerechten Lebensformen führen müssen. - Gerechte Lebensformen, ohne die alles Leben grundsätzlich in Gefahr ist. Diese Lebensanweisungen können aber nicht durch die Beschreibung der Welt geliefert werden, so exakt sie auch sein mag, sondern nach Bolzanos Auffassung nur durch die Religion, allerdings mit Bolzano (und Vinzenz von Lerin)29 ganz offen allgemein, umfassend (katholisch] im 27 Norbert Elias Engagement und Distanzierung. Herausgegeben und übersetzt von Michael Schröter. Frankfurt a.M: Suhrkamp 2003,101 (Orig. 1987). 28 Ebenda, 7. 29 Vinzenz, Commonitorium adversus haereticos (=CSL 64). Turnhout: Brepols 1985, 125-195; 149; vgl. RW III/l, 16-18; 1808.39,1809.36 etc. Sinne der Urkirche verstanden: als Verbindendes, als Summe von gerechten Lebensanweisungen und allgemeiner Ausdruck des Gemeinsinns aller Menschen, die Guten Willens sind. Wenn sich Bolzano durch seine Berufsentscheidung bewusst der reinen Mathematik und damit der Faszination einer immanenten Ordnung menschengeschaffener Beziehungssysteme entzieht, dann heißt das nicht, dass er sich das Leben erleichtert. Auch wissenschaftlich gesehen nicht, denn er tauscht damit eindeutige Begriffe wie »wahr« und »falsch« gegen offensichtlich unabgeschlossene und offenere Begriffe zur Bezeichnung von Adäquatheit aus.30 Der Fortschritt in den Naturwissenschaften ist evident, jener »in den Begriffen, die sich auf Tugend und Glückseligkeit beziehen« vollzieht sich deutlich langsamer, so Bolzano.31 Beides zusammen aber, - die distanzierte, objektive Beschreibung der Natur außerhalb des Menschen und die distanzierte Betrachtung seiner sozialen Lebensformen, - beides ist zu leisten und nur beides zusammen kann nach Bolzano erst eine wirkliche (= wirksame] Veränderung der ganzen abendländischen Kultur hervorbringen, - nämlich den tatsächlichen allgemeinen Übergang von einem engagierten und emotional-egozentrischen zu einem distanzierten Umgang mit der Welt. Die grundsätzlichste Wahrheit sozialen Lebens nach Bolzano, das »oberste Sittengesetz«, sieht er daher nicht in den Naturwissenschaften, also nicht in der Beschreibung der Welt enthalten, sondern in der Religion als oberster Norm der angewandten Ethik grundgelegt und definiert sie folgerichtig in den Religionswissenschaften.32 Auch wenn es paradox erscheint: Bolzanos Blick auf die Grundlagen der Mathematik bewegt ihn dazu, die zukünftigen Entscheidungsträger seines Heimatlandes durch Aufklärung zur Annahme einer »vernunftgemäßen« Religion zu überzeugen. Das Gesamtziel ist das Wohl der Menschheit. 30 Vgl. Norbert Elias, Engagement und Distanzierung, 160ff. 31 1812.33, BGA IIA 19/2,403f. 32 RW § 88, S. 236, BGA I, Bd 6,2. 3. Wie sieht eine bessere Welt nach Bolzano aus? Um das zu erfahren, würde es eigentlich genügen, sein Leben genau zu beschreiben.33 Er verhält sich tatsächlich so, dass unsere Welt, sollte sie von Menschen seinesgleichen bevölkert sein, eine vollkommen andere wäre; damals und erst recht heute, nachdem sich die abendländische Kultur dezidiert nicht in seinem Sinn weiterentwickelt und eine Welt geschaffen hat, in der Wasser und Luft und alle anderen Ressourcen von einem kleinen Teil der Weltbevölkerung [eben den Hauptvertretern dieser Kultur] verschwendet werden, die Biodiversität vernichtet..., sodass sich am Ende immer deutlicher die Frage nach der Überlebensfähigkeit der species Mensch stellt. So sähe Bolzanos bessere Welt dezidiert nicht aus. Hier können nur einige Andeutungen zu Bolzanos Lebensform gegeben werden: Es war ein unermüdlich arbeitsames Leben, getragen von einer unerschütterlichen Liebe zu den Menschen. Bei allem geistigen Reichtum war es von äußerer Genügsamkeit. Materielle Güter spielten eine geringe Rolle. Ruhm, Orden und Besitz hatten darin keinen Wert. Mit seinen Worten: »Was immer die Natur selbst nicht gebieterisch fordert, das lasset uns, wo nicht verschmähen, doch nie in solcher Weise und so oft genießen, daß es uns zum Bedürfnisse, das wir nicht lassen können, werde [...] die einfachsten und wie die gesündesten, so auch zugleich die wohlfeilsten Nahrungsmittel mögen die Speise sein, durch die wir unseren Leib erhalten; nicht theuere Stoffe, zu deren Bereitung so vieler Menschen Hände zusammenwirken, Mancher vielleicht selbst einen Theil seiner Gesundheit aufopfern mußte, sondern gemeine, leicht zu gewinnende und darum wohlfeile Zeuge wählen wir zu jenen Kleindungsstücken, womit wir uns vor Kälte und Witterung schützen [...] die einfachen und wohlfeilen Freuden der Natur seien diejenigen Erholungsmittel, durch die wir uns, wenn wir ermüdet sind, zu neuen Arbeiten stär- 33 Vgl. Zeithammer, Biographie Bolzanos, 50-60 (Bolzano's Charakterschilderung). ken«.34 - Eine bessere Welt verlangt eine andere Lebensform. »... was folgt hieraus für deine Lebensweise?« fragt Bolzano stets, um den Ertrag seiner »religiösen Betrachtungsstunden« zu sichern und weist auch konsequent auf die psychologischen Schwierigkeiten hin, die mit der Umsetzung einer anderen Lebensform verbunden sind.35 Bolzanos bessere Welt ist auf grundlegenden »Wahrheiten an sich« aufgebaut, wie etwa die »Wahrheit von aller Menschen wesentlicher Gleichheit« (1810.33f);36 eine Wahrheit, die sich zu seiner Zeit noch keineswegs allgemein durchgesprochen hat (und heutzutage eher noch weiter aus dem Sichtfeld geraten zu sein scheint). Das »oberste Sittengesetz« ist für Bolzano die grundlegendste der Wahrheiten an sich und diese versteht er als »eine praktische Wahrheit, aus der sich jede andere praktische Wahrheit (also auch jede einzelne Pflicht, die den Menschen betrifft) objectiv, d.h. so, wie die Folge aus ihrem Grunde, ableiten läßt«!37 Es verlangt im Grunde nichts anderes als das Eintreten für das Wohl der Menschheit. Die neue Lebensform sieht ein radikal verändertes Verhalten zu Besitz und Eigentum vor (1809.43f). »Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam« (Apg 4,32): Muster ist das frühe Christentum, das eine ethische Wende in die Welt gebracht hat. Das hat mit einfach scheinenden Werten wie Achtung vor der Schöpfung in ihrer ganzen Vielfalt und Verantwortung jedes einzelnen Menschen dafür zu tun (und nichts mit einer Massen- Konsumgesellschaft, die auf Industrialisierung und deren Globalisierung setzt). - Bolzanos »oberstes Sittengesetz« ist eine Art globalisierbarer deontischer Norm und sein ethischer Anspruch, dem »Wohl der Menschheit« zu dienen, ist global in der Form, dass er sich letzten Endes auf die Überlebensfähigkeit der spe- 34 1812.15, BGA IIA 19/1,198. 35 1808.2, BGA IIA 15, 98; 1812,29f, BGA IIA 19/2etc. 36RWIV, 15-19. 37 RWI§87, 228. des Mensch auf diesem Planeten zurückführen lässt - das beruht aber einem ganz anderen Begriff von Globalisierung als dem heute allgemein üblichen (einer globalisierten Industrialisierung der Massen-Konsumgesellschaft). Schließlich noch eines: Nichts aus Bolzanos besserer Welt ist seine Erfindung. Um seine neue Welt zu erbauen, nutzt er nichts anderes als die wahrhaft revolutionären Wahrheiten der Bibel und versucht dem göttlichen Baumeister möglichst nahe zu kommen; dabei achtet er stets auf einen wissenschaftlich fundierten, möglichst allen Vernunftbegabten einsehbaren Aktions- und Bauplan. Es mag paradox klingen, aber gerade der Umstand, dass sich die westliche Welt so ganz anders entwickelt hat als das Bolzano vorgesehen hat, macht ihn schlagend aktuell: jetzt, wo die tatsächliche Entwicklung (enorme technische Weiterentwicklung bei Wegfall der kulturell-religiösen Ausgangskomponente) offensichtlich an ein Ende stößt. 4. Was sind die Grundzüge von Bolzanos Lehren? Bernard Bolzano tritt mit vollständigen Aufriss der Religionswissenschaft an, den er sich als Achtzehnjähriger bereits im Kampf um seinen Glauben errungen hatte.38 Das »schwierige Predigeramt«39 bedeutet von Anfang bis Ende eine harte, gesundheitsraubende Last für ihn. Das Motto zur ersten gedruckten Ausgabe von Erbauungsreden, Prag 18 1 340 unterstreicht Bolzanos Ausgangslage. »Meine natürlichen Anlagen waren für die aktive Politik nicht stark und kräftig genug, wie es erforderlich gewesen wäre, für das Redenhalten aber nicht vollkommen und nicht in jeder Beziehung brauchbar; sie befähigten mich aber, über jeden Gegenstand den wahren Sachver- 38 Eduard Winter Bernard Bolzano. Ein Lebensbild. BGA E 1.1969, 37. 39 1812.4, BGA IIA 19/1, 52 40 Erbauungsreden für Akademiker. Von Bernard Bolzano, Weltpriester, Doctor der Weltweisheit, und k.k. ordentlichen Professor der Religionsphilosophie an der Karl-Ferdinandeischen Universität. Prag 1813: bey Caspar Widtmann. halt besser zu vermuten als Leute, die es zu wissen behaupten«.41 Es stammt von dem antiken Rhetor Isokrates. Dieser war der Mann des common sense in der antiken Philosophie, er verstand die Philosophie durchaus praktisch, als Hinführung zu erfolgreichem, ethisch begründetem Handeln.42 Das war auch Bolzanos Weg. »Besonders in Zeiten, meine Freunde, wie diese gegenwärtig, in solchen schweren Zeiten, wo durch die Grausamkeit Einiger, und durch den Unverstand Anderer ganze Völker und Länder in das nahmenloseste Elend gestürzt worden sind, da kann in Wahrheit nichts als das Erwachen eines edleren Geistes der Wohlthätigkeit unter den reicheren Bürgern tausend und abermahl tausende ihrer ärmeren Mitbürger von dem schmählichsten Tode retten!«43 Von diesem »edleren Geist« ist die Rede, von einer neuen Lebensform in diesem Geiste. Es geht um zwei Dinge (die letztlich eins sind]: (1] Nachfolge Jesu [2] Erbauung (ad 1) Nicht von der Zukunft, sondern von dem, das gerade im Hier und Jetzt stattfindet, spricht Bolzano in seinen Reden. Und er vergleicht immer wieder sein Heimatland Böhmen mit Palästina zu Zeiten Jesu Christi. Jesus hatte die Zeiten erkannt, die Notwendigkeit einer grundsätzlichen, moralischen Veränderung eingesehen und tatsächlich einen ethischen Wandel von bis dahin unvorstellbarer Tragweite herbeigeführt Nichts weniger als das hat Bolzano im Sinn. Er tritt damit in die Nachfolge Jesu, Das verlangt er im Grunde auch von seinen Studenten, der zukünftigen Intelligenz des Landes, die er zu Hörern hat. 41 Isokrates, Panathenaikos 9 [234d] Sämtliche Werke, Band II. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Stuttgart: Anton Hiersemann 1997, 47; Erbauungsreden Prag 1813,11. BGA 12,16. 42 Vgl. Manfred Fuhrmann Die antike Rhetorik. München und Zürich: Artemisl990, 24f. « 1812.13, BGA IIA 19/1,161. Das Reich Gottes auf Erden ist im Sinne der christlichen Eschatologie seit Jesu Geburt im Aufbau. Jesus Christus ist nach Bolzano derjenige, der den Menschen erstmals klare Begriffe über göttliche und menschliche Verhältnisse gebracht hat - der erste Aufklärer. Das Werk ist begonnen, aber noch lange nicht vollendet. Er selbst und seine Schüler sind aus seiner Sicht dazu berufen, dieses Werk fortzuführen. Das Gesamtwohl der Menschheit, letzten Endes ihr Überleben in einem gemeinsamen Haus verlangt nach dieser ethischen Wende. Jeder Einzelne hat sie für sich umzusetzen. Bolzano weiß, dass er nur den Anstoß geben kann; die eigentliche Arbeit bleibt niemand erspart: »... Es ist unangenehm, die leisen Regungen seines Gewissens laut werden zu lassen, die Widerrechtlichkeit und Thor-heit einer bisher beobachteten Lebensweise recht lebhaft einzusehn, und absichtlich bei diesem Anblicke, der unsern Augen so widerlich ist, recht lange zu verweilen, endlich auch Aenderungen, mühsame Aenderungen zu treffen in seiner bisherigen Benehmungsart, und Neigungen und Wünsche, die uns schon zur Gewohnheit wurden, ihre Befriedigung zu versagen.«44 (ad 2) Wie Gott im Alten Testament sein Volk aufbaut, so erbaut er sich im Neuen Testament seine Kirche durch Jesus Christus45 Dementsprechend wird sie »Bau Gottes«, »Tempel Gottes«, »geistliches Haus« oder »Wohnstätte Gottes« genannt. In diesem Sinne geht es um Erbauung. »Auf der einen Seite ist [Erbauung] das Resultat des Bauens, das Gebäude (1 Kor 3,9; Eph 2,21); auf der andern Seite bezeichnet dasselbe Wort den Akt des Bauens, das Erbauen (Rom 14,19; 15,2; 1 Kor 14,3«.46 Ein mittelalterlicher Klassiker der Erbauungsliteratur entwirft den letzten Beweggrund des Christenmenschen in der »imitatio Christi«. Die gleichnamige Erbauungsschrift, eine Kompilation der 44 1808.2, BGA IIA 15, 98. 45 Theologische Realenzyklopädie. Berlin-New York: Walter de Gruyter 1977ff. Bd. 10 (1984), Artikel »Erbauung« von Gerhard Friedrich. 46 Ebenda Bd. 10,18. Schriften des niederländischen Laienapostels Gerhard Groote (tl384) durch Thomas von Kempen hatte, trotz ihres außerordentlich spröden Programmes, Welterfolg. Imitatio Christi ist Weg und Ziel auch von Bolzanos Erbauung. Die imitatio wird dabei von der mittelalterlichen Leidensnachfolge zur Nachfolge von Jesus' volksbildnerischem, aufklärerischem Wirken aktualisiert. In gewisser Weise ist diese imitatio freilich auch für Bolzano und seine Schüler ein opfervoller Weg, und Bolzano macht sich selbst und seinen Schülern nichts vor: »Niemand kann Ihnen versprechen, daß Sie das Gute jedes Mahl zu Stande bringen werden, wofür Sie sich zum Opfer dargebothen haben! Sie können Ihr ganzes Leben dem edlen Zwecke weihen, nützliche Aufklärung in Ihrem Lande zu verbreiten; und vielleicht sterbend sehen, daß ein mächtiger Bösewicht das alles wieder vereitelt, die Schulen sperrt, und den mit Mühe verdrängten Aberglauben in seine vorigen Rechte wieder einführt! Sie können Jahrzehende lang alle Ihre Kräfte dazu verwendet haben, um gewisse geheiligte Rechte der Menschheit, die man mit Füssen tritt, endlich empor zu bringen: und siehe, wenn Sie schon alles gewonnen zu haben glauben, da tritt ein Sohn der Hölle auf, spricht dem verjährten Mißbrauche das Wort, stimmt Alles um und - es bleibt beym Alten.«47 Das Scheitern ist vorhersehbar, aber auch das hält Bolzano nicht von seinem Tun ab. 5. Wie setzt Bolzano seine Vorstellungen um? Zur Umsetzung bedient er sich verschiedener Wissenschaften: [1] Die Philosophie als allgemeinste Wissenschaft, die vom objektiven Zusammenhang der Wahrheiten an sich handelt, interessiert ihn, um in diejenigen Wahrheiten, welche dem Menschen nützlich sein können, bis in deren letzte Gründe nach Möglichkeit einzudringen, um dadurch weiser und 471812.28, BGA IIA 19, 347f. besser zu werden.48 Der Sinn der höheren Mathematik und Logik, im Grunde eine (tautologische) Denkübung, liegt für ihn darin, prinzipielle Klarheit in den wesentlichen Grundfragen zu schaffen. Bolzanos Leistung ist es, mathematische Methoden in die Philosophie eingeführt zu haben. Die Umsetzung der ethischen Wende steht und fällt mit der Klarheit ihrer logischen Grundlagen. (2} Auch die Rhetorik nimmt, wie die Dialektik, im aristotelischen Verständnis die Stellung einer Art Metadisziplin ein: In der Absicht, den Menschen letzten Endes zur Glückseligkeit zu führen, beschäftigt sich die »Dialektik«, also die Logik und Mathematik, mit den abstrakten Grundlagen, dem An sich gleichsam; während die Rhetorik die notwendige Überzeugungsarbeit leistet, bei der es vor allem auf die Angemessenheit (aptum) des Vorgebrachten ankommt. Die großen Rhetoriker Cicero, Quintilian oder Seneca sehen im Charakter und in der Bildung des Redners das Entscheidende: Sie fordern, der Redner habe ein vorbildlicher Mensch [perfectus orator), ein moralisch tadelloser Mensch [vir bonus) zu sein, zugleich auch einer, der mitten im Leben steht und sein im Grunde immer ethisches Anliegen mit aller Kunst vorzutragen weiß [dicendi peritus). Der Redner muss von einer Sache selbst überzeugt sein, und Bolzano ist es ohne Zweifel; »ut moveamur ipsi«,49 so die klassische Formulierung, um andere überzeugen zu können - genau das wollte Bolzano. (3} Die Pädagogik war im österreichischen, jesuitisch geprägten Bildungssystem bis in die Tage des Schulreformers Ferdinand Kindermann nicht sonderlich gepflegt worden. »Aus der neologischen Erweichung der Erbschuld, verbunden mit Rousseauschen Gedanken, erwuchs das Interesse 46 Bernard Bolzano, Was ist Philosophie? BGA IIA 12/3, 29. 49 Quintilian, Inst Or. 6,2,26 an der Erziehung, von der man für das allgemeine Wohl geradezu eine Umgestaltung der Menschheit erwartete«, so Eduard Winter.50 Der Erneuerungswille der böhmischen Reformkatholiken war beträchtlich, der Erneuerungsbedarf erst recht, gerade zu Bolzanos Zeiten. Er übernimmt wesentliche Anregungen bei den Philanthropisten im benachbarten protestantischen deutschen Ausland. Übereinstimmend wird berichtet, dass Bolzano ein begnadeter Lehrer ist, der schwierigste Zusammenhänge einfach darstellen kann.51 Während es zu seiner Zeit noch üblich ist, Auswendiggelerntes nachzubeten, sein Schüler Carl Postl berichtet darüber eindringlich,52 bemüht sich Bolzano stets, seine Schüler zum Selbstdenken anzuregen: »Halte dich nicht bloß an die todten Buchstaben, fasse den Geist des Unterrichts auf, wähne auch nicht, daß du verbannt seyst, allzeit nur deines Lehrers Meynung anzunehmen, prüfe und forsche du selbst!«53 (4) Die Sprachwissenschaft war zu dieser Zeit noch keine fertige Disziplin. Bolzano hat bedeutsame Schritte dorthin unternommen. Mit einem umfassenden System neu und klar definierter Begriffe versucht er seine Aufklärungsarbeit ins Werk zu setzen. In der Begriffsbestimmung geht er vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, präzisiert oder nuanciert ihn. Er geht dabei sprachphilosophisch vor und trennt exakt Bedeutungsträger und Bedeutung, signifiant und signifie, in einer prinzipiell arbiträren Verbindung ver- 50 Eduard Winter Bernard Bolzano. Ein Lebensbild. BGA E 11969,14f. 51 Josef Hoffmann, Bruchstücke zu einer künftigen Lebensbeschreibung des sei. Professors Bernard Bolzano. Eine Schrift für Freunde. Wien: J. P. Sollingers Witwe 1858,22. 52 Carl Postl [Charles Sealsfield], Austria as ist is or Sketches of continental courts, by an eye-witness, London 1828 [zitiert nach Sealsfield Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl J. R. Arndt [u.a.]. Bd 3, Hildesheim, New York: Olms 1972. 53 1812.5, BGA IIA 19/1, 74. standen (im später von Ferdinand de Saussure ausgeführten Sinn]. Bolzanos Grundvertrauen dahinter könnte man mit ihm so ausdrücken: »Gelingt es uns erst eine edle Sprache einzuführen, so wird im Kurzen auch schon eine edle Denk- und Handlungsweise in unserem Vaterlande herrschen. Denn wie der Mensch spricht, so denkt und handelt er auch. Und wer recht redet, spricht das Wort Gottes, den sollen alle schätzen«.54 Die Präzisierung der Alltagssprache oder Neubeschreibung55 der Welt geschieht im Bewusstsein des Zusammenhanges von Sprache und Lebensformen. Im Unterschied zu modernen Utopien bleibt Bolzanos Plan im Hier und Jetzt verhaftet. Dennoch bleibt sein Augenmerk einerseits in der Vergangenheit, besonders in der Geisteswelt des frühen Christentums, wie auch in der humanistischen Tradition verankert und er versucht das zu verhindern, was Stephen Toulmin einmal die „Amputation" des europäischen Denkens durch Eiferer und Perfekti-onisten ganannt hat, eine Gefahr, die der Aufklärung seit Descartes innewohnt Andererseits ist Bolzanos Plan auf das Zukünftige gerichtet, was allein schon in der Natur des genus deliberativum seiner Erbauungsreden liegt. Das Christentum, so wie es Bolzano auffasst, ist in ständiger Bewegung, wie der Gemeinsinn selbst »fluktuierend«, und perfektibel. Daher wohnt Bolzanos Anschauungen eine starke Dynamik inne. Auch wenn er das Entstehen von Aufruhr aus Unzufriedenheit in vielen Fällen einsieht und die Gründe, die zum Protestantismus oder zur Französischen Revolution geführt haben, versteht; eine Abkehr von der allgemeinen (katholischen] Kirche oder einen blutigen Machtwechsel lehnt er konsequent ab. Er setzt ausschließlich auf legale Mittel. Im christlichen Grundverständnis liegt es, dass zur Verwirklichung einer besseren Welt keinerlei Gewaltanwendung vorgesehen ist. Es geht hier um einen Paradigmen- 54 1811.43, BGA IIA 18/2 435 (Spr 16,13), 55 In Sinn von Richard Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis. Wien: Passagen 1994 88f. Wechsel, also den Wechsel in den grundsätzlichen Forschungsmustern und -zielen, durchaus auch im wissenschaftlichen Sinn, wie ihn Thomas S. Kuhn beschreibt, mit allen kritischen Begleiterscheinungen und Symptomen. Aber Bolzano will kein »Weltverbesserer« sein, sondern Menschenverbesserer, »... ich verlange, dass der Menschen-verbesserer Moralität im Herzen habe, daß er nicht bloß so und so denke, sondern so wirklich empfinde; ich will, dass er eine warme, im Herzen gegründete Liebe zu allen seinen Mitmenschen empfinde«.56 Es geht um einen Paradigmenwechsel im allgemeinsten Sinn, einen, der die ethischen Verhaltensmuster und -ziele betrifft, um die Religion, in Bolzanos Verständnis. Genau das ist schon im Gange mit den wissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen seiner Zeit Der Wandel des Weltbildes ist ein im allgemeinen schwer wahrnehmbarer, oder, wie Thomas Kuhn beschrieben hat, ein unsichtbarer Vorgang. Nur - Bolzano, der ihn vielleicht klarer erkennt als viele seiner Zeitgenossen, lehnt die Richtung, in die sich die Muster bewegen, grundsätzlich ab, und zwar sowohl die wissenschaftlichen, also das, was Friedrich Nietzsche später den »Willen zur Wahrheit« nennt, genauso wie die ethisch-religiösen, also die Auflösung christlicher Werte in materialistischem Gewinnstreben, wie er das in seinen Vorträgen teils sehr genau beschreibt Bolzano tritt nicht für einen Machtwechsel oder eine andere Religion ein, sondern für die allgemeine Abkehr vom Machtstreben in einer Religion des Gemeinsinns, die zugleich vernunftgemäß und demütig ist, - eine wahrhafte Umwälzung, ganz unspektakulär und unbeirrt. 6. Warum hindert man ihn, sein Werk auszuführen? Was zur Aufkündigung von Bolzanos Wirkungsmöglichkeiten durch Staat und Kirche 1820 geführt hat, ist, wenn man sich die Argumente ansieht, die gegen ihn aufgeführt werden,57 die Angst vor 56 Gregor Zeithammer Biographie Bolzanos, 58 (Bolzano 1803). 57 Eduard Winter, Der Bolzanoprozess. Brünn-München-Wien: Rohrer 1944, bes 113ff. Aufruhr und Revolution - und eben nicht die Kenntnis von Bolzanos Gedanken, der genau das vermeiden wollte (und dazu seinen Teil beigetragen hätte). Oder genauer gesagt, es war die Angst der Mächtigen in Staat und Kirche vor dem Machtverlust, die sein Ende herbeigeführt hat. Konkreten Machtverlust hätte es für die Kirche bedeutet, Bolzanos aufgeklärte Positionen anzunehmen und sich auf die neuen Zeiten einzulassen. Konkreten Machtverlust hätte es für den Staat bedeutet, jene Verfassungsänderungen vorzunehmen, die Bolzano für notwendig hielt, um allgemein zu mehr Gerechtigkeit und Mitbestimmung zu kommen. Bolzano (und viele andere Kämpfer für die »gute Sache der Menschheit«) »unschädlich zu machen« war eindeutig der einfachere Weg. Der Wirkungsverlust für Bolzano war umfassend, seine Einflussmöglichkeiten wurden mit einem Schlag gekappt. Auch wenn die Erbauungsreden etwa in großer Menge, zum Teil als handgeschriebene, gebundene Bücher, im ganzen Land, als frühe Samisdat-Litera-tur (so Jan Sebestik einmal) weitergereicht wurden, - die Dynamik zerfiel, die Bewegung verlief sich. Dass es der Kaiser und seine Berater nicht verstanden hatten, in Bolzanos Philosophie einen geistigen Rückhalt, gerade für ein multiethnisches europäisches Gebilde wie es das Habsburgerreich war, ein gemeinsames Haus für viele Völker zu erkennen,58 das reiht sich in die Folge der tragischen Missverständnisse, die zu ihrem Ende geführt haben. Aber es gibt viele Gründe, Bolzano links liegen zu lassen. Von der Beunruhigung, die von jeder tiefgreifenden Veränderung ausgeht und der versuchten Ausgrenzung der Abweichler, wie das Thomas Kuhn auch beschreibt; Gründe genug, bis heute; hier einige davon: • Entscheidend ist seine Unbestechlichkeit Wie schon zu Lebzeiten, so zeigt sich auch in der weiteren Geschichte, dass Bolzano nicht vereinnahmbar ist. Der Umstand, dass 58 Vgl. Josef Fesls Schreiben an die Kaiserliche Akademie bei Überreichung von Bolzanos Werken. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe 1849, Bd. 3,156-162. er sich weder für die Tschechen noch gegen sie entschieden hat, weil er den Sprachunterschied für völlig unwesentlich und den Sprachnationalismus nach Herder für eine Folge heilloser Begriffsverwirrung hält, hat ihn für den tschechischen (und jeden anderen) Nationalismus unbrauchbar gemacht und bewirkt, dass er aus der böhmischen Geschichte einfach hinausgefallen ist59 - Erst im subtilen Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft mit der Widerstandsbewegung »Charta 77« besinnen sich Leute wie Jan Patočka wieder dieses Landsmannes und er taucht in der Samisdat-Literatur auf. Gegen offenen Aufruhr hat sich Bolzano immer entschieden ausgesprochen, aber nicht gegen Widerstand: »Es gibt ein leichteres, es gibt ein sanfteres Mittel um böse, lästige Verordnungen zurückzuweisen und der Bedrückung tyrannischer Obrigkeiten zu widerstehen. Und dieses Mittel ist - die allgemeine Überzeugung von ihrer Widerrechtlichkeit. Wenn alle, alle Bürger einsehen, daß Etwas widerrechtlich ist; wenn es nur Eine Stimme im ganzen Volke darüber gibt: wer, meine Freunde, wer sollte es da wagen, es ihnen aufdringen zu wollen? Dann mag der Bösewicht befehlen - es gehorcht Niemand«.60 Was Bolzano in dieser Rede über das »Verhalten des Weisen gegen die Gesetze der Obrigkeit« im März 1812 gesagt hat, das sollte sich dann in der »samtenen Revolution« von 1989 als probate Methode des Widerstandes beweisen. • Dass Bolzano aus der Kirchengeschichte gefallen ist, verwundert nicht. Seine Papstkritik ist zu deutlich und andere Religionsgemeinschaften kommen für ihn gar nicht in Frage, sie sind ihm zu eingeschränkt: zu rational, zu irrational 59 Eugen Lemberg, Grundlagen des nationalen Erwachens in Böhmen. Reichenberg: Gebr. Stiepel 1932 (= Veröffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Universität in Prag. I. Reihe: Untersuchungen, Heft 10), 10. so 1812.24, BGA IIA 19/2, 288. Vi oder zu national. Für die doch sehr stark stilisierende katholische Geschichtsschreibung ist er schlicht nicht vereinnahm- und einordenbar und man läßt ihn vorsichtshalber weg.61 Allerdings gewinnt sein allgemeines und gleichsam noch vor der ersten Kirchenspaltung angesetztes Glaubensverständnis im aktuellen ökumenischen Dialog wieder an Bedeutung und ein aggiornamento in der katholischen Kirche scheint dringender denn je notwendig. • Politisch gesehen war Bolzano, der immer den ganzen Menschen im Auge hatte, niemals einer bestimmten Partei zuordenbar oder vereinnahmbar. An seinen Mitstreiter Fesl schreibt er: »Man muß entschieden sein, der Wahrheit, der guten Sache der Menschheit anhangen, keiner Partei, keiner menschlichen Richterstätte gefallen wollen«.62 Trotzdem, ja vielleicht gerade deshalb, muten seine politischen Einschätzungen vor der jüngsten Weltgeschichte oft bestürzend aktuell an: »... wie betrügerisch, wie Jeder auf seinen eigenen scheinbaren Vortheil bedacht, wie lieblos, hart und grausam die Menschen jener Zeit gewesen seien: ach, wer verlangt hierüber stärkere Beweise, als jene ungeheuere Reichthümer und jene üppige Verschwendungssucht einzelner Bürger, während die Übrigen in der drückendsten Noth und Armuth schmachteten, als jene unaufhörlichen Kriege und Blutvergießungen, die man nicht einmal mit einem Rechtsvorwande zu entschuldigen bestrebt war, als jene leidenschaftlichen, nicht die Einführung einer besseren Ordnung der Dinge, nein, die Ungebundenheit nur und die 61 Vgl. Winfried Löffler, Bolzanos Religionsphilosophie und Theologie. In: Die Bedeutung Bernard Bolzanos für die Gegenwart. Hg. v. Kurt F. Strasser, Praha: Filosofia 2003,109-141, Ulf. 62 2.6. 1845 in Winter, Wissenschaft und Religion im Vormärz. Berlin: Akademie-Verlag 1965, 350f. Sättigung des Eigennutzes gewisser Menschen bezweckenden Volksaufwiegelungen ...«.63 • Dass Bolzano auch noch aus der Philosophiegeschichte gefallen ist, oder besser, dort nie recht Platz gefunden hat, verdankt er zum guten Teil seiner strikten Gegenposition zur damals tonangebenden und den Zeitgeist noch lange prägenden Philosophie Kants und des deutschen Idealismus. Dem schreibt er zu, dass die Kunst des deutlichen Denkens, statt fortzuschreiten, allgemein rückläufig sei und »daß jene Art zu denken, die sich die Weltweisen Deutschlands seit ein paar Jahrzehenden eigen gemacht, mehr ein willkürliches Spiel mit Bildern und Worten, als ein geregeltes, zur Wahrheit führendes Nachdenken sey«.64 Als einen der Gründe für den großen Erfolg Hegeischen Denkens sieht Bolzano, daß »es die Machthaber der Erde selbst sind, welche durch die verschiedenartigsten ihnen zu Gebote stehenden Mittel die Verbreitung solcher Ansichten befördern«. Sie tun dies, so Bolzano, vielfach aufgrund einer gewissen Unverständlichkeit dieser Lehren, die nicht selten mit Gelehrtheit verwechselt wird und in ihrer Beliebigkeit eben in verschiedener Weise, auch für Machtzwecke, nutzbar gemacht werden kann;65 was bei Bolzanos Denkweise schlicht ausgeschlossen bleibt. • Letzten Endes entspricht die Vielfalt seiner Tätigkeiten und Leistungen in Logik, Mathematik, Physik, Philosophie, Theologie, Ästhetik, Pädagogik, Sprachwissenschaft u.a. so gar nicht dem modernen Wissenschaftsverständnis. Viel- es 1812.24, BGA IIA 19/2, 288. 64 1818.35 in: Bernard Bolzano, 24 Erbauungsreden Hg. v. Kurt F. Strasser. Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2001, 315. 65 »Ueber Hegel's und seiner Anhänger Begriff von der Geschichte überhaupt und insbesondere von der Geschichte der Philosophie« BGA IIA 12/3, 44. Vgl. auch 1817.34-37; WL § 718; RWI, S. 165-168. versprechende Ansätze sind oft genug im Graben zwischen den verschiedenen Wissenschaften versackt. • Dazu bietet Bolzanos Leben bei aller unwahrscheinlichen Klarheit und Unermüdlichkeit keinen brauchbaren Ansatz zur Bewunderung, von der Ruhm und auch Nachruhm hauptsächlich lebt. Also ist auch heute damit für Verlage kaum Geld zu machen. Eine der bekanntesten Passagen aus Bolzanos Erbauungsreden lautet: »Es wird [...] einst eine Zeit erscheinen, wo man den Krieg, das tolle Beginnen, sein Recht durchs Schwerdt zu beweisen, [...] allgemein verabscheun wird, [...] wo man Verfassungen einführen wird, welche dem Mißbrauche nicht mehr so schrecklich ausgesetzt seyn werden, als unsere gegenwärtigen ...".66 Dieser Satz hat ihm gleichsam das Genick gebrochen und bei seiner Absetzung eine entscheidende Rolle gespielt. Dass eine bessere Welt nicht von heute auf morgen geschaffen würde, war aber Bolzano von vornherein klar und hätte ihn von seiner mutigen Entscheidung auch nicht abgehalten... »Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln« (2 Tim 4, 3). 661811.14, BGA IIA 18/1,151 {Erbauungsreden 1813, 99).