BERNARD BOLZANO UND DER REFORMKATHOLIZISMUS IN BÖHMEN IM 19. UND AM ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS Jan B. Lásek In der katholischen Theologie findet Bolzano kaum Beachtung. Anders ist das in der Tradition der Tschechoslowakischen Kirche1. Naturgemäß ist das Rezeptionsdefizit auch hier erheblich, aber die grundsätzlichen Positionen stimmen in wesentlichen Bereichen mit der Haltung Bolzanos überein. Der Kampf um die Einheit von Wissenschaft und Glauben, an dessen Beginn Bolzano steht, findet während des gesamten 19. Jahrhunderts sowohl in der deutschen protestantischen Theologie als auch im katholischen Modernismus und im katholischen Konkordismus am Ende des Jahrhunderts statt. Das, was Bolzano am Beginn des 19. Jahrhunderts hervorzubringen geholfen hat, fand im tschechischen Milieu seinen konkreten Ausdruck in den Reformforderungen der Unität der Geistlichkeit an Rom vom Jahre 1919 und in der Begründung der Tschechoslowakischen Kirche am 8. Januar 1920. Bolzanos Forderungen wurden im Verlaufe des geschichtlichen Prozesses jedoch konkretisiert und radikalisiert. Es geht hier um eine Linie Dobrovský - Bolzano - Fesl - Náhlovský - Příhonský - Smetana -Baar - Farský. Diese wird übrigens auch durch die Tatsache bestätigt, dass sich J. S. Baar und P. F. Teplý in der »Erneuerung der katholischen Kirche in der Tschechoslowakischen Republik«2 zu Bolzano 1 Vgl. Rudolf Urban, Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche, Marburg/Lahn 1973, S. 2-3 [Marburger Ostforschungen Bd. 34). 2 Obnova církve katolické v Československé republice. Návrh Jednoty československého duchovenstva. (Die Erneuerung der katholischen Kirche in der Tschechoslowakischen Republik. Ein Vorschlag der Unität der tschechoslowakischen Geistlichkeit). Prag 1919, 4-5. Mit der ersten Generation der Bolzano-Schüler beschäftigte sich neuerlich Kamila Veverková: Duo Antona Krombholze a jeho význam pro reformní teologické myšlení v Čechách (Das Werk von Anton Krombholz und seine Bedeutung bekannt haben. »Der leidenschaftliche gegenreformatorische Kampf endet mit dem Josephinismus, der wiederum Böhmen besonders ergriffen und die Geistlichen und Wiedererwecker mit ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der Bildung und der humanitären Tätigkeit hervorgerufen hat. In Prag hat Bernard Bolzano gepredigt und in Prag ist der Bolzanismus entstanden. Mit der religiösen Frage haben sich Havlíček und nach ihm alle Politiker befaßt, und während der berühmten Lager in den siebziger Jahren wurde auch laut nach kirchlichen Verbesserungen und nach kirchlichen Reformen gerufen.« An Bolzanos Arbeiten, geschrieben aus der Position einer rationalistischen Theologie (das gilt auch für seine Bücher über die Logik!) knüpft der katholische Konkordismus an, der sich bemühte, die Wissenschaft mit dem streng negativ dogmatisch aufgefassten Glauben um jeden Preis auszugleichen. In dieser Hinsicht lebte Bolzano vor dem gleichen geistigen Hintergrund, aus dem ein ganzes Jahrhundert später K. Farský hervorgetreten ist und vor dem er gekämpft hat In der Zeit Bolzanos haben sich die geistigen und politischen Grundlagen des heutigen Europa im wesentlichen herausgebildet. Der heutige Kampf der katholischen Kirche hat seine Wurzeln ebenfalls in dieser Zeit.3 Farský hat Bolzano in seinem Buch Stát a církev (Staat und Kirche) beachtet und hat damit bestätigt, dass er ihn in die Kontinuität des Reformismus einreiht. Er hat ihm einen kleinen Aufsatz gewidmet, zu dem als hauptsächliche Quelle Podlahas »Cesky slovník bohovedny« (Tschechisches theologisches Wörterbuch) gedient hat. Hier schreibt er: »Für die reaktionäre Richtung ist die Geschichte des Priesters Dr. Bernard Bolzano aus der Zeit bezeichnend [...] in der er im Sinne der Übereinstimmung des Glaubens mit der für das theologische Reformdenken in Böhmen), Brno 2004 [Pontes Pragenses 32), insbes. 21-36; 190-204. 3 Über Bolzanos Zeit siehe E. Winter, Der Josephinismus und seine Geschichte. Beiträge geistigen Geschichte Böhmens und Mährens. Prag 1945; E. Winter, Frühliberalismus in der Donaumonarchie. Nationales und religiöses Denken von 1790 bis 1868. Berlin 1968. Wissenschaft Vorlesungen gehalten hat.«4 Des weiteren bewertet Farský Bolzano als fortschrittlich, erfasst er zurecht, dass die Übereinstimmung von Wissenschaft und Glauben für dessen Lebenseinstellung wichtig war. Schade, dass Farský entgangen ist, dass alle Reformen, die er zusammen mit seinen Freunden von Rom gefordert hat, in Umrissen bei Bolzano zu lesen sind. Wenn Farský Bolzanos Schriften studiert hätte, dann wäre er vielleicht sehr überrascht gewesen, welche radikale Forderungen sie enthalten haben. Es ist sehr schade, daß in der Tradition der Tschechoslowakischen Kirche nicht weiter auf Bolzano aufmerksam gemacht worden ist. Weder F. M. Hnik noch A. Spisar widmen ihm in ihren sonst grundlegenden und wichtigen Schriften5 über die Entstehung dieser Kirche die verdiente Aufmerksamkeit. Einige katholische Forscher, die sich mit dem tschechischen Reformismus und mit der Unität der katholischen Geistlichkeit befassen, wollen von Bolzano nichts wissen.6 Ihre zuweilen sehr eifrigen wissenschaftlichen Arbeiten entfernen sich bei der Einschätzung oft von der Objektivität. Wenn wir Bolzano in seiner Gesamtheit bewerten, dann müssen wir uns bewusst machen, dass er »die exakte Wissenschaftlichkeit und den moralistischen Lebensstandpunkt mit der lebendigen Religion verbinden und versöhnen wollte, dass er das Erbe der Aufklärung und das Erbe seiner traditionellen Religion in einer Entwicklungssynthese mit dem Geist der modernen Wissenschaftlichkeit 4 K Farský, Stát a církev-poměr státu českého k církvi římské od prvopočátku až do r. 1924 (Staat und Kirche - Das Verhältnis des tschechischen Staates zur römischen Kirche von den Anfängen bis zum Jahre 1924). Prag 1924, 236-238. 5 F. M. Hník, Duchovní ideály československé církve (Die geistigen Ideale der Tschechoslowakischen Kirche],Prag 1934; F. M. Hník: Za lepší církví (Für eine bessere Kirche). Prag 1930; A. Spisar, Ideový vývoj církve československé (Die ideelle Entwicklung der Tschechoslowakischen Kirche - Ein Grundriß). Prag 1936. 6 So z.B. in seinen Arbeiten L. Němec: The Czech Jednota, the Avan-Garde of Modern Clerical progressivism and Unionism (1968) und The Czechoslovak Heresy and Schism (1975), der die geistigen Strömungen in Böhmen im 19. Jahrhundert überhaupt nicht versteht und der den Reformismus ausschließlich politisch auffasst. vereinigen wollte«.7 Er fasst deshalb die Bezeichnungen »Philosophie der Religion«, »philosophische Religionswissenschaft«, »philosophisch bearbeitete Religionswissenschaft« als Synonyme auf, auch wenn er seine eigene Religionswissenschaft enger bestimmt: »Unter dem Namen der Religionswissenschaft [...] verstehe ich die Wissenschaft von der vollkommensten Religion«.8 Mutig bekennt er sich zum ideellen Erbe der Neuzeit. Im »Lehrbuch der Religionswissenschaft« sind Marsilius Ficino [der den Richter über Wahrheit und Unwahrheit vor den dogmatischen Lehrsätzen in der Natur sieht, die einmal erkannt wird), Erasmus von Rotterdam (der vor allem die Bedeutung der Sittlichkeit betont), Ramée (der die Logik zur normativen Wissenschaft erhöht) und Grotius (der sich um die natürliche Religion sui generis bemüht) aufgeführt. Von den Engländern erwähnt er Hobbes, Herbert von Cherbury, Shaftesbury; die zeitgenössische katholische Aufklärung ist durch die Namen Sattler und Sailer repräsentiert. »Bolzanos Programm gehört in die Entwicklung der westeuropäischen Aufklärung. Es besitzt seine Vorgänger in den Konzeptionen der theologia rationalis in der Scholastik [...], vor allem aber im Humanismus und in der englischen Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts, ebenso wie in der katholischen Aufklärung.«9 Schrödters Charakteristik erfasst Bolzanos Platz und Bedeutung sehr genau. Bernard Bolzano stand gegen Kant und folgerichtig dann auch gegen die gesamte nachkantianische deutsche klassische idealistische Philosophie. Er betrachtete sie als eine modische Exzentrizität und hat deren Positivům nicht erkannt. Das Studium der Logik ist für Bolzano das einzige der möglichen Mittel, mit dem man sich dem neuen philosophischen Deutschland entgegen stellen kann: »Das beste Mittel, all diesen Uebeln zu steuern, däucht mir ein gründliches Studium der Logik, die man keineswegs, wie Kant behauptet, als eine 7 H. Schrödter, Philosophie und Religion. Die Religionswissenschaft Bernard Bolzanos. Meisenheim am Glan 1972, 8. 8RWI, 3. 9 H, Schrödter, Philosophie und Religion, 8f. schon seit Aristoteles Zeiten vollendete Wissenschaft ansehen sollte; sondern in der sich allerdings noch manche Entdeckungen von Wichtigkeit machen lassen«.10 Die logische Grundlage der Religion bedeutet für Bolzano nicht, dass die Religion ein Anhängsel an das philosophische System ist. Er hält es für falsch, wenn viele Theologen sich zuerst für ein philosophisches System entscheiden und dann glauben, dass sie die richtigen theologischen Formulierungen finden, die dann in ein solches System hineingezwängt werden. Nur das Denken, das auf dem gesunden Menschenverstand - der Logik - begründet ist, kann aus dem Labyrinth der Zweifel und der Irrtümer führen. Bolzano kämpft um die objektive Wahrheit, um die Sicherheit, dass die Wahrheit vor uns und über uns ist, dass sie unabhängig von uns herrscht. Den hauptsächlichen Maßstab für seine theologischen Aussagen findet er im »obersten Sittengesetz«, das eine Wahrheit für sich ist: »Wähle von allen dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert«.11 Ausgehend von einem solchen Gesetz definiert er dann die Religion als den »Inbegriff aller derjenigen Lehren und Meinungen eines Menschen [...], die einen Einfluß auf seine Tugend und Glückseligkeit haben«12 Im Geiste der katholischen Rechtgläubigkeit unterscheidet er zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Die Offenbarung, die den Aufklärern so schwierig anzuerkennen ist, definiert er folgendermaßen: »Und so ist die göttliche Offenbarung in dieses Wortes engster und activer Bedeutung, jene Veränderung der Sinnenwelt, die Gott mit der Absicht hervorgebracht hat, damit ein geschaffenes Wesen, wenn es nach seiner besten Einsicht vorgeht, daraus entnehme, es sey der Wille Gottes, daß es eine bestimmte Meinung annehme, weil sie Gott selbst für wahr 10 RW1,168. n Ebenda, 236. 12 Ebenda, 4. 5 erkennt. Dieso bezeugte Meinung heißt eine göttliche Offenbarung in der passiven Bedeutung des Wortes «.13 Bolzanos dogmatische Auffassungen finden wir übersichtlich bearbeitet in seinem Lehrbuch der Religionswissenschaft Bei deren Beurteilung müssen wir jedoch sehr vorsichtig sein. Das Lehrbuch musste nämlich bei der formalen Gliederung die Stoffeinteilung nach dem in Österreich vorgeschriebenen Lehrbuch des Hofpredigers J. Frint berücksichtigen. (Ich glaube, dass es sich lohnen würde, eine Synopse beider Lehrbücher zu erstellen; es würden auf diese Weise viele interessante Dinge zum Vorschein kommen.) Ein weiterer Grund für die Vorsicht ist die Tatsache, dass Bolzanos Lehrbuch von seinen Schülern nach ihren eigenen Nachschriften in der Zeit des erzwungenen Schweigens ihres Lehrers veröffentlicht werden musste. Eine Endredaktion des Textes für die Zwecke der Veröffentlichung hat Bolzano selbst nicht durchgeführt - es ist die Arbeit von Fesl - und nach der Veröffentlichung hat er über die Einrichtung des Textes seine Unzufriedenheit geäußert. So gesehen erscheint es befremdlich, dass die vorbereiteten Berichtigungen für die zweite Ausgabe, zu der es jedoch nicht gekommen ist, die von Bolzanos Hand geschrieben sind, insgesamt keine wesentlichen Änderungen bringen.14 Ohnehin muss man für die möglichst objektive Präparierung seiner Dogmatik notwendigerweise alle seine theologischen Schriften in Betracht ziehen; die wissenschaftlichen und die populären. Es handelt sich vor allem um die Athanasia, die Apologie »Mein Glaube«, die »Erbauungsreden«15 und nicht zuletzt dann die Rezensionen von Werken seiner Zeitgenossen. 13 Ebenda, 86. 14 Das Exemplar von Bolzanos RW mit den Korrekturen befindet sich in der Bibliothek des Nationalmuseums sign. 63 C 13. Unter anderem von diesem Exemplar hat sich die Neuveröffentlichung im Rahmen der BGA bestimmen lassen. 15 Athanasia: BGA 1,4; »Mein Glaube«, in: Erbauungsbüchlein für die Gebildeten unter den katholischen Christen. Wien 1850. Beides auch in E. Winter, B. Bolzano: Ausgewählte Schriften. Berlin 1976. Die »Erbauungsreden« erscheinen umfassend chronologisch in BGA, IIA 15-25. 6 Eine Untersuchung der gesamten Bolzanoschen Dogmatik vom Standpunkt der Geschichte der Theologie, die alle Aspekte erschöpfen würde, gibt es bisher nicht. Es wird dies eine sehr anspruchsvolle Arbeit sein, die man zur Zeit nicht leisten kann - die aber jetzt, mit dem Erscheinen der entsprechenden Bände aus der BGA höchst an der Zeit ist. Frühe Detailstudien zu dieser Frage sind im umfangreichen Werk von E. Winter zu finden,16 in der philosophischen Habilitation von Schrödter,17 kurz dann in dem Buch »Duchovni odkaz obrozeni« von Jan M. Lochman (Das geistige Vermächtnis der Wiedergeburt] - das letztree ist von protestantischen Standpunkt geschrieber.18 Auf die Frage, was die Quelle der theologischen Erkenntnis ist, führt Bolzano drei Antworten an: die päpstliche Autorität, die Lehre der ökumenischen Konzile und das Prinzip des Vinzenz von Lerin -was überall, immer und von allen geglaubt wurde. Er neigt dem Prinzip von Vinzenz zu. Den Begriff der Katholizität verbindet er entschieden nicht mit dem Begriff des Papsttums und er widerspricht dem dogmatischen Prinzip der päpstlichen Unfehlbarkeit.19 Wenn er länger gelebt hätte, dann hätte er die Promulgation des Ersten Vatikanischen Konzils in dieser Hinsicht gewiss abgelehnt. Die Norm für die Wahrheit ist für ihn nicht der Papst, sondern der gemeinsame Glauben des Gottesvolkes. Bolzano sagt sogar, dass auch ein guter Katholik sich in bestimmten Fällen der päpstlichen Autorität entgegenstellen könne; er bleibe trotzdem ein »guter Katholik«, selbst wenn ihn der Papst aus der Kirche ausschließen würde. Der Papst und die Bischöfe sind für ihn nur Richter in Dingen des Gehor- 16 Winters Bibliographie siehe in: Ost und West in der Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen. Festschrift für E. Winter zum 70. Geburtstag. Berlin 1966. 17 Schrödter, Philosophie und Religion. 18 Jan M. Lochman, Duchovni odkaz obrozeni (Das geistige Vermächtnis der Wiedergeburt), Prag 1964. 19 E. Winter: Über die Perfektibilität des Katholizismus. Grundsätzliche Erwägungen in Briefen von Pascal, Bolzano, Brentano und Knoll. Berlin 1971, 5. sams und der Disziplin und nicht in Glaubensdingen.20 Mit diesen Ansichten hängt auch seine Auffassung von der Kirche zusammen, die sich bei formaler Verbergung hinter rechtgläubigen Lehrsätzen mit der damaligen römisch-katholischen Glaubensauffassung nicht wirklich deckt. In der Athanasia, im Lehrbuch der Religionswissenschaft und in den Predigten (Erbauungsreden) benutzt er oft die Bezeichnung »Allgemeine Kirche«, unter der er zweifellos Gottes Volk der gläubigen Katholiken im Sinne des Vinzenz von Lérin versteht und nicht die Päpste und die Bischöfe, wie dies die Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil betont hat. Auch ein katholischer Historiker musste zugeben, als er Bolzano eingeschätzt hat: »Bolzanos Ansichten, besonders die Lehre von der Offenbarung und die Lehre von der Kirche, [...] waren jedoch nicht völlig rechtgläubig, aber man kann nicht leugnen, daß sie in der damaligen räsonierenden Zeit eine überwiegend gute Wirkung hatten«.21 In der Frage des Formalprinzips (Beziehung von Schrift und Kirche) der Theologie ist Bolzano jedoch ein gläubiger Katholik. Er lehnt den protestantischen Grundsatz »sola scriptura« ab, die ihm eine Verarmung des Wesens des Glaubens bedeutet. Die Bibel betrachtet er nicht als Offenbarung. Ihr gebührt nach seiner Auffassung die heilige Verehrung,22 aber die höchste Norm ist sie nicht. Sie ist nur eines der Zeugnisse für das übergeordnete Prinzip der Katholizität des Glaubens, sie ist ein Mittel zur Erlangung von Tugend und Glückseligkeit. Nur die gesamte Kirche hat nach seiner Auffassung das Recht (und die Autorität) die Heilige Schrift auszulegen. Die Auslegung der Hl. Schrift durch die Kirche ist jedoch nicht unfehlbar - bei der Auslegung können wir unsere Vernunft anwenden. Hier allerdings bewegt 20 Ebenda. 21 J. Kadlec: Přehled církevních dějin českých II (Überblick über die tschechische Kirchengeschichte) II. Prag 1977, 98. 22 Bolzano behauptet dies so in der Apologie Mein Glaube, Wien 1850, 106, und in manchen seiner Erbauungsreden. sich Bolzano ganz offensichtlich hart an der Grenze der Rechtgläubigkeit. Wir haben einige Auffassungen angeführt, die uns im weiteren helfen werden, Bolzanos durchdachten katholischen Reformismus zu verstehen, der am übersichtlichsten in der freundschaftlichen Polemik mit Stoppani [Über die Perfektibilität der Katholizismus) dargelegt ist. Für jeden Reformismus innerhalb der katholischen Kirche, wann auch immer, waren gerade die Auffassungen von der Quelle der theologischen Erkenntnis, vom päpstlichen Primat und von der Konzeption der Kirche sowie vom Formalprinzip der Theologie sehr wichtig und manchmal auch entscheidend. Alle großen Reformatoren, die sich außerhalb der katholischen Kirche befanden, haben einige der oben angeführten Dogmen verletzt: Mag dies schon Hus mit seiner Leugnung der päpstlichen Autorität in der Berufung auf Christus oder Luther mit seinem Prinzip »sola gratia, sola fide« oder Farský mit seinem Streben nach einer besseren Kirche gewesen sein, wobei er bestrebt war, den Glauben mit »wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit sittlichem Streben« zu erfüllen. Bolzano selbst wollte immer ein rechtgläubiger Katholik bleiben. Es ging ihm nur darum, daß sich die Kirche an die neuen Bedingungen anpasst, es ging ihm um eine Art »aggiornamento«, von dem auch heute in der Kirche viel gesprochen wird. Wie die Mehrheit dieser Männer - zuletzt Farský - wurde er von der Kirche nicht mütterlich aufgenommen. Die traditionelle Theologie war von seiner Religionswissenschaft, die er der Logik untergeordnet hat, schockiert; die Ideologen der Wiener Restauration und die Ultramontanisten dadurch, dass er den übernatürlichen und Wunder-Charakter des Glaubens pragmatisiert und rationalisiert und sein Wesen damit direkt angetastet hat. - Schwerlich hat sich einer der Gegner Bolzanos unter den Theologen, bewusst gemacht, dass dieser in der katholischen Theologie als einer der ersten den Abgrund zwischen dem mittelalterlichen Dogmatismus und dem modernen Denken, das seine Wurzeln in der Renaissance und in der Aufklärung hat, zu überwinden sucht. In Rom und in Wien ist seine Lehre auf harten Widerstand gestoßen, weil die Erkenntnisse der modernen Zeit zur Interpretation der Dogmen vom Vatikan noch nicht offiziell ins Bewusstsein aufgenommen worden waren. In konservativen katholischen Kreisen herrschte die Meinung, dass Bolzanos Lehre in der letzten Zeit das Schlimmste sei, das in der katholischen religiösen Lehre entstanden wäre.23 Der Band der »Erbauungsreden« vom Jahre 1813 und das »Lehrbuch für Religionswissenschaft« vom Jahre 1834 wurden von der römischen Kurie auf den Index der verbotenen Bücher Gesetzt. Die Reaktion hatte - mit dem ihr eigenen Scharfsinn - gut erkannt, dass Bolzano nicht nur die verknöcherte Glaubensauffassung, sondern auch die Gesellschaftsordnung antastet. Die Verwirklichung seiner sozial-ethischen Vorstellungen setzt die Veränderung der Gesellschaftsordnung, die Beseitigung der Armut des entstehenden Proletariats, die Veränderung im Sinne des utopischen Sozialismus voraus, der in Bolzanos Fall auf dem Aufruf des Evangeliums zur Solidarität mit allen Unterdrückten, Verfolgten und Elenden beruht.24 Bolzano sucht in »der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit zur Vollendung des Katholizismus im Sinne der ständigen Anpassung an die Bedürfnisse der mündigen und ständig sich vervollkommnenden Gesellschaft im Sinne des Engagements für den gesellschaftlichen Fortschritt«.25 Das ist auch heute wichtig, da die Frage nach der Fähigkeit und Möglichkeit der Anpassung von neuem durch das Zweite Vatikanische Konzil in den Mittelpunkt des Interesses vieler Gläubigen gestellt wurde. »Der »progressive Katholizismus« ist heute wieder in Kreisen vieler Gläubigen im Gespräch, und daß er auch Linkskatholizismus heißt, weist deutlich auf sozialpolitische Zusammenhänge. Es geht 23 B. Bolzano: Ausgewählte Schriften. Berlin 1976, 42 (Winters Einleitung). 24 Bolzano ist der Verfasser des »Büchleins vom besten Staat«, das ihn zweifellos unter die utopischen Sozialisten einreiht. Deutsch erschien dieses Buch erst im Jahre 1932. 25 Eduard Winter, Über die Perfektibilität des Katholizismus. Grundsätzliche Erwägungen in Briefen von Pascal, Bolzano, Brentano und Knoll. Berlin 1971, 5. heute um das Engagement vieler fortschrittlicher Katholiken für den sozialen Fortschritt, für Frieden, Demokratie und Sozialismus. Ist dieses Engagement im Rahmen der Kirche möglich, oder muß der Gläubige mit seiner Kirche brechen, wenn er für den gesellschaftlichen Fortschritt tätig sein will?«26 Wie wir anhand der Frage sehen, die Eduard Winter aufwirft, ist der Katholizismus 120 Jahre nach Bolzanos Tod mit diesen Problemen in ihrer Gesamtheit nicht fertig geworden. Die Tschechoslowakische Kirche hat hier von Anfang an ihr klares Wort gesagt, allerdings um den Preis, dass sie sich von Rom getrennt hat. Rom wollte weder an Bolzano noch an Farsky Zugeständnisse machen, aber vor den Veränderungen der Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft kann sie sich nicht verschließen und an der faktischen Macht der sozialen Entwicklung kann sie heute nicht vorbei. Bolzano hat mit seinem Kampf um die vollkommene Kirche unter bestimmten Bedingungen gelebt, die man bei der Darstellung seiner Beziehung zur Kirche bedingungslos respektieren muß. »Er ist ein Denker des Frühliberalismus, in dem das Bürgertum der Donaumonarchie um seine Durchsetzung kämpft. Dies drückt auch dem Reformkatholizismus Bolzanos mit seiner Philosophie des Fortschritts den Stempel auf. Freilich sieht Bolzano prognostisch schon weiter und erstrebt eine Entwicklung hin zum Sozialismus. Eine neue Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt, ist für ihn notwendig in einer innerlich notwendigen Weiterentwicklung der Menschheit«.27 Vor diese Realität der ständigen Entwicklung der Gesellschaft war die katholische Kirche zu Bolzanos Zeit hart gestellt worden. Solange es jedoch keinen Druck geschichtlicher Kräfte gab, die einen solchen Gedanken durchsetzen würden, war sie nicht bereit zu reagieren. Bolzano befand sich in der tragischen Situation eines katholischen Priesters, der ergeben im Dienst der Kirche für die Erneuerung und für die Entwicklung des Katholizismus wirken wollte, der jedoch bei dieser 26 Ebenda, 6. 27 Ebenda. Machtinstitution auf Unverständnis und auf grobe Ablehnung gestoßen ist. Er glaubte an den Fortschritt im Denken, in der Wissenschaft und in der Gesellschaft. Als Katholik mußte er diesen Glauben an den Fortschritt auch auf die Kirche und auf den Staat beziehen und Reformkatholik werden. Er stellte sich die Frage: Wenn sich in der Welt alles entwickelt, warum sollte das gleiche nicht auch für die katholische Kirche gelten? Mit der Möglichkeit, den Katholizismus zu reformieren und ihn an die Bedürfnisse der Zeit anzupassen, hat sich Bolzano in Briefen an seinen Jugendfreund Johann Stoppani (1778-1836] befaßt. Dieser Briefwechsel erschien später unter dem Titel Über die Perfektibilität des Katholizismus. Streitschriften zweier katholischer Theologen; zugleich ein Beitrag zur Aufhellung einiger wichtiger Begriffe aus Bolzano's Religionswissenschaft.28 Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, verteidigt hier Bolzano seine Konzeption vom Glauben und vom Christentum gemäß dem Lehrbuch der Religionswissenschaft; akzentuiert wird das sozialpolitische und sozial-ethische Engagement der Kirche. Es ist völlig begründet zu sagen, dass dieser Briefwechsel zu den wertvollsten Dokumenten des Reformkatholizismus gehört Bolzanos und Stoppanis Ansichten über die Kirche haben sich wesentlich voneinander unterschieden. In einem waren beide jedoch gleich. Ihre Denkmethode war die gleiche - beide waren Aufklärer, beide waren im Geiste des aufklärerischen Josephinismus erzogen. Ihre wechselseitigen Briefe, die über ein so heikles Thema handelten, wurden in den Jahren 1832-33 geschrieben. Reformkatholizismus! Ist das überhaupt möglich? Kann man vom Katholizismus als vom reformierten Katholizismus sprechen? Das ist die Frage, die beide mit der ganzen Kraft ihres Intellektes gemeinsam durchdenken. Stoppani ist der Ansicht, dass bereits der Ausdruck »Reformkatholizismus« ein Widerspruch in sich ist.29 Die katholische Kirche, hierarchisch aufgebaut und hierarchisch beherrscht, ist nach ihm entweder so wie sie 28 BGA 1,19,1-2 (Leipzig 1845). 29 Winter, Über die Perfektibilität... (1971), 87. ist, oder sie existiert überhaupt nicht. Es gibt keinen Fortschritt in ihr; für Stoppani widerspricht das Prinzip des Fortschritts dem Wesen des Katholizismus. Wer die katholische Kirche vom Standpunkt der ständigen Veränderung sieht, ist nach ihm kein Katholik mehr, sondern ein Protestant. Er sagt, dass Bolzano nur als Protestant seine Aussagen über den Glauben im Fortschritt in der Kirche vertreten könnte.30 Stoppani vertritt hier die traditionelle katholische Auffassung und äußert sich hier überhaupt nicht als Aufklärer. Bolzano, aufgeklärter Philosoph und Logiker, widerspricht jedoch einer solchen Auffassung von Kirche. Er vertritt mit Eifer die Auffassung, dass die katholische Kirche, wie alles in der Welt, dem Fortschritt unterworfen ist.31 Er geht von seiner Philosophie des Fortschritts aus und sieht die Religion im engen Zusammenhang mit dem »Glück« oder der »Glückseligkeit« der Gesellschaft. Die Religion ist ihm ein Mittel, eine Gesellschaft zu erreichen, in der die Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigt werden. Nach Bolzano muß die Kirche wieder zu ihrer Grundlage zurückkehren, zu der freudigen Botschaft Christi, und ausgehend von dieser Botschaft muss sie ihre hauptsächliche Aufgabe darin sehen, dass sie die These »glücklich sein und glücklich machen« so viel wie möglich den Menschen vergegenwärtigt.32 Mit aller philosophischen Überzeugungskraft sucht er die Perfektibilität des Katholizismus zu beweisen und logisch zu belegen. Stoppani vermochte sich mit diesem Gedanken vor allem als Exeget (er war Professor für Biblistik) nicht zu versöhnen. Er schrieb an Bolzano: »Dieser Erklärung der heiligen Synode [Tridentinum] zu Folge gibt es keinen Katholicismus ^unserer oder irgend einer ZeiU; dieser schreibt seinen Ursprung von Christo und den Aposteln her, und die Kirche hat nur das Geschäft, dafür zu sorgen, daß er bis an das Ende der so Ebenda. 31 Ebenda. 32Bolzano, Ausgewählte Schriften (Winter 1976), 43. Welt rein und unversehrt erhalten werde«.33 Dagegen behauptet Bolzano, - und vom Standpunkt des Reformismus ist dies richtig -dass man zwischen der »rein katholischen« und der »römischen Kirche« unterscheiden muß. Bolzano ist entschieden für einen neugeborenen Katholizismus und ist gegen dessen restaurative Auffassung. In seiner Kritik und in seinem Reformismus ist er jedoch noch weiter gegangen - und wenn wir diese Zeilen lesen, dann wundern wir uns nicht über die Angst, die man in Rom und Wien vor ihm gehabt hat: »Wäre die menschliche Natur so unvollkommen, daß es in Anbetracht der großen Volksmenge keine andere Wahl für uns gäbe, als Eines von Beiden zu thun, entweder sie in einem Katholicismus von der soeben beschriebenen Art zu erziehen [wie Stoppani zeigt J.B.L.] oder ihr einen protestantischen Rationalismus zu predigen: dann möchte man etwa wünschen dürfen, dass der letztere Irrthum, als minder schädliche, den Sieg über den ersten davontrage... «.34 Bolzanos Freund Stoppani endete als abgesetzter geistiger Leiter des Noviziats im Kloster. Winter konstatiert, dass »die Tragik, die das Los des Lebens seines Freundes war, Bolzano jedoch nicht in seinem Bewusstsein des Fortschrittsgesetztes erschüttern. [...] Es beweist dies auch die nichtbeendete Handschrift von Stoppanis Biographie, in der die Tragik des Reformkatholizismus bis in seine Tiefen aufgedeckt ist. Der beste Beweis für den unerschütterlichen Optimismus ist die Tatsache, dass er vier Briefe aus den Jahren 1832/33, die als Abhandlungen verfasst waren, im Jahre 1845 drucken ließ, weil er glaubte, dass sie in dem damals die Katholiken erschütternden Kampf um den deutschen Katholizismus zur Klärung beitragen könnten«.35 Wenn wir von Bolzanos Reformismus sprechen, dann müssen wir auch sagen, wie er sich den Diener der Kirche - den Priester -vorgestellt hat, der entsprechend den Anforderungen der Zeit wirkt. 33 Bolzano, Über die Perfectibilität des Katholicismus. Herausgegeben von Z. Kalista. Erster Teil, Stuttgart-Bad Cannstatt 1979 [BGA 1,19/1), 152, S4 Bolzano, Ebenda, Zweiter Teil, 395. 35 Winter, Einleitung zu Perfectibilität [11], 90. Welche Norm gilt für den Diener des perfekten Katholizismus? Was ist das Ziel des geistlichen Standes in der angepassten und modernisierten Kirche? Auf alle diese für den späteren Reformismus so wichtige Fragen antwortet Bolzanos Büchlein »Über die Standeswahl«.36 Nach ihm, ganz im Geiste seiner Interpretation der Religion, ist es das: »Zweck des geistlichen Standes ist die Beförderung der Tugend und einer davon abhängenden inneren Glückseligkeit durch die lehren des Christenthums. [...]; Der Geistliche hat das nächste und wirksamste Mittel, die Religion, d.i. die Anweisung, wie man tugendhaft und glücklich werden könnte«.37 Die Pflicht des Geistlichen ist, öffentlich und privat die Tugenden und die Glückseligkeit entsprechend den Grundsätzen Jesu zu lehren, mit seinem ganzen Leben zu beweisen, dass er von der Wahrheit der verkündeten Lehre überzeugt ist - hier soll er selbst das Beispiel dafür sein, wie man ein tugendhaftes und geistig glückliches Leben führt, weiters soll der ideale Geistliche die öffentlichen Dienste Gottes führen, »wobei er aber keines der noch bestehenden Gesetze übertreten darf« und vernünftig die ihm anvertrauten Mittel verwalten soll, »mit strenger Beobachtung der hierüber bestehenden Gesetze«.38 Wie wir sehen, ist Bolzanos Geistlicher der Typ des aufklärerischen josephinischen Priesters. Der Geistliche ist ihm vor allem ein Lehrer des Fortschritts, ein Führer zur Glückseligkeit Dem soll auch das Wissen entsprechen, das er benötigt: Es ist dies vor allem die Pastoraltheologie, oder wie Bolzano sagt, »oder die Anweisung, wie sich der Seelsorger in seinem Amte zu benehmen habe. Wenn eine gründliche Religionskenntniss dem Seelsorger die Materie seines Unterrichtes an die Hand gibt, so zeigt ihm die Pastorallehre die Form desselben«.39 Neben der Pastoraltheologie benötigt er eine vollständige Kenntnis der Religion 36 B. Bolzano, Über die Standeswahl. Ein Vademecum für austretende Obergymnasiasten von Dr. Bernard Bolzano, weiland Professor an der Prager Universität, Prag 1853. 3? Ebenda, 37-38. 38 Ebenda, 39. 39 Ebenda, 44. und bedarf der Sprachkenntnisse. Von der Kenntnis der Religion sagt er: »Die Mittel, um zu jener vollständigen und gründlichen Religions-kenntniss zu gelangen, sind folgende: Philosophie, besonders Logik; Geschichte, besonders Kirchengeschichte; das Studium der Bibel, und der Entscheidungen aller Kirchenräthe, wie auch einiger alten Kirchenväter; das Studium guter dogmatischer und moralischer Schriften«.40 Wiederum projiziert sich hier seine Konzeption: Beim Studium der Theologie sollte man mit der Logik und der Philosophie beginnen. Dies öffnet dann dem Kandidaten den Weg sehr weit Solche Ratschläge in der Zeit der Restauration, als von den Adepten für das Priesteramt blinder Glauben und Gehorsam gefordert wurde, waren sowohl den Vertretern des Staates als auch der Kirche sehr unangenehm und nicht wünschenswert. Wenn Bolzano von den Schwierigkeiten des geistlichen Standes spricht, dann zögert er nicht, über den Zölibat zu handeln. Den Zölibat hat er abgelehnt, hat aber den Standpunkt vertreten, dass, solange dieser nicht beseitigt oder freiwillig gemacht wird, man ihn einhalten muss.41 Den Adepten des Prieserstandes rät er davon nicht ab, erläutert ihnen jedoch objektiv die Schwierigkeiten dieses Standes und überlässt die Angelegenheit ihrer freien Entscheidung. Bolzano war Reformkatholik in jeder Hinsicht. Es ist sicher, dass ihn alle Strömungen innerhalb der katholischen Kirche direkt interessiert haben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Besserung und Veränderung gestrebt haben. Er stand der Tübinger katholischen theologischen Schule sehr nahe, die ebenso nach einer Reform der Kirche strebte, ohne die Kirche verlassen zu wollen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur Bolzano die Kirche nicht verlassen wollte - auch die Reformisten in der Unität der Geistlichkeit wollte sich hundert Jahre später von ihr nicht trennen. 40 Ebenda. « Ebenda, 40-41. Über Bolzano und die Tübinger katholische theologische Schule wird man ausführlicher sprechen müssen. Bolzano war mit einem ihrer hervorragendsten Vertreter, mit Johann Adam Möhler, sehr gut bekannt. Möhler hielt sich auf seiner Reise von Berlin nach Wien im Winter 1822/23 in Prag auf und schloss mit Bolzano Freundschaft, die bis zu Möhlers Tod im Jahre 1838 dauerte. J. A. Möhler war ein hervorragender katholischer Historiker und Theologe und einer der Begründer der Tübinger katholischen Schule,42 die man als eine Richtung charakterisieren kann, die historische und spekulative Methoden benutzt und so die Anwendung des modernen Denkens auf die Erklärung des Glaubens betont hat.43 Gerade deshalb war er Bolzano so nahe. Auf Möhlers Veranlassung wurde Bolzano im Jahre 1826 an die theologische Fakultät der Universität Freiburg berufen. Der abgesetzte Prager Professor wollte jedoch Österreich nicht verlassen. Winter vermutet,44 er habe sich vor der feindlichen Umgebung und vor neuen offenen Angriffen seitens der kirchlichen Obrigkeiten gefürchtet. Möhler hat auch sofort den Wert von Bolzanos Wissenschaftslehre erkannt Er bemühte sich bereits in den Jahren 1831/32 - vorläufig leider vergeblich - um deren Veröffentlichung.45 Von den weiteren Theologen der Tübinger katholischen Schule muss man noch J. Hirscher erwähnen, mit dem Bolzano Beziehungen unterhalten hat. Er kannte und schätzte auch I. J. Wessenberg und den Herausgeber der »Freimütigen Blätter«, B. A. Pflanz. Er ist gegen alles Reaktionäre und gegen alle Versuche der Ultramontanen aufgetreten, jegliche Reformbemühungen zu unterdrücken. Im Jahre 1845 schreibt er in diesem Sinne an Fesl: »Die Ultramontanen verachte ich und freue mich, wenn sie mich lästern, erschräke, wenn sie mich lobten. Man muß entschieden sein, der Wahrheit, der guten 42 Siehe das Stichwort »Möhler« in.- The Oxford Dictionary of the Christian Church. Ed. by F. L. Cross and M. Livingstone. 2nd Edition. Oxford 1974. 43 Ebenda. 44 B. Bolzano: Ausgewählte Schriften [Winter 1976], 44. 45 Ebenda. Sache der Menschheit anhangen, keiner Partei, keinem menschlichen Richterstuhl gefallen wollen«.46 Bolzanos Forderungen erschienen der Kirche damals undenkbar: außer dem Zölibat war er auch ein Gegner der Ohrenbeichte und der Unauflöslichkeit der Ehe und war eine eifriger Anhänger des Vollzugs der Liturgie in der Landessprache. Im Jahre 1848 starb Bolzano. Er hat ein Programm aufgestellt, von dem vorläufig zwar nichts verwirklicht worden ist, das nichtsdestoweniger zum Programm des tschechischen Reformismus während der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts geworden ist.47 Nählovskys Versuch, der durch die politische Situation angeregt worden war, ist vorläufig gescheitert. Es war die Zeit noch nicht herangereift und die gesellschaftliche Struktur des katholischen Europa war noch nicht imstande, den Erfolg der fortschrittlichen Ideen zu sichern. »In der historischen Situation der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution im Habsburgerreich waren Bolzanos Reformbestrebungen zum Misserfolg verurteilt. Die katholische Kirche stellte entsprechend ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und Tradition eine Institution dar, die der feudalen Gesellschaftsstruktur verhaftet war und somit der objektiven Voraussetzungen zu einer geistigen Neuorientierung im Sinne von Bolzanos Religionsverständnis entbehrte. Betrachten wir die Haltung der katholischen Kirche in unserer Zeit zu solch dringenden Fragen wie Frieden und die soziale Gerechtigkeit, so wird der Prozeß des Abbaus reaktionärer Positionen der Vergangenheit sichtbar«.48 Nach Bolzanos Tod hat das Interesse an seinem Programm fühlbar [oder scheinbar?) nachgelassen. Die tschechische katholische Geistlichkeit ist am Ende des Jahrhunderts zu ihm zurückgekehrt, als die « Ebenda. S. 45. 47 Über den tschechischen Reformismus hat P. Kfivsky übersichtlich geschrieben: Das Nachleben des Reformkatholischen Programms Franz Nählovsky's in den späteren Reformbestrebungen der katholischen Geistlichkeit In: Ost-West Begegnung in Österreich. Böhlau, Wien 1976. 48 B. Bolzano: Ausgewählte Schriften (Winters Einleitung), 50. Bedingungen günstiger waren, und sie hat sich sehr deutlich zu ihm bekannt.49 Man muss sich zusammen mit E. Winter die berechtigte Frage stellen, was die Ursache für die Bolzano-Renaissance am Ende des 19. Jahrhunderts unter der deutschen und der tschechischen Intelligenz war. Bolzano hat nicht nur die Bewegung der tschechischen katholischen Reformgeistlichkeit, sondern auch das tschechische philosophische Denken in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts beeinflusst (obwohl es schon sehr von der deutschen nachkan-tianischen Philosophie beeinflusst war). Die Reformpriester kannten den klassischen Katholizismus und Protestantismus gut, aber die maximale Grenze ihrer philosophischen Kenntnisse lag im Jahr 1810/20, wenn nicht noch früher. Farský und seine Freunde haben die klassische deutsche Philosophie nicht gekannt (wer hätte sie ihnen auch im Seminar vortragen können?), sie kannten auch den deutschen liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts nicht. Sie konnten also auch nicht »Liberale« sein, wie früher irrtümlicherweise behauptet wurde. Mit Dankbarkeit haben sie deshalb die Gedanken des katholischen Modernismus erfasst, der jedoch seine Schwächen gehabt hat und sich mit der reifen nach-Schleiermacherschen protestantischen Theologie und mit dem reifen Denken des deutschen Idealismus nicht vergleichen konnte. Der Kampf von Wissenschaft und Glauben, den beide geführt haben, hat seine Wurzeln in Bolzanos Aufklärertum und in Bolzanos Bestreben, die Theologie im Rahmen seiner Wissenschaftslehre zu klassifizieren. In einigen Fällen sind sie jedoch viel rationalistischer: während Bolzano ganz entschieden vernünftlerische Auslegungen des Wunders ablehnt (zum Beispiel die Beruhigung des Sturmes auf dem See durch Jesus dadurch zu erklären, dass er viel Öl an der Oberfläche ausgegossen hat)50 und dies für eine Ungeheuerlichkeit hält, benutzt Farský ähnliche Auslegungen, auch wenn sie - wie wir zusammen mit 49 Siehe P. Křivský: Das Nachleben ... 50RWII, 195. Zdeněk Trtík51 glauben wollen - nicht seinen persönlichen Überzeugungen entsprochen haben und für ihn nur ein Mittel waren, den Glauben bei Leuten zu erhalten, die bereits am Rande des Christentums gestanden sind. Bei der Erforschung des Entstehens der Unität der Geistlichkeit und der Genese der Reformforderungen dürfen wir uns nicht von irgendwelchen frommen oder nationalen Gefühlen fortreißen lassen, wie dies in den angeführten Arbeiten von L. Němec geschieht, sondern müssen alle Aspekte in Betracht ziehen. Die Methode des philosophischen und logischen Denkens war bei den Reformpriestern eng mit deren Reformprogramm verbunden. Weil der Einfluss des Philosophen Bolzano am Ende des 19. Jahrhunderts, als sie erzogen und ausgebildet wurden, bedeutend stieg, - was auf tschechischem Boden das Verdienst insbesondere von Durdik war,52 - hat sie diese in der Denkmethode zweifellos beeinflusst. Ebenso wie sein Freund und Beschützer Dobrovský wollte Bolzano die Kirche reformieren. Die Kirche in ihrer Gesamtheit - er hatte nicht nur die Tschechen oder nur die Monarchie im Sinne gehabt Unter seiner Lehrkanzel haben sich tschechische Studenten der Philosophie und der Theologie versammelt, die sich neben der Notwendigkeit einer Reform der Kirche auch ihre nationale Herkunft bewusst gemacht haben. Bolzano hat seine Fortsetzer nicht nur unter der tschechischen Intelligenz gehabt. Zu den bedeutenden österreichischen Bolzanisten zählt vor allem W. Gärtner, der zwar unter dem Einfluss von A. Günther stand, der sich aber bemühte, den Bolzanismus und den Güntherianismus miteinander zu verbinden. Im Jahre 1848 hat Gärtner in Wien eine kirchenreformerische Zeitschrift »Sprecher für Staat und Kirche. Katholisch-politische Wochenzeitung vom deutschen Standpunkt« herausgegeben, von der bis zum Ende 51 Zdeněk Trtík, systematischer Theologe [1914-1983), führende Gestalt der Tschechoslowakischen Kirche. 52 J. Durdik: O filosofii a činnosti Bernarda Bolzana (Über die Philosophie und das Wirken von Bernard Bolzano). Durdik erwähnt Bolzano auch in seiner Geschichte der Philosophie. Praha 1881. der Revolution 15 Hefte erschienen waren. Gärtner hat in seinem »Sprecher« über Bolzano geschrieben und bewertet ihn sehr positiv. Am 17. April 1848 hat er eine Versammlung der Geistlichkeit einberufen, die über die Reformen und ihre Notwendigkeit handeln sollte; ungeachtet der Tatsache, dass Erzbischof Milde sie entschieden abgelehnt hat. Gärtner war eigentlich der erste53 in der Monarchie, der Forderungen über die Anpassung der Kirche an die Zeit erhob -Nählovsky hat die Versammlung der Prager Geistlichkeit erst einen Monat später einberufen! Die Forderungen, die aus der Wiener Versammlung hervorgegangen sind, haben sich sehr an die kirchenre-formerischen Bestrebungen von Bolzano angenähert. Die Persönlichkeit des Priesters und Dichters W. Gärtner ist deshalb für den österreichischen Reformkatholizismus außerhalb von Böhmen sehr wichtig. Gärtner war gegen den Zölibat, setzte sich für die Demokratisierung der Kirche, für die Neuerrichtung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche und nicht zuletzt für die Einführung der deutschen Sprache in die Liturgie ein.54 Später, als sich der Neoabsolutismus stabilisiert hat, wurde er nach Budapest transferiert, wo er im angespannten nationalistischen Milieu Ungarns als Professor für deutsche Sprache und Literatur an der dortigen Universität gewirkt hat. Jan Palärik und Josef Viktorin, zwei bedeutende slowakische Erwecker, standen gleichfalls unter dem Einfluss der Ideen Bolzanos und haben sich, insbesondere Palärik, für die Demokratisierung des kirchlichen Lebens eingesetzt.55 Nach der Niederlage der Revolution war Palärik einige Zeit in einem Franziskaner-Kloster inhaftiert.56 Wie Bolzano in die Gesamtbewegung der Reformbestrebungen der tschechischen Geistlichkeit hineingehört, das versucht hinsichtlich der geschichtli- 53 Der Lebenslauf von Gärtner ist detailliert dargestellt in: Sudetendeutsche Lebensbilder. Band II. Stiepel-Verlag Reichenberg 1930, 90-101. 54 Ebenda, 92. 55 M. Gašparík, Ján Palárik a jeho boj o demokratizáciu slovenského národního života (Ján Palárik und sein Kampf um die Demokratisierung des slowakischen Volkslebens). SAVU-Bratislava 1952. 56 Ebenda, 26. chen Seite neben der erwähnten Arbeiten P. Kfivsky zu zeigen.57 Seine Arbeit ist ein Überblick, ein Programm, das detailliert ausgearbeitet werden sollte - es geht darum, die Verknüpfungen der geschichtlichen Tatsachen zu zeigen - was heute offensichtlich ist -aber auch detailliert die Genese von Bolzanos Reformprogramm im Werk der einzelnen Reformisten herauszuarbeiten. Eine solche Analyse wird in vielen Aspekten deutlicher das zeigen, was auf der Grundlage von Archivdokumenten bereits heute klar ist - dass die Tschechoslowakische Hussitische Kirche bei ihrer Entstehung legitim an die Tradition von Bolzanos angeknüpft hat. 57 P. Kfivsky, Das Nachleben des Reformkatholischen Programms..