2ři4 IIrrbert tiiiselienfeld wirken könnte." Erst die überfällige Abwertung der KLina dürfte eine neiiiienswerle Belebung des Exportgeschäfts und einen effektiven Rückgang der Importe bewirken. Hin analoges Ungleichgewicht von Ans- und Einfuhren kennzeichne! auch den Warenverkehr der FRJ (Tabelle X). Ihre schon in der Vergangenheit nicht sonderlich ausgeprägten Auslandskonlakte haben infolge der ideologisch wie snnklionshedingten desolaten Verfassung der Wirtschaft eine massive Rückbildung erfahren. Die zwischenstaatlichen Lieferungen beschränken sich im wesentlichen auf wenig gewinnbringende Rohmaterialien, die seil der Aulhebung des Embargos sprunghaft angestiegenen Importe können mangels Devisenreserven und auf Grund internationaler Kre-dilreslriktionen kaum mehr beglichen werden. Obwohl sich Makedonien im Kontext seiner entschiedenen Austeritätspolilik seit der Wiedelöffnung seiner Transitwege sichtlich um eine Verbesserung seines außenwirtschaftlichen Status bemüht, ist das Ergebnis gleichwohl kaum ermutigend: der Exportzuwachs hält sich in engen Grenzen, die Importe steigen weiter an. Primäre Ursache sind einerseits das recht schmale international marktfähige Produktspeklrum, andererseits weniger konsumtive Bedürfnisse als vielmehr unentbehrliche Rekon-struktionsansprüche der Wirtschaft. Die ehedem potente außenwirtschaftliche Position von Bosnien-Herzegowina ist durch die Kriegsereignisse derart geschwächt, dal) von einem regelrechten Außcn-haudel allenfalls rudimentär die Rede sein kann. Faktisch hängt es mehr oder minder am Tropf internationale! Hilfsbereitschaft, ohne daß sich eine durchgreifende Änderung des eher deprimierenden Isl-Xustands abzeichnet. Zur Diskussion gestellt -Osteuropaforschung im Umbruch Klaus von Beyme Osteuropaforschung nach dem Systemwechsel Der Paradigmawandel der „Transitologie" Mit dem nuchlolnemleii Heimix setzen wir unsere Diskussionsreihe zii Stund und Zukunft der ()sieuropafi>schung Jurt, eine Reihe, die mit Aufsätzen von Assen tK,uitm> (Osteuropa, 10/11, 1997, S. 1099-1114) und Thomas liremer. Wim van Maas und Klaus Müller (4//99S. S. 40H-4IM begann, dann schwerpunktmäßig in dem Sanderheft zu Ehren von Otto Wölfl von Amcron-Heu fortgeführt wurde (S/9, 199S) mit Heiträgen von Heinrich Vogel. I'eter Danylow, Jörg liaherowski, l'runk Limbach, l-'rauz.-l.oihitr Altmunn und ./. Í'. Sharman. Inzwischen sind noch einige weitere Artikel zu dieser Thematik erschienen, nämlich von Dietrich Heyrau (I0/I99H. S. 1041 ff.). Andreas Kuppeler (11/12. I99H, S. I l9Sffi. Barbara Christophe/Annette l.egmke (ebd., S. 120211). von Stefan Troeh.il (1/1999, S. 7/ff) und Nikolaus Katzer (2/1999, S. IH7ff). Mit Klans von Beyme kommt nun ein Soz.ialwissenschajtler zu Wort, der nach einer methodologischen Rtmdumschau über Entwicklungen. Theorien und Tendenzen in der üsieuropaforschung für seine Disziplin einen organisatorischen Wandel konstatiert - neue Fragestellungen bedingen eine wachsende interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich vor allem auf vier neue Forschungsgebiete konzentrieren wird: die zivilgesellschi(ftliihc (irundlage der neuen Demokratien, das „constitutione:! engineering", die Merkmale und l'hasen der Konsolidierung von Demokratien und schließlich die Entstehung neuer Hybride in Form nichtkonsolidierter Demokratien. DoviscnziifKlsso durch den Fremdenverkehr |yi>7 = 2.5 Mrd. US-Dollar; vgl. IAZ-liil'oi'iniitionvdiciislc: Slmveiiien/Knialien, S/I'WS |lii I 11, S. 25. Zwei Buchtitel haben die Debatte um einen Sysiemwecbsel vor der Oktoberrevolution stark beeinflußt: ..Klo vinoval?" (Wer ist schuld?) von Alexander Herzen (1X45) und „Cto dehn'?" (Was tun?) von Nikolaj Ccrnyscvskij (186.1). Die beiden Fragen die diese Philosophen des 19. Jahrhunderts aulwarfen, können auch als Leitfaden für den Unibesinnungsprozeß in der Osieuropaforschung dienen, der von zwei Fragen beherrscht wurde: (>sk'iiri)|Ki,.VI4V>) l 28f» Klaus von Hernie Osteuropa nach dein Sysiemwechsel 2X7 • Wils war der Kommunismus und warum lim die Forschung seine Enlwicklungs-chancen falsch eingeschätzt? • Was nuiB die Osteuropaforschung um, um für künftige Analysen und Prognosen besser gerüstet zu sein? Theoretische und methodologische Retrospektive: „Was war der Kommunismus?" Mit der Transformation der kommunistischen Systeme ist ein älterer Melliodenstreit wieder aufgebrochen oder wird latent unter anderen Bezeichnungen wieder ausgetragen: wen studies versus vergleichende Soziahvissenscluifien. Mit diesem Streit waren drei Kontroversen verbunden: 1. Die Frage, ob die Sozial Wissenschaften wie die Naturwissenschaften verfahren sollten. Die „Naturalisten", die diese Finge bejahten, verbanden damit die Forderung, dati die Wissenschaft auf nomologische Frklärmigen und l'rognosen gerichtet sein solle.' 2. Die Frage: werlfreie empirisch-analytische Wissenschaft statt holistischer Ge-samlschau. Die „Naturalisten" hallen nichts gegen die Fremdbezeichnung „Positiv ismus".-' 3. Die Frage, ob die Regime Osteuropas „einmalig" seien und sich daher mit anderen Systemen nicht vergleichen ließen. Der schärfste Vertreter des Antinaturalismus war Alfred Meyer gewesen. Einerseits war er einer der wichtigsten Revisionisten des Toialitarismus-Paracligmas, der neue Ansätze des Pluralismus in die Sozialismusstudien hineintrug und sich dagegen wehrte, daß die westlichen Demokratien nach ihren Idealen, die kommunistischen Regime aber nach ihrer Praxis beurteilt würden.' Er monierte die Unterstellung, duß es im Kommunismus keinerlei Partizipation, Legitimität und Akzeptanz des Regimes gebe, und wandte damit implizit ganz neue, bisher vernachlässigte sozialwissen-schaflliche Methoden an. Andererseits gerierle er sich als antiszientistischer Schöngeist, der Kunst und Kultur bei den Area Studies für sinnvoller erachtete als die politikwissenschaftlichen Methoden und Modelle. Die naturalistische Position behnrrle darauf, daß diejenigen, welche die Area Studies nach einem verbalen Bekenntnis zu ihrer notwendigen Vereinigung letztlich doch gegen die vergleichende Wissenschaft ausspielten, weil sie Methode (als Logik der Wissenschaft) und Forschungstechnik identifizieren. Ihre Vertreter sahen die naturwissenschaftliche Methode mit ganz unterschiedlichen Positionen und Forschungs-techniken kombinierbar, vom Posiiivisnuis bis zum Konstruktivismus.' Letzleres ist freilich zu bezweifeln. Der Konstruktivismus ist kaum szienlislisch zu nennen und neigt zu einem aiilikausalislischen und nicht-analytischem Holismus. ' Michael Martin/Lee (.'. Mclnlyrc (Kils.i: Koadiims in tlie Philosophy of Social Science. Cambridge/Muss. IW-t, S. XVI'. l-iederic .1. F'leron Jr.: The Logic ol lni|iiiry in Post-Sovicl Studies, in: (imimtinist and Posl-C'nmimmist Studies, 3/1 Wh. S. 245 274, hier S. 246. Alfred (5. Meyer: Comparalive Poliiics and Iis Disconlem: The Study of die U.S.S.R. and Lastern tüuropc. in: Luciari W. Pye (Ud.i: Poliücal Science and Area Studies. Rivals or Partners'.'. Bloomingtim llJ7.i, S. 98-13(1. Iiier: S. 114. ' liederic J. Fleron Jr., The Logic of hH|iiiry |Fn. 2|, S. 247. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint die naturalistische Position an Boden gewonnen zu haben. Die Besonderheiten der kommunistischen Systeme, die einen Vergleich mit anderen Regimen für viele Betrachter ausschließen, schien untergegangen zu sein; es sei denn auf einer hochabstrakten Ebene, in der Luhmann Ein-parteidiktalur im Sozialismus und demokratische Vielparteiensysteme als funktionale Äquivalente für die Stabilisierung der jeweiligen Systeme ansah. Für Meyer hatten diese Besonderheiten im Konzept der nationalen Kultur, der Betonung von reiner Elitenpoiitik, der ideologischen Determiniertheit und im Tolalitarismus gelegen.' Allenfalls die erste Besonderheit der totalitären Area-Studien schien es l'iir die Postkommunismusforschung noch zu geben: die nationale Kultur. Angesichts der Tatsache, daß der Nationalismus in das Vakuum einrückte, das die realsozialistischen Ideologien hinterlassen hatten, scheint dieser Punkt noch an Bedeutung zu gewinnen. Die rein elitäre Politik hingegen spielt nur in einer Unlerruhrik der „delegativen Demokratie" (Guillermo O'Donnel!) oder der „defekten Demokratie" (Wolfgang Merkel) eine Rolle, die in den GUS-Staaten weil verbreitet sind. Dennoch sind viele Osteuropaforscher verunsichert. Auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wird davor gewarnt, zuviel Theorie-Adaption und exzessive Modellbildung zu beireiben." Vor l'WI war diese Haltung weit verbreitet, weil man mit den Charakteristika des Totalilarismusmodells von Friedrich und Brzezinski auszukommen schien. Die Faktensammlung war zudem außerordentlich erschwert. Die Dokumente mußten auf ihren kryptischen Gehalt gelestet werden. Die Statistiken - nach Bereinigung ihres beschönigenden Bias - konnten mit Vorsicht genossen werden. Die Technik des Faktensammelns absorbierte ilie Aufmerksamkeit und ließ wenig Zeit für die Anwendung der theoretischen Ansalze des Faches. Erst ab Milte der siebziger Jahre hielten Interessengruppen-, Eliten- und Policy-Ansätze verstärkt Einzug in die Osteuropaforschung. Diese Schwierigkeiten sind entfallen, und doch scheint die Empfehlung eines routinemäßigen Behaviouralismus nach dem Systemwechsel um sich zu greifen.' Da die statistischen Daten der neuen Regime zum Teil noch sehr unbrauchbar sind, haben sich viele Forscher auf Unifragedaten geworfen. Schon immer hat die Historiker an den Sozialwissenschaften gestört, daß sie ihre Daten notfalls selbst generieren können. Die behaviouristischen Forschungstechniken sind in hohem Ansehen, aber der Behaviourismus als Methode wurde zunehmend in seiner theoretischen Grundlage angezweifelt. Die Ralional-Choice-Ansälze haben dein Behaviouralismus inzwischen heimgezahlt, was dieser einst den deskriptiv-historisch oder inslitulionalislisch arbeitenden Sozialwissenschafllern angelan hat. Dennoch sind beide Ansätze Zweige vom Baum eines Szientismus, vereint durch das Credo, daß die historischen Besonderheiten für die Sozialwissenschaflen keine Relevanz haben dürfen. Die behaviouralistische Revolution hat wenig Theorie hervorgebracht und neigte in ihrer forschungslechnisch orientierten Konzeption da/u. an die „unbefleckte Empfängnis" der Fakten zu glauben, aus denen die Theorie gleichsam durch „Selbstzeugung" hervorgehen werde." In diesem Ansatz kam es nicht zu deiliik- * Allied (i. Meyer. Comparative Polities |l:u.3|, S. 1101. '' Sarah Meiklejolm Terry: Thinking about Post-Communist Transitions. I low Different are they'.', in: Slavic Review. 2/1W, S. 333-337, hier: S. 333. ' Alexander J. Motyl: The Dilemmas of Sovietology and the Labyrinth ol'Thenry. in: Frederic J. Fleron Jr./Erik P. Hoffmann (F.(ls.): Post-Communist Studies and Political .Science. Methodology and Empirical Theory in Sovietology. Boulder PW3, S. 7xf. " John G. Gunnell: Between Philosophy and Politics. The Alienation of Political Theory. Amherst/Muss. 1987, S. 70. 288 Klaus van Herme Osteuropa muh í/ľ/;/ Syslemweehsel 2NÖ tiven Theorien, sondern allenfalls zur huhiktitm: aus der Abslrahierung und Generalisierung der Fakten wurden Theorien gewonnen - ein Verfahren, das »her auch außer-halh der Osleuropalörschung weil verbreitet ist. Seil die Popper-Orthodoxie des Kritischen Rationalismus in der Poslmoderne stark in Frage gestellt wtirde, helen zwar viele Kmpirislen in ihren methodologischen Credos noch zu den allen Göllern. In ihren eigenen Forschungen aber gehen sie nicht deduktiv-theoretisch, sondern induk-liv-typologisch vor. Die Forderung nach Theorie-Orientierung isi jedoch mit dem Ruf naeh wirklicher Eingliederung der Osletiiopalörschiing in die ver^leieheiule .Sysieiiiforschttni; nicht erfüllt. Die vergleichende Forschung seihst hat ihre alheorelischen Gefahren: Die Vergleiche sohlen eigentlich noniologische Uniforiniliil zutage fördern. Vielfach führen sie aber zu immer differenziertere» Typologien, die zwar keine völligen Einzellalle mehr konstatieren, aber Subgruppen bilden, für die einige der Generalisierun-gen nicht gellen. Der neuen Forderung nach Einbeziehung einer normativen Theorie wird kein Vorschub geleistet: Der Vergleich neigt dazu, alles zu verstehen und im Vergleich auch vieles zu entschuldigen, was in einzelnen Systemen unentschuldbar entwickelt wurde.'' Diese Mangel zeigten sich gerade bei empirisch-analytischen Komparatislen in der sowjetischen Zeit. Diejenigen, welche es nach IWI immer schon gewußt haben, daß das Sowjetsysicm dem Untergang geweiht sei, haben dann gern individuelle Mängel und politische Haltungen bei den Vorurteilen zugunsten der Stabilität und Entwicklungsfähigkeit der sozialistischen Systeme gewittert, wo eigentlich gerade die angeblich wertneutrale Methodologie die Fehlurteile förderte.1" Die positivistische Hinnahme alles Bestehenden hat mehr Fehleinschätzung zur Folge gehabt alsein angebliches ideologisches Fellow-Travellerluni. Die Einzelperson eines sich in den Prognosen Irrenden ist ohnehin völlig uninteressant. Interessant sind lediglich die methodischen Grundlagen irrtümlicher Prognosen, weil sie sich wieder ereignen könnten. Dabei ist tlie Überwindung der alten Ansätze, welche durch Tola-litarisniusmodelle und Ideologielastigkeit der Forschung gekennzeichnet waren," noch keine Garantie für künftig richtige Prognosen. Die Eulwicklung defekter Demokratien und populistischer Halhdiklaturen kann genauso zu Fehlurteilen einladen. Dies gilt um so mehr, als der erste Enthusiasmus über die llniversalisierung der Demokratie verflogen ist. Mit der Feststellung ungleicher Konsolidierungsgrade der Demokratie schleichen sich leicht neue, allzu verständnisvolle Werturteile ein, dal.! der Mi; piish und die Alles-odei-nichls-Ueniokralisicrungsslralegie nicht erfolgreich waren und nun gradualislische Konzepte befürwortet werden müssen, wie sie sich vor allem in der Ökonomie ausbreiten.'-' Die ideologischen Grahenkämpfc um die Bewährung älterer theoretischer Ansätze waren in den USA nie so erbitten wie in Deutschland. Das ist kein Wunder. Durch die Teilung Deutschlands und die Entstehung eines sowjetischen Satelliten auf deutschem Boden war Verständnis für den Sozialismus oder auch nur die Befürchtung, dal.! er trotz mangelnder Akzeptanz faktisch stabil sei, so etwas wie „Vaterlandsverrai". Nicht zufällig heil.lt die längste Anklageschrift auf diesem Gebiet „Deutsche Irrlü- ' Klaus \on Beyinc: Die politischen Theorien der Gegenwart. Opladen 7I7, S. I0W-II 14. 11 Andrea ('handler: The Interaction of Post-Sovietology and Comparative Politics. Communist and I'osl-Coinimmisl Studies. 1/1994. S. .!--l7, hier: S. 4. ': Marshall I. Goldman: lost Opportunity. Why economic Reforms in Russia have not worked. New York 1994. S. 239. mer"." Aber es gab ähnliche Kontroversen in Amerika. Der Gegenstand der Forschung färbte auch hier auf tlie Forscher ab: im Sozialismus wurden ständig Schuldige gesucht. Sie hallen moiivuiionelle Fehler, die mit Sanktionen und zunehmend mit materiellen Anreizen behoben werden mußten, damit man die strukturellen Mündel des Systems nicht angreifen mußte. Noch Gorbacev neigte zu dieser Taktik, wenn er Wissenschaftler. Techniker oder Leiter von Wirtschaftseinheiten in seinen Reden angriff. So wurden auch in Amerika die „Apologeten des Reichs des Bösen" ausgemacht, wenn sie nur Koitver/ienzllieorelikcr gewesen sind, wie der sicher eines Inten len Pro-Kommunismus nicht Verdächtige Alfred Meyer. .Selbst profilierte Anlikoin-munislen waren ex posl facto verdächtig, weil sie den Totaliiarisnius durch neue Konzepte - von Roberl C. Tuckers „Movement regime" bis zu David Aples ..Molulisie-rung.i.ivstem" oder Charles Lindbloms „Preeeptorial System" - mit Enlwicklungs-diklaturen der Dritten Welt vergleichbar genweht halten. Auf der Gegenseile gab es die Anklagen gegen die „heimlichen ClA-Agenlen in der Wissenschaft", die als rabiate ideologisiene Amikomnuitiistert auftraten." Roberl Conquesi, Richard Pipes und Martin Malia waren die Großinquisitoren der Verdächtigung. Jerry llough oder Stephen Cohen waren dabei die linksideologischen Bösewichte!-." Auch hier waren die Ankläger eher die Forscher, die sich um Methodenfragen der Osteuropaforschung nie gesorgt halten und daher den Gegenvorwurf der Szientisten auf sich zogen, daß sie durch Abkopplung der Sowjetologie von den sozialwissenschaftlichen Mullerdisziplinen diese zum gehobenen Journalismus degradiert halten."' Der Verdacht gegen ideologische Voreingenommenheit der Ostforschung richtete sich bei Historikern vielfach gegen die Sozialwissenschaftler. Aber auch unverdächtige Gelehrte haben dem widersprochen. Dominic Lieven bekannte, dal.! die Historiker und er seihst den Kollaps tles Kommunismus keineswegs klarer vorausgesehen hallen." Aufgrund einer höheren Mobilität der Jungakademiker in den USA ist die Diskussion über die alten ideologischen Gräben rasch hinweggeschritten, weil eine davon unbeschwerte jüngere Generation in der Perestrojka-Zeil in die Forsclumgsposilionen einrückte, die auch in ihren Köpfen eine Perestrojka lautlos vollzogen halle. Sie stand diesen personen-zentrierten Verdächtigungskonlroversen verständnislos und indifferent gegenüber. Aber auch diese Generalion war gegen neue Irrtümer über die Perestrojka nicht gefeit. Sie hat sich von dem Schwung Gorhacevs mitreißen lassen und übersehen, daß Glasnost' in Gefahr war. die Perestrojka zu ruinieren, weil die Behar-rungskräfle auf den Plan gerufen wurden. Aber auch die allere Generation kämpfte ab Iyx.i zum Teil seitenverkehrt: die kremlinologisch-machlgruppen-orientierten Forscher waren begeistert vom neuen Kurs. Die sozialslruklurell argumentierenden For- " Jens Hacker: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Berlin 1992. " Susan Gross Solomon: iieyoiul Sovielology. Armoiik/Ncw York 199.1. S. 241. 235. IS Marlin Malia: To die Stalin Mausoleum, in: Daedalus. II'/. Frühjahr 1990. S. 295 3-14. Richard Pipes: IV17 and die Revision ists, in: National Inteiesl, .11, Frühjahr 199.1. S. 9| 98.- Zu dieser Kontroverse: J. C. Sharman: Vorhersage and Vergleich. Zur Osteuropa-forschung in den USA, Mi: Osteuropa, X/'). I99X, S. OMttft. hier: S.826. "' Alexander Molyl: Dilemmas oľ Sovielology und Ihe Labyrinth ol Theory, in: Frederic I Flerou Jr./Erik P. Iloffniann, Posteomnuinisl Siudies |Fn. 7|, S. 77-104. " Dominic Lieven: Western Scholarship im Ihe Rise and Fall of die Soviel Regime. The View Ijoiii 1993. in: Journal of Coiuemporary Hisiory, 1994. S. 195-227, hier: S. 212. 290 Klaus vim Itcvine scher, die früher eher über den Wandel zu optimistisch urleillen, versanken ab 1987 in einen liefen Pessimismus." Der reale Sozialismus wurde kaum je verglichen, es sei denn nach der Divergemme-tlioile in Texlbooks als Koiurasl zu den westlichen Demokratien. Konvergente Züge wurden bis 19X5 in der Regel verneint. Annähernd verglichen wurden seit Arendt und Friedrich allenfalls der Nationalsozialismus und die Sowjetunion. Schon bei den „Volksdemokratien" wurden Konzessionen gemacht, und der Versuch, Mussolinis Faschismus oder Francos Falange-Regime als totalitär einzustufen, wurde in der Regel abgelehnt. Brzezinski setzte sich bereits 1971 von Friedrich in dessen Festschrift vorsichtig ab, als er einen „dysfunktionalen Totalilarisnius" auch in der Sowjetunion feststellte.1'' Noch rückte er aber nicht explizit von der mit Friedrich gemeinsam gemachten Aussage ab, daß ein totalitäres Regime nicht von innen zerfallen könne -was bekanntlich die schwerwiegendste Fehlprognose der Totalitarismustheoretiker gewesen ist. Der Nationalsozialismus und der Faschismus gingen auf dem Höhepunkt ihrer totalitären Mobilisierung aller Kräfte durch debeüatio unter. Das realsozialistische System überlebte und wurde nach 1953 meist nur noch von erbitterten Gegnern als stalini-stisch eingestuft, was vielfach als synonym mit totalitär galt. Die Sowjetologen als Anhänger der Totalitarismus-Modelle wie der Modernisierung!»- und Konvergenzvariante waren sich einig, daß. die Sowjetunion von 1917 bis 1991 nicht als uniformes Regime angesehen werden konnte. Das Problem der „Identität des sowjetischen Regimes" kam auf. Dies förderte die Tendenz, die Sowjetunion als einen Fall sui generis in der Regierungsformenlehre zu werten." F.s entbrannte eine Debatte um die genetischen oder essentiellen Züge und die bloß „developmental features" des Sowjetsy-stems.JI Nicht einmal über die Chronologie waren die Poslsowjelologen einig. Hat lil'cin 199.1 ein bestehendes parlamentarisches System abgeschafft und damit die Regimekonlinuität erneut unterbrochen und in der Russischen Föderation ab Dezember 1993 ein neues VeiTassungssyslern durchgesetzt'.'- Für die realsozialislisehen Länder kam es zu einer zweifachen Untergliederung: • Die Sowjetunion schien seit Brezuev, totalitär im I lerrschaftsumfang, nur noch dem prinzipiellen Anspruch nachzulaufen. • Bei den Volksdemokratien kam es zu der Untergliederung in einen totalen Anspruch bei autoritärer Struktur des Systems für die CSSR, die DDR, Bulgarien und Rumänien. Autoritär, aber begrenzt im Herrschaftsanspruch wurden Ungarn, Polen und Jugoslawien eingeschätzt.^ Klaus von Bcyinc: Glasnosl contra Perestroika. Alternative Hntwicklungsmöglichkeiten im sowjetischen Kcl'ormniodcil, in: Werner Siil.1 (Hrsg.): Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie and Machbarkeit. Hellmuth Ci. Uiilow /tun 65. Geburtstag. Berlin 1990, S. 241-51. Zhigniew Brzezinski: Dysfunctional Totalitarianism, in: Klaus von Beyme (Hrsg.): Theory and Politics. Theorie und Politik. Festschrift zum 71). Geburtstag für Carl J. Friedrich. Den Haag 1971. S. 375- 1X9. Stephen 1;. Hanson: Social Theory and the Post-Soviet Crisis. Communist and Posl-Communisi Studies. 1/1995, S. 119-130, hier: S. 127. Ken Jowiu: Inclusion and Mobilization in Leninist Regimes, in: New World Disorder. The Leninist Extinction. Berkeley 1992. Stephen E. Hanson: Social Theory and the Post-Soviet Crisis, in: Communist and Post-Communist Studies, 1/1995, S. 119-130, hier: S. 128. Andrew C. Janos: What Was Communism'.' A Retrospective in Comparative Analysis, in: Communist and Posl-ConimuniM Studies, 1/1996, S. 1-24, hier: S. 20, Tabelle I. Osteuropa nach dein Systemweelisel 291 Je heftiger die Gegnerschaft gegen das alle Regime, um so schärfer wird das Fortleben des Totalilarisnius wenigstens in der öffentlichen Meinung postkommuoistischer Länder festgestellt, obwohl die Unterlypen dieses angeblichen Bewußtseins eher Varianten des Autoritarisnuis darstellen (konservativ-sozialistisch, imperial-nationalistisch, nostalgisch-parasitisch, autoritär-konservativ, aworitär-modernisüscli, anti- oder prowestlich)."' Die autoritären Meinungen in Surveys wie Euroburomeier oder New Demoertieies Barometer sind nicht zu leugnen, aber es ist voreilig, sie als „totalitär" einzustufen, so lange nicht mehr als eine latente Nostalgie nach dem «iicien regime festzustellen ist. Theoretische und methodische Prospektive: Von der Transitologie zur Konsolidierungstheorie „Transitologie" wurde zunächst als ironischer Ausdruck benutzt, der - wie die „So-wjetologie" - keine hohen theoretischen und methodologischen Erwartungen weckte. Als Ahnherr dieses Wissenszweiges wurde Machiavelli gefeiert. Schon er war ein Meister der unsystematischen, aber scharf analytischen Ad-hoc-Argumente. Philippe Schmitter war der erste, der eine Entwicklung von der trunsilology zur consoliilology voraussah." Der Terminus „Konsolidologie" ist im Deutschen ein solcher Zungenbrecher, daß man seine Einführung gar nicht erst erwägen kann. Aber ohne Zweifel gibt es auch in den deutschsprachigen Ländern eine wachsende Konsolidierungswissenschaft. In der Transforniationsperiode war die Analyse stark aufklare Kausalitäten gerichtet. Die Überlegungen standen vielfach noch in der Tradition des „leiros/iekliven Determinismus" der älteren Sowjelologie. Der Sysicniwechsel in Osteuropa war im Vergleich zu anderen Regionen erstaunlich kurz und - mit Ausnahme von Rumänien oder Georgien - erstaunlich wenig gewaltsam. Um so schwieriger war jedoch die Konsolidierung der Systeme.'" In der Konsolidierungsphase überwiegt ein lypologisch arbeitender Systemansalz, der sich weniger für Prognosen eignet. Allerdings ist die Vermutung, daß die vergleichende Syslemforschung in Osteuropa zunehmend quantitativ-mathematisch vorgehen wird, auch ein Schritt zu der weiteren Vermutung, daß die Prognosefähigkeit der Erkenntnisse an Bedeutung gewinnt. Seit Downs gilt das behaviouralistische Credo, daß Sozialwissenschaften mehr auf die exakte Prognose als auf die detailliert erklärende Beschreibung der Phänomene gerichtet sein müssen. Die ältere Sowjelologie war jedoch im Vergleich zu ihrer Erklärungskraft in der Prognosefähigkeit eindeutig unterdeierminiert." In der Entwicklung der Methoden der Osteuropaforschung wird es allerdings schwerlich eine Uniformitiit geben. Vor allem im deutschsprachigen Raum bestehen die Regionalforschungseinrichlungen weiter. Sie werden auch künftig Politik, Geschichte, Ökonomie und Kultur im Baukastensystem anbieten, die mit unterschiedlichen Grigory Vainshiein: Totalitarian Public Consciousness in a Posl-'l'otalilarian Society, in: Communist and Post-Conimunist Studies, 3/1994, S. 247-259. Philippe C. Schmitter/rerry Lynn Karl: The Conceptual Travels of Transuologisis and Con-solidologists: How Far to the East Should They Attempt to Go'.', in: Slavic Review. 1/1994. S. 173-185, hier: S. 174. Ebd., S. 185. Frederic J. Fleron Jr., The Logic of Inquiry |Fn. 2|, S. 270. 2LJ2 Klaus von llcviiic Osteuropa nach dem Systeniweclisel 293 Methoden erarbeitet worden sind.J* Aber eine inlcyritlive Laiidcskttiiile als Lehrfach ist auch in Europa vielfach in Frage gestellt worden. Durch den Untergang des realen Sozialismus /erbrach die Klammer, die eine angebliche Kegion zusammenhielt. Rumänien und Ungarn waren in Osteuropa-Instituten immer vernachlässigt und halten allenfalls in den wenigen Siklosteuropa-Inslittiten den gebührenden Platz. Die Osteuropaforschung war dank der hegemonialen Stellung der Sowjetunion ruBlandlaslig. Diese Schwerpunklsetzung aber hat heute keine Berechtigung mehr, da viele osteuropäischen Systeme als Aul'nahmekandidaten für NATO und EU näher an Westeuropa heranrückten als Rußland selbst.-'' Die osteuropäische Geschichte drängt vielfach zurück in das Zentrum des Faches. Immer schon hat es bekannte Historiker wie Theodor Schieder, Werner Con/e oder Hans-Ulrich Wehler gegeben, die sich gelegentlich mit osteuropäischer Geschichte neben dem Interesse an der allgemeinen Geschichte befaßten. In Deutschland war die Osleuropaforscluing mehr als in Amerika in Regionalstu-dieniiistiiiiien konzentriert. Die stärkere methodische Rückbindung der Osleuropafor-seher der USA an ihre Mulierdisziplincn • nach dem Abbau der hegemonialen Stellung vieler Immigranten - war auch durch die Einbindung der Forscher in ihre Fachbereiche garantiert. Iis gab an den Universitäten kaum Soiiderinslilule. Arm Miulics und sozialwissensehaflliche Komparalistik sind daher in Amerika auch in der poslkom-mitnislischcn Arn weniger Gegner als Partner. Die deutsche Osleuropaforscluing wird vermutlich dem Vorbild Amerika nacheifern.'" Die Sozialwisseiiscluijicii haben durch die Transformation einen gewaltigen Auftrieb erfahren. Traditionell war die Soziologie am stärksten auf die eigene Gesellschaft konzentriert und daher in den Regionalfoiscluingsinslilulen unlerrepräsentiert. Sie lieferte zudem am wenigsten anwendbares Wissen, wie es Ökonomen oder auch Poli-tikwissensehafller anbieten konnten. Area Sluilies - vor allem in Osteuropa - waren jedoch in vielen Ländern von handfesten Berulungsinleressen begleitet. Die Leiter beratiingsorienlieiter Institute sind mit Recht besorgt um die künftige Nachfrage nach Politikberalung." Die Nachfrage verlagert sich zum Teil vom Staat auf gesellschaftliche Akteure. Damit verändert sich das Gewicht der Fächer. Angesichts der über 1000 Firmen, die allein in der Russischen Föderation arbeilen, kann die wirtschaftliche Osteitropaforschitnt; auf mehr finanzielle Unterstützung hoffen als andere Disziplinen.0 Für die nichlkonsolidierlen GUS-Staaten breitet sich eine Sehnsucht nach den allen gefälschten Statistiken aus. Man kannte ihr Hins und fand ihre Widersprüche, so daß einige Schlüsse gezogen werden konnten. Die Zentralisierung der Datenproduktion im sowjetischen System lud zur Meldung geschönter Daten von unten ein. Aber sie wurden ..oben" wenigstens gelegentlich nachgeprüft. Das Dalenchaos der Russischen Föderalion hingegen öffnet vorübergehend der Dalenwillkür Tür und Tor. Ähnlich verwirrend sind die Hegriffe und Konzepte, mit denen die Daten bearbeitet werden. Dien ich licyiau: Totgesagte leben länger. Die Osteuropa-Disziplinen im Dschungel der Wissenschaften, in: Osteuropa. I()/I'). IWS. S. 767-772. Fetei Dauylow: Osteuropäische Kegionalsitidien oder Orchideenhich?. in: Osteuropa. S/n. IWK. S. 773-7K3. S. 777. Kein Wunder, daß in der Soziologie vor allem Umfragedaten henulzl wurden, weil man die in gewisser Weise selbst tinler Konirolle hat." Die Unsicherheil schlägt sich in einer methodisch-theoretischen Verzagtheit nieder. Man will erst einmal erneut Fakten sammeln und sich auf den Trümmern eines alten Regimes mit unklaren Konsolidierungsperspektiven orientieren. Da die objektiven Indikatoren, welche die nicht konsolidierten Demokratien produzieren, so wenig brauchbar erscheinen, ist es kein Zufall, daß nach Wegfall der alten Restriktionen die Forschung sich gerne auf Umfragedaten stürzt. Siincy-Forschwix aber wurde vor allem von Forschern betrieben, die sich vor 1989 niemals für Osteuropa interessiert hallen, wie z.B. Hans-Dieler Klingemann, Herberl Kilschell oder Richard Rose. Sie konzentrieren sich in der Wahl-, Parteien- oder politischen Kuluirforschung. Gelegentlich werden die Vorurteile der Osleuropaforscher gegen diese neue Konkurrenz bestätigt, wenn sie bestimmte Abweichungen von den nomologischen Gesetzmäßigkeiten nicht erklären können und dies der Erklärung der Spezialisten für die kulturellen Eigenarten des betreffenden Landes überhissen. Wo sich die neue Konkurrenz jedoch der Mitarbeit der allen Landesexperlen versichern, entstehen heule die besten Stundard werke. Die Creme der so/ialwissenschaftlich orientierten C)sicuropnfoischer hat in/wischen ihre Bedenken gegen die area-lieniden Transilologen angemeldet. Der Vergleich von Demokratisierungsprozessen in Süd- und Osteuropa ist nicht schon deshalb möglich, weil es einige definilorisch gewonnene Übereinstimmungen gibt. Schmillcr wurde vorgeworfen. Apfel mit Orsingen zu vergleichen. Zudem wird ein neues normatives Bias bei den Komparatisten gewittert: In ihrer „Desiifiter-Sozialwisseiiscliujt" suchen sie nach einer „Designer-Demokratie", die als überwiegend von Hlitcn-Akteuren geschaffen konzipiert wird. Valerie Bunce, die der Schmitter-Schule am pointiertesten entgegengetreten ist, will die großflächigen Vergleiche nicht als gänzlich sinnlos abtun. Mit Recht aber betont sie, daß die Differenzen die Übereinstimmungen der Prozesse tiberwiegen." In der Tal gehl es nicht um die Kontroverse Area studics oder vergleichende Sozialwissenschaft, sondern um die Frage der richtigen Dosierung der beiden Ansätze, um die Fruchtbarkeit der Ergebnisse in der Osleuropaforscluing des Postkommunismus zu muximieren. Die großflächigen Vistas der Transitologen von Huntington bis Schmitter müssen an einer alten Kontroverse der Komparatisten geprüft werden: ist die Übereinstimmungs- oder die Differenzmcthode anzuwenden? Seil John Stuart Mill wissen die Koniparalislen, daß beide Ansalze möglich sind. Nur tun Gegenstand aber kann entschieden werden, ob man Ost- und Südetiropu nach dem „most-similar-cases-Ansalz" behandeln kann. Die Osleuropawisscnschal'ller werden daher darauf beharren müssen, daß der Vergleich von Ungarn und Spanien ein paar Einsichten bringen kann, aber letztlich doch in die Analyse starker Verschiedenheilen einmündet. Die Oslcumpa-Wirischitflsjnrscluina hat vermutlich die besten Zttkunflsaussichten. Sie rückte ins Zentrum des Interesses der öffentlichen und privaten Geldgeber. Ideologieanalyse ist überflüssig geworden. Die Osteuropageschichle erscheint iibeiprivi-legierl im Vergleich zu harten und vordergründig nützlichen Sozial Wissenschaften. Die lästige Konkurrenz der Generalislen wurde abgeschüttelt. Wer würde es als analytischer Empiriker heute noch wagen, über ..Ökonomie und Politik in Rußland" in Klaus von Beynre: Sozialer Wandel und polnische Krise in Rul.Uatul. ui: Osteuropa. 0/l''tJK. S. 543-563.- Stephen White/Richnrd Rose/Ian McAliister: llow Russin Voics. Thalham IW. Valerie Himce: Should Transilologists He (irounded.1. in: Slavie Review, I/IW5. S. III 127. 2lJ4 Klaus von lieynw der Politikwissenschaft zu schreiben? Seil das linke Geschwätz über „politische Ökonomie" ganzer Systeme verstummt ist, gibt es auch keine Herausforderung der Neo-marxisien für die „bürgerliche Ökonomie" mehr. Im „ancien regime" mußten auch Sozialwissenschafller sich mit Planungsorganisution und wirtschaftlichen Entscheidungsmechanismen der Partei- und Staatsorgane befassen. Meute kann natürlich Wirtschafts- und Sozialpolitik immer noch Gegenstand von politikwissenschaftlichen Analysen sein, aber der policy-Ansiilz bleibt stark auf den politics-cipproach (politische Entschuldung) bezogen. Das eigentliche Funktionieren der Markt- oder SemiMarkt-Ökonomie in den posikomnumistischen Staaten bleibt für die Ökonomen reserviert. Angesichts der enormen mathematischen Begabung vor allem der Russen schreitet der Prozeß der Ökonoinetrisieruna auch bei westlichen Osteuropa-Wirlschal'tsforscliern voran. Die Sozialwissenschafller hinken mit Rutionul-Clioice-Modellen einer individuellen Akteursentscheidungsökonomie mühsam hinterher. Aber die Ökonomie wird zum Trendsetler der Sozial Wissenschaften. Einen Primat der Politik, wie er noch in den allen „Polizey- und KameralWissenschaften" existierte und im realen Sozialismus - wenigstens in ideologischen Erklärungen des Regimes - sich noch einmal „neoabsolulistisch" wieder herstellte, kann es nicht mehr geben. Die Ökonomie wird die Leilwissenschaft - bis hinein in die Kunst- und Kulturbereiche, die ihr inhaltlich am fernsten zu stehen scheinen. Dieser hier vorausgesagte Prozeß der ,£elbstkolonialisierung" eines Faches - hoffentlich wieder eine Fehlprognose! - ist von keinem Geringeren als Albert Hirschman schon vor Jahrzehnten gebrandmarkt worden." Das Phänomen ist als Karrierismus gedeutet worden, weil Rational-Choice-Uniformitüt der Ansätze die Forschungsagenda rigide zu kontrollieren erlaubt. Ein vielseitiger Koninumisimisforscher wie Chalmers Johnson befürchtete jedoch, daß durch diesen Trend Wissenschaftler ausgebildet werden, die die Kulturen, die sie untersuchen, systematisch mißinterpretieren. Die Gefahr ist um so größer, als das zugrunde gelegte Rationalitälskrilerium vor allem ein amerikanisches Kulttirgefühl reproduziert. Die Rational-Choiee-Bewegung fand den früheren Behaviournlismus zu simpel. Er vernachlässigte die Institutionen. Diese wurden nun aber nicht in ihrer Besonderheil studiert, sondern ebenfalls ziemlich vereinfacht als „Spielregeln" der Interaktion aufgefaßt. Analogien zum Sport wurden üblich.*' Die Institutionen haben kein Eigenleben, sondern sind nur Kanäle, in denen das politische Mandeln so gebündelt wird, daß es jeweils mit den eigenen Präferenzen der Individuen kompatibel wird. Ein Ftißballfeld hat keine Eigendynamik, so hinge die Abseitsregeln noch gellen. Aber ein Parlament hat ein Eigenleben trotz einer rigiden Geschäftsordnung! Die politikwisseuschajiliihe (hicitmpii/brsclmiifi hat einen starken Nachfrageverlust erlitten. Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus gibt es keine Arcana impe-rii mehr zu erklären. Die 1'ransiloloaie optierte daher zum Teil bewußt für eine (iruinllaiienforschunx und postulierte die Notwendigkeit einer historisch orientierten so/.ialwissenschafllichcn Forschung." Angesichts der Interaktion der osteuropäischen Länder mit den allen Demokratien isl eine wichtige Innovalion die Zusammenschau von Innen- und Außenpolitik. Gelegentlich wurde auch die sowjetische Außenpolitik - vor allem soweit sie Außenwirtschaftspolitik war, aber auch bei rein symbolischer " Alben O. Hirschmim: Exit, Voice and Loyally. Cambridge/Mass. 1070, S. 9. "' Chalmers Johnson/K. Li. Keehn: A Disaster in the Milking. Rational Choice and Asian Studies. Sommer IW4. S. 14-22. frank l Imbach: /ukunflspcrspcklivcn polilikwisseiisehuftlicher Osleuropaforscliung, in: Osteuropa, X/y, l'WX. S. 7'W-XI3, hier: S. MW. Osteuropa nach tiein S'ysiemwechsel 2°5 Politik der Machtentfaltung - als Ausdruck von innenpolitischen Interessenkoalitionen gedeutet. Heute aber wird die „linkage-Prublemuiik", welche die Theorie der internationalen Politik immer beschäftigt hatte, ins Zentrum der Forschung gerückt. Dies ist um so auffallender, je näher ein Land an die europäische Integralion herangerückt ist, wie die Visegnid-Staaten. In der Osteuropa-Politikforschung war die bedeutendste Innovation, daß die Konzepte der Deniokratieforschung nun auf die neuen Demokratien übertragbar schienen. Die Interessengruppen-, Korporalismus- und Netzwerk- und Policy-Gruppen-Analysen hatte es schon in der sowjetischen Zeit gegeben, aber sie blieben auf den administrativ-politischen Teil des Geschehens beschränkt. Nun wurde vor allem der partizipalorisch-demokralische Teil des politischen Geschehens mit den im Westen entwickelten Konzepten angegangen. Am meisten Kontinuität hatten die Elilensludi-en. Hier ließ sich eine beträchtliche Kontinuität des Personals feststellen -- außer in Ostdeutschland. Die Spitzenpolitiker verschwanden, aber es war überwiegend nicht die Gegenelite, die an die Macht kam, sondern die „lower nobilily" des allen Katlersystems. Neue Felder der Osteuropaforschung Vier neue Forschungsbeieiche hielten Einzug in die sozialwissenschaftliche Osteuropaforschung: a) die Erforschung der Zivilgesellschaft und des Nationalismus, b) das „constitutional engineering", c) die Konsolidierungsforschung, d) die Entwicklung von Hybriden zwischen konsolidierter Demokratie und einem neuen Autoritarismus. a) Zivilgesellschaft und Nationalismus Der Zerfall der kommunistischen Ideologie verlangle nach Surrogaten, die in das ideologische Vakuum eindrangen. Groß war die Hoffnung gewesen, daß die Konzeption der Zivilgescllschufi zur neuen besseren Form der Demokratie fühlen werden, womöglich auf der Grundlage eines minieren Weges zwischen Sozialismus und Kapitalismus. ISO Jahre lang ging nach dem berühmten Diklum von Marx ein Gespenst um in Europa - der Kommunismus. Es war wie im Märchen: als der Bann sich lösle und das Gespenst sich auflöste, trat gleichsam eine gute Fee hervor: die Zivilgesellschaft. Der Begriff der Zivilgesellschaft war die l.eilidee für die friedlichen „Kerzenrevolutionen". Mehr als der Rechlsabbiegerpfeil im Straßenverkehr kam von Osten nach Westen. Der Westen, der sich zunehmend in einem platten Neoliberalismus verstrickt halle, schien plötzlich einen Ansatz für ein konsenslähiges normatives Konzept zu erhallen. Zwar hatte der Kommunilarismus mit seiner Suche nach „Community" schon ähnliches vorgedacht. Daß normative Konzeple aber über Nacht gc-schichlsmächlig werden könnten, haben die Vordenker «ler /ivilgesellschafi in der osteuropäischen Inlelligencija erstmals vorexerziert. Der erstarrten Utopie eines real gewordenen Sozialismus wurde eine konkrete Utopie entgegengesetzt: die Zivilge-sellschafl. Eine der bewaffnetsten ideologischen Großmächte der Weltgeschichte trat Thomas A. ßaylis: Plus (,'a change'.' Transformalion and Continuity Among Easl European Elites, in: Communist and Post-Communist Studies, 3/1904, S. 315-328. hier: S. 325. ab. ohne einen einzigen .Schul.! abzugeben. Das Wunder von Jericho, hei dem Trompeten Mauern zum Einsturz gebracht nahen sollen, schien klein gegen tue Kette von Wundern in Warschau, Leipzig, Prag oder Budapest. Die osteuropäische Theorie der Zivilgesellschaft stand - wie ihr marxistisches Ge-genhild - stark unter dem Einfluß dieser wellfremden intellektualistischen Weltauffassung. In Osteuropa mag dies eine läßliche Sünde gewesen sein. Der Anli-Realso-ziaiismus der Freiheitsbewegung war hinreichend vom Fortsein ins- uiul Periodisie-rungsschema des bekämpften Marxismus-Leninismus infiziert. Er wurde zur Verbesserung des Feinderlebnisses häufig als Slalinismus stilisiert, obwohl es sich längst um einen autoritären aber sklerotischen Poslslalinisinus handelte. Eine bloße Rückkehr zum „Kapitalismus" war unerwünscht. Träume vom „Dritten Weg" zwischen den Gesellschaftsformationen breiteten sieh aus. ..Amipolitik" und Wirtscliaftsfremdheil haben dazu beigetragen, daß die „Macher" rasch über die wohlmeinenden Zivilgesellschaljler siegten. Selbst Havel wurde im Hradschin nahezu eingemauert. Der Nationalismus wurde erfolgreicher. In einigen Landein Ex-Jugoslawiens waren fast alle Parteien „nationalistisch". Dafür hatte es im Westen nur in der Kampfzeit Irlands ein Vorbild gegeben. Umfragestudien zur politischen Kultur brachten zu Tage, wie stark die Zivilgesellsehal't ein ideologisches Surrogat der Intellektuellen gewesen war, während die Massen eher einem traditionalen Nationalismus anhingen. Die Kfcihiiisieruiig war vor 1989 prognostiziert worden, aber in der Prognose hatten die Analytiker sich gleichwohl geirrt. Die Sowjetunion ging nicht aufgrund ethnischer Konflikte unter, wie Carrere d'Encausse vorausgesehen hatte, sondern an der wirtschaftlichen Unfähigkeit des Zentrums, die Interessen der Peripherie weiterhin zu binden. Die Elhnieii blieben - mit Ausnahme des Baltikums - in der Sowjetunion bis 1991 eher bemerkenswert passiv. Die Erforscher der ethnischen Differenzen und Konflikte bekamen jedenfalls Hochkonjunktur und konnten der traditionellen Osteu-ropaforschung vorwerfen, den nationalen Faktor über den ideologisch-totalitären Fakturen vernachlässigt zu haben. Immerhin kam es nur in Ex-Jugoslawien zu einem unzivilen Bürgerkrieg. Die Tschechoslowakei und die Sowjetunion lösten sich relativ „zivil" auf. Das ist bemerkenswert im Falle Kußlands, das traditionell wenig Anteil am zivilgesellschaftlichen Denken halle. Noch ist kein russischer Garibaldi auf der Krim gelandet, um die russische „Irredenta" zu befreien. Von 23 Grenzen sind nur drei nicht ethnisch umstritten und doch winde außer in Tschetschenien der ethnische Konflikt bisher zivil ausgetragen. Man sage also nicht, daß die Idee der Zivilgesellschall - die als Minimalanforderung Gewallfreiheit bedeutet - nicht selbst im reethni-sierten Hexenkessel Osteuropas gewisse Erfolge gezeitigt habe! Die Anhänger der Zivilgesellsehal't hatten nach dem schönen Wort von Bärbel Bohley Gerechtigkeit gewollt, aber nur den Rechtsstaat bekommen. Die Constilutional engi-neers (siehe unten, Punkt b) hielten es aber gerade für ausgeschlossen, daß mehr erreichbar war. Die Überbleibsel des Auioritarismus in den Köpfen und die neuen riesigen Verliererkoalitionen der wirtschaftlichen Transformation haben dazu beigetragen, daß der Erfolg der Kerzenrevolutionäre begrenzt blieb. Paradoxerweise wurden sie durch den raschen Erfolg geradezu enthauptet."1 Der individualistische Strang des Denkens der All- und Neo-Kontraktualisten bewährte sich in der realen Demokratie in Ost und West weniger als die Tradition, welche die Zwischengewalten und Interessenorganisalionen seit Montesquieu und "' Michael Bernhard: Civil Society aller the First Transition, in: Communist and Post-Cummunisl Studies, 3/199h, S. 309-330.- Iluns-Joachim LauthAVoIfgang Merkel: Zivilge-sellsclial'i und Transformation, in: Foischungsjoiirnal NSB, 1/1997, S. 12-33. Osteuropa nach dem Sysleiinvecltsel 297 Tocqueville betont hat. Die neuen Zwisclwni) Constitution«! cii^iiiccrinti Niemals zuvor in der abendländischen Geschichte sind so viele Systeme auf einmal zu einem demokratischen System übergegangen. Die schöne Triniläl der Stadien in der Schule Philippe Schmitters „Liberalisierung, Demokratisierung, Konsolidierung" traf eigentlich nur auf die paktierten Transitionen wie Polen und Ungarn zu. Nicht überall gab es eine Phase der Liberalisierung. Immerhin blieb die Demokratisierung ein wichtiges Stadium, und es war durch die Suche nach neuen Institutionen gekennzeichnet. Mit der Krise des Behaviouralismus kam „Grandpa's" Institutionenlehre wieder zu Ehren. Man durfte wieder über die Vorzüge von Parlamentarismus und Präsidentia-lismus streiten. Die neuen Demokratien - aber auch einige alte Demokratien, die von der „Demokratie zur Demokratie" übergingen, wie Italien 1994 - entdeckten auch im Westen die Vorzüge der semiprüsidemiellen Systeme, die Sartori, der Wiedererwek-ker der Idee des Constituiionul engineering, für sein Land befürwortete. Der Neo-Insiitiiiionalismus machte die Wende möglich, vor allem in Verbindung mit Ralional-Choice-Ansülzen.4" Die Suche nach dem geeigneten Instimtionenmix für neue Demokratien - etwa Proporzwahlrecht in Kombination mit einem semiprüsidemiellen System - beherrschte die Diskussion, die von Nicht-Osleuropaforschcrn dominiert worden ist. 41 In diesen Ansätzen fanden sich die Konservativen wie Lijpharl, Linz oder Surtori - ohne quantitative Präferenzrechnungen - mit jenen Ex-Linken, die manchmal als „Ralional-Choice-Marxisten" bezeichnet worden sind, wie Przeworski, Jon Elsler oder Claus Ol'fe. Wo die Traditionalisten die Macbtslabilisierungskalküle charismatischer Führer zur Erklärung der Option für ein semipräsidenlielles System stall eines rein parlamentarischen Systems annahmen, haben die Szientisien eher mit kollektiven Interessen argumentiert: Bei ungesicherten Parleiensystemeu und wenig artikulierter Interessenvertretung sei ein System mit herausragender Stellung des Präsidenten eine notwendige rationale Wahl der Institutionen gewesen.' Das hinderte die Paläoinslitulionalislen freilich nicht, mit deskriptiver Analyse komplexerer und individuellerer Erkläruugsmusler fortzufahren, wie sie in den Osteuropa Zeitschriften noch immer dominiert.'" * Giovanni Sartori: Comparative Constitutional Engineering. Basingstoke 1994. 41 Jon Elster/Rune Slagstad (Eds.); Constitutionalism and Democracy. Cambridge I9XK.-Claus Ulfe: Designing institutions to East European Transitions, in: Roben E. (ioudin (Ed.): The Theory of Institutional Design. Cambridge 1996, S. 199-225.- Joachim Hesse/Nevil Johnson (Eds.): Constitutional Policy and Change in Europe. Oxford University Press 1995.- Arencl Lijplniil: Constitutional Choices for New Democracies, in: Journal of Democracy, 1991. S. 72-84. 4; Herberl Döring: Parlamentarismus. Präsidenlialismus und Slaalsläiigkeil, in: WellTreiids. 16/1997, S. 143-170. 41 Klaus von Beyme: Syslemweclisel in Osteuropa. Frankfurt 1994. S. 22911". - Wolfgang Merkel: Die demokratische Konsolidierung posiauloritarer Gesellschaften, in: Klaus von Beymc/Claus Ol'fe (Hrsg.): Politische Theorien in der Ära der Transformation. Opladen 1996, S. 30-58. 298 Klaus von Hevnie 0\wnri>i>it nach tiein Systemnechscl 299 Dem kulturellen Faktor wurde bei quantitativen Studien gelegentlich gehuldigt, wenn auch nicht mit individualisierenden Argumenten im Sinne der Anhänger einer Regionalforschung. Ökonomische und institutionelle Reform korrelierten mit religiösen Traditionen, wobei sich Clusler von Systemen orthodoxer oder muslimischer Religion und Cluster von protestantischen oder katholischen Systemen ergaben." Das Regierungssystem korrelierte ebenfalls mit diesen Typen: je reformfreudiger die Ökonomie, um so parlamentarischer schien das Regierungssystem. Während die Rational-Choice-Neoinstitutionalisten wie Jon Elster, inspiriert von kommunitarislischen Oerechtigkeilsvorstellungen, vor allem nach der Chancenver-teilung und Gerechtigkeitsvorstellung der neuen Verfassungen fragten, haben die Altinstitutionalislen, wie Sartori, nur nach den Konsequenzen von bestimmten Institutionen gefragt. Die Förderung von Gerechtigkeit hielten sie sogar für gefährlich. Sie standen in der Tradition der Konstitutionalisten, die sich nicht auf Rousseaus gute Menschen verlassen wollten, sondern lieber gute Institutionen suchten, die sich - wie Kant einmal sagte - auch für „ein Volk von Teufeln" bewähren würden. Die Gerech-tigkeiisapologeten argumentierten hingegen, daß man über die Wirkung der Verl'as-sungsinstitutionen keine vei läßlichen Prognosen anstellen könne. Damit behielten sie in Osteuropa leider vielfach recht. Dies führte zu einem vierten neuen Schwerpunkt der .sozialwissenschaftlichen Osteuropaforschung: den nichtkonsolidierten Demokratien. c) Kotvioüdwnmgsforschunf> „Conslitulional engineering" und die Schaffung neuer demokratischer Institutionen entsprachen einer Phase der Demokratisierung. Sie überwog bis etwa 1993. Danach winde Schnullers drille Phase der Konsolidierung zum Zentrum der vergleichenden Osleuiopaloischung. Je langwieriger dieser Prozeß wurde, um so mehr Phasenunterteilungen tauchten auf. In der Regel waren es vier:4' (1) Die konstitutionelle Konsolidierung auf der Ebene der Polilv (Verfassungsordnung). Sie erfolgte in der drillen und vierten Welle der Demokratisierung relativ zügig, wenn auch gelegentlich Nachbesserungen der Verfassung nötig wurden, wie in Polen 11997) und in Ungarn (ein noch nicht abgeschlossener Prozeß).* Conslitulional engineering war zu sehr auf die Rolle der Verfassungsinstilulionen fixiert und vernachlässigte anfangs die sekundären Institutionen in den Subsystemen. (2) Auf der Ebene der Interessengruppen war die Konsolidierung in Osteuropa bisher wenig erfolgreich. Es bildeten sich neue Gewerkschaften heraus, oder die alten kommunistischen Gewerkschaften übernahmen die Führung wieder. Dennoch blieb ihr Einfluß - vor allem in Rußland - begrenzt, da sich die Institutionen der großflächigen Tarifverhand hingen nicht entwickelt hallen. Im Spätsozialismus wurde das Korpora-tismus-Moilell auf die Steuerung des Systems angewandt. Im Postkommunismus aber " M. Stephen fish: The Delerminants of Economic Reforms in the Post-Commuuisl World, in: Hast European Politics ami Societies, 1/1998, S. 31-78, hier S. 541'. " Wolfgang Merkel: Syslcnilransformalion. Eernllniversiiüi Hagen 1998, S.72IT. - Klaus von Beyme: Parteien im Prozeß der modernen Konsolidierung, in: Wolfgang Merkel/Eberhard Sandschneidcr (Hrsg.): Syslcmwechsel 3. Opladen 1997, S. 23-56. "' Allila Agli: Permanent Constitutional Crisis in ine Democratic Transition, in: Jens-Joachim Hesse/Nevil Johnson (Eds.): Constitutional Policy and Change in Europe. Oxford 1995, S. 296-326.- Andrew Arato: The Constitution-Making Endgame in Hungary, in: East-European Constitutional Review, 4/1996, S. 31-39. zeigte sich, daß die sektorale „Governance-Funklion" von Verbänden zur Steuerung einzelner Bereiche in eine chaotische Marktwirtschaft nicht hinüber gerettet werden konnte. Wo dies gelang, lag eher eine symbiotische Elitenkooperation alter Nomenklatur-Fragmente vor als ein „liberaler Korporatismus". Die Zügelung einzelner Interessen durch Großverbände wurden ebenfalls noch nicht geleistet, so daß ein eher anomischer Pluralismus entstand.4' Gesellschaftliche Organisationen wurden vielfach als Gradmesser für die Zivilgesellschaftlichkeit der Systeme angesehen, soweit diese nicht als bloß antipolitische organisationsscheue „neue soziale Bewegung" perzipierl wurde. Aber die Organisationen waren weder herrschaftskiilische Gegenmacht mit neuen Organisationsformen noch konsolidierte Mitgliederorganisationen, welche die Interessenartikulation und lnteressenaggregation zufriedenstellend leisteten. Besser strukturiert waren die Parleiensysteine. Je präsidentieller das System war. um so geringer wurde jedoch die Bedeutung der Parteien. Vor allem die Befürworter eines semipräsidentiellen Systems in Osteuropa haben daher gelegentlich aus der Not eine Tugend definiert: Ein konsolidiertes Parleiensyslem wurde nicht als Minimalkri-leriuni für eine konsolidierte Demokratie angesehen, da fragmentierte Parteien mit hoher Volatilität auch im Westen vorgekommen seien.4" (3) Die Verhultenskonsolidierung bei den „informellen" politischen Akteuren wie Militär, Unternehmer oder radikale Gruppen. Diese Konsolidierung war bis Anfang der 1980er Jahre in Spanien nicht gesichert und ist in Osteuropa bis Ende der 1990er Jahre kaum verläßlich, mit Ausnahme von Tschechien, Ungarn, Slowenien und Polen, den eisten Kandidaten für eine Osterweiterung der Europäischen Union. (4) Die Ebene der Konsolidierung der liürgergescllschaft dauert in der Regel eine Generalion, wie die zweite Demokratisierungswelle des 20. Jahrhunderts auch in Italien, Deutschland, Österreich und Japan gezeigt hat. Meiniingslragen und das Auf-lauchen extremistischer Parteien zeigen, daß dieser Prozeß in Südeuropa, nicht aber in Osteuropa abgeschlossen ist. Das parlamentarische System ist vor allem auf der zweiten Ebene der repräsentativen Konsolidierung involviert. Häufig wurden in der Literatur recht oberflächliche Indikatoren genannt: r Zwei Wahlen ohne Gewalt von oben oder von unten, r eine Akzeptierung von Machtwechseln der politischen Lager (nach diesem Kriterium hätte Deutschland nicht vor 1969, die fünfte französische Republik nicht vor 1981 und Italien nicht vor 1994 als konsolidiert zu gellen) r keine zu hohe Fluktuation der Wählerstimmen, r keine großen systemfeiiullichen Parteien, r und schließlich die Intemalisierung der Spielregeln des parlamentarischen Systems bei der Mehrheit der Bevölkerung als „the only game in town" (Juan Linz). Helmut Wiesenlhal: Inleressenverbände in Oslniilleleuropa - Startbedingungen und Eni-wicklungsprobleme, in: Wolfgang Merkel/Eberhard Sandschneider (Hrsg.): Syslemwechsel ■4. Die Rolle der Verbände im Transformationsprozeß. Opladen 1999, S. 83-113, hier S. 108. J" Larry Diamond: Introduction: Search of Consolidation, in: Larry Diamond u.a. (Eds): Consolidating Third Wave Democracies. Baltimore 1997, S. X1V-XLV1I, hier: S. XX. XXIV.-Andreas Schedler: What is Democratic Consolidation?, in: Journal of Democracy, 2/1998, S. 91-107. Klaus von Heyine Osteuropa nach dein Systeinwechsel 301 Die Geschichte des parlamentarischen Systems zeigt jedoch, daß noch detailliertere Indikatoren für die Akzeptanz der Spielregeln gefunden werden können r Durchsetzung der Solidarität der Minister und klarer Verunlwortungsstrukturen. r Akzeptierung der politischen Verantwortung statt der Ministeranklage und der Verlagerung politischer Konflikte in die Justiz. (In diesem Bereich kommt durch die Verfassungsgerichtsbarkeil bereits gelegentlich wieder eine neo-konstitutionelle Gesinnung in der parlamentarischen Demokratie auf, die ihre Schattenseiten hat.) <- Reduzierung der Befugnisse des Staatsoberhaupts in der Gesetzgebung (Veto), der Regierungsbildung, bei der Entlassung der Regierung und bei der Parla-menlsauflösung. f Reduzierung der Funktionen von zweiten Kammern und Demokratisierung des Wahlmodus, soweit noch eine annähernde Symmetrie zwischen den beiden Kammern besteht. <- Akzeptanz der Parteien als Klammer zwischen Regierung und Parlanienlsmehr-hcii. Akzeptanz, daß Parlamentarier Berufspolitiker sind, die durch ein gewisses Ausmaß der finanziellen Kompensation ihres F.insatzes durch Diäten gegen finanzielle Versuchungen von außerhalb des Parlaments geschützt werden müssen. Nach einem weiteren Katalog der Kriterien für die Konsolidierung läßt sich unschwer erkennen, daß in Osteuropa unter Walesa oder F.l'cin die Systeme noch nicht konsolidiert waren. Die subjektiven Indikatoren der Akzeptanz von Gewallfreiheil im Kon-fliklausirag dürfen aber selbst in konsolidierten parlamentarischen Demokratien nicht allzu schemalisch angewandt werden. Vielfach gibt es eine Kluft zwischen dem Funktionieren des Systems und den normativen Postulaten, welche die Bürger an das System richten. Zur Konsolidierung der Systeme gehört eine gewisse Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeil, solange das Ideal nicht allzu unrealistisch und utopisch angesetzt wird. (I) Die nichi-konsoUdienen Demokratien Philippe Schmiller in seiner Kreativität für griffige Neologismen hat die Phase der Konsolidierung rasch mit einem neuen Wissenszweig, der bereits erwähnten „conso-lidology", in Verbindung gebracht. Das Peinliche daran war jedoch eine einmalige Entwicklung: Konsolidierungswissenschaft blieb in fast der Hälfte der Fälle mit Regimen konfrontiert, in denen es nicht zur Konsolidierung kam.*' Man konnte aber nicht gut eine Wissenschaft für die Nicht-Konsolidierung erfinden. Es bleibt jedoch bei einem wachsenden Forschungszweig über nichlkonsolidierte Demokratie. Samuel Huntingtons dritte Welle der Demokratisierung begann 1974.11 Im Gegensatz zu den beiden ersten Wellen (1828 l(>26. 194.3-1962) in durchaus fragwürdigen /cilahgien/.ungcn. war noch keine Welle des (iegenschlags vorgesehen, wie bei den '" Klaus von Iteyme: Die parlamentarische Demokratie. Umstellung und Funktionsweise. Opladen 1999, S. 521). Philippe C. Sclimitter/Tcrry l.ynn Karl: The Concepnial Travels ol"Trausiiologists and Con-solidologists: llow Far lo ihe Fast Shotild They Allempl lo Go'.\ in: Slavic Review, 1/1994. S. 173-185. hier: S. 185. " Samuel P. Huntington: The Third Wnve. IX-mociati/.ulion in ihe l-ate Twenlieth Century. Norman IW, S. 16. ersten Demokratisierungswellen (1922-1942, 1958-1975). Fragwürdige Terminierungen reizen zum begrifflichen „Anstricken" und Ausbessern der Welleiiannahincn. Wird eine vierte Welle der Demokratisierung nötig, weil I997/S7 noch 41) Prozent der Menschheil in autoritären Regimen lebten'.' Im früheren sozialistischen Lager wurden immerhin 69 Prozent als „eleklorale Demokratien" eingestuft, mehr als in Asien und Afrika und weniger als in Amerika." Der erste zivilgesellschaliliche Enthusiasmus der Demokratisierungsphase war verflogen. Es wurde die Frage nach der dritten Hnl-konsolidierungswelle der Demokratie aufgeworfen. Das Besondere an der Entwicklung der 1990er Jahre war jedoch nicht die offene Rückkehr zur Autokratie, sondern die schleichende Aushöhlung der Demokratie. Die Mischformen formaler Demokratie und inhaltlicher lllibcralität der Demokratien wurden zum Untersuchungsgegensland der neueren Osteuropaforschung. Der Triumph über den Sieg der Demokratie in Osteuropa währte nicht lange. Es gab kein attraktives Feindbild für Demokraten mehr: Faschistische Diktaturen waren l'M.5 und kommunistische Diktaturen 1989-1991 untergegangen. Schon im Kommunismus beriefen sich alle auf die Demokratie, haben diese aber sehr unterschiedlich ausgedeutet. Diese Differenzen entfielen, seil Träume vom Drillen Weg im ersten /ivilge-sellschalilichen Überschwang der Ker/enrevolulionäre sich nicht realisieren ließen. Nun kamen nur noch westliche Systeme in Frage. Selbst ein russischer Politiker, dessen demokratische Gesinnung nicht über jeden Zweifel erhaben war. wie der Par-lamenlspräsidenl Chazbulatov als Gegenspieler von El'cin dozierte 1992 über die drei Regierungsformen, zwischen denen Rußland zu wählen habe: pritsidenlielle. semiprä-sidentielle und parlamentarische Systeme.-'" Er war natürlich für das parlamentarische System. Aber auch dies war kein Beweis für demokratische Gesinnung. Die Beharrungskräfte haben vielfach die alte, formal parlamentarische Verfassung mit einem kollektiven Staatsoberhaupt als Parlatnenispräsidium verteidigt, um die Machtpositionen der Poslkommunisten zu festigen. Die Demokratie hatte kein attraktives Gegenbild mehr. In den alten Demokratien waren viele Mängel komparativ von den Bürgern verarbeitet worden: Die Defizite der repräsentativen Demokratie wurden entschuldigt, da die Systeme immer noch besser seien als ihre autoritären Gegenbilder. In der Transilologie enlbrannle nur noch ein Streit darum, ob es ein „bestes Modell" der Demokratie gäbe, das man Osteuropa empfehlen könne." Dabei wurde vor allem gegen die Verherrlichung der Konkordan/demokralie gekämpft, die Lijpharl den neuen Demokratien empfohlen hatte, wegen ihrer ethnischen und ideologischen Fragmentierung. Das „constituiional engineering" wurde auf eine Kombination von Repräsentutivilät und Effizienz der neuen Systeme verwiesen, die weitere Fragmentierung verhindert und effiziente Führung fördert. Während die osteuropäischen Transilologen begreiflicherweise nach den bewährtesten institutionellen Designs für ihre Länder suchten, schlichen sieh bei westlichen Transilologen Bedenken ein, daß ein vollkommenes Demokratiemodell in Osteuropa möglich sei. Von der Modernisierungsforschung - die auch auf den realen Sozialismus angewandt wurde, ist nach den funktionellen Kccjiiisitcn für erfolgreiche Demo kralisierung gesucht worden. Nach dein Systeinwechsel spielten erneut willkürliche Festsetzungen wie 6000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen eine Rolle. Der Nordhalkon dci Viscgräd-Slaalen halle sich an solche nicht gehalten und ist davon ausgegangen, daß die Synchronisieriing von Marktwirtschaft und Demokratie gelingen könne, auch ,: Larry Diamond, Inlrodiiclion |Fn. 48|. S. XV. XI.II. 41 K.J. Chazbtilalov: Kakaja vltisl' nu/na Kossii'.'. in: Sucis. 1I 1992. S. 18 .51. *' Miroslay Noväk: ls liiere one liest „Model of Democrav"'.'. in: C/ech Sociologieal Ke\icw. 2/1997, S. 131 157. 302 Klaus von Bevine Osteuropa nach dein Systemwechsel 303 wenn nicht alle wirtschaftlichen Requisiten gegeben seien. Griechenland, Spanien und Portugal haben bei ihrer Abkehr von der Diktatur schließlich auch nicht an die Requisitenlehre geglaubt. Westliche Forscher haben aber schon früh hybride Formen der Demokratie entdeckt. Die sprachlichen Neubildungen der Regierungsformenlehre schössen ins Kraut. Ted Gurr - einer der bekanntesten vergleichenden Revolutions- und Systemwechselforscher vor 19X9 - nannte das, was entstand, ,Auokrarie", ein Gemisch aus Anarchie und Autokratie.1' Angesichts der starken Elilciikontinuilül wurde von einer bloß ,j>ro-zeduralen Demokratie" gesprochen, die ein Elilenphünomen sei, ohne wirklichen Kontakt zu den Bedürfnissen der Massen."' In der Substanz hingegen diversifizierten sich die neuen Demokratien in liberale, nationale und egalitäre Formen. Die NeoDemokraten bringen aufgrund von Enttäuschungen der Massen immer neue Formen autoritärer Politiklhemen auf. Prozedurale Mindestkriterien wie Wahlen und Bürgerrechte werden zwar respektiert, aber tu! hoc und ad hominem immer wieder durchbrochen."' Je stärker die Wirtschaftspolitik in die vergleichenden Forschungen einbezogen wird, um so pessimistischer lallt die Bilanz aus, angesichts von verzögertem take off, Inflation, Kapitalflucht und ruinierter Fiskalpolitik. Der Fortschrittsoptimismus der frühen Modernisierüiigsforsehung kannte mir die positive Entwicklung. Walt Rostows fünf Stadien der wirtschaftlichen Entwicklung klangen wie die liberale Variante von Engels fünf Stadien im historischen Materialismus. Transiiologie kann angesichts der Realitäten nicht nur „l'rogressologie" sein und begann sich zunehmend mit den Prozessen der Regression zu befassen. Begriffe aus der Lateinamerikaforschung kamen über eine generalisierte Transiiologie in die Ostcuropal'orschung. I.ukasenkas Staatsstreich 19% mit drastischen Einschränkungen der Kompetenzen des Parlaments und des Verfassungsgerichts - per Referendum bestätigt - wurde als Aulogolpe mit Fujimoris Selbstinszenierung von 1992 verglichen. Linierhalb der Ebene einer offenen Verletzung des Gleichgewichts der Gewaltenteilung lag der tlecretismo oder für Ostetiropaforscher: die ukuz.okratija, mit dem Präsidenten in den GUS-Staaten die Gesetzgebung aushöhlten, bis zu russischen Ausmaßen, so daß am Schluß weder die Gesetze noch die Ukaze außerhalb der Hauptstadt beachtet wurden. Eins! halte die Adjektivierung von Grundbegriffen wie „Rechtsstaat" der positiven, zusätzlichen inhaltlichen Füllung gedient, wie der soziale Rechtsstaat, den die Bundesrepublik als Formel der Selbsldcfinilion des Systems an spätere neue Demokratien vielfach weitergab. In der osteuropäischen Welle der Demokratisierung wurden die Zusätze zum Begriff Demokratie eher negativ verslanden - und vor allem gingen sie auf Kosten der Rechlsslaatlichkeit, selbst wenn sie mit plebiszitären Besläligungs-melhoden die Minimalkriterien der Demokratie wahrten. „Oelegative Demokratie" war ein weit verbreiteter Begriff, den Guillermo O'Donnell anbot, vor allem für Lateinamerika entwickelt.'"' Anhand der Prüffragen an eine konsolidierte Demokratie in der Tradition von Roben Dahls „Polyarchy" wurden Formen der „defekten Demokratie" klassifiziert - vermutlich kein glücklicher Ausdruck, weil er suggeriert, daß es „perfekte Demokratien" gibt.5" Delegative Demokratie bedeutet, daß die Entscheidungsbefugnis an einen mehr oder weniger charismatischen Führer, meist den Präsidenten im semipräsidentiellen oder gar dreiviertel-präsidcntiellen System (wie in einigen GUS-Staaten) delegiert wird. Andere Vorschläge lauten „illiberede Demokratie".'" Wie immer sie genannt werden, sind nach den Statistiken von Freodom llotise (ll>9(>) 56 Länder in der Grauzone zwischen konsolidierter Demokratie und offener Autokratie zu verorien, viele davon sind posikommunistische Systeme. In ihnen weiden meistens nicht so sehr die politischen Partizipationsrechte als vielmehr die Freiheils- und Menschenrechte verletzt, was ganz in der Tradition des formalen Verfassungssysiems der kommunistischen Systeme war. Neben diesen illiberalen Demokratien wurden „exklusive Demokratien" gesichtet, die vor allem ethnische Minderheiten benachteiligen, von Estland und Lettland bis Rumänien. Ein dritter Typ wurde Domiincndemo-kratie genannt. Hier gibt es neben dem formal demokratischen Prozeß noch Veio-mächte, wie das Militär - wenn auch gelegentlich nur in einzelnen Bereichen. Im Gegensatz zu den ex-autoritären Systemen der Dritten Welt sind diese Vetomiichte im Postkommunismus kaum offen organisiert. Es ist sogar erstaunlich, wie die kommunistische Tradition, daß das Militär sich der politischen Führung unterordnet, überwiegend auch im Postkommunismus bewahrt wurde. Dennoch geniigen viele Systeme nicht dem Kriterium, daß die demokratischen Spielregeln „the only game in lown" (Juan Linz) sein müssen, weil vielfach korrigierende Mechanismen einwirken, und seien es nur die von traditionellen Eliten der früheren Kader in Wirtschaftsposilionen oder in mafiosen Gruppierungen. Gerade weil die Reharrungskräfte im Postkommunismus die plebiszitär-demokralischen Mechanismen hochhallen, hat die Demokratie-forschung der vergleichenden Osteuropaforschung heule eher auf eine harmonische Verbindung von Rechtsstaat und Demokratie abzuheben. Die Institutionen der horizontalen Kontrolle wurden daher besonders betont, wie Verfassungsgerichlsbarkeii oder wenigstens Autonomie der Gerichte, Rechnungshöfe, Oppositionsrechle und Gegengewichte in sozialen Organisationen.'" Die wichtigste Institution der horizontalen Kontrolle wird im Verfassungsgericht gesehen. In sozialistischer Zeil haben nur Polen und Jugoslawien relativ früh eine Entlastung der Partei durch judicial review akzeptiert, die von der ubiquitären Zuständigkeit der Partei ablenken konnte, was zu Frustraiionen führen mußte. Der spätere zweite Präsident des russischen Verfassungsgerichts, Vladimir Tumanov, hat noch während der Perestrojka 1988 ohne artikuliertes Bedauern festgestellt, daß es kein sowjetisches Verfassungsgericht gäbe, aber die Diskussion um ein ..commiitec of constitutionul supervision" zeige, daß die sozialistische Gesetzlichkeit weiter enlwik-kell werde,"; Ted Ciurr: The Transformation of the Western Slale: The Growth of Democracy, Autocracy and Slale Power since 1X0(1. ia: Alex Inkcles (Ed.I; On measuring democracy. New Brunswick I'WI. S. 69 KM. '" Ellen C'omisso: Is the Glass half full or half empty'.' Reflection on five years of Comparative Publics in Eastern Europe, in: Communist and Post-Communist Studies, 1/1997, S. 1-21, hier: S. 19. Philippe C. Schmilter Dangers and Dilemmas of Democracy, in: Journal of Democracy, 2/1994. S. 57-74. hier: S. h L " Guillermo O'Donncll: Delegalive Democracy, in: Journal of Democracy, 1/1994, S. 55-69. m Wolfgang Merkel: Defekte Demokratien, in: Wolfgang Merkel/Andreas Busch (Hisel: Demokratie in Osl und Wesl. Frankfurt 1999 (im Erscheinen). "" Fareecl Zakaria: The Rise of Illiberal Democracy, in: foreign Affairs. Nov ./De/. 1997. S. 22-43. "' Guillermo O'Donnell: llori/.onlal Accountability in New Democracies, in: Journal ol Democracy. 3/1998, S. 112-126. "' Vladimir Tumanov: Guarantees for Constitutionality of Legislation of the U.S.S.R., in: Christine Landfried (Ed.): Constitutional Review and legislation. Baden-Baden 19X8. S. 213-217, hier: S. 217. 304 Kinns v/m licyiiic Alle postkommuiiislischcn Systeme haben spater ihren Willen zur rechissiuatlichen Demokratie ilurcli die Einrichtung der Verlassungsgeriehtsbarkeit dokumentiert. Als wirklich erfolgreich gilt die Einrichtung in den paktierten Transformalionsländern Polen und Ungarn. Relativ erfolgreich erscheint die Einrichtung in Tschechien. Aus der gemeinsamen tschechoslowakischen Epoche 19X0-1992 resultierte, daß auch in der Slowakei das CJerichl tapfer gegen den autoritären Strom schwamm - ähnlich wie in Bulgarien. In Albanien, Belarus, Kas/achslan. Rumänien und in geringerem Maße Rußland seit 1993, wurde hingegen die Verfassungsgerichtsburkeil von der Dominanz der Exekutive beeinträchtigt."' Konklusion Die nach 1989 wieder aufgebrochenen Kontroversen von sozialwissenschaftlicher Komparatistik und reiner Kegionalwissenschaft beginnt sich durch den organisatorischen Wandel der Forschung selbst zu überleben. Nachhutgefechte sind zu erwarten. Den „Mainstream" der Forschung beeinflussen sie nicht. Es zeigt sich schon jetzt, daß die Osleuropaforschung stark von Konzepten und Fragestellungen der vergleichenden Snzialforschung beeinflußt wird. Eine doppelle Konkurrenz erwächst den Osteuropaforschern: von den Wissenschaftlern der betroffenen Länder, die das „Weltniveau" nicht mehr als Fahnenschwenker reklamieren, sondern zunehmend verkörpern, und von vergleichenden Wissenschaftlern der Survey- und lndikalorenforschung, die keine Osteuropa-Spezialisten sind und eher Methoden- als Sprachkcnnlnisse mitbringen. Das fehlende Können gleichen sie aber durch Kooperation mit Regionalspezialisten aus. Die Gewichte der Einzeldisziplinen der Sozialwissenschaften im weiteren Sinne verschieben sich in der Osieuropal'orschung. Die Ökonomie wird vermutlich künftig am stärksten nachgefragt. Ihre i|iianlilizierenden Methoden setzen Standards für alle Sozialwissenschaften - allerdings um den Preis abnehmender Breitenwirkung und direkter Verwcnbarkeit der Ergebnisse. Wer 1989 vom Ende der Geschichte geträumt hat, gehört schon wieder zu denen, die sich irrten. Es gibt keine ..poslhistoiie", und es gibt sie um so weniger, je unkonsoli-dicrlerilie Systeme Osteuropas sind. Susanne Schattenberg Wider die „Schutzzonen" Zur aktuellen Debatte über die Lage des Faches Osteuropäische Geschichte Zusammenfassung: Die Meinungen, die bisher im Laufe der - von Jörg Baberowski angestoßenen - Debatte über die Zukunft der Osteuropäischen Geschichte geäußert wurden hinsichtlich der Unbeweglichkeit des Faches und der schwierigen Situation des Mittelbaus, stimmen weitgehend überein. Die Autorin dieses Beitrags plädiert dafür, sich aber nicht auf eine Selbstheilung zu verlassen und die Reform der Hochschullandschaft anderen zu überlassen, sondern selbst zu handeln. Einerseits sollte darauf hingearbeitet werden, aus der zweistufigen Professorenausbildung eine einstufige zu machen. Andererseits spricht sich dieser Beitrag gegen eine Auflösung des Faches im Sinne Baberowskis, aber für eine Neuordnung der historischen Disziplinen aus. Die Universitäten sollten dazu bewegt werden, sich positiv dafür zu entscheiden, welche „Geschichten" sie neben der deutschen anbieten wollen. Jörg Baberowski hat mit seinem Beitrag „Das Ende der Osteuropäischen Geschichte" zu einer Diskussion über die Lage des Faches angeregt. Seine provokanten und zum Teil auch polemischen Thesen vom „Ausnahmezustand", von der „Selbstisolalion" und „Selbslghettoisierung" des Faches, seiner Existenz als „bloßer Appendix" der gesclüchlswissenschanliclien Institute in Deutschland, der Rücksläudigkeil hinsieht lieh neuer Methoden und Ansätze und nicht zuletzt der lähmenden „Arbeitsteilung" zwischen forschendem Mittelbau und herrschender Piol'essorcnschafl haben aber leider weniger zu einer an der Zukunft ausgerichteten Debatte über das Fach, als vielmehr zu Verteidigungsreden und auch persönlichen Kontroversen geführt.1 Das ist umso erstaunlicher, als offenbar niemand ernsthaft bezweifelt, daß sich das Fach in einer schwierigen Umbruchsilualion befindet. Das gilt sowohl hinsichtlich des Legitimierungsbedart's seil 1989 bzw. 1991, hinsichtlich eines Methodenwechsels oder einer Methodenerweiterung als auch in bezug auf die schwindenden Studierendenzahlen und die Schließung erster Institute und Lehrstühle. Dietrich Beyrau spricht ganz selbstverständlich von der „Lethargie der Osteuropawis-senschaft" und weisl es als eine Eigenschaft der deutschen Disziplin aus, daß sie in den Methoden der US-amerikanischen Osteuropäischen Geschichte einen und den Herman Sclnvartz; Lastern Lurope's Cunsiiituionul Courts, in: Journal of Uemocracy, -l/19'Jíí. S. KM). 114. 1 Jörg Baberowski: Das linde der Osteuropäischen Geschichte. Bemerkungen zur face einer geseliichlswissenschat'llicheii Disiziplin. in: Osteuropa. S/9. 1998. S. 7S-t -7'»l>. hier S. 7K5. 7X8. 793, 798. Osteuropa, 3/1999