Eine Gesellschaft -¥ unterschiedliche Lebenswelten Erkenntnisse einer qualitativen Studie über die Fragmentarisierung der tschechischen Gesellschaft Migration Gleichberechtigung Westen e Osten 1989 Gesellschaft Materialismus Behörde Leistung Technologie Homnnhohip Glnhalisieruna Unterschiede blitik Entwicklung us Klima Ausbildung ü?idenfeindlichkeit F^cerbehilfe Land Patriotismus Eine Gesellschaft -* unterschiedliche Lebenswelten Erkenntnisse einer qualitativen Studie über die Fragmentarisierung der tschechischen Gesellschaft Qualitative Studie im Auftrag der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Tschechischen Republik und Masarykova demokratická akademie ^RTffi" Mda STEM H STIFTUNG Masarykova demokratická akademie 6 Vorworte 13 Einleitung: Tschechische Gesellschaft und polarisierende Themen 18 Kapitel 1: Methodologie 24 Kapitel 2: Gesellschaftliche Werte — Sicherheit und soziale Absicherung versus Verantwortung und Rechtsstaat 30 Kapitel 3: In welchem Zustand befindet sich die tschechische Gesellschaft derzeit und wie kam es dazu? 36 Kapitel 4: Am meisten polarisieren uns Politik und Politiker_innen 43 Kapitel 5: Welche Themen spalten die tschechische Gesellschaft? 70 Kapitel 6: Gelingt es uns zusammenzuhalten? Nur in Krisen und nur auf kurze Dauer 76 Kapitel 7: Wie weiter? Gibt es eine gemeinsame Zukunftsvision? 80 Schlussfolgerungen 91 Empfehlungen Vorworte n sehr vielen Ländern Europas hat sich die gesellschaftliche Situation in den vergangenen Jahren spürbar verändert. Konfliktthemen werden anders wahrgenommen und ausgetragen. Zunehmend lässt sich in einigen Ländern eine starke Polarisierung der Gesellschaften konstatieren. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, die sich zum Teil zwar abhängig von den historischen und kulturellen Hintergründen sowie der sozioökonomischen Lage unterscheiden, aber auch Parallelen aufweisen. In Deutschland hat sich zum Beispiel gezeigt, dass das Thema Migration und der Umgang mit Geflüchteten in den Jahren nach 2015 die Menschen gespalten hat. Damit einher ging das Erstarken der rechtspopulistischen, in Teilen sogar rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD). Eine sachliche Auseinandersetzung war in dieser aufgewühlten und emotionalen Situation kaum mehr möglich. Überdies wurde deutlich, dass es eine starke gesellschaftliche Polarisierung entlang zentraler Konfliktthemen gibt. In dem genannten Beispiel zwischen denjenigen, die eher für „Abschottung" sind und denjenigen, die sich für „Weltoffenheit" und damit auch für die Aufnahmen von Flüchtlingen einsetzen. Klar wurde auch, dass ein (kritischer) Austausch oder Dialog zwischen den verschiedenen Meinungsgruppen und Milieus nicht mehr möglich ist, weil das Trennende mögliche Gemeinsamkeiten überlagerte. Diese starke Polarisierung gefährdet nicht zuletzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Demokratien. Aus diesem Grunde beschäftigt sich die Friedrich-Ebert-Stiftung national aber auch international sehr intensiv mit diesen Fragen. Dabei ist es uns wichtig, nicht nur immer Konfliktlinien zu identifizieren, sondern auch Bereiche und Themen, die Menschen zusammenbringen können. Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Jahr 2020 in Kooperation mit der Demokratischen Masaryk-Akademie (MDA) entschlossen, die vorliegende Studie für die Tschechische Republik in Auftrag zu geben. Auch für die tschechische Gesellschaft gilt, dass es zahlreiche Spaltungs- und Polarisierungstendenzen gibt. Auch hier spielt die Einstellung zur Frage der Migration eine zentrale Rolle, aber auch andere Themen wie zum Beispiel soziale Ungleichheit oder die Haltung zur Europäischen Union werden in der Bevölkerung sehr unterschiedlich bewertet. Erfreulich finde ich es, dass die Demokratie als bestmögliche Staatsform von einer übergroßen Mehrheit nicht in Frage gestellt wird. Bemerkenswert ist sicherlich auch der Umstand, dass die Geschichte des Landes und damit die Bewertung der Zeit vor und nach der Samtenen Revolution in der Bevölkerung (nach wie vor) kontrovers diskutiert wird. Anlass zum Handeln sollte die Erkenntnis sein, dass viele Bürgerinnen eine 7 wirkliche Zukunftsvision für ihr Land vermissen. Wie kann es gelingen, den Zusammenhalt zu stärken und gerade auch in der Post-Corona-Zeit die sozialen und kulturellen Unterschiede in der Gesellschaft zu überbrücken? Hierzu braucht es mehr Dialog und Austausch, aber auch eine klare Werteorientierung. Auch wir als Friedrich-Ebert-Stiftung wollen gerne gemeinsam mit unseren tschechischen Partnern dazu einen Beitrag leisten. Vor diesem Hintergrund haben wir als Herausgeber der vorliegenden Untersuchung in Abstimmung mit STEM Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen gezogen und Empfehlungen formuliert, die Sie in den zwei abschließenden Kapiteln nachlesen können. Nicht absehbar ist derzeit noch die Frage, wie sich die beobachteten unterschiedlichen Lebenserfahrungen und -einstellungen auf das zukünftige Zusammenleben der Tschechinnen und Tschechen auswirken werden. Dennoch erscheint es uns gerade aus einer sozialdemokratischen Perspektive heraus wichtig, dies in einen politischen Kontext einzuordnen. An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei der MDA für die sehr gute Zusammenarbeit bedanken. Ohne den regelmäßigen und kollegialen Austausch wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Dem Meinungsforschungsinstitut STEM danke ich für die professionelle und vertrauensvolle Durchführung und Erstellung der Studie. Und nicht zuletzt möchte ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Fokus-Gruppen dafür danken, dass sie uns Einblicke in ihre Ansichten und politischen Überzeugungen gewährt haben. Für die vorliegende Studie wünsche ich mir viele interessierte Leserinnen und Leser. Urban Überschär leiter der büros der friedrich-ebert-stiftung in der tschechischen und in der slowakischen republik 8 ie Neunzigerjahre stehen heute im Mittelpunkt unserer politischen Debatten. Damals änderten sich die Macht- und Wirtschaftsbedingungen sowie die außenpolitische Orientierung des Landes grundlegend, ebenso aber auch unsere Erwartungen an den Staat, und ein neuer Raum für Erfolge und Misserfolge eröffnete sich. Bis heute sind die Veränderungen die- ser Zeit für viele Menschen ein sensibles Thema und auch eines, das in vielen seinen konkreten Ausprägungen polarisierend wirkt. Nach Jahren des proklamierten Kollektivismus setzte sich in den frühen Neunzigerjahren im Privatleben vieler Menschen, aber auch als Interpretationsrahmen für die damaligen Ereignisse ein starker Individualismus durch. Das importierte Motto „so etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht, nur Individuen" stellte nicht nur für die persönlichen Bemühungen und Erfolge vieler Menschen eine Stütze dar, es wurde auch zu einer Ausrede, dort harte Ellbogen einzusetzen, wo jemand dem Erfolg des Einzelnen im Wege zu stehen schien. In dem vorliegenden Forschungsbericht des Projekts Eine Gesellschaft — unterschiedliche Lebenswelten sehen wir dies etwa dort, wo zum Geschehen nach 1989 kritisch wie auch positiv eingestellte Menschen es für notwendig halten, die Leistungsbasiertheit öffentlicher Unterstützung hervorzuheben. Die einen, weil sie vom Staat eine solche nicht erhalten und ungern sehen, dass andere sie bekommen. Andere, weil sie nicht wollen, dass jemand ihre Erfolge auf eine einfachere Weise erreicht. Die Polarisierung unserer Gesellschaft zu beschreiben ist im Grunde genommen einfach — wir streiten uns im öffentlichen Raum über allerlei. Unsere Untersuchung bestätigt, dass es um Themen geht, die in ihrer heutigen Gestalt in den bereits erwähnten 1990er Jahren aufgekommen sind. Die Fragmentarisierung der Gesellschaft zu beschreiben ist schwieriger, weil es bedeutet, Menschen mit unterschiedlichen, einander nicht tangierenden Erfahrungen ausfindig zu machen und diese Zersplitterung zu beschreiben. Der Leser wird beurteilen, ob dies gut gelungen ist. Hervorheben möchte ich die erfasste Erfahrung kritischer Menschen — ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit, die Angst, aus Geldmangel Rechnungen nicht bezahlen zu können, an den Staat gerichtete Ansprüche (etwa bezahlbarer Wohnraum, ein preiswerter Zahnarzt, ein Kindergartenplatz, ein Gefühl von Sicherheit). Sie gehen von der auf die eine oder andere Art geteilten Vorstellung aus, dass der Staat früher solche Dinge gewährleisten konnte oder wollte. Und sie reflektieren die eigene heutige Lebenssituation und den Weg zu ihrer Verbesserung. 9 Positive Menschen sind im öffentlichen Raum präsenter — die letzten dreißig Jahre haben sie als Welt des persönlichen Erfolgs, der Freiheit in verschiedenen Formen, etwa auch der Freiheit zur kritischen Debatte, der Möglichkeit zu Reisen, des Angebots an hochwertigen Waren in den Geschäften erlebt. Über den Unterschied zwischen den beiden Gruppen muss an dieser Stelle nichts Weiteres geschrieben werden. Erwähnen wir auch die mittlere Gruppe und vergegenwärtigen wir uns, dass große Eigentumsunterschiede ein Problem unserer Gesellschaft sind und die Frage im Raum steht, wie rechtmäßig die Reichsten zu ihrem Eigentum gekommen sind. Sollte gerade bei ihnen die Idee eines Aufschwungs der gesamten Gesellschaft ohne Zunahme der Unterschiede existieren? Aus dem vorliegenden Forschungsbericht legt indes zumindest eine weitere schwerwiegende These nahe: Die Politik hat aufgehört, das kollektive Interesse zu vertreten. Dies steht zweifellos im Zusammenhang mit dem individualistischen Zeitgeist der 1990er Jahre. Aber noch eine Beobachtung drängt sich auf: Politik und politische Konflikte werden als irritierender Faktor wahrgenommen, nicht als Instrument zur Repräsentation sozialer Konflikte und eines gewaltfreien Weges zu ihrer dauerhaften Lösung. Politische Antworten sind und können nämlich gerade deshalb nicht universell gut sein, weil sie unterschiedliche Interessen vertreten sollen. Wenn wir in dem Forschungsbericht die Meinung von kritischen Menschen lesen, Politiker stünden über den Menschen und würden sich nicht für sie interessieren, bedeutet dies, dass ein Teil der Gesellschaft keine Repräsentation hat, sich aber auf welche Weise auch immer weiterhin zu Wort melden wird. Daran werden die Positiven nichts ändern, selbst wenn sie ihren Meinungsopponenten irgendeine Vertretung zuordnen — zum Beispiel den Präsidenten, den Premierminister oder „die Kommunisten". Ich freue mich auf die Diskussion über den Text des Forschungsberichts, die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die wir in dieser Publikation präsentieren. Die Frage nach der Vertretung und Anerkennung einzelner gesellschaftlicher Gruppen ist für mich persönlich von herausragender Bedeutung. Vielen Dank für die hervorragende Zusammenarbeit mit der Prager Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Tschechischen Republik und für die professionelle Arbeit und den offenen Dialog mit dem Team des Instituts für empirische Forschung STEM. Vladimír Špidla direktor von masarykova demokratická akademie 10 Die Studie Eine Gesellschaft — unterschiedliche Lebenswelten und andere Untersuchungen zeigen, dass die verfestigte und ständig wiederholte Vorstellung einer polarisierten Gesellschaft einer der größten Mythen der letzten Jahre ist. Diese Idee drängt das Bild zweier fast gleich großer, unversöhnlicher Lager auf. Diese Lager seien zudem quer über die Themen des öffentlichen Lebens hinweg in ihrem Kern unveränderlich. Und im Idealfall vertreten sie laut dieser Vorstellung darüber hinaus ziemlich extreme Standpunkte. Gewöhnliche Menschen sehen jedoch in der Regel keine solche Kluft um sich herum, und wenn ja, dann zu einzelnen Themen wie etwa der Präsidentschaftswahl, die an sich eine binäre Wahl ist und eines der wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse in einem gegebenen Wahljahr. Unter anderem eben weil über die Dimensionen des sozialen Lebens hinweg keine Trennlinie zwei separate Gruppen herausbildet und für viele Themen die Teilung nach Binärschlüsseln nicht relevant ist, muss im Kontext der tschechischen Gesellschaft vielmehr über das Risiko einer Fragmentierung gesprochen werden. Das bringt wichtige Konsequenzen mit sich. Während in einer polarisierten Gesellschaft nämlich ein scharfer Meinungskonflikt besteht, dessen Ziel es ist, mit verschiedenen Mitteln eine klar beherrschende Stellung zu erlangen, besteht das Problem einer fragmentari-sierten Gesellschaft darin, dass sie nicht in der Lage ist, zu handeln und Veränderungen herbeizuführen. Die Zersplitterung des Diskurses führt zusammen mit der fehlenden Bereitschaft, einen Konsens zu erzielen, zu einer Lähmung, insbesondere wenn es um längerfristige strategische Ziele geht. Im gleichen Atemzug müssen wir allerdings hinzufügen, dass Meinungsvielfalt selbstverständlich zu den fundamentalen Funktionsprinzipien demokratischer Gesellschaften gehört. Begleitet von Respekt, der Bereitschaft zuzuhören, seine eigene Meinung auf der Grundlage von Fakten zu bilden und der Fähigkeit zu Verständnis ist sie ein Ideal, auf das sich wahrscheinlich die gesamte Gesellschaft wird einigen können. Wir verengen diese wichtige Feststellung in Praxis jedoch bestenfalls auf einen Appell einen Dialog miteinander zu führen. Natürlich ist dieser wichtig, er führt aber oft lediglich zu einem weiteren Dialog beziehungsweise der Feststellung, dass wir einfach zu keiner Übereinstimmung kommen. Dies mag in theoretischen Diskussionen ein legitimes Ergebnis sein, für eine Gesellschaft ist es aber entscheidend, den Dialog mit einer Entscheidung abzuschließen. Und diese Entscheidung soll möglichst auf einem Konsens oder einem Kompromiss beruhen. Kern einer solchen Entscheidung ist die Voraussetzung, dass keine Gruppe in der Gesellschaft langfristig ein systematisches Gefühl 11 der Ungerechtigkeit empfindet und dass einzelne Entscheidungen nicht jeweils als Schlachtfelder wahrgenommen werden. Mit anderen Worten, wir sehen, wie aus Unterschieden Ungleichheiten werden, die ein eher mehr als weniger gerechtfertigtes Gefühl der Ungerechtigkeit hervorrufen. Und erst daraus erwachsen Dämme, die eine polarisierte oder in unserem Fall eher fragmentierte Gesellschaft entstehen lassen. Es bleibt offen, wo genau wir nun in dieser Hinsicht in Tschechien stehen, beziehungsweise ob die Situation in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nicht jeweils anders gelagert sein kann. Und darauf sucht die vorliegende Studie Antworten. Im Namen von STEM möchte ich gern der Friedrich-Ebert-Stiftung und Masarykova demokratická akademie für die Gelegenheit danken, sich mit Themen im Zusammenhang mit der Fragmentarisierung der tschechischen Gesellschaft zu befassen, den unterschiedlichen Einstellungen der tschechischen Öffentlichkeit und den Gründen und Erfahrungen, aus denen diese hervorgehen. Martin Buchtik direktor von stem, institut für empirische forschung 12 Einleitung Gesellschaft un polarisieren In der tschechischen Öffentlichkeit wird seit Längerem auf verschiedenen Ebenen eine Debatte darüber geführt, ob die tschechische Gesellschaft gespalten ist, ob es in der Bevölkerung unvereinbare Meinungs- und Wertegruppen gibt, die unterschiedliche Sichtweisen auf das gesellschaftliche Geschehen haben, unterschiedliche materielle, soziale und kulturelle Ausgangspunkte. Auf soziologischer Ebene entstand 2019 zu diesen Fragen ein umfangreiches Projekt für den Tschechischen Rundfunk: „Durch die Freiheit gespalten: Die tschechische Gesellschaft nach 30 Jahren". Ziel des Projekts war es, die Struktur der tschechischen Gesellschaft 30 Jahre nach dem Jahr 1989 zu beschreiben, um die Ungleichheiten und Trennlinien in der Gesellschaft zu erfassen. Die Analyse kam zu dem Ergebnis, dass es in der tschechischen Gesellschaft sechs Klassen gebe, die sich erheblich dadurch unterscheiden, ob und über welche Art von Ressourcen (Kapital) sie verfügen. Neben Unterschieden bei Einkommen und Vermögen, sozialen Kontakten und kulturellen Vorlieben unterscheiden sich diese Schichten auch stark in ihren Ansichten über die Gesellschaft, das Regierungssystem und die Ausrichtung des Landes. Die Untersuchung lieferte so auch einen Beitrag zur Diskussion über die die tschechische Gesellschaft polarisierenden Themen. Es sind vor allem durch Migration hervorgerufene Ängste, die Wahrnehmung von Ungleichheiten und die Bewertung der Entwicklung seit 1989. Neben einer einfachen Aufzählung polarisierender Themen ist es indes auch wichtig, deren Inhalt, konkrete Vorstellungen und die darin enthaltenen „Geschichten" zu verstehen. Darüber hinaus ist es von grundlegender Bedeutung nachzuvollziehen, wie die Menschen selbst die Uneinigkeit über bestimmte Themen wahrnehmen: Denn dies kann in einer pluralistischen Gesellschaft als etwas Natürliches hingenommen, aber auch als schwerwiegende gesellschaftliche Spaltung empfunden werden. Nur so ist es dann möglich, aus dem entgegengesetzten Blickwinkel zu beurteilen, in welchen Bereichen es notwendig ist, die Gesellschaft zu einen sowie Verständnis und Kompromisse zu suchen und auf welche Weise dies gelingen kann. In diesem Sinne ist das Projekt eine Fortsetzung der Studie von Jana Faus und Matthias Hartl Suche nach dem verlorenen Dialog (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2020; tschechisch: Hledání ztraceného dialogu, Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Prag, 2020). Die deutsche Gesellschaft steht vor ähnlichen Herausforderungen wie die tschechische und viele andere in Europa. Sie ist damit konfrontiert, dass sich die Meinungen verschiedener Gruppen in der Gesellschaft diametral voneinander zu unterscheiden beginnen. Die Autoren der deutschen Studie entschieden sich, nicht nur nach Gründen für die Spaltung der Gesellschaft zu suchen, sondern 14 Wie Themen die Gesellschaft spalten — Unterschiede zwischen den Einstellungen der am deutlichsten unterschiedlichen sozialen Klassen [absteigend nach dem Grad der Polarisierung] Mit der Migration verbundene Ängste Wahrnehmung von Ungleichheiten, Gleichheit, Bedeutung von Leistung und Umverteilung ^ Pro-westliche Orientierung ^ Entwicklung seit 1989 und genutzte Chancen Mehr Entscheidungsfindung durch die Menschen, weniger durch gewählte Politiker (^^) Profite von Konzernen zu Lasten Tschechiens (^^) Die Gesellschaft ist in zwei Lager geteilt O Materialismus — die Notwendigkeit, eigene Interessen durchzusetzen, Bedeutung von Eigentum (^2) Eine auf Autorität beruhende Gesellschaft — eine starke Führung, Anpassung (5?) Unsicherheit über die künftige Entwicklung (28) Vorrang der eigenen Kultur (^2žT) Mehr Schüler in Fachmittelschulen (^26) Interesse für Politik und das Geschehen in der eigenen Umgebung (J?) Glaube an Gott (j?) Umwelt — Klima und Bereitschaft, sich einzuschränken (l?) In der tschechischen Gesellschaft herrscht Einigkeit Einstufung von Schülern nach Begabung (j?) Patriotismus — Stolz auf das eigene Land Quelle: Durch die Freiheit gespalten (2019) 15 insbesondere nach Themen, welche die gegensätzlichen Gruppen nach und nach wenn nicht zu einer Einigung führen könnten, so doch wenigstens zu einer gemeinsamen Diskussion. In ihrer Analyse gingen sie sowohl auf die Ansichten derer ein, welche die aktuelle Situation in Deutschland sehr kritisch sehen, konservativ und patriotisch eingestellt sind, wie auch derer, die in ihren Einstellungen zu Deutschland und der Welt positiver, offener und liberaler orientiert sind. Zusätzlich zu diesen beiden Gruppen konzentrierten sie sich auch auf die Menschen „zwischen" den beiden Polen und darauf, welcher der beiden Positionen sie eher zuneigen. Die vorliegende qualitative Studie von STEM für die Friedrich-Ebert-Stiftung und Masarykova demokratická akademie konzentriert sich daher ebenfalls auf Gruppen von Bürgerinnen der Tschechischen Republik, deren Meinungen auseinandergehen. Ihr Profil ergibt sich aus langfristiger Forschung von STEM und dem Projekt Durch die Freiheit gespalten. Starke Unterschiede korrelieren mit der Einschätzung der heutigen tschechischen Gesellschaft im Blick auf die jüngste Vergangenheit unseres Landes und seiner politischen Führung, ferner mit der Offenheit oder im Gegenteil der Distanziertheit gegenüber der übrigen Welt. Aber welche anderen Ansichten und Einstellungen, abgesehen von diesen Ausgangspunkten, unterscheiden die auf diese Weise definierten Gruppen? Und umgekehrt: Was verbindet sie, inwiefern ähneln sie sich? Wie kann man in Zukunft mit diesen Unterschieden und Ähnlichkeiten umgehen, damit die Gesellschaft kohärenter wird? Woher genau kommen eigentlich diese anfänglichen Motivationen und wie können sie verändert werden — und damit auch einige als problematisch und schädlich polarisierend empfundene Einstellungen? Strukturierung des Textes Im ersten Kapitel beschreiben wir, welche Methoden wir in unserer Analyse verwendet haben, wie wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für Gespräche ausgewählt und wie wir sie in einzelne Gruppen unterteilt haben. Im zweiten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Frage nach den persönlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Wir konzentrieren uns darauf, was Menschen in verschiedenen Gesellschaftsgruppen für wichtig halten, worüber sie sich einig sind und worin sie sich unterscheiden. Im dritten Kapitel beschäftigen wir uns damit, wie Menschen die tschechische Gesellschaft charakterisieren und warum sie glauben, dass sie genauso ist. Im vierten Kapitel stellen wir die Gründe vor, warum Menschen aus verschiedenen Meinungsgruppen in der Tschechischen Republik die Gesellschaft als gespalten wahrnehmen. Im folgenden fünften Kapitel widmen wir uns konkreten Themen, welche die tschechische 16 Gesellschaft auf eine Weise spalten, die Spannungen zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft zunehmen lässt. Uns interessiert, worüber einzelne Meinungsgruppen zu diesen Themen unterschiedlicher Auffassung sind und wo im Gegenteil mögliche Schnittmengen auszumachen sind. Im sechsten Kapitel fassen wir in den Blick, was die tschechische Gesellschaft einen könnte, was die einzelnen Meinungsgruppen als Quelle des Zusammenhalts sehen und welche Vorstellungen sie von einer geeinten Gesellschaft haben. Im siebten Kapitel fassen wir die Perspektiven für die Zukunft zusammen und kommentieren die (Nicht-)Einigkeit über eine gemeinsame Vision und gemeinsame Ziele. Die Publikation schließen Schlussfolgerungen und Empfehlungen ab, die auf der Grundlage der durchgeführten Untersuchung ihre Auftraggeber, die Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tschechien und Masarykova demokratická akademie, formulierten. 17 Kaoitel 1 Methodologie Für ein tieferes Verständnis des Zustandes der tschechischen Gesellschaft und der Themen, die darin Resonanz finden, sie polarisieren oder die umgekehrt verbindend wirken, wurde eine qualitative Herangehensweise gewählt — konkret die Methode der focusgroups mit einer geringen Zahl von Teilnehmer_ innen („Triaden"). Eine solche Herangehensweise ermöglicht zwar keine Quantifizierung der Ergebnisse für die gesamte Bevölkerung, ihre Stärke besteht vielmehr in einer Tiefenanalyse und der Erfassung unterschiedlicher Perspektiven, Motivationen und Argumente. Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang eine durchdachte Konzipierung des Auswahl- und Rekrutierungsprozesses der Befragten von grundlegender Bedeutung. Auswahl der Teilnehmerinnen Die Auswahl der Projektteilnehmer_innen geschah auf verschiedenen Ebenen. Ziel war es, die Vielfalt der Einstellungen und Positionen der tschechischen Bürgerinnen ausreichend abzubilden. Erste Ebene war die regionale Differenzierung, die den von STEM in langfristigen Studien erhobenen Unterschieden zwischen den Regionen der Tschechischen Republik entsprach. Ausgewählt wurden die Hauptstadt Prag sowie die Südböhmische und Mährisch-Schlesische Region. Diese Auswahl spiegelt sowohl die Unterschiede zwischen der böhmischen und der mährischen Region wie auch die Differenzen im Lebensstandard und der wirtschaftlichen Situation der einzelnen Regionen wider. Innerhalb beider Bezirke wurden dann Befragte aus verschiedenen Städten 19 angesprochen: Im Südböhmischer Bezirk handelte es sich um České Budějovice, Strakonice, Český Krumlov, Deštná, Zliv, Vodňany, Sezimovo Ústí und Jindřichův Hradec; im Mährisch-schlesischer Bezirk um Ostrava, Třinec, Havířov, Opava und Hradec nad Moravicí. Die zweite Ebene bildete die soziodemografische Vielfalt unter Berücksichtigung von Geschlecht, Alter und Bildung (die Bildung steht in engem Zusammenhang mit Einkommen und Berufsstruktur, weshalb angenommen werden kann, dass beide in diesem Indikator enthalten sind). Diese Diversität versuchten wir auch in den einzelnen Triaden beizubehalten, damit ein offener Raum für die Gegenüberstellung der verschiedenen Ansichten gerade auf Grundlage der gegebenen soziodemografi-schen Merkmale zur Verfügung steht. Soziodemografische Merkmale der Teilnehmer innen der ersten Runde GESCHLECHT ALTER BILDUNG LOKALITÄT MÄNNER FRAUEN 18-29 30-44 45-59 60+ OHNE ABITUR ABITUR STUDIUM Prag 6 3 2 1 2 4 4 2 3 Südböhmen 4 5 2 1 3 3 3 3 3 Mährisch-Schlesien 4 5 2 2 3 2 3 2 4 Die dritte Ebene der Rekrutierung zielte darauf ab, die Unterschiede der Teilnehmerinnen hinsichtlich ihrer Einstellungen zu vertiefen. Differenzierungskriterium war vor allem die Haltung zur Entwicklung und Zustand der tschechischen Gesellschaft sowie Weltoffenheit oder Betonung der nationalen Ebene. Dementsprechend wurden die Befragten drei Gruppen zugeordnet: A. kritisch; B. positiv; C. Meinungsmitte. Für die konkrete Profilerstellung wurden drei Fragen gewählt, deren Auswahl aus der Profilierung der tschechischen Bevölkerung in 20 quantitativen Untersuchungen von STEM (z. B. die Forschungsreihe TRENDYoder das Projekt Durch die Freiheit gespalten) hervorging: 1. Die Gesellschaft steuert seit 1989 im Allgemeinen in die richtige Richtung. 2. Eine starke Führung ist wichtig für die Tschechische Republik, auch wenn sie nicht immer in Übereinstimmung mit den geltenden Regeln handeln wird. 3. In der Tschechischen Republik arbeiten zu viele Ausländer. (Mögliche Antworten: 1 - Stimme vollkommen zu, 2 - Stimme eher zu, 3 - Stimme eher nicht zu, 4 - Stimme überhaupt nicht zu.) In der Gruppe der Kritischen befinden sich mithin Menschen, die der Entwicklung der tschechischen Gesellschaft seit 1989 negativ gegenüberstehen, eine starke Führung bevorzugen und gegenüber Ausländerinnen und der Migration ablehnend eingestellt sind. Unter den positiv profilierten Menschen sind im Gegensatz dazu jene, welche die Entwicklung seit 1989 positiv bewerten (auch wenn sie dazu einige Vorbehalte haben), die eine autoritäre Führung des Landes ablehnen, die weltoffen und eher kosmopolitisch orientiert sind. Die Meinungsmitte ist nicht scharf abgegrenzt, vertritt weniger ausgeprägte Einstellungen zu den angeführten Themen und repräsentiert eine breite Bevölkerungsgruppe der Tschechischen Republik. Eine detailliertere Analyse der Meinungsunterschiede und wertenden Positionen zum Zustand der tschechischen Gesellschaft liefern die folgenden Kapitel. Realisierung der Triaden Für die konkrete Durchführung wurden so genannte Triaden gewählt, Gespräche mit jeweils drei Befragten, welche online durchgeführt wurden. Die Entscheidung für die Online-Befragung fiel im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, als im Rahmen des Kampfes gegen die Ausbreitung des Virus zur Zeit der Realisierung des Projekts in der Tschechischen Republik persönliche Kontakte zwischen den Bürgerinnen eingeschränkt waren. Das Projekt hatte zwei Phasen, die sich in der Meinungsstruktur der Teilnehmerinnen an den einzelnen Triaden unterschieden. In der ersten Runde wurden in jeder Region drei Triaden mit Teilnehmerinnen durchgeführt, deren Meinungen homogen waren. Insgesamt handelte es sich also um neun Triaden, drei Triaden mit Befragten unterschiedlicher Meinungsgruppen in jeder Region. Die erste Runde fand vom 7.-11. Dezember 2020 statt. 21 In der zweiten Runde ging es anschließend um sechs Gruppen, deren Meinungen heterogen waren. Die Befragten wurden aus den Teilnehmenden der ersten Runde ausgewählt, und zwar unter dem Gesichtspunkt, neben den Meinungsdifferenzen auch die soziodemografi-sche Vielfalt zu berücksichtigen. Ziel der Gespräche mit den heterogenen Gruppen war es, Erkenntnisse zu polarisierenden Themen zu vertiefen, die Kristallisation davon, wo genau Unterschiedlichkeiten vorzufinden sind, anzuregen und zudem das Ausmaß an Übereinstimmung zu überprüfen, die sich zu einigen Themen in der ersten Runde gezeigt hatte. Die Aufteilung nach Regionen wurde beibehalten, vor allem um zu verhindern, dass die Befragten Meinungsunterschiede automatisch auf den abweichenden Wohnort zurückführen würden. Mithin fanden zwei Triaden in Prag statt, zwei in der Region Südböhmen und zwei in der Mährisch-Schlesischen Region. Die zweite Runde wurde vom 18.-21. Januar 2021 durchgeführt. Kontext der Realisierung Das Projekt wurde zur Zeit der Krisensituation im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie realisiert. Die Projektvorbereitung und die Szenarien für die Gespräche zielten gleichwohl auf den Zustand der tschechischen Gesellschaft in einer langfristigen Perspektive, auf polarisierende Themen, welche die Bürger unseres Landes spalten und ihre Meinungen auseinanderdriften lassen. Es ging darum, die aktuelle Situation außen vor zu lassen und den Ergebnissen und Erkenntnissen nachhaltigere Gültigkeit zu verleihen. Trotzdem wurde das Thema der Coronavirus-Krise und ihrer Auswirkungen natürlich nicht missachtet oder von der Diskussion ausgeschlossen. Es wurde jedoch versucht, damit im Kontext der betrachteten Themen zu arbeiten. Also zum Beispiel inwieweit die Krise den Zusammenhalt unter den Menschen stärkt, wie sie die Ansichten auf die politischen Repräsentanten beeinflusst hat, welche Folgen sie für die Zukunft unseres Landes haben könnte usw. 22 allem Freihei Gesellschaft Regeln habe Mensch mu£ haben, für s entscheider über sich se befiehlt ihm3 wie er es tui natürlich mi Kaoitel 2 Gesellschaftliche was re Sicherhei Absicherung versus Verantwortung und Rechtsstaat 24 Auf der Ebene persönlicher Werte stimmen die einzelnen Meinungsgruppen hinsichtlich ihrer Wertschätzung von Familie, Gesundheit und Freiheit überein. Auf der Ebene der für die Gesellschaft wichtigen Werte sind unterschiedliche Akzente erkennbar. Werteorientierungen stellen die prinzipielle Grundlage für die Ausrichtung einer Gesellschaft dar. Gemeinsame Werte spiegeln sich in Einstellungen, Entscheidungen über Ziele und Mittel zu deren Erreichung sowie in konkreten Verhaltensweisen und Aktivitäten wider. Es lohnt sich, das anzustreben, was für uns wertvoll ist. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist es mithin besonders wichtig, ob ihre Mitglieder in ihrer Wertorientierung zumindest grundsätzlich übereinstimmen. Andernfalls kann dann von einer geteilten, polarisierten Gesellschaft gesprochen werden. Auf der Ebene persönlicher Werte sind sich die Menschen aus den verschiedenen Meinungsgruppen einig. Am wichtigsten sind Familienleben, zwischenmenschliche Beziehungen, Gesundheit und Freiheit. Menschen, die die aktuelle Situation kritisch sehen, betonen zusätzlich Sicherheit, ein Gefühl der Geborgenheit und der Absicherung („finanzielle Absicherung; keine Sorge, kein Auskommen zu haben"). Im Blick auf die Ebene gesamtgesellschaftlicher Werte zeigen sich bereits bedeutende Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Akzente sowie verschiedene Interpretationen einzelner Begriffe, was sich verständlicherweise auf die Einstellung zu einzelnen gesellschaftlichen Themen auswirkt und zur Entstehung von Meinungsgräben und -barrieren führt. Bedeutung und Inhalt der bereits erwähnten Werte der Sicherheit sind für Kritische eng verknüpft mit den Werten Patriotismus, Liebe zur Heimat, Schutz vor fremdartigen Einflüssen, die der Zuzug von Migrant_ innen mit sich bringen könnte: „Am wichtigsten ist Sicherheit. An einigen Haltestellen treffe ich haufenweise offensichtlicher Immigranten als Touristen. Wenn es mehr werden, dann habe ich wirklich kein Gefühl der Sicherheit mehr. Ich verfolge Nachrichten aus dem Westen, wie es da zu Angriffen auf Menschen kommt." (kritisch, Mann, 61 Jahre) Der zweite Bereich wichtiger gesellschaftlicher Werte sind für Kritische sozioökonomische Werte wie wirtschaftliche Stabilität („dass die Menschen eine Wohnung haben, arbeiten können"), sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit: 25 „Es ärgert mich, dass sich nach dreißig Jahren bei uns die Schere öffnet. Ich bin ein Kriegsjahrgang, das vorherige Regime gefiel mir überhaupt nicht, aber wir hatten trotzdem Zeit, eine Beziehung zur Natur, zur Familie, zu Kindern, das war großartig. Und jetzt: Wenn sich ein alter Mensch einen Zahn ziehen lassen möchte, ist das furchtbar teuer. Und das stört mich. Es öffnet sich die Schere und das erzeugt Unzufriedenheit." (kritisch, Frau, 77 Jahre) Diese Bereiche stehen natürlich in engem Zusammenhang miteinander, soziale Sicherheit ist verknüpft mit der Betonung der Nation und „unseren" Mitbürgern, der Dichotomie „wir gegen die". „Damit es hier keine Armut gibt. Die Leute hatten eine Wohnung, Arbeit. Zuerst sich darum kümmern, dass die Menschen bei uns haben, was sie brauchen, und dann um andere." (kritisch, Mann, 49 Jahre) In den Ansichten der Positiven zu den für die Gesellschaft wichtigen Werten sind andere Akzente erkennbar: Betonung von Ehrlichkeit, Verantwortung, Fairness, Rechtsstaatlichkeit, einer funktionierenden Justiz. Zugleich sind ihnen Respekt vor anderen Meinungen, Toleranz, die Fähigkeit, zu verzeihen wichtig. „Ethik und Moral, davon leitet sich alles ab. Seinen Verpflichtungen nachkommen. Wenn etwas gesagt, unterschrieben wird, dann sollte das gelten." (positiv, Frau, 74 Jahre) „Zur Freiheit würde ich Verantwortung hinzufügen, für sich selbst und für das Ganze. Bewusst handeln, auf der Grundlage von Informationen, Erfahrungen, Gefühl. Sich bewusst sein, warum ich etwas tue, welche Folgen es hat. Nach bestem Wissen und Gewissen handeln."(positiv, Frau, 23 Jahre) In der Meinungsmitte tauchen dann beide Ebenen auf: sowohl die Betonung moralischer Werte (Anstand, Verantwortung, Einhalten von Vereinbarungen), als auch von Stabilität und Sicherheit in der Gesellschaft. „Die Menschen sollten ein gewisses Maß an Sicherheit spüren, sozialer Sicherheit, dass der Staat funktioniert, und dann würden sie sich auch sicherer und ruhiger fühlen." (Meinungsmitte, Frau, 77 Jahre) Die Betonung des Wertes Freiheit war in verschiedenen Meinungsgruppen präsent, wenngleich bezüglich des konkreten Inhalts Unterschiede zum Ausdruck kamen. Freiheit ist dabei fest mit demokratischer Staatsform verbunden, die grundsätzlich alle unterstützen und als Schlüsselelement einer gut funktionierenden Gesellschaft ansehen. Jeder soll das Recht 26 auf freie Meinungsäußerung, Ansichten, Bewegungsfreiheit sowie die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen, besitzen. Mit der Freiheit verbindet sich aber auch Verantwortung, die Notwendigkeit, Regeln einzuhalten. „Demokratie ist vor allem Freiheit. Jede Gesellschaft muss Regeln haben, aber der Mensch muss das Gefühl haben, für sich selbst entscheiden zu können, über sich selbst, niemand befiehlt ihm, was und wie er es tun soll, aber natürlich muss er sich an die gesellschaftlichen Regeln halten." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Über die demokratische Staatsform als bestmögliches System herrscht also Übereinstimmung: „Es gibt kein besseres System, aber es kann durch Menschen missbraucht werden, die berechnend sind und nur an ihren Vorteil denken — es ist schwierig, das zu verhindern. Das verhindert nur der Totalitarismus, aber der ist schlimmer." (positiv, Frau, 74 Jahre) Vorbehalte richten sich mithin auf die konkrete Umsetzung des demokratischen Systems, auf die Erfüllung demokratischer Ideale, und das vor allem von Seiten der politischen Repräsentant_innen. Solche Vorbehalte werden in allen Gruppen geteilt, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Argumenten (Näheres dazu weiter im Forschungsbericht). Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Werte wird auch durch Generationsunterschiede und den Glauben beeinflusst. Ältere Menschen verbinden den schlechten Zustand der Gesellschaft mit dem Fehlen moralischer Regeln, die von den Menschen eingehalten würden. Vor allem Gläubige erwähnen christliche Werte, nicht nur als Grundlage eines anständigen und ehrlichen Lebens, sondern auch als etwas, das die Gesellschaft in ihren Meinungen vereinen könnte. Generell stellt sich jedoch im Kontext der extrem säkularisierten tschechischen Gesellschaft die Frage, inwieweit christliche Werte hier tatsächlich als solche gemeint sind und in welchem Maße sie eher für die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Werterahmen, Narrativ oder einer gesellschaftlichen Utopie stehen, wie das zweite der folgenden Zitate nahelegt: „Wir waren auch Christen, deshalb hatten wir die anerzogenen Werte, die zehn Gebote. Heute schämen sich manche nicht, zu stehlen." (kritisch, Frau, 77 Jahre) „Hier fehlen christliche Ideale, damit die Menschen in diesen Dingen gleicher Ansicht sind. Die Gesellschaft hat das Christentum verworfen, aber an seinerstelle nichts geschaffen."(positiv, Mann, 70 Jahre) 27 n ein naioes uern für die, 3iten. Früher weiten. Auch 3S Arbeit für n ein halbes uern für die, 3iten. Früher weiten. Auch Deit für alle." „Vor dem Jal 1989 hätten wir die Deba überhaupt r führen könn die wir hier führen. Das Entwicklung ist Fortschri Kaoitel 3 In welchem Zustand/ / / che cffizen und wie kam es dazu? II i i ill 30 Die Bewertung von Vergangenheit und Gegenwart der tschechischen Gesellschaft weist in den verschiedenen Meinungsgruppen unterschiedliche Akzente und andere Perspektiven auf. Wir richten den Blick auf die einzelnen Unterschiede, die dann die Ansichten zur Polarisierung der Gesellschaft und zu polarisierenden Themen bedingen. Kritik an den Politikerinnen, der politischen Kultur, und Ernüchterung über den Zustand der tschechischen Gesellschaft durchdringen sämtliche Ebenen der Bewertung der aktuellen Situation und der Entwicklung seit 1989. Dennoch zeichnen die Ansichten der verschiedenen Meinungsgruppen jeweils unterschiedliche Bilder der heutigen Gesellschaft und des Ausmaßes der Verantwortung für den aktuellen Stand (was allerdings nicht für die Ausnahmesituation der Corona-Krise gilt, in der die Menschen über die Verantwortung auf Seiten der Politik und der aktuellen Regierung einer Meinung sind). Für Kritische ist bei der Bewertung des Zustandes der Gesellschaft die Betonung von sozialer Sicherheit und von Geborgenheit charakteristisch, was ihrer allgemeinen Wertorientierung entspricht. Ihre Sicht auf die Gesellschaft akzentuiert mithin sich vertiefende soziale Unterschiede, externe Bedrohung durch Migrant_innen, innere Bedrohung durch die „Nicht-Anpassungsfähigen" bzw. Roma-Mitbürger. Es dominiert hierbei ein Gefühl der Ungerechtigkeit, welches sich vor allem aus der Haltung speist, dies seien Gruppen, die im Unterschied zu ihnen selbst nicht arbeiten müssten, und der Staat kümmere sich trotzdem um sie. „ Wir haben ein schlecht organisiertes Sozialsystem. Für junge Leute lohnt es sich nicht, zu arbeiten. Es ist einfacher, zum Arbeitsamt zu gehen. Dieses zwingt die Menschen nicht dazu, einer Arbeit nachzugehen. Bei uns galt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Es ist eine Diskriminierung der weißen Bevölkerung." (kritisch, Mann, 72 Jahre) „Man könnte argumentieren, es gebe heute Freiheit, also müsse man nicht arbeiten. Es gibt genügend Arbeit und ich verstehe nicht, warum es keine Pflicht ist, zu arbeiten. Und es gab Sicherheit."(kritisch, Frau, 56 Jahre) 31 „Wir zahlen ein halbes Jahr lang Steuern für die, die nicht arbeiten. Früher mussten alle arbeiten. Auch heute gibt es Arbeit für alle." (kritisch, Mann, 49 Jahre) Für die Kritischen ist die Zeit vor 1989 also verbunden mit grundlegenden Sicherheiten, insbesondere Arbeit und Wohnen, und mit dem Gefühl, der Staat habe sich um die Bürger gekümmert, was in ihren Augen seine Kernaufgabe ist. „Die Kinder wurden betreut, man hat einen Kindergarten eingerichtet. Heute kümmert sich niemand um dich. Früher gab es Arbeit, heute muss niemand mehr arbeiten. Ihnen droht kein Gefängnis. Die Leute haben die Angst verloren. Wenn es Regeln gäbe, wären wir ganz woanders..." (kritisch, Mann, 45 Jahre alt) „Ich habe ohne Probleme mein Studium abgeschlossen, ich hatte einen schönen Job, es gab Sicherheit für die einfachen Leute — Wohnung, Arbeit. Auch in Kleinstädten hatten die Leute Arbeit, es gab nicht solche Unterschiede, aber vor allem hatte ich ein größeres Gefühl von Sicherheit." (kritisch, Frau, 56 Jahre) Gegenwärtig spricht diese Gruppe über ein Gefühl der Bedrohung für unsere Gesellschaft, aber auch von einem persönlichen Gefühl der Bedrohtheit, wobei beide stark sozial konnotiert sind. Damit überschneidet sich häufig ein allgemeines Gefühl der Angst vor Fremdem, Unbekanntem, vor vielfältigen äußeren Einflüssen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Dies führt bei manchen bis hin zu Einstellungen, in denen die Kritik an Machtungleichgewichten und die Artikulation eigener Machtlosigkeit in die wirre Argumentation pervertieren, die Rechtsextremisten diesen Schichten auftischen: „Die Europäische Union wurde vollkommen dekadent. Ich nehme einen starken Einfluss von NGOs wahr, die in Schulen Inklusion1 praktizieren, den Kindern beibringen, nach dem Islam zu beten. Es gefällt mir nicht, dass Finanzoligarchen, Globalisten aus uns Sklaven machen wollen. Es ist Teil eines Planes, uns im Auge zu haben, Computer werden kontrolliert. Es stört mich, dass unser Patriotismus am Ende nichts nützen wird, "(kritisch, Frau, 65 Jahre) 1. Unter „Inklusion" ist hier die im tschechischen Kontext sehr polarisierende Frage gemeint, inwieweit Kinder und Jugendliche mit köperlichen und psychischen Beeinträchtigungen nach Möglichkeit in den normalen Unterricht eingegliedert werden sollen. Als eine vermeintlich „schädlich progressivistische" Politik ist die Inklusion zum Gegenstand von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den konservativeren und liberaleren Bevölkerungsgruppen geworden. Sie wurde zuletzt von der sozialdemokratisch geführten Regierung unter Bohuslav Sobotka zwischen 2014 und 2018 verfolgt und gilt als einer der prominentesten Gründe für die Abstrafung der Partei in den drauffolgenden Wahlen. 32 Gleichzeitig vermissen diese Menschen in der Gesellschaft das gegenseitige Vertrauen untereinander („Früher genügte es, sich die Hand zu geben und das galt dann."), sie nehmen ein Anwachsen negativer Emotionen und von Hass wahr und weisen auf die Schwächung sozialer Kontakte und Bindungen hin („Die Menschen besuchen einander nicht mehr. Niemand hat für niemanden Zeit."). „Es gibt furchtbar viele Reibungsflächen zwischen den Menschen. Die Spannungen auf der politischen Bühne haben sich auf die Menschen übertragen (...). Die Pöbelhaftigkeit, der Hass befremden mich schrecklich. In der heutigen Zeit sollte es andere Prioritäten geben." (kritisch, Frau, 56 Jahre) Die Gruppe der Positiven nimmt die gegenwärtige Gesellschaft vor allem aus der Perspektive der politischen Kultur, einer funktionierenden politischen Repräsentation wahr. Für diese Menschen spielt das Scheitern der politischen Eliten eine bedeutende Rolle, einige machen die Ursachen dafür noch in dem Regime vor 1989 aus. Im Unterschied zur Gruppe der Kritischen ist bei ihnen die Bewertung des vorherigen Regimes eindeutig negativ und verurteilend. Der entscheidende Wert, der im Regime vor 1989 fehlte, ist Freiheit im weitesten Sinne des Wortes. „ Vor dem Jahr 1989 hätten wir die Debatte überhaupt nichtführen können, die wir hierführen. Das ist Entwicklung, das ist Fortschritt, "(positiv, Mann, 70 Jahre) „Ich würde den Kommunismus nicht über einen Kamm scheren wollen. Ich unterscheide die Fünfzigerjahre von der Normalisierung, und keiner der Zeiträume scheint mir gut gewesen zu sein, in keinem würde ich leben wollen." (positiv, Frau, 23 Jahre) „Enttäuschung herrscht hauptsächlich über die politische Entwicklung, dass es uns nicht gelungen ist, das zu erreichen, was wir uns vor 30 Jahren vorgenommen haben. Unter den Repräsentanten überwiegt Populismus, unrealistische Versprechungen. Trotz aller Versprechungen gelingt es nicht einmal, das Allerwichtigste in den Griff zu bekommen — die Sache mit der Pandemie." (positiv, Mann, 70 Jahre) „Es liegt immer noch einen Schatten aus der Vergangenheit über allem. Korruption, Vetternwirtschaft. Das wird es immergeben, aber derzeit ist es zu viel." (positiv, Mann, 60 Jahre) Ähnlich kritisch wird die Zeit vor 1989 in der Gruppe der Meinungsmitte bewertet, ebenfalls vor allem als Ära der Unfreiheit. „Ich habe 19 Jahre unter dem Kommunismus gelebt. Mir fällt nichts Positives ein, das ich mir zurückwünschen würde. Ein Teil der Menschen hat davon 33 profitiert, die erinnern sich mit Wehmut daran (...) Die Beschäftigungsquote war künstlich. Die Faulpelze haben genauso wenig getan, nur waren sie irgendwo eingetragen. Die Effektivität der Arbeit war auf niedrigem Niveau. Ich habe das erlebt, ich habe es um mich herum gesehen." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Die Kritik der Positiven richtet sich heute vor allem gegen die gegenwärtige Regierung und die politischen Vertreterinnen. Die Krise der politischen Repräsentanz manifestiert sich in ihren Augen in vollem Umfang in der aktuellen Situation des Kampfes gegen die Pandemie. „Die Kräfte an der Regierung, die entscheiden, haben keinen Schimmer vom Leben der Menschen, die als Selbstständige ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. [Der Premierminister] Babis behauptete, Selbstständige erhielten mehr Geld, als sie selbst erwirtschaftet hätten. Wenn es nicht zum Weinen wäre, müsste man darüber lachen."(positiv, Frau, 74 Jahre) Die Frustration über die politische Entwicklung bewirkt sowohl bei den Kritischen wie auch bei den Positiven ein Gefühl der Entwurzelung und der Unfähigkeit zu positiver Identifikation. Es fällt diesen Menschen schwer, etwas zu finden, worüber sie im Blick auf die Entwicklung der Gesellschaft Stolz empfinden könnten (und sie behelfen sich mit Beispielen aus der Geschichte, dem Sport oder mit allgemeiner Identifikation mit ihrem Land, beziehungsweise mit seiner Natur). „Worauf ich stolz bin? Da fällt mir nichts ein. Ich kann die Natur preisen, aber was die ganze Gesellschaft angeht, da bekomme ich nichts zusammen." (kritisch, Mann, 72 Jahre) Menschen aus der Gruppe der Meinungsmitte sind in der Selbstidentifikation weniger negativ gestimmt. Ihre Gefühle von Stolz nähren sich aus der Fähigkeit, im Krisenfall zusammenzuhalten. Ferner betonen sie die Geschichte, Literatur und Demokratie. „Es gibthier eine Menge wunderbarer, kluger, gebildeter Menschen. Ichglaube an dieses Land. Ichbin einFan dieses Landes. "(Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) Gleichzeitig aber ist es für Menschen aus der Meinungsmitte bezeichnend, die tschechische Gesellschaft aus der Perspektive ihrer Polarisierung, Spaltung, Disharmonie zu betrachten („Die Gesellschaft hat vollkommen entgegengesetzte Meinungen. Wir streiten uns bis aufs Blut."). Emotional erleben sie die Entwicklung der Gesellschaft als Enttäuschung, Desillusionierung. Ihrer Meinung nach mangelt es an vertrauenswürdiger politischer Führung. 34 „ZuBeginn der Neunzigerjahre waren die Menschen noch bereit, den Gürtel enger zu schnallen, aber das Vertrauen der Bevölkerung wurde vollständig verbraucht. In der aktuellen Situation zeigt sich das." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) „ Wegen des Corona-Virus herrscht in der Gesellschaft mehr Nervosität, niemand weiß, wie es weitergeht. Unsere Politiker tragen überhaupt nichts Positives dazu bei. Sie kämpfen nur um Posten, statt zusammenzufinden. Ich nehme nicht einmal wahr, dass jemand aufrichtig daran interessiert wäre etwas zu verbessern, einer kritisiert den anderen, jeder weiß, wie er das machen würde, nichts ist gut. Schrecklicher Hass hat sich in der Gesellschaft breitgemacht. Das gab es auch früher, aber es istjetzt eskaliert." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) In den beiden „extremen" Gruppen ist diese Charakterisierung der tschechischen Gesellschaft als eine gespaltene ebenfalls vorhanden, jedoch wird weniger häufig spontan darauf hingewiesen und andere gesellschaftliche Probleme werden stärker betont. In der Gruppe der Kritischen taucht auch die Diagnose auf, es finde eine Aufspaltung nach Einkommen und Eigentum statt. „Vor der Epidemie war die tschechische Gesellschaft gespalten, und jetzt hat sich die Spaltung vertieft. Es spaltet sie die Sicht auf die Epidemie als solche, auf die EU, auf die NA TO. Das war am wichtigsten." (kritisch, Mann, 20 Jahre) „Die Gesellschaft ist gespalten, inhöhere Schichten, die Politik, Menschen, die oben sind, und andererseits jene, die man früher als Arbeiterklasse bezeichnet hat, gewöhnliche Menschen. Der Zusammenhalt, den es früher gab, existiert nicht mehr. Diese ausgeraubte, ausverkaufte Republik fügt niemand mehr zusammen, und wenn er sich noch so sehr bemüht." (kritisch, Mann, 72 Jahre) „Unsere Gesellschaft ist gespalten. [Der Staatspräsident] Zeman hat dazu durch sein Verhalten und sein Benehmen beigetragen. Nicht nur er." (positiv, Frau, 58 Jahre) 35 Kaoitel 4 In diesem Kapitel beschäftigen wir uns damit, in welchem Maße die Menschen die Gesellschaft als polarisiert wahrnehmen. Wir konzentrieren uns nicht auf bestimmte Themen, sondern eher auf allgemeine Ursachen, die nach Ansicht der einzelnen Meinungsgruppen zur Spaltung der Gesellschaft beitragen können. Gibt es in der Gesellschaft bestimmte grundsätzliche Unterschiede, Gräben oder Barrieren, welche die Menschen in der Tschechischen Republik voneinander trennen? Erleben wir in der Familie, unter Freunden, Kollegen ständig Missverständnisse und abweichende Positionen? Wie oft treffen wir Menschen mit abweichenden Meinungen und wie reagieren wir darauf? In allen drei Meinungsgruppen stimmen die Menschen darin überein, dass die tschechische Gesellschaft gespalten sei. Aber in den Gruppen der Positiven und in der Meinungsmitte nehmen die Menschen die Spaltung der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad als naturgegeben wahr. Verschiedene Meinungen halten sie für normal und sehen darin kein Problem. Schwierigkeiten entstehen ihrer Meinung nach erst dann, wenn die Menschen aufhören, abweichende Meinungen zu respektieren. „Die Menschen können unterschiedliche Meinungen haben. Wenn sie sich respektieren, spaltet sie das nicht. Verlieren sie jedoch den Respekt voreinander, ist das der Beginn der Spaltung. Man findet nur sehr wenige Menschen, die vollkommen einer Meinung sind." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) „Jeder hat das Recht auf seine Meinung und es kommt dann darauf an, ob er die Meinung eines anderen respektiert."(positiv, Frau, 47 Jahre) In der Gruppe der Kritischen ist das Gefühl der Spaltung der Gesellschaft stärker ausgeprägt. Die Menschen in dieser Gruppe haben den Eindruck, es existiere nichts, worüber in der Gesellschaft Einvernehmen herrsche, und sie sind deshalb auch skeptischer in ihren Zukunftserwartungen. „Die Menschen sind unfähig, sich auf elementaren Dingen zu einigen. Jeder muss seine Meinung haben, es gibt keinen Versuch zur Verständigung. Da ist viel Stolz und Unbescheidenheit dabei."(kritisch, Frau, 65 Jahre) 37 „Esgibt nichts, worin sich die Gesellschaft einig wäre, und es wird wahrscheinlich auch nichts Derartiges geben."(kritisch, Mann, 20 Jahre) Die Gruppe der Kritischen sieht den Hauptgrund für die Spaltung der Gesellschaft in der Politik und den Politikern. Sie nehmen die Politik als einen Bereich wahr, in dem sich die gewählten Vertreterinnen lediglich streiten, um die Lösung der wirklichen Probleme der Menschen gehe es ihnen gar nicht. Das Niveau der Politik bewerten sie als sehr schlecht und sie machen dabei keine großen Unterschiede zwischen verschiedenen Politikerinnen. Sie werfen der Regierung vor, schlechte Gesetze zu erlassen, die lediglich die Ungerechtigkeit vertieften. Andererseits halten sie die Kritik der Opposition für rein zweckorientiert, insbesondere in der Corona-Krise, und das einzige Ziel der Opposition sei es, die politische Macht zu übernehmen. „Zumindest durch die Politiker und die Medien sind wir in zwei Gruppen gespalten. Wenn wir als Nation erfolgreich sein wollen, müssen wir uns einigen. Aber jeder hat eine andere Meinung, das macht mich traurig. Jeder will nur seine Position durchsetzen. Ich sehe nicht, was uns zusammenschweißen könnte." (kritisch, Frau, 65 Jahre) „Ein Teil sympathisiert mit denen, die uns regieren. Und dann ist da die andere Seite, die sich empört. Sie kommunizieren nicht miteinander, sie schreien sich nur an. Sie wollen keine Kompromisse schließen. Sie bauen nur immer höhere Mauern, "(kritisch, Frau, 21 Jahre) „Bei uns sagt die Opposition immer das Gegenteil. Das spaltet uns schrecklich. Nicht nur politisch. Auch im Beruf." (kritisch, Frau, 56 Jahre) Für ältere Menschen in der Gruppe der Kritischen sind die Unterschiede zwischen der älteren und der jüngeren Generation eine weitere Spannungsquelle in der Gesellschaft. Jüngere Menschen schätzen sie allgemein als unerzogen, leichtsinnig, von den Eltern abhängig ein — und als unpatriotisch. Der Eindruck, die Generationen stimmten nicht miteinander überein, speist sich auch aus der Kommunikation mit ihren eigenen Kindern, die oft andere Meinungen vertreten als sie selbst. „Die jungen Leute haben noch nichts aufgebaut. Sie haben es von ihren Eltern bekommen. Sie haben nicht gelernt, zu arbeiten. Und deshalb wird unsere Heimat wahrscheinlich untergehen, wenn die Jungen von dem Globalismus beeinflusst werden."(kritisch, Frau, 65 Jahre) 38 „ Wenn wir unseren Kindern erzählen, welche Achtung wir anderen gegenüber hatten, für die Natur, bekomme ich zu hören, ich sei aus einer anderen Zeit." (kritisch, Mann, 49 Jahre) „ Wir unterhalten uns in der Familie nicht über Politik, denn die Kinder streben etwas anderes an."(kritisch, Frau, 56 Jahre) Jüngere kritisch gestimmte Menschen wiederum haben das Gefühl, die ältere Generation sei zu angepasst und versuche nicht, etwas zu verändern. Ebenso wie die Älteren haben sie den Eindruck, die ältere Generation respektiere sie nicht. „Der Generationenunterschied ist eine große Barriere. Die Jungen schreien, die Alten gehorchen. Es herrscht kein Respekt." (kritisch, Frau, 21 Jahre) Kritisch Eingestellten zufolge tragen auch soziale Unterschiede und die wachsende Ungleichheit zwischen Armen und Reichen zur Spaltung der Gesellschaft bei, wenngleich das Maß der Übereinstimmung etwas geringer ist als in den beiden zuvor genannten Fällen. „Die Oberschicht zeigt, wie sie Geld ausgibt. Die Armen können kaum ihre Rechnungen bezahlen. Das spaltet die Menschen schrecklich." (kritisch, Mann, 61 Jahre) Für jüngere kritisch Orientierte stellt auch die Bildung ein Element der Spaltung dar, das nach ihren Erfahrungen oft über Arbeit und Karriere entscheidet. Nach Ansicht älterer kritisch Eingestellter ist Bildung zwar gelegentlich der Grund für die Arroganz einiger Menschen, aber nichts, was die Gesellschaft grundsätzlich spalten würde. Kontakte und Beziehungen sind ihrer Meinung nach wichtiger als Bildung. „Wenn ich es vom Standpunkt der Beschäftigung betrachte, dann ist das System so eingestellt, dass ein Mensch ohne Ausbildung keine Chance hat, irgendeine Position zu erreichen. Wenn er keine Abschluss vorweisen kann, als könnte er nichts."(kritisch, Frau, 21 Jahre) „Bildung verleiht kein Patent auf Verstand. Sie spaltet die Meinungen nicht. Es ist richtig, dass jene, die irgendwelche Papiere vorweisen können, auch ein wenig arrogant werden. Aber man kann sich trotzdem normal miteinander unterhalten."(kritisch, Mann, 72 Jahre) „Es geht vor allem um Möglichkeiten, Kontakte, Beziehungen. Bildung spielt keine so große Rolle." (kritisch, Mann, 49 Jahre) 39 Die Verbindung zwischen der Spaltung der Gesellschaft und der Politik nimmt die Gruppe der Positiven schwächer wahr. Ihrer Ansicht nach ist nicht Politik allgemein die Ursache der Spaltung, sondern eher bestimmte politische Persönlichkeiten (zum Beispiel der Premierminister Andrej Babiš oder der Staatspräsident Miloš Zeman) oder extremistische und populistische Parteien, die in der Gesellschaft bewusst Emotionen anschüren. Im Zusammenhang mit der Politik sieht ein Teil der positiv Eingestellten auch die Wähler der Kommunistischen Partei als Ursache der Spaltung der Gesellschaft. „ Wir haben hier extreme Parteien, die um Stimmen kämpfen, und denen egal ist, was sie sagen." (positiv, Mann, 39 Jahre) „Viele Menschen glauben an die kommunistische Ideologie, auch das spaltet." (positiv, Frau, 47 Jahre) „Unsere Familie hat sich darüber zerstritten, wie jemand die Kommunisten wählen kann."(positiv, Frau, 44 Jahre) Als weiteren Grund für die Spaltung der Gesellschaft nennen Menschen aus der Gruppe der Positiven den Mangel an Informationen oder fehlende Bemühungen, sie zu suchen. Ihrer Meinung nach übernehmen eine Reihe von Menschen Informationen einfach, sind aber unfähig, sie zu überprüfen und zu verifizieren, und glauben deshalb irgendwelchen Unsinn. [Was spaltet die Gesellschaft?] „Mangel an Informationen, damit die Menschen die Welt so sehen, wie sie ist. Viele Menschen wissen nicht, wo sie Informationen finden, und glauben anderen blind." (positiv, Mann, 39 Jahre) Auch in der Gruppe der Kritischen taucht in Bezug auf die Spaltung der Gesellschaft der Hinweis auf die Rolle von Informationen beziehungsweise Medien auf. Bei ihnen gilt die Kritik aber den so genannten Mainstream-Medien, die den Kritischen zufolge Informationen verschweigen oder verzerren. „Die Mainstream-Medien belügen uns, ich informiere mich auch aus Alternativen."(kritisch, Frau, 65 Jahre) Menschen in der Gruppe der Positiven nehmen die Unterschiede zwischen Stadt und Land sensibler wahr. Ihnen zufolge sind Menschen in Dörfern und Menschen in Städten vor jeweils andere Probleme gestellt und haben unterschiedliche Interessen. Dorfbevölkerung halte mehr zusammen, Städter seien indes aktiver. Beide Welten fänden nur schwer 40 gemeinsame Themen. Zugleich werden größere Unterschiede zwischen Prag und dem Rest des Landes gesehen. „Ich beobachte das in einer Kneipe in Čeladná. Es fällt schwer, sich am Tisch auf ein Thema zu einigen. Sie unterhalten sich über ihre Katzen, ihre Hunde, ihre Gärten — das irritiert uns als Städter."(positiv, Frau, 47) Menschen, die zur Meinungsmitte gehören, halten wie die Gruppe der kritisch Eingestellten die Politik für die bedeutendste Ursache der Spaltung der Gesellschaft. Am meisten stört sie, wenn Politiker, die die Richtung angeben sollen, unfähig sind, an einem Strang zu ziehen und mit ihren Streitereien nur die Menschen spalten. Am meisten von allen Gruppen vermissen sie eine starke (politische) Führungspersönlichkeit, die in der Lage wäre, die Gesellschaft wieder zu einen, so wie dies in der Ersten Republik T. G. Masaryk und in den Neunzigerjahren Václav Havel gelungen ist. Wie aus den angeführten Beispielen hervorgeht, sollte diese Führungsperson nicht mit starker Hand regieren, sondern eine moralische Autorität darstellen, Visionen anbieten und über die Einhaltung der demokratischen Prinzipien wachen. „Politik ist die größte Brutstätte für fehlenden Zusammenhalt. Die Politiker verstehen es nicht, ihre Politik zu kommunizieren. Die Abgeordnetenkammer ist das größte Panoptikum. Diese Unsachlichkeit. Sie beschäftigen sich nur mit sich selbst." (Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) „Im derzeitigen System, das ist eine Schwäche der Demokratie, haben wir keinerlei Führung und werden sie wohl auch nicht bekommen. Die politische Auseinandersetzung ist so brutal, dass jeder, der Wahlen gewinnt, von den anderen mit Schmutz beworfen wird." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Als bedeutende Ursache für die Spaltung der Gesellschaft betrachten Menschen der Meinungsmitte auch Eigentum und die sich vertiefenden Gräben zwischen Armen und Reichen. Sie haben den Eindruck, dass die Mittelschicht verschwindet. Jüngere dieser Gruppe Angehörige befürchten, es werde ihnen in mancher Hinsicht schlechter gehen als ihren Eltern. „Meiner Generation kann es passieren, niemals eine eigene Wohnung zu besitzen. Und das kann eine große Barriere sein. Ich sehe das um mich herum." (Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) Eigentumsunterschiede verbinden sie zugleich stärker mit dem Transformationsprozess der Neunzigerjahre. Einer der Gründe, warum 41 Eigentum ihrer Meinung nach die Gesellschaft spaltet, ist das Gefühl, dass eine Reihe von Menschen nicht auf ehrliche Weise reich geworden ist. „Menschen, die ihr Eigentum ehrlich erworben haben, gibt es furchtbar wenige. Das ist eine große Enttäuschung." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) Ähnlich wie in der Gruppe der Kritischen nehmen auch Menschen aus der Meinungsmitte die Unterschiede zwischen den Generationen sensibler wahr. Sie erwähnen sie jedoch hauptsächlich im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie, in der junge Menschen ihr übliches Leben führen und sich nicht durch Vorschriften der Regierung einschränken lassen wollen. Die ältere Generation hingegen fürchtet sich vor der Epidemie und stimmt den Gegenmaßnahmen häufiger zu. Unterschiede zwischen Stadt und Land sind in den Augen dieser Gruppe nicht allzu bedeutsam. Einzige Ausnahme ist Prag. „InPrag vertritt man vollkommen andere Meinungen als im Rest der Republik. Das sehen wir an Wahlergebnissen. Prag ist ganz woanders. In Prag gibt es mehr Geld, Unternehmer, es lebt sich dort anders." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) 42 Kaoitel 5 Welche Themen spalten die tschechische Gesellschaft? 43 In diesem Kapitel widmen wir uns konkreten Themen, welche die Gesellschaft in einem Maße spalten, das in den Meinungsgruppen Spannungen erzeugt. Wir versuchen herauszufinden, worin genau die verschiedenen Meinungsgruppen im Hinblick auf diese Themen unterschiedlicher Meinung sind. Gleichzeitig suchen wir nach Meinungsüberschneidungen, aus denen sich eine gemeinsame Diskussion entwickeln ließe. Im Verlauf der Untersuchung haben wir mit den Befragten mehr als zwanzig Themen behandelt, von denen wir aus früheren Studien von STEM wissen, dass sie das Potenzial besitzen, die Gesellschaft zu spalten. Die Gespräche ergaben, dass wir diese Themengruppe in zwei Bereiche unterteilen können (siehe unten Diagramm 2). Zum ersten Bereich gehören Themen, über die zwar eher geteilte Meinungen herrschen, aber die Menschen nehmen diese Differenz nicht als Problem wahr. Ein typisches Beispiel ist die Religion. Menschen, auch Gläubige, können Religion unterschiedlich sehen, aber diese Unterschiede verursachen keinerlei Probleme oder Spannungen in der Gesellschaft, auch nicht im Kontext der Kirchenrestitutionen, mit denen ein Teil Gesellschaft nicht einverstanden war. 44 [Spaltet die Einstellung zur Religion?] „Ich denke, überhaupt nicht. Die Zahl der Gläubigen nimmt ab. Bei uns wird niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Meine Frau ist gläubig, ich nicht. Das ist gar kein Problem. Die Kirche hatte ein Problem wegen der Restitutionen. Aber das ist schon ein wenig in den Hintergrund getreten. "(Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) „Ich bin in einer christlichen Familie aufgewachsen (...). Ich kenne Menschen, die sich mit Schwarzer Magie beschäftigen (...). Auch wenn ich mit ihnen in Glaubensfragen nicht übereinstimme, sind sie mir näher als Menschen, die der gleichen Kirche angehören wie ich." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) Dem zweiten Bereich können Themen zugeordnet werden, zu denen die Menschen nicht nur unterschiedliche Meinungen vertreten, sondern bei denen diese Differenz in der Gesellschaft für Unruhe sorgen kann. Klassisches Beispiel der letzten Jahre ist das Thema Migration. Menschen, die mit der Aufnahme von Migranten nicht einverstanden sind, nehmen die Gruppe mit der entgegengesetzten Meinung negativ wahr, was auch umgekehrt der Fall ist. In der folgenden Analyse widmen wir uns vor allem der Analyse jener Themen, die starkes oder mittel starkes Potenzial besitzen, die Gesellschaft zu spalten (siehe Tabelle auf S. 15). Im folgenden Diagramm sind ferner die Verbindungen zwischen den verschiedenen Themen aufgezeigt. Von diesen Verbindungen ausgehend strukturieren wir die spaltenden Themen, die wir in drei Clustern beschreiben: (1) Haltung zur Gesellschaft, (2) Haltung zur Welt und (3) Haltung zur Vergangenheit. Die Politik sehen wir im Verhältnis zu einzelnen spaltenden Themen eher als einen Raum an, in dem diese Spaltung stattfindet und in dem sie sich aus den im vorherigen Kapitel beschriebenen Gründen noch verschärfen kann. Die stark polarisierenden Themen Politik und Politikerinnen sind in den vorangegangenen Kapiteln in konkreter Form beschrieben worden. Einteilung der Themen anhand ihres Potenzials, die Gesellschaft zu spalten Haltung zur Europäischen Union Migration Resignation über das politische Geschehen Politiker innen West-/Ost-Orientierung Einfluss von Großmächten auf das Geschehen in CZ Globalisierung Entwicklung nach 1989 Wie aktiv soll der Staat für die Bürger sorgen T Einstellung zu Roma Soziale Solidarität 1 Erfolgschancen bestimmt durch Herkunft ERHÖHT DIE SPANNUNGEN IN DER GESELLSCHAFT Spaltet sehr Die Gesellschaft ist materialistisch Klimawandel Technologische Entwicklung Stellung von Mann und Frau Glaube an Gott Sterbehilfe Ehen und Adoptionen für Homosexuelle Einstellung zu Anderssein, Minderheiten in der Gesellschaft Todesstrafe Die Kultur unseres Landes ist anderen Kulturen übergeordnet Nationalismus Demokratie als beste Regierungsform Veränderungen in der tschechischen Natur infolge von Dürre SPALTET MASSIG □DER NUR EINIGE ERHÖHT DIE SPANNUNGEN IN DER GESELLSCHAFT NICHT Spaltet wenig 5.1 Haltung zur Gesellschaft Der erste Cluster spaltender Themen ist verbunden mit der Haltung zur Gesellschaft. Über alle Meinungsgruppen hinweg halten die Menschen die Hilfen, die der Staat verschiedenen Gruppen der Bevölkerung gewährt, und namentlich, inwiefern diese Hilfen (un)gerecht sind, für das Thema, das die Gesellschaft in diesem Zusammenhang am meisten spaltet. Die Diskussion darüber ist sehr eng verbunden mit dem Verhältnis zur Bevölkerungsgruppe der Roma und/oder der Gruppe der sozial Schwachen, die in der öffentlichen Diskussion häufig als „nicht anpassungsfähig" bezeichnet werden. Die Gesellschaft spalten, wenn auch in geringerem Ausmaß als die vorherige Kategorie, die Stellung von Mann und Frau und die Haltung zu sexuellen Minderheiten. Unter kritisch Orientierten herrscht die Meinung vor, in der Gesellschaft gebe es Menschen, um die sich der Staat allzu sehr kümmere und die eine derartige Unterstützung nicht verdienten. Hauptgrund für die Unzufriedenheit in der kritischen Gruppe ist die Überzeugung, die Menschen wollten nicht arbeiten, missbrauchten das System und verhielten sich gegenüber der Gesellschaft wie Parasiten. Diese Meinung entspringt oft dem Gefühl, es selbst nicht leicht zu haben. Man bekomme selbst nichts geschenkt, müsse sich durchs Leben schlagen und habe oft nicht genug für eine Existenz in Würde, obwohl man sich anstrenge hart zu arbeiten. Umso mehr fühlen sie sich durch jene provoziert, die in ihren Augen die Sozialleistungen missbrauchen. „Das bestehende Sozialsystem dieser Leistungen, das ist schlecht, denn es zwingt die Menschen nicht, einer Arbeit nachzugehen (...). Beiunsgalt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (...). Heute hingegen bekommen sie Sozialleistungen. Ich nenne das eine Diskriminierung der Weißen, denn warum habe ich keinen Anspruch darauf, dass mir der Staat Strom, Wasser, Miete und weiteres bezahlt? Warumgibt es eine bestimmte Gruppe von Menschen, die nicht arbeiten und auch nicht arbeiten werden? Warum haben die diese Vorteile und normale Menschen haben diese Vorteile nicht?"(kritisch, Mann, 72 Jahre) „Es wäre nicht schlecht, dazu zurückzukehren, dass wir gesagt haben: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wenn es nach mir ginge, käme ins Gefängnis, wer nicht arbeitet. Und man könnte darüber nachdenken, wem man diese Sozialleistungen auf einem Silbertablett servieren sollte, "(kritisch, Frau, 56 Jahre) Positive und Menschen aus der Meinungsmitte sind in dieser Hinsicht versöhnlicher. Sie stimmen aber mit den Kritischen darin überein, dass die Unterstützung an Bedingungen geknüpft sein sollte. Hilfe sollten ihrer Meinung jene erhalten, die sich aktiv darum bemühen, ihre Situation zu verbessern (z. B. durch die Teilnahme an Umschulungskursen), der 48 Gesellschaft helfen (z. B. durch gemeinnützige Tätigkeit) oder jene, deren Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist (Eltern, die ihre Kinder betreuen, oder wer für Alte und Kranke sorgt). „Die überwiegende Mehrheit der Menschen findet, dass keine Menschen sie [die Leistungen] erhalten sollten, die nicht arbeiten, die schmarotzen usw. Hilfe sollte an jene gerichtet werden, die nicht arbeiten, aber nichts dafürkönnen. " (positiv, Mann, 70 Jahre) „Die Unterstützung junger Familien sollte besser sein. In meinem Umfeld gibt es Familien, wo beide zur Arbeit gehen und nichts erhalten. Das ist eine Ungerechtigkeit, wenn Eltern zur Arbeit gehen, dann sollten sie Anspruch auf irgendeine Staatliche Unterstützung haben."(Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) „Ich denke, einige Menschen stören diese Leistungen und das spaltet sehr. Dass etwa Familien mit Kindern nicht geholfen wird, aber vielen Menschen geholfen wird, die nicht arbeiten und zu überteuerten Mieten wohnen, die ihnen der Staat bezahlt." (Meinungsmitte, Mann, 36 Jahre) Das Thema (Missbrauch) soziale(r) Leistungen ist sehr stark mit dem Verhältnis zu den Roma verbunden. Namentlich von der kritischen Gruppe werden Roma sehr negativ wahrgenommen. „Ich denke, die Mehrheit der Roma würde lieber irgendwo im Ghetto im Dreck verrotten als zu arbeiten. Ehre den Ausnahmen, aber die meisten sind so." (kritisch, Mann, 20 Jahre) Auch in der Meinungsmitte und unter den positiv Eingestellten kommen verhältnismäßig scharfe Meinungen den Roma gegenüber vor. „Wenn jemand schmarotzt, dann sind es die Zigeuner, nicht Menschen aus Afrika. Selbstverständlich nicht alle. Jedenfalls erlebe ich das so in meiner Umgebung."(positiv, Mann, 70 Jahre) „Zu Minderheiten würde ich mich ungern äußern. Ich habe Erfahrungen mit der Roma-Bevölkerung. Das versteht niemand, der sie nicht als Nachbarn hat. Alle Organisationen, die sich für sie einsetzen, profitieren selbst davon. Das ist nur eine Pose." (positiv, Frau, 74 Jahre) „Zu meiner Fabrik gehörte eine Unterkunft, wo jetzt Nicht-Anpassungsfähige wohnen. Mein Kollege beschwerte sich wegen des Lärms. Niemand sagt denen etwas. Wenn wir zum Mittagessen gingen, sind sie aufgestanden." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) 49 Das negative Image der Roma als derjenigen, die Sozialhilfe missbrauchen, wird angeheizt durch eine Reihe von „Geschichten" über die Höhe der Sozialleistungen, die sie beziehen, oder wie aggressiv sie diese einfordern. Beispiele negativer Erfahrungen mit den Roma sind selbst unter Menschen, die zur Gruppe der Positiven gehören, keine Ausnahme. Oft geht es um tradierte Geschichten, die Menschen irgendwo aufgeschnappt haben oder die ihnen von Bekannten erzählt wurden. „Ich kenne Berichte, dass die Roma 39.000 kriegen (...). Ich weiß das von einem Freund, der im Sozialamt arbeitet, dass wenn Roma kommen, sie alles bekommen." (kritisch, Mann, 45 Jahre) „Einmal bin ich nach einem Nachtdienst auf die Post gegangen, um etwas zu verschicken. Es war dort angespannt, „schwarz", Roma stritten sich dort. Sie waren für die Sozialleistungen gekommen."(kritisch, Frau, 56 Jahre) „Meine Erfahrung mit Roma (...). Wenn ihr erstes Kind geboren wird, kümmern sich die Eltern der Mutter darum, die Eltern des Vaters kümmern sich um das zweite Kind und die Eltern selbst kümmern sich um das dritte Kind. Als Pflegeeltern — und sie erhalten 12.000 pro Kind." (positiv, Frau, 74 Jahre) Positive erkennen häufig an, dass es nicht um alle Roma gehe beziehungsweise dass auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft Leistungen missbrauchen. Sie verschließen sich aber nicht vehementer gegenüber den Argumenten der kritisch Eingestellten und stimmen mit ihnen — mit Ausnahme offen rassistischer Meinungen — mehr oder weniger überein. Andererseits sind sich Menschen in der Gruppe der Meinungsmitte und jener der positiv Eingestellten mit den kritisch Eingestellten einig, dass der Leistungsmissbrauch im Zusammenhang mit einem schlecht organisierten System und fehlender Kontrolle stehe. Roma und andere Gruppen nutzen ihrer Meinung nach lediglich aus, was das System ihnen anbietet. „Wenn jemand diesen Staat über den Tisch zieht, ist das die Schuld desjenigen, der es zulässt." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) „Sie [die Roma] sagen selbst: Wenn ihr uns solche Möglichkeiten gebt, wären wir blöd, wenn wir die Privilegien nicht nutzen würden, die ihr uns gebt." (Positiv, Frau, 47 Jahre) Im Zusammenhang mit der Frage der Minderheiten stehen zwei weitere Themen, die nicht die Kraft haben, die ganze Gesellschaft zu spalten, aber in einigen Gruppen eine verhältnismäßig große Resonanz finden. 50 Gleichzeitig gilt in ihrem Fall, dass die Spaltung nicht so ausgeprägt entlang der Achse kritisch — positiv stattfindet, sondern eher geschlechter-und generationsspezifischer Natur ist. Das erste dieser Themen ist die Stellung von Mann und Frau, die vor allem junge Frauen beschäftigt. Diese nehmen wahr, dass es Bereiche gibt, in denen es Frauen schwerfällt, sich zu behaupten (z. B. ICT). Eine nicht gleichberechtigte Stellung erfahren sie auch in der Familie, wo erwartet wird, dass sich hauptsächlich die Frauen um den Haushalt kümmern, auch wenn sie ebenfalls zur Arbeit gehen. „Einige Bekannte erleben in der familiären Beziehung, dass sich die Frau um den Haushalt kümmern muss."(Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) In der tschechischen Gesellschaft werden die damit zusammenhängenden Probleme sexueller Belästigung und Gewalt gegen Frauen, auf die insbesondere die „Me too"-Bewegung aufmerksam macht, oder das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen als nicht allzu bedeutend angesehen. Es sei darauf hingewiesen, dass sich im Verlauf der Untersuchung vor allem Männer dazu geäußert haben. „Es gibt alberne Bewegungen wie „Me too", die vernünftige Hälfte der Menschen macht sich darüber lustig. Ich halte das nicht für eine Thema, das angegangen werden muss."(positiv, Mann, 70 Jahre) Das zweite Thema mit Spaltungspotenzial nur in bestimmten Gruppen der tschechischen Bevölkerung oder nur in bestimmten Situationen sind die Rechte sexueller Minderheiten. Auch wenn in den Diskussionen die Meinung vorherrschte, Tschechinnen und Tschechen seien in dieser Hinsicht vergleichsweise tolerant, zeigte sich die junge Generation etwas aufgeschlossener. Umgekehrt fand sich über alle Meinungsgruppen hinweg bei der ältesten Generation häufiger eine Ablehnung der Ausweitung von Rechten der LGBT-Community. Die Einstellung zu diesem Thema ist zugleich relativ stark vom religiösen Glauben geprägt. „Wenn es Minderheiten gibt, welche die traditionelle Familie zerschlagen, dann ist es notwendig, das zu verhindern und nicht zu unterstützen. Homosexuelle zum Beispiel, die eine Familie gründen wollen, das stört die normale gesellschaftliche Entwicklung."(Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) „Ich lehne die Ehe von Homosexuellen ab. Warum sollte das eine Ehe sein? Eine Ehe, das ist Mann und Frau. Und dann stört mich, wie sie sich in der Zurschaustellung ihrer Orientierung aufführen, Prozessionen in Prag und Ähnliches. Ich finde, sie übertreiben das. Heterosexuelle veranstalten auch 51 keine Aufmärsche (...). Mich zum Beispiel würde es stören, wenn meine Kinder homosexuell wären."(positiv, Frau, 74 Jahre) „Ich habe Freunde unter Homosexuellen, aber ich bevorzuge die Institution der traditionellen Familie. Ich würde dem nicht so viel Freiraum geben." (kritisch, Frau, 77 Jahre) „Ich habe nichts gegen Verbindungen homosexueller Paare und bin einverstanden, dass Kinder jenen zur Pflege anvertraut werden können, die für gewöhnlich keine Kinder haben können." (positiv, Mann, 39 Jahre) 5.2 Haltung zur Welt Meinungen zu Themen wie Migration, Haltung zur Europäischen Union oder der außenpolitischen Orientierung des Landes sind recht eng miteinander verbunden, bedingen und ergänzen einander. Von den aufgeführten hat das Thema Migration das stärkste Potenzial, die Gesellschaft zu spalten, und das schon allein dadurch, für wie wichtig das Thema in den einzelnen Meinungsgruppen erachtet wird. In der Meinungsmitte und unter den Positiven wird es als weniger aktuelles, eher populistisch instrumentalisiertes Thema wahrgenommen, das in der Gesellschaft Ängste schüren soll. „Migration ist purer Populismus. Ich halte das nicht für ein so wichtiges Thema." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) „Es gibt Einschätzungen, dass dies kein so großes Problem sei, einige sagen, dass es hier nicht so viel Migration gibt und nur mit Ängsten gearbeitet wird." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) „Migration ist ein dankbares Thema für jene, denen nichts anderes Schlechtes zur EU einfällt."(positiv, Mann, 39 Jahre) Umgekehrt ist für die kritisch Eingestellten Migration immer noch ein sehr lebendiges Problem. Kritisch Eingestellte nehmen Migration in jeder Hinsicht als Bedrohung wahr: für die tschechische Kultur, für die Identität sowie für den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem. Migranten aus muslimischen Ländern werden grundsätzlich abgelehnt. Diese Einstellung wird nicht einmal durch das humanitäre Argument aufgeweicht, das es gut wäre, zumindest Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufzunehmen. „Warum emigrieren Migranten aus muslimischen Ländern nicht in andere muslimische Länder? Warum drängen sie in die christliche Welt, wollen aber deren Werte nicht annehmen?"(kritisch, Mann, 20 Jahre) 52 „Niemanden aus Afrika oder dem Nahen Osten hereinlassen! Sollen sie doch zu Hause bleiben, solange sie nicht zivilisiert sind." (kritisch, Frau, 65 Jahre) „Wenn keine Regeln für Flüchtlinge erlassen werden, weiß niemand, was in einem Monat sein wird. Man weiß nicht einmal, wo sie sich überall verstecken und niemand weiß von ihnen. Dann laden sie ihre Familien ein und wachsen wie Pilze nach einem Regen." (kritisch, Mann, 45 Jahre) Die einzige akzeptierte Variante, wie Migranten oder Flüchtlingen geholfen werden kann, die in den Gesprächen mit kritisch Eingestellten auftauchte, ist Hilfe vor Ort in den Herkunftsländern. „Hilfe sollte bei ihnen geleistet werden. Sie werden hier nicht arbeiten. Sie werden bloß Sozialleistungen verlangen. Sie benötigen vor allem dort Hilfe, wo sie herkommen. Ich bin gegen Migration." (kritisch, Mann, 45 Jahre) Kritisch Eingestellte lehnen häufiger auch Migrant_innen aus Ländern ab, die Tschechien geografisch und kulturell näherstehen, etwa aus der Ukraine, Polen und sogar aus der Slowakei. Sie sehen in ihnen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Sie befürchten zudem, diese würden das tschechische Sozialsystem missbrauchen. „Diese Minderheiten, die hier sind, Polen, Slowaken, die zur Arbeit pendeln. Zuerst würde ich unseren Leuten Arbeit geben, und erst dann Menschen aus dem Ausland." (kritisch, Mann, 49 Jahre) „Ich bin gegen Ukrainer, Slowaken, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Und ich bin da anderer Meinung als jene, die sagen, es seien andere Völker, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Diese Völker nehmen uns die Chance, so dazustehen wie die Finnen, die Schweden." (kritisch, Mann, 61 Jahre) Menschen aus der Meinungsmitte und positiv Orientierte sind in der Frage der Migration weniger militant. Sie halten dieses Thema derzeit nicht für wichtig und unterscheiden deutlicher zwischen den Migranten. Etwa gegenüber Menschen aus der Ukraine, der Slowakei oder aus Vietnam sind sie recht entgegenkommend. Sie erkennen an, dass diese in der Tschechischen Republik einer Arbeit nachgehen und Berufe ausüben, die Tschechinnen oft nicht annehmen wollen. Andererseits finden auch unter ihnen Berichte große Resonanz, dass eine Reihe westlicher Länder — angeführt werden namentlich Deutschland, Frankreich und die skandinavischen Staaten — die Immigration nicht in den Griff bekämen. 53 „Meiner Meinung nach hängt es vor allem von den Menschen ab. Bei uns wohnen Vietnamesen, sie machen sich gar nicht bemerkbar. Meine Cousine ist mit einem Ukrainer verlobt, der sich hier etwas aufbauen will. Meine Eltern beschäftigen Ukrainerinnen, bis auf einen Fall gab es keine Probleme." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) „Wenn sie zum Arbeiten hierherkommen und unsere Kultur respektieren, begrüße ich das. Aber wenn sie nur der Staat unterstützen muss, also diese Migration ist Überflüssig." (Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) „Wie sich in Staaten etwa in Skandinavien zeigt, ist das Zusammenleben sehr schwierig. Sie bringen Traditionen mit, die mit unseren unvereinbar sind." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) „Ich weiß nicht, ob man dies verhindern könnte. Ich verstehe, dass die Menschen sich etwas Besseres wünschen. Aber das ist nicht immer der einzige Grund. Europa kann sich nicht um alle kümmern. In Frankreich hat man sich schlecht um sie gekümmert. Sie haben sie nicht integriert und daraus erwächst Radikalismus." (positiv, Frau, 58 Jahre) Ein pragmatischer Ansatz führt insbesondere unter Menschen aus der Meinungsmitte zu der recht ausgeprägten Einstellung, die Migration müsse kontrolliert werden und in Tschechien sollten nur Menschen aufgenommen werden, die für unsere Gesellschaft von Nutzen sind und leicht integriert werden können. Dabei wird auch unter Positiven relativ häufig die Auffassung vertreten, es sei notwendig, im Blick auf die Migranten Unterscheidungen vorzunehmen, und oft auch die Aufnahme von Migranten aus muslimischen oder afrikanischen Ländern abgelehnt. Grund ist vor allem die Befürchtung, sie seien nicht in die tschechische Gesellschaft integrierbar und könnten ein Sicherheitsrisiko darstellen. „Wir sollten uns genau anschauen, wen wir hierherkommen lassen." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) „Christliche Hilfe ist wichtig, aber wichtig ist auch die Frage der Qualität der Migranten. Migration ja, aber eine solche, die uns hilft, die uns guttut. Menschen, die uns das zurückgeben, werden mit unserer Gesellschaft verschmelzen... Der Islam ist eine Kultur der Nichtanpassungsfähigkeit, so eine Migration möchte auch ich nicht."(Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) „Ich stand für Christen ein, nicht für Muslime. Wir wissen, was sich in Deutschland tut. Mein Bruder, der dort studiert hat, hat es uns erzählt. Wir müssen den Menschen helfen, aber Christen würden uns keinen Schaden zufügen."(positiv, Frau, 47 Jahre) 54 Im Zusammenhang mit der Frage, welche Migrant_innen in der Tschechischen Republik aufgenommen oder nicht aufgenommen werden sollten, wird häufig auf die christlichen Wurzeln der tschechischen Gesellschaft hingewiesen. Während die Gruppe der Positiven und die der Meinungsmitte das Christentum als „Bedingung" betrachtet, die gewissermaßen garantiert, dass es mit den Migrant_innen keine Probleme geben wird, sie sich leichter integrieren und unsere Gebräuche und Regeln annehmen werden, ist das Christentum für die Kritischen ein Grund, keine Migranten aus muslimischen Ländern aufzunehmen. „Die Meinungen drehten sich darum, ob wir hier gar keine Flüchtlinge oder christliche Flüchtlinge wollen, und dann gibt es Leute, die sagen, wir nehmen alle. Ich war für die Christen, nicht für die Muslime." (positiv, Frau, 47 Jahre) „Warum wandern Migranten aus muslimischen [Ländern] nicht in muslimische Länder ein? Warum drängen sie in die christliche Welt, wollen deren Werte aber nicht akzeptieren?"(kritisch, Mann, 20 Jahre) Eine weitere Übereinstimmung mit den Kritischen betrifft die Integration von Menschen, die in die Tschechische Republik kommen. Menschen aus der Meinungsmitte und Positive legen großen Wert darauf, dass sich Migranten aus anderen Ländern an tschechische Regeln und Bräuche anpassen. Beispiele, wo Angehörige von Minderheiten auch nach ihrer Ankunft in Tschechien bemüht sind, an ihren ursprünglichen Bräuchen und Traditionen festzuhalten, werden in diesen Gruppen negativ wahrgenommen. „Ich habe nichts dagegen, wenn Ausländer, die hierherkommen, um zu arbeiten, irgendeine Unterstützung erhalten, aber dann zurückzahlen. Aber sie müssen die Gesetze einhalten." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) „Mir fällt eine Situation ein, wo eine muslimische Studentin forderte, ihren Schleier zu tragen (...). Ein Mensch, der hierherkommt, kann keine Privilegien verlangen, die in unserer Gesellschaft nicht gebräuchlich sind." (positiv, Frau, 74 Jahre) Das Verhältnis zur Außenwelt beeinflusst zugleich die Meinung der Gruppen zu der Frage, wohin sich die Tschechische Republik orientieren sollte: nach Westen oder nach Osten. Es zeigt sich, dass im eigentlichen Sinne des Wortes, also im Sinne der außenpolitischen Orientierung des Landes, die Menschen aus keiner der Gruppen dies aus der Perspektive des eigenen Lebens für besonders wichtig ansehen. Aber diese Orientierung scheint für sie eine Art Code darzustellen, hinter dem sich für jeden ein 55 bestimmtes Bündel von Einstellungen verbirgt: zur Europäischen Union oder zur Welt im Allgemeinen (z. B. Bewertung von Globalisierung, Migration u. Ä.). Kritisch Eingestellte bewerteten die Frage „nach Westen oder nach Osten" eher als spaltend. Angehörige dieser Gruppe hatten den Eindruck, eine gesellschaftliche Mehrheit wolle sich eher am Westen orientieren. Damit sind die Kritischen aber nicht einverstanden. Das bedeutet nicht notwendig, dass sie auf eine Ostorientierung setzen. Es hängt eher damit zusammen, dass sie dem Westen nicht vertrauen. Sie haben häufiger den Eindruck, dass der Westen die Tschechische Republik ausnutze und nicht in ausreichendem Maße anerkenne (was sich in der Wahrnehmung der EU-Politik als eines „Diktats aus Brüssel", das eigentlich in dieser Wahrnehmung ein Diktat des Westens sei, widerspiegelt). Gleichzeitig nehmen sie eine Westorientierung als Einbindung der Tschechischen Republik in die Rivalität der Großmächte wahr. Sie sähen Tschechien am liebsten irgendwo in der Mitte. Wenn sie die Wahl hätten, würde wohl eher eine Minderheit für eine Ostorientierung votieren. „[Wohin sollte sich unser Land orientieren? Nach Westen oder nach Osten?] Nein, es sollte in Mitteleuropa bleiben. Wir sollten eine wirklich starke V4 schmieden, die alle mindestens genauso fürchten wie Westeuropa (...). Wir sind stark genug, um eigenständig zu sein (...)." (kritisch, Frau, 65 Jahre) „ Wir sollten vor allem eine Position einnehmen, die unsere Interessen wahrt. Aber gefühlsmäßig, so sehe ich das im Moment, sollten wir uns eher nach Osten orientieren."(kritisch, Mann, 61 Jahre) „In der Politik geht es um Westen, Osten, und das ist schlecht. Es sollte um Tschechien gehen."'(kritisch, Mann, 20 Jahre) „Unser Land sollte uns gehören. Weder im Osten noch im Westen ist alles schlecht. Gute Politiker würden von beiden das Gute nehmen." (kritisch, Mann, 72 Jahre) Eine negativere Haltung zum Westen ist bei den Kritischen verbunden mit Kritik an der Globalisierung und an westlichen Konzernen. Globalisierung verbinden sie mit einer positiven Einstellung zu Migranten und zu Minderheiten allgemein sowie mit der Verbreitung von Ideen, die sie als Bedrohung der tschechischen Identität wahrnehmen (z. B. Inklusion). Globalisierungskritik und gefühlte Kontrollverluste können in ihrem Ergebnis die Form von Verschwörungstheorien annehmen. 56 „Es sollten nicht Äpfel mit Birnen vermischt werden. Identitäten von Ländern sollten nicht gewaltsam vermischt werden (...). Wenn diese Länder das nicht wollen, sollten sie nicht gewaltsam miteinander vermischt werden (...). [Globalisierung] verbreitet auch das, was gewöhnliche Menschen nicht wollen."(kritisch, Frau, 56 Jahre) „Ausländische Konzerne kaufen sich hier Land, das dann nicht mehr landwirtschaftlich sein wird, es werden dort vor allem Ausländer arbeiten. Also ist unser Land eigentlich nicht mehr unser Land. Unserer Bevölkerung fehlt dann dort Arbeit (...). Es wirdhier einige Millionen ausländische Arbeiter geben, die Tschechen werden in ihrem Staat unterdrückt, die Gewinne gehen ins Ausland. Das wird schon nicht mehr die Tschechische Republik sein, die wir kennen." (kritisch, Mann, 61 Jahre) „Ich mag keine Globalisten, die die Welt beherrschen wollen. Aus uns wollen sie Sklaven machen." (kritisch, Frau, 65 Jahre) Positiv Eingestellte bevorzugen eindeutig eine Westorientierung. Menschen in der Meinungsmitte neigen ebenfalls eher dem Westen zu, aber mit größeren Vorbehalten. Ihnen zufolge ist im Westen nicht alles so unproblematisch, wie darüber gesprochen oder geschrieben wird. „[Wohin sollte sich unser Land orientieren?] Nach Westen. Für mich ist das gleichbedeutend mit Freiheit, mit Möglichkeiten." (positiv, Frau, 74 Jahre) „Auch nach Westen. Wir müssen nicht alles übernehmen, wir sollten aus den Fehlern der anderen lernen." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) „Die Menschen bei uns haben das Gefühl, dass es den Menschen im Westen besser geht. Ich denke das nicht. Ich war in Amerika und dort geht es ihnen nicht besser. Ich würde nicht in diese Richtung gehen. Wir sollten das wertschätzen, was wir haben."(Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) Dessen ungeachtet ist Menschen aus diesen Meinungsgruppen die Vorstellung nicht ganz fremd, die Tschechische Republik könne ein Land „dazwischen" sein, das sich „das Gute von beiden" nimmt, sich dabei auf sich selbst konzentriert und sich nicht in den „Wettkampf der Großmächte" hineinziehen lässt. „Wir sind ein schönes Land, warum nach rechts oder nach links schauen, wo wir hier die Tschechische Republik haben. Wir sollten sie für uns selbst herrichten. Und uns an uns selbst orientieren." (positiv, Frau, 47 Jahre) 57 Das Thema Europäische Union hat ebenfalls starkes Potenzial, die Gesellschaft zu spalten. In den letzten Jahren wurde die Haltung zur EU vor allem durch die Migrationskrise und die Vorschläge westlicher EU-Länder zum Umgang damit beeinflusst. Diese Ereignisse verstärkten besonders im Lager der Kritischen die Abneigung. Sie weckten aber auch Misstrauen unter Menschen, die zur Meinungsmitte gehören. „Wir werden dem Druck aus der Europäischen Union wahrscheinlich nicht standhalten (...). Es werden wohl etwas mehr Migranten zu uns strömen als jetzt. Ich hoffe nur, es wird sich nicht dem annähern, wie es in Deutschland, Schweden oder Frankreich ist oder heute auch schon in England (...)." (kritisch, Mann, 61 Jahre) Damit verbunden ist die in der Gruppe der Kritischen recht häufig vertretene Meinung, die EU unterdrücke die traditionelle kulturelle Vielfalt der europäischen Nationen. „Ich fühle mich wohl in Europa, würde mir aber sehr wünschen, dass jede Nation in Europa ihre Identität, ihre Bräuche, ihre Folklore bewahrt und in diesem Fall gefallen mir zum Beispiel die Gesetze und Vorschriften nicht, welche die Europäische Union erlässt. Daraus geht eine etwas negative Haltung zur Europäischen Union als solcher hervor. Und selbstverständlich zur Migration, dazu werde ich mich erst gar nicht äußern."(kritisch, Frau, 77 Jahre) „Ich teile die Meinung, dass die Europäische Union die Traditionen und Bräuche der einzelnen europäischen Nationen zerstört." (kritisch, Mann, 20 Jahre) Nach Meinung der Menschen in dieser Gruppe schmälert die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht nur die Eigenständigkeit der Tschechischen Republik, sondern auch ihre Autarkie, besonders in den Sektoren Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. „Die Europäische Union (...) zwingt die Souveränität der Staaten in die Knie, besonders der ärmeren, zu denen wir gehören."'(kritisch, Frau, 56 Jahre) „Lauter Verordnungen und Befehle, ich bin davon schon ganz vergiftet. Wir sind genau solche Menschen wie sie, also kommen wir damit schon alleine zurecht."(kritisch, Mann, 47 Jahre) „Es gibt Menschen, die dagegen sind, dass uns die Europäische Union irgendwelche Quoten vorschreibt und diktiert, dass wir hier soundso viel 58 züchten und diese oder jene Lebensmittel anbauen dürfen. Wir waren ein autarker Staat, aber wegen der Europäischen Union sind wir es nicht mehr." (kritisch, Mann, 72 Jahre) „Ich sage nicht, daran [der Mitgliedschaft in der Europäischen Union] sei nichts Gutes, aber (...). Die Europäische Union hat haufenweise Nachteile, wie zum Beispiel die Unterdrückung der Fähigkeiten der Staaten, sich selbst zu versorgen, und diese Souveränität (...). Die Europäische Union zerstört definitiv die tschechische Landwirtschaft." (kritisch, Mann, 20 Jahre) Geht es um Subventionen oder allgemein Geld aus der EU, haben kritisch Eingestellte den Eindruck, es werde wenig darüber gesprochen, wieviel die Tschechen zum gemeinsamen Haushalt der EU beitragen. Sie sind relativ fest überzeugt, dass europäisches Geld den Verlust an Autarkie und Souveränität nicht aufwiege. „Leider gibt es sehr wenige Informationen darüber, wieviel Geld wir in die Europäische Union hineinstecken. Ständig wird hier verkündet: So viel erhalten wir von der Europäischen Union, aber wieviel wir dort einzahlen, das wird wirklich sehr wenig berichtet."(kritisch, Mann, 72 Jahre) Starke Kritik und Misstrauen gegenüber der Europäischen Union führt stellenweise bei kritisch Eingestellten bis zur Befürwortung eines Austritts der Tschechischen Republik aus der EU, und das selbst auf Kosten ökonomischer Schäden. „Ich würde mir eher wünschen, dass wir die Kraft aufbrächten, uns aus der Europäischen Union zu befreien. Ich weiß,, dass dies sehr schwierig wäre. Selbst zu dem Preis, dass wir uns für eine gewisse Zeit einschränken müssten und dass die Europäische Union wirtschaftlichen Druck auf uns ausüben würde, selbst zu diesem Preis würde ich mir wünschen, dass wir austreten." (kritisch, Mann, 61 Jahre) Vertreter der Meinungsmitte und Positivewaren sich in ihren Meinungen zur Europäischen Union verhältnismäßig einig. Von den kritisch Eingestellten unterscheiden sie sich hauptsächlich in der Gesamtbewertung der Mitgliedschaft in der EU, die sie als nutzbringend einschätzen. Allerdings haben auch sie Vorbehalte gegenüber der EU, die jenen der kritisch Eingestellten ähnlich sind. Sie halten die Kritik jedoch in einigen Fällen für übertrieben und sind der Auffassung, dass häufig auch hausgemachte Probleme der EU angelastet werden. „Durch die Zeit, die wir in der Europäischen Union sind, wissen wir, dass nicht alle Quoten für uns die richtigen sind, dass wir uns an Dinge 59 anpassen müssen, die wir gerne anders machen würden. Das betrifft zum Beispiel tschechische Lebensmittel (...). Wenn wir es auf die Waage legen, haben wir Positives und Negatives, aber ich glaube, das ist ausgeglichen." (positiv, Frau, 47 Jahre) „Wenn Sie Pro und Contra betrachten: Es gibt da einige Regulierungen, die Europäische Union verhält sich gelegentlich, als wäre das keine Union, sondern ein einziger Staat, und es gibt halt diese Quoten. Aber im Ganzen ist das sehr gut." (positiv, Mann, 39 Jahre) „In der Tschechischen Republik ist es weit verbreitet, wenn wir irgendeinen Schlamassel angerichtet haben, dies dadurch zu verschleiern, dass man sagt: Das waren nicht wir, schuld ist die Europäische Union." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) Vor allem Menschen aus der Meinungsmitte beschweren sich, nicht über ausreichende Informationen über die verschiedenen Verordnungen zu verfügen, darüber, was die EU tue und warum. Das ist ihrer Ansicht nach einer der Gründe dafür, warum sich die Tschechen in der Frage der EU-Mitgliedschaft nicht einig werden. „Theoretisch könnte es helfen, die Verordnungen besser zu interpretieren, zu erklären, warum, was der Grund dafür ist. Ich verstehe diese Verordnungen gelegentlich auch nicht. Wenn wir umfassende Informationen haben, dann können wir uns entscheiden." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) „Der ganze Zugang ist wenig transparent. Der tschechische Mensch möchte nicht ans Internet gefesselt sein und in seiner Freizeit irgendwelche Tabellen studieren. Die Leute wissen nicht, was sich tut und was sich nicht tut." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) Menschen aus der Meinungsmitte und positiv Eingestellte gaben im Zusammenhang mit der EU recht häufig an, wir hätten keine Alternative. Die Tschechische Republik sei ein kleines Land und die Europäische Union schütze sie vor dem Einfluss der Großmächte (namentlich der aus dem Osten). „Ich bin für einen Verbleib in der EU. Ohne Subventionen würden wir es weder ökonomisch noch militärisch bewältigt, wenn etwas passieren würde." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) „Im Blick auf die Wirtschaft würde es uns außerhalb der Strukturen der Europäischen Union noch viel schlechter gehen als Großbritannien, das seit diesem Jahr zu spüren bekommt, was es bedeutet, außerhalb der Europäischen Union zu sein." (Meinungsmitte, Mann, 51 Jahre) 60 „Die Europäische Union beschirmt unseren Staat auch in Fragen der Sicherheit. Denn ein so kleines Land wie wir es sind könnte sich kaum wehren gegen Angriffe aus dem Osten, etwa aus China oder Russland. Darin ist die Europäische Union einzigartig."(positiv, Frau, 74 Jahre) 5.3 Haltung zur Vergangenheit Mehr als dreißig Jahre nach der Samtenen Revolution spaltet die Sicht auf die Zeit vor dem Jahr 1989 und auf die Transformation in den Neunzigerjahren einen großen Teil der tschechischen Gesellschaft ziemlich stark. Lediglich die jüngste Generation der heute Zwanzigjährigen versteht dieses Thema eher als Geschichte. Sie nehmen verschiedene Ansichten zu dieser Zeit wahr und stimmen zu, dass diese die Gesellschaft spalten können, aber eine eigene Meinung zu dem kommunistischen Regime und zu der Transformation der neunziger Jahre haben sie nicht. „Es gibt hier Leute, die ständig dieses frühere Regime verherrlichen. Sie sehen es als etwas Wichtiges an, etwas, das sie am Leben gehalten hat. Und dann gibt es hier die Antikommunisten, Menschen, die die gesamte Linke dem Kommunismus zurechnen, weil sie ihn erlebt haben." (positiv, Frau, 23 Jahre) Junge Menschen bilden sich ihr Urteil zu der Zeit vor 1989 in erster Linie auf der Grundlage der Erfahrungen ihrer Eltern, oder es beruht darauf, was sie in der Schule gelernt haben. „Da ich nach dem Jahr 2000 geboren bin, kann ich das nicht vergleichen oder meine Meinung sagen. Ich habe nur das, was sie uns in der Schule gelehrt haben, dass es jetzt freie Wahlen gibt. Mehr kann ich dazu nicht sagen."(positiv, Mann, 18 Jahre) „Ich kann nur das mitteilen, was mir meine Eltern, meine Oma und mein Opa gesagt haben. Ich weiß auch, dass man nicht reisen konnte. Mein Vater hat gesagt, ein Studium machen zu können, war ein großes Problem. Wenn er gekonnt hätte, hätte er eine Hochschule besucht." (Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) „Es fällt mir schwer, es zu vergleichen, weil ich es nicht erlebt habe. Aber allgemein, nach dem, was ich darüber gelesen und gesehen habe, bin ich mir ganz sicher, dass wir es besser haben. Aus verschiedenen Gründen. Wir können reisen, wir können unsere Meinung äußern." (Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) 61 Unter kritisch gestimmten jungen Menschen gibt jedoch eine stärkere Tendenz der Aussage zuzustimmen, im vorherigen Regime sei nicht alles schlecht gewesen. „Aus persönlicher Erfahrung zwar nicht, aber mir gefällt das mit der Arbeit. Wenn man wirklich lernen konnte — aber wer nicht mehr lernen wollte, musste einfach arbeiten gehen. Einfach etwas tun gehen. Dass sich jemand zu Hause hingelegt hat und sich von den anderen ernähren ließ, das gab es nicht. Und auch das größere Sicherheitsgefühl, das gefällt mir vor 1989." (kritisch, Frau, 21 Jahre) „AlsodiesevorangegangeneZeitmussbestimmtnichtsoschlechtgewesensein, wie sie in der Schule präsentiert wird. Es ist dasselbe: Ich bin kein Faschist, aber auch in diesem Faschismus gab es Dinge, die nicht ganz verworfen werden sollten. Genauso war dieser Kommunismus nicht so total schlecht, wie sie uns in der Schule erzählen. Mein Opa durfte nicht nach Europa reisen, weil er nicht unterschrieben hat, dass er mit der Partei einverstanden ist. Es gab einen Zwang, der politischen Meinung zuzustimmen, um Karriere machen zu können, das gefällt mir nicht." (kritisch, Mann, 20 Jahre) Positiv orientierte junge Menschen bewerten das Regime vor 1989 eher negativ. Sie verbinden damit hauptsächlich Unfreiheit, Verfolgung aus politischen Gründen und gerichtliche Schauprozesse, Beschränkung unternehmerischer Freiheit sowie niedrigeres wirtschaftliches Niveau und zugleich weniger Verantwortung für das eigene Leben. „Ich würde darin wohl nicht leben wollen, denn ich will unternehmerisch tätig sein und ich vertrete die Meinung, wenn ich etwas will, dann muss ich etwas dafür tu«."(positiv, Mann, 18 Jahre) „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, in dieser Zeit zu leben. Vor allem würde ich nicht darin leben wollen." (positiv, Frau, 23 Jahre) Nehmen wir jene in den Blick, die den Kommunismus erlebt haben, so bewerten die kritisch Eingestellten das Regime relativ positiv. Sie betonen insbesondere die Gewährleistung von Wohnraum, Arbeit, Dienstleistungen (zum Beispiel Kindergärten), größere Sicherheit oder weniger soziale Unterschiede. Zugleich wertschätzten sie eine höhere Qualität von Dienstleistungen, eine bessere Einhaltung der Regeln, was sie vor allem mit der Arbeitspflicht verbinden. Sie loben auch den größeren Anstand und Zusammenhalt zwischen den Menschen. „Meine Eltern hatten Anspruch auf eine Wohnung, und das gibt es in heutiger Zeit nicht. Der Staat hat sich früher irgendwie um die Familie 62 gekümmert. Früher gab es Zuschüsse für Babynahrung und es ging den Kindern gut, weil der Staat für alles aufgekommen ist. Das lässt sich überhaupt nicht mit der heutigen Zeit vergleichen. Auch wenn sie nicht gereist sind, so denke ich doch, dass es meinen Eltern besser ging als mir heute." (kritisch, Mann, 45 Jahre) „Damals waren wir im Schul- und Gesundheitswesen führend. Die ganze Welt hat uns darum beneidet."(kritisch, Frau, 65 Jahre) „Die frühere Zeit war ein bisschen anders. Es ist wahr, dass wir nicht die Errungenschaften hatten, die es heute gibt, aber die Menschen waren sich irgendwie näher."(kritisch, Mann, 72 Jahre) Die Vertreter der kritischen Meinungsgruppe wissen von den repressiven Praktiken des vorherigen Regimes und sind damit nicht einverstanden. Andererseits nehmen sie das als entfernte Geschichten wahr und neigen dazu, diese nicht ganz zu glauben. In ihren Erinnerungen wurde Politik „zu Hause" nicht besprochen, sie spielte sich woanders ab. Sie erinnern sich auch nicht wirklich an die übrigen Probleme, etwa im Zusammenhang mit dem Mangel an Waren in den Geschäften, oder bewerten sie als nicht so schwerwiegend. „Bei uns wurde nicht geschimpft, nicht gelobt, ich weiß gar nicht, worüber ich hätte schimpfen sollen. Ich habe ohne Probleme meinen Abschluss gemacht, hatte eine schöne Arbeit, es gab Sicherheitfür normale Menschen — Wohnung, Arbeit (...). Politik fand jenseits von uns statt. Als ich Lehrbücher für Geschichte gelesen habe, sagte ich denen: So war das aber überhaupt nicht, das ist eine Lüge."(kritisch, Frau, 56 Jahre) Die Bewertung der Neunzigerjahre fällt bei Angehörigen des kritischen Lagers sehr negativ aus. Häufig betonen sie, der „Staat sei ausgeraubt worden". Die einen haben sich ihrer Meinung nach bereichert und die anderen blieben arm. Besonders unerträglich ist für sie, dass kein Verdächtiger für die Privatisierung bestraft worden sei. Ihnen zufolge haben sich die Täter gegenseitig den Rücken freigehalten. „In den Jahren 89 bis 93 ist dieser Staat in großem Stil ausgeraubt worden, das muss diese Gesellschaft ja spalten. Denn die Hälfte der Menschen hat gestohlen und die andere Hälfte ist arm (...). Das waren Abertausende von Leuten, die sich Millionen genommen haben. So kam der Staat um Milliarden, die niemand je wiedersehen wird. Also da ist diese Wut in mir geblieben. Viele Menschen haben Schulden gemacht und nicht zurückgezahlt, und deshalb sind wir nicht dort, wo wir als Republik sein könnten." (kritisch, Mann, 45 Jahre) 63 „Die größte Enttäuschung war für mich die Amnestie des ehemaligen Präsidenten Klaus. Er hat nicht nur sich selbst geschont, sondern haifauch noch seinen Kumpanen, die ihm bei dieser Ausraubung und dem Ausverkauf der Republik geholfen haben."(kritisch, Mann, 72 Jahre) Heute vermissen die Kritischen vor allem die (soziale) Sicherheit. Sie haben den Eindruck, dass sich niemand um sie kümmert. Als negativ erleben sie namentlich, dass sie schwerer einen Arbeitsplatz finden. Es liegt nicht immer daran, dass es keine Arbeit gibt, sondern dass sie auf Arbeitssuche gehen müssen, weil die Fabriken, Krankenhäuser usw., in denen sie gearbeitet haben, geschlossen wurden. Selbst wenn sie Arbeit haben, reicht ihnen ihr Einkommen nicht für ein anständiges und würdiges Leben. Schwer erträglich ist für sie, jemanden zu sehen, der nicht arbeitet und dem es besser geht als ihnen selbst. Sie empfinden das als Ungerechtigkeit und Verstoß gegen die Regeln einer anständigen Gesellschaft. „Bis heute spüre ich den großen Unterschied, wie ich die Arbeitsplatzsicherheit wahrgenommen habe. Wer das nicht erlebt hat, dass Arbeit und Wohnen gesichert waren, der wird das schwer verstehen. Das ist ein Teil von uns, wir sind so aufgewachsen (...). Es ist wahr, es gibt genug Arbeit, aber dass es keine Verpflichtung gibt, zu arbeiten, das verstehe ich nicht." (kritisch, Frau, 56 Jahre) „Heute kümmert sich niemand um Sie. Früher gab es Arbeit, heute muss niemand arbeiten. Ihm droht kein Gefängnis. Ich denke, die Leute haben die Angst verloren. Wenn einige Dinge zurückkehrten, dann würde dieser Staat ganz anders funktionieren." (kritisch, Mann, 47 Jahre) „Ich kann mich über die Zeit vor 89 nicht beklagen. Ich sage nicht, dass es mir jetzt schlecht geht. Jetzt kann man so viel verdienen, wie man will. Damals bestimmten Tabellen oder was man uns zugestand, wieviel wir verdienten. Aber andererseits konnte man doch einiges ersparen. Heute, wenn jemand einer klassischen Beschäftigung nachgeht, dann kann er nichts ersparen. Wir zahlen ein halbes Jahr lang Steuern für die, die nicht arbeiten, und es wird überhaupt nichts dagegen unternommen. Und damals hatte hier jeder Arbeit. Wie ist das möglich: Damals wurde, wer nicht gearbeitet hat, als Schmarotzer eingesperrt. Und das galt für alle. Schwarze, Weiße, Farbige, es gab einfach Arbeit."(kritisch, Mann, 49 Jahre) Menschen in der Gruppe der Positiven fällt es sehr schwer, in der Zeit vor 1989 irgendetwas Positives auszumachen. Einige erinnern sich zwar an gewisse Dinge aus der früheren Zeit, die man vielleicht als Vorteile auffassen könnte. Diese Umstände können ihrer Ansicht nach aber 64 nicht die Gesamtheit der Schattenseiten des kommunistischen Regimes aufwiegen. Dazu rechnen sie insbesondere die fehlende Reisefreiheit, Studienverbote oder politische Verfolgung. „Es gab Sanktionen, Klassenunterschiede, Reiseverbot, Studienverbot, ich muss darüber gar nicht sprechen. Wer das erlebt hat, versteht mich. Ich sehe überhaupt nichts Positives." (positiv, Frau, 58 Jahre) „Ich erinnere mich an überhaupt nichts Positives. Vielleicht dass der Kindergarten kostenlos war. Aber andererseits waren die Löhne niedrig. Ich kann keinerlei Positivům erkennen."(positiv, Frau, 47 Jahre) „Mir würde niemals einfallen, das zurückzuwollen. Ich denke, ein normaler, vernünftiger Mensch kann niemals auf diese Idee kommen." (positiv, Mann, 72 Jahre) „Ich habe 19 Jahre unter dem Kommunismus gelebt. Mir fällt nichts Positives ein, das ich mir zurückwünschen würde." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Menschen aus der Meinungsmitte bewerten die Zeit vor dem Jahr 1989 eher negativ, sind darin aber weniger entschieden. Im Unterschied zu den Positiven wertschätzen sie häufiger einige mit dem vergangenen Regime verbundene Vorteile, hauptsächlich die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen. Zugleich haben sie das Gefühl, früher seien einige Regeln besser eingehalten worden, was sich positiv auf die ganze Gesellschaft ausgewirkt habe. In dieser Hinsicht nähern sie sich der Gruppe der Kritischen an. „Jeder hatte damals Arbeit. Das hat hervorragendfunktioniert. Es gab nicht solche Sozialparasiten wie heute. Und jetzt ist es umgekehrt. Jetzt gibt es so viele Leistungen für Menschen, die nicht arbeiten wollen. Darüber könnte ich mich immer aufregen."(Meinungsmitte, Mann, 36 Jahre) „Was das Gesundheitswesen betrifft, würde ich sagen, dass damals strikt vorgeschrieben war und niemand darüber diskutierte, ob er sich impfen lassen will oder nicht. Diese jetzige Nachgiebigkeit gegenüber Impfgegnern ist nicht gut." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) Positiv Eingestellte und Menschen in der Meinungsmitte stimmen in einer insgesamt positiven Bewertung der Entwicklung seit November 1989 überein. Als positiv bewerten sie insbesondere die Freiheit und den höheren Lebensstandard. „Es ist besser jetzt. Alles ist besser. Reisen, man kann gut einkaufen, es gibt von allem genug. Das war früher nicht so." (Meinungsmitte, Frau, 44 Jahre) 65 „Es ist nicht nur eine Frage des Lebensstandards. Vor dem Jahr 1989 hätten wir die Debatte überhaupt nicht führen können, die wir hier führen. Das ist Entwicklung, das ist Fortschritt."(positiv, Mann, 72 Jahre) In der Bewertung der Transformationszeit geben sie zu, dass viele Fehler gemacht worden seien, die den Aufschwung der tschechischen Gesellschaft gebremst hätten. Diese Fehler verbinden die Menschen aus der Meinungsmitte und die positiv Eingestellten aber hauptsächlich mit dem Einfluss ehemaliger Kommunisten auf das nachrevolutionäre Geschehen. Ihre Enttäuschung entspringt eher dem Umstand, dass ehemalige Kommunisten die Situation ausgenutzt, Eigentum erworben und auch in die neue Ära großen Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes hinübergerettet hätten. Darin stimmen sie mit einigen aus der Gruppe der kritisch Eingestellten überein. „Als Havel Präsident war, also zu dieser Zeit war es in Ordnung. In der Zeit seit Klaus bis hin zu Zeman stagniert es. Wirtschaftlich geht es, aber der Fortschritt in den Menschen ist zum Stillstand gekommen. Verantwortungsgefühl verschwindet eher (...). Das sind immer noch Genossen, das war eine Partei, die sich immer noch hält. Die lenken das, die bremsen uns."(positiv, Mann, 60 Jahre) „Nach dem Jahr 1989 waren die größten Unternehmer Kommunisten. Jene, die unter dem Kommunismus Geld hatten, aus denen wurden die größten Unternehmer und sie machten fröhlich weiter. Sie setzten das ein, was sie während des Kommunismus gestohlen hatten. Scheinbar hatten sie die Macht übergeben, aber sie hatten enormen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Staates. Sie haben sich nur ein anderes Mäntelchen umgehängt und weitergemacht. Und das ist meiner Meinung nach bis heute das größte Problem." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Trotzdem sehen Menschen der Meinungsmitte und positiv Eingestellte die aktuelle Entwicklung insgesamt positiv und den November 1989 als Wende, die eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet hat. Ihnen ist bewusst, dass die Freiheit auch das Risiko des Misserfolgs gebracht hat. Daher verbinden sie etwaiges gesellschaftliches oder persönliches Versagen eher mit Einzelpersonen und nicht mit der neuen Ära im Allgemeinen. „Die Möglichkeit hatte jeder. Aber nicht jeder wusste sie zu ergreifen, und darüber waren die Menschen dann so enttäuscht." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) „Die Menschen haben jetzt in einer Vielzahl von Dingen freiere Hand." (positiv, Frau, 44 Jahre) 66 „In der heutigen Zeit kann ein talentierter, ehrgeiziger Mensch, wenn er will, große Dinge erreichen. Die heutige Zeit gibt die Gelegenheit dazu. Jetzt hängt es davon ah, oh die Menschen sie ergreifen."(Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) Darin unterscheiden sich die Gruppen der Meinungsmitte und der Positiven insbesondere von älteren Menschen in der kritischen Gruppe. Diese sehen für sich unter den neuen Bedingungen eine Reihe von Hindernissen, vor allem Eigentumsbarrieren, die sie davon abhalten, Erfolg zu haben. Die Schuld für nicht erfüllte Erwartungen geben sie eher dem System als sich selbst. „Menschen, die in eine reiche Familie hineingeboren werden, haben es wesentlich einfacher. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Wer die entsprechende Position hatte, hatte alles und Talent genügte nicht. Ich war [sportlich] ein Riesentalent. Infolge der Tatsache, dass meine Eltern kein Geld hatten, konnte ich dieses Talent nicht nutzen. Es ist wohl auch heute noch so: Wer Geld hat, besitzt riesigen Einfluss." (kritisch, Mann, 45 Jahre) 67 tschen zum sind es. Sie ne Führung, ^rtrauen. Sie n die Regeln r und hatten ammen. Hier ine Einigkeit über Werte." „Die Regien tritt in der Öffentlichkei nicht als Tee auf. Sie sind unfähig, an ■ Strang zu zi Und sie sollt uns die Rieh Kaoitel 6 G e I i rig:^^L^^^^_ z usa m meß^^^tH^- und nur aufigffze^ Dauer — 70 In der tschechischen Gesellschaft fehlt dringend ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und für die Zukunft überwiegt Skepsis, dass es gelingen könnte, den Zusammenhalt zu stärken. Mit der Einschätzung, die tschechische Gesellschaft sei gespalten, die im Großen und Ganzen von den verschiedenen Meinungsgruppen geteilt wird, geht das Gefühl einher, unsere Gesellschaft sei nicht solidarisch. Es fehlt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl, dass wir gemeinsame Ziele anstreben, „zusammenhalten", und dass es „Dinge" gibt (Themen, Ziele, Werte, Autoritäten), die uns verbinden. Dabei sind gerade Solidarität und Zusammenhalt die grundlegenden Werte für eine gut funktionierende Gesellschaft. „Die tschechische Gesellschaft ist nicht sehr solidarisch. Die Deutschen zum Beispiel sind es. Sie haben eine Führung, der sie vertrauen. Sie respektieren die Regeln mehr und halten besser zusammen. Hier herrscht keine Einigkeit Über Heerte."(Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Es gibt lediglich zwei eng begrenzte Ebenen, auf denen von einem Zusammengehörigkeitsgefühl gesprochen werden kann, aber seine Qualität ist sehr unterschiedlich: einerseits akute Krisenzeiten und andererseits sportliche Erfolge. Allerdings veranschaulicht die Eintracht bei der Feier von Erfolgen tschechischer Sportler eher das anhaltende Gefühl, dass „wir sonst nicht an einem Strang ziehen". „Derzeit gibt es nichts Spezielles, das uns zusammenhalten würde. Dazu kommt es nur in Krisenzeiten. Wenn es um etwas geht, dann sind wir solidarisch. Sportliche Erfolge — ja, aber das ist eine marginale Sache. Für die Gesellschaft hat das keine besondere Bedeutung." (positiv, Mann, 70 Jahre) Unter den positiv Orientierten taucht aufgrund ihrer Einstellungen und Werteverankerung noch die Meinung auf, uns verbinde der kulturelle Hintergrund und die Muttersprache. Aus der Perspektive der Kritischen wiederum liegt der Schwerpunkt auf Nation und Patriotismus, eingebettet in die Verteidigung unserer Identität gegen äußere Bedrohungen und fremde Einflüsse. 71 „Unsere Gesellschaft verbinden die Flüchtlingsquoten der EU, wir lassen uns unsere Kultur nicht zerstören. Unsere Gesellschaft beginnt, sich mit den Schmarotzern zu befassen, die nicht arbeiten, die Menschen fangen an, das zu begreifen. Ich habe nichts gegen Migration. Aber als Tschechien haben wir unsere Gesetze, du musst unsere Gesetze einhalten. Moscheen werden wir nicht bauen. Sollen sie doch dahingehen, wo es welche gibt. Wir dürfen ihnen gegenüber nicht nachgeben."(kritisch, Mann, 72 Jahre) „Wenn wir als Nation erfolgreich sein wollen, müssen wir uns einigen. Aber so viele Köpfe wir haben, so viele Meinungen gibt es, das macht mich traurig. Jeder will sein Ding durchsetzen. Ich sehe nicht, was uns zusammenschweißen könnte (...). Wir sollten die Kinder mehr zum Patriotismus erziehen, das könnte die Gesellschaft vereinen. Aber Inklusion, die Absenkung des Niveaus auf das der Schwächsten — auch da sehe ich keine Hoffnung." (kritisch, Frau, 65 Jahre) Wichtig ist die gemeinsame Überzeugung, dass unsere Nation in Krisenzeiten zusammenfinden kann, sei es, dass wir mit Krise eine äußere Bedrohung unserer Sicherheit meinen oder eine Reaktion auf einen gemeinsamen inneren Feind (Samtene Revolution) oder Naturkatastrophen (Hochwasser). Tschechinnen und Tschechen verstehen es, sich solidarisch zu zeigen, indem sie sich an humanitärer Hilfe beteiligen, an wohltätigen Spendensammlungen. Im „gewöhnlichen" Leben aber seien Solidarität und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht sehr verbreitet. „Das letzte Mal haben wir im Jahr 89 zusammengehalten. Seitdem aber nimmt der Zusammenhalt schrittweise ab." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) „Die Menschen sind verschieden. Jeder hat eine andere Natur. Wenn die Lage einmal eskaliert, dann verstehen es die Menschen zusammenzuhalten, einander zu helfen. Aber einige sind fähig, noch den zu treten, der am Boden liegt. Die Menschen helfen eher in humanitären Dingen — als Troubky2 passiert ist, haben sie Geld gespendet. Jetzt sind die Menschen, was ich um mich herum beobachte, eher für sich." (positiv, Frau, 44 Jahre) „Mir fällt nicht viel ein, was uns verbindet. Große Schlamassel haben die Tschechen immer zusammengeschweißt. Wenn es am Schlimmsten war, haben sie sich zusammengetan. Wahrscheinlich ist es momentan noch nicht so schlimm. Die nationale Mentalität ist so: Wenn es wirklich eng wird, verstehen wir mit anzupacken." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) 2. Die mährische Gemeinde Troubky wurde 1997 von einem Hochwasser verwüstet, bei dem 9 Menschen starben und 150 Häuser eingestürzt sind. 72 Ähnlich wie in anderen Krisen beobachten wir in der aktuellen Corona-Krise eine Welle der Solidarität, des Zusammenhalts zwischen den Menschen. Gleichzeitig zeigen sich aber auch bei dieser Gelegenheit bezeichnende Merkmale der Solidarität in der tschechischen Gesellschaft, die aus der Perspektive der Bürger der verschiedenen Meinungsgruppen typisch für sie sind: ein durch die akute Krise hervorgerufener Anstieg von kurzer Dauer, und die Konzentration auf Kleinigkeiten. „In der ersten Covid-Welle zeigte sich Solidarität. Es entstanden Initiativen, damit die Menschen Masken bekamen. In der zweiten Welle sehe ich davon schon nichts mehr."(kritisch, Mann, 61 Jahre) „Erst durch Covid ist mir das aufgefallen. Man konnte sehen, wie sich die Menschen gegenseitig helfen. An Arme wurden Masken verteilt. Es war schön, dass sich die Menschen helfen konnten. Aber ich habe das erst in dieser Krisenzeit erlebt. Wenn alles in Ordnung ist, sehen sie nur sich selbst. Wenn Krise ist, dann helfen alle einander."(Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) „Es gibt zu wenig Zusammenhalt, aber es zeigt sich welcher. Zum Beispiel der Elan in der Gesellschaft, die Covid-Welle zu brechen. Das Nähen von Masken. Wir begannen Ärzte, Krankenschwestern zu bewundern. Tschechen können zusammenhalten, solidarisch sein."(Meinungsmitte, Mann, 78 Jahre) Die aktuelle Krise verstärkt unter den Menschen also eher ihre Ansicht, dass in der tschechischen Gesellschaft Solidarität seit langem vermisst wird. [Wenn es um eine solidarische Gesellschaft geht] „Ich kann mir einen albernen, fiktiven Film vorstellen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie die ganze Gesellschaft solidarisch sein könnte. Nicht einmal unter Covid versteht es die Gesellschaft zusammenzuhalten." (kritisch, Frau, 21 Jahre) Die überwiegende Skepsis stellt die Möglichkeiten für die Zukunft in Frage, die Situation bei uns zu verändern und die Gesellschaft zu vereinigen. „Schließlich sind wir Tschechen — jeder strengt sich für sich an. Ich weiß nicht, ob es etwas gibt, was die Menschen verbinden könnte. Ich denke, der Trend wird sich eher verstärken."(positiv, Frau, 52 Jahre) Die Menschen negieren ihre persönliche Verantwortung und betonen die VerantwortlichkeitderpolitischenEliten,vonRegierungsvertreter_innen. „Die Regierung tritt in der Öffentlichkeit nicht als Team auf. Sie sind unfähig, an einem Strang zu ziehen. Und sie sollten uns die Richtung angeben." (Meinungsmitte, Frau, 52 Jahre) 73 „Eine starke Führung könnte das machen. Ich kann nichts bewirken." (Meinungsmitte, Mann, 36 Jahre) „Man sollte oben anfangen. Die Politiker suchen nach Ersatzproblemen, erledigen nicht, was für die Menschen wichtig ist. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Meinung der einfachen Leute. Wenn in der Politik keine Ordnung herrscht, werden sich auch die Menschen nicht einig, "(kritisch, Mann, 72 Jahre) Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber Politikern glaubt ein Teil der Gesellschaft, besonders in der Meinungsmitte, dass die Gesellschaft durch eine starke, vertrauenswürdige Persönlichkeit geeint werden könnte. „Zuerst sollte ein Anführer gefunden werden, der die Nation zusammenführt und dem sie vertrauen wird. Dann könnte das Leben hier besser sein. Wenn wir nicht zerstritten sind, wenn die Mehrheit an etwas glaubt, dann werden wir besser leben." (Meinungsmitte, Mann, 50 Jahre) Nur die Meinungsgruppe der Positiven sieht einen produktiven Weg auf der Ebene der Bildung, die mit unterschiedlichen Meinungen arbeiten sollte, mit Erziehung zu Toleranz und gegenseitigem Verständnis. Aber auch in dieser Gruppe ist dies eher der Ansatz der jungen Generation. „Bildung, Erziehung in der Grundschule, Diskussionen über Themen führen, die Spaltungspotenzial besitzen. Mit abweichenden Meinungen arbeiten (...). Die Sorge um die Zukunft sollte uns verbinden. Dies sollte aber ein Spezifikum einer globalen Identität sein, nicht nur der tschechischen." (positiv, Frau, 23 Jahre) 74 „Unser Land aehören. We Osten noch ist alles sch Gute Politike von beiden < nehmen. Mir Osterreich, c Neutralität t Kaoitel 7 Wird es uns gelingen, uns auf eine gemeinsame Vision und auf eine Vorstellung gemeinsamer Ziele für die Zukunft zu einigen? Wir sind uns eher uneinig, und das trägt weiter zur Polarisierung und Disharmonie in der Gesellschaft bei. Im Blick auf die nähere Zukunft ist es selbstverständlich am wichtigsten, die Corona-Pandemie zu bewältigen, das Leben auf die gewohnten Gleise zurückzuführen und mit den vielfältigen Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft, den Lebensstandard und die zwischenmenschlichen Beziehungen zurecht zu kommen. „Zum Zustand vor Covid-19 zurückzukommen, das würde vollkommen genügen. Dass alles wieder geöffnet wird, dass die Menschen leben und zufrieden sein können." (Meinungsmitte, Frau, 41 Jahre) Wenn wir indes den Blick eher in die Zukunft richten, auf eine langfristige Vision und Ausrichtung unseres Landes, stoßen wir in den Meinungsgruppen auf unterschiedliche Vorstellungen. Einigkeit besteht nur im Grundsätzlichen darin, dass die Zukunft des Landes eng verknüpft ist mit der tschechischen Politik, einem notwendigen Austausch des politischen Personal und einer Wiederherstellung der politischen Kultur. Konkrete Vorstellungen zielen jedoch in unterschiedliche Richtungen. Die Meinungsgruppe der Kritischen akzentuiert eine „Rückkehr des Staates", die sowohl die Betonung nationaler Autarkie sowie eines Sozialsystem impliziert, welches nicht jene begünstigen sollte, die nicht arbeiten, als auch eine Stärkung der Stimme des Einzelnen. Es sei notwendig, auf der Ebene staatlicher Entscheidungsfindung über ausreichende Souveränität zu verfügen, verbunden mit einem stärkeren Anteil der Bürger an diesen EntScheidungsprozessen im Rahmen des demokratischen Systems (z. B. Bürgerentscheide). „Zurückkehren zu: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Überlegen, wem Sozialleistungen zustehen."(kritisch, Frau, 56 Jahre) „Unser Land sollte uns gehören. Weder im Osten noch im Westen ist alles schlecht. Gute Politiker würden von beiden das Gute nehmen. Mir gefällt Österreich, das Neutralität besitzt."(kritisch, Mann, 72 Jahre) 77 „Ich würde mir wünschen, dass sich unser Land mehr in die Richtung der Schweiz orientiert. Damit das politische Geschehen sich stabilisiert, es nicht so ein Chaos gibt und die wirklichen Probleme angegangen werden. Damit die Menschen Arbeit haben. Ich denke, Patriotismus ist die Grundlage von allem. Er sollte Ausdruck finden in der Haltung zur EU, zu Migration, zu Flüchtlingen. Wie kann jemand zugunsten seines Landes entscheiden, wenn er es nicht wertschätzt? (...) Wir sollten unsere Souveränität nicht antasten lassen, nicht von der EU, von niemandem."(kritisch, Mann, 20 Jahre) Positive votieren für eine künftig größere Werteverankerung der tschechischen Gesellschaft, die auch dazu führen würde, dass Politiker mehr auf die Bedürfnisse der Bürger achten würden und nicht nur auf ihre eigenen Interessen. „Die Politik sollte sich ändern. Unsere Vertreter sollten objektiv die Fakten beurteilen und daran denken, warum sie in ihren Funktionen sind." (positiv, Frau, 74 Jahre) „Dass es den Würdenträgern um unsere Heimat geht und nicht nur darum, dass sie selbst es guthaben. Dass dort gebildete Menschen sind, die sozial denken und uns auf christlicher Grundlage regieren. Die uns Gesetze gäben, die wir respektieren würden. Sie sollten Vorbild sein. Zurzeit spalten sie die Gesellschaft mit ihren Meinungen sehr." (positiv, Frau, 47 Jahre) „Die materielle Seite ist die eine Sache. Aber genauso wichtig, wenn nicht wichtiger ist die Stimmung in der Gesellschaft. Wenn sie positiv ist, können auch wirtschaftliche Schwierigkeiten überwunden werden. Hier fehlen christliche Ideale, damit die Menschen in diesen Dingen einer Meinung sind. Die Gesellschaft hat das Christentum verworfen, aber an seiner Stelle nichts Neues geschaffen. Nur das Götzenbild wirtschaftlichen Wohlstands." (positiv, Mann, 70 Jahre) Der Weg in die Zukunft ist für diese Gruppe verknüpft mit der Orientierung am Westen und an westlichen Werten und Idealen. Damit verbunden ist eine Betonung von Bildung, die vor allem zu einer Verankerung von Werten beitragen würde, einem breiteren Horizont im Blick auf die Welt wie auf die Zukunft, einschließlich etwa der Berücksichtigung der Auswirkungen des Klimawandels. „Sich am Westen orientieren, in der EU bleiben. Auf jeden Fall ein demokratisches Land, solidarisch mit den Schwächeren. Tolerant. Stärkung westlicher Werte: Freiheit der Meinungsäußerung, Reisefreiheit, Zugang zu Bildung, Rechtsstaatlichkeit (...). Sich auf die Bildung konzentrieren, wo viel vernachlässigt worden ist."(positiv, Frau, 58 Jahre) 78 „Eine bessere Bildung, ein breiterer Horizont bei den jungen Menschen, die Welt bereisen und Erfahrungen mitbringen."(positiv, Frau, 74 Jahre) Die Meinungsmitte legt recht starkes Gewicht auf die ökonomische Perspektive, eine künftige Anhebung des Lebensstandards (in der aktuellen Situation der Corona-Krise würde jedoch eine Rückkehr auf das Niveau vor der Krise „genügen"). „Die Tschechische Republik sollte wohlhabend sein, jeder sollte es guthaben, unabhängig von Betätigungsgebiet und Ausbildung. Dieses Ziel haben wir hier jetzt nicht. Wir waren vor Covid nahe daran. Es ging den Menschen sehr gut. Wir werden es schwer haben, da herauszukommen." (Meinungsmitte, Frau, 24 Jahre) „Vor der Corona-Krise war das Land auf einem guten Weg. Die Löhne, die Renten stiegen. Wenn diese Krise vorbei ist, wird es wieder gut." (Meinungsmitte, Mann, 36 Jahre) „Für die Zukunft (...) also meine Generation wäre bestimmt dafür, die Schulden zu senken, denn die müssen meine Generation und die Generation nach uns tragen."(Meinungsmitte, Mann, 22 Jahre) 79 Schlussfol- erunaen Allgemeine Bewertung der aktuellen Situation und Verhältnis zur Zeit vor 1989 Die Gruppe der Positiven (und in begrenztem Umfang auch die Meinungsmitte) bewertet die Grundausrichtung des Landes positiv, man schätzt insbesondere die persönlichen, bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheiten und den Verbraucherkomfort. Die positive Wahrnehmung der Gegenwart durch diese Gruppe basiert größtenteils auf einem Vergleich mit der Zeit vor 1989, mit der hauptsächlich die begrenzten Möglichkeiten und Repressionen unter dem vorherigen Regime assoziiert werden. Diese Meinungsgruppe findet an dieser Periode entweder überhaupt nichts Positives oder lässt einzelne für sich vielleicht als positiv zu bewertende Dinge nicht als mildernden Umstand dienen, der an einer insgesamt negativen Bewertung etwas ändern könnte. Vorbehalte von Mitgliedern dieser Meinungsgruppe gegenüber der Gegenwart sind vor allem auf die defizitäre politische Kultur und das Scheitern einiger politischer Eliten konzentriert. Die Wurzeln davon liegen aus ihrer Sicht oft noch vor 1989, in erster Linie aufgrund der Kontinuität der Karrieren der damaligen Eliten bis heute. Gelegentlich erscheint auch das Fortbestehen der Kommunistischen Partei beziehungsweise ihrer Wählerschaft und der von ihr vermeintlich vertretenen „kommunistischen Ideologie" als Problem. Es wird überwiegend anhand abstrakter Werte und Moral argumentiert, insgesamt also eher apolitisch. Wenn eine „politischere" Haltung sichtbar wird, ist sie entweder eher neoliberal (z. B. Betonung von Selbstverantwortung und des Ergreifens von Möglichkeiten) oder hat einen gewissen antikommunistischen Unterton, etwa wenn die Fragwürdigkeit einiger aktueller Akteure im öffentlichen Geschehen vor allem auf ihre Karrieren vor 1989 zurückgeführt wird. Die kritische Gruppe unterscheidet sich von der positiven und der Meinungsmitte in der Bewertung des Weges, den das Land nach 1989 und unter dem vorherigen Regime zurückgelegt hat. Sie bewertet die letzten drei Jahrzehnte durchwachsen oder explizit kritisch, auch weil für ihre Mitglieder die Freiheit als Wert an sich nicht so sehr im Vordergrund steht und weil sie die damit einhergehenden Errungenschaften wie Reisen oder unternehmerische Aktivität nicht in Anspruch nehmen beziehungsweise aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation nicht in Anspruch nehmen können. Sie stimmen mit der Meinungsmitte in der Wahrnehmung insbesondere der Neunzigerjahre als einer Zeit überein, in der Ungerechtigkeiten entstanden sind, die bis heute andauern, 81 und sie finden sich nur schwer damit ab, dass viele Machenschaften und Betrügereien der damaligen Zeit bis heute nicht aufgedeckt und bestraft wurden. Demgegenüber heben sie einige positive Aspekte des Staatssozialismus vor allem sozialer Natur hervor, und zwar besonders im Vergleich zu dem, was folgte. Es geht dabei einerseits um Dinge, die der Staat zu dieser Zeit gewährleistete, wie Arbeit oder Wohnraum. Artikuliert wird aber auch Eindruck einer größeren Nähe und eines größeren Vertrauens zwischen den Menschen, genannt wird mehr Zeit, die zusammen verbracht wurde, oder auch klarere und besser eingehaltene und durchgesetzte Regeln. Diese Menschen haben unter dem vorherigen Regime entweder keinerlei politische Repressionen oder staatliche Beschränkungen ihrer Lebensmöglichkeiten erlebt oder wahrgenommen, oder diese spielten für sie im Vergleich zu der empfundenen sozialen Stabilität, Sicherheit und dem stärkeren zwischenmenschlichen Zusammenhalt keine so bedeutend negative Rolle, als dass sie deshalb das Regime insgesamt negativ bewerten würden. Verhältnis zur Demokratie Für die positive Gruppe ist Demokratie in erster Linie mit persönlichen, bürgerlichen und unternehmerischen Freiheiten identisch beziehungsweise wird als Wert an sich betont. Die Meinungsgruppe der Kritischen stellt trotz eines gewissen Faibles für eine starke Persönlichkeit in der Führung (die sich jedoch in gewisser Form in allen Meinungsgruppen findet) die Demokratie als solche auch nicht in Frage. Dies korrespondiert mit der Feststellung, dass ihre positive Einschätzung der Zeit vor 1989 und ihre skeptische Sicht auf die Zeit danach nicht unbedingt durch einen Wunsch nach Autoritarismus oder Diktatur bedingt sind, sondern einerseits mit Blick auf das vergangene Regime vor allem auf anderen Präferenzen für soziale Stabilität und Sicherheit beruhen und umgekehrt die spezifische Auffassung der Freiheit in der Zeit nach 1989 von ihnen abgelehnt wird, die eine solche Sicherheit und Stabilität als überholt respektive gar unerwünscht erachtet. Verhältnis zur Freiheit Damit zusammenhängend artikulieren Mitglieder der kritischen Gruppe in vielen verschiedenen Kontexten, mithin im Querschnitt, ein gewisses Gefühl des Verlustes an Stabilität und Kontrolle, etwa hinsichtlich Arbeit, Wohnen, Einkommen oder Rente oder in Bezug auf 82 Fragen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Globalisierung, der Einbeziehung in transnationale politische Strukturen oder der Migration. Gerade hier sind die damit verbundenen Themen Sicherheit und Autarkie von großer Bedeutung. Daraus wird offensichtlich, dass das, was die positive Gruppe eher als willkommene Freiheit erlebt, von der kritischen Gruppe als allgegenwärtiger Verlust von Berechenbarkeit, Regeln und Kontrolle wahrgenommen wird, in Verbindung mit der Angst, das zu verlieren, was sie entweder im wirtschaftlichen Sinne aufgebaut haben oder was für sie einen klaren kulturellen und Identitätsrahmen bildet. Dies spiegelt sich einerseits in dem Ruf nach einer starken Führungspersönlichkeit wider, aber auch nach Anhörung gewöhnlicher Menschen oder auch unmittelbar nach Elementen der direkten Demokratie, was angesichts des wahrgenommenen Verlusts von Kontrolle paradoxerweise Ausdruck ein und desselben Ziels sein kann: ihrer Wiedererlangung. Wahrnehmung soziökonomischer Probleme DieBenennungvonsozioökonomischenProblemenundUngerechtigkeiten findet in der Gruppe der Positiven eher marginal und allgemein statt. Es ist wahrscheinlich, dass in diesen Milieus mit ihnen entweder keine unmittelbare Erfahrung vorhanden ist oder diese nicht reflektiert wird — oder dass sie im Geiste der Werte von Freiheit und Verantwortung, zu denen man sich bekennt, als persönliches Versagen interpretiert werden. Damit werden sie als eine logische und natürliche Folge mangelnden Fleißes beziehungsweise Talentes oder Glückes wahrgenommen, weswegen es folgenrichtig auch unnötig erscheint, sich mit ihnen allzu sehr zu beschäftigen oder sie irgendwie systematisch anzugehen. Im Gegensatz dazu weist die Gruppe der Kritischen (und in geringerem Maße jene der Meinungsmitte) auf eine Reihe objektiv bestehender sozialer Probleme hin, seien es unsichere Arbeitsplätze und niedrige Einkommen, fehlende Verfügbarkeit von Wohnraum, Undurchlässigkeit des Bildungssystems und geringe soziale Mobilität, Einkommens- und Eigentumsunterschiede oder negative Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung. Ihre Kritik am Anteil der Politik an dem Verfall, in dem sich das Land befinde, zielt im Unterschied zur moralischen Kritik der entgegengesetzten Meinungsgruppe auch gerade in diese Richtung — aus ihrer Sicht versagt die Politik insbesondere bei der Lösung der Probleme der einfachen Leute. Es handelt sich also weniger um eine Beschwerde über Unanständigkeit, Zerstrittenheit oder über eine defizitäre politische Kultur, wie sie aus der anderen Ecke ertönt, sondern es geht in eine konkretere, praktischere Richtung. 83 Mangel an Information versus Mangel an Aufmerksamkeit Entsprechend ihrer Werteeinstellungen artikuliert die Gruppe der Positiven den Eindruck, die Spaltung der Gesellschaft werde in erster Linie durch einen Mangel an Information respektive an Bildung und kritischem Denken verursacht. Implizit ist dabei offensichtlich, dass sie damit nicht so sehr sich selbst meinen, sondern jene, die eine der ihrigen entgegengesetzte Meinung vertreten. So unterteilen sie die Gesellschaft in gewisser Weise in solche, die die Welt verstehen und mit den richtigen Maßstäben bewerten (sich selbst eingeschlossen), und die anderen, die in diesem Sinne fortgebildet werden müssten, wodurch die Gräben ihrer Meinung nach verschwinden würden. Dies deutet auf mangelndes Verständnis dafür, dass Einstellungen zu gesellschaftlichen Fragen auch aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Stellungen in der Gesellschaft beziehungsweise aus unterschiedlichen Interpretationen oder Bewertungen identischer Informationen hervorgehen können. Dies ist eine der Schlüsselerkenntnisse der gesamten Studie, da sich daraus automatisch eine Reihe weiterer Verständigungsprobleme ableiten. Im Vergleich dazu betrachten die Kritischen weniger Mangel an Information (der ihnen von der Gegenseite zugeschrieben wird) als Problem, sondern eher mangelnde Aufmerksamkeit für ihre spezifische Lebenserfahrung und Weltanschauung. Diese Diagnose kann nicht als vollkommen ungültig zurückgewiesen werden — wenn wir die Einstellungen dieser Gruppe, die wir bisher vorgestellt haben, rekapitulieren, ist offensichtlich, dass es sich um Perspektiven handelt, die in der Tat im vorherrschenden Narrativ über die Gegenwart wenig Raum erhalten haben und erhalten. Dies liegt auch daran, dass die Einstellungen der Gegengruppe in Verbindung mit Bildung und damit auch sozialem Einfluss häufiger die für die Ausformung des gesellschaftlichen Diskurses entscheidend sind. In der Gruppe der Kritischen führt dies zunehmend zu einer vollständigen Abkehr vom Mainstream und zu einer Hinwendung zu alternativen Informationsquellen und Diskussionsplattformen, wo sie sich besser berücksichtigt fühlen, wo aber zugleich ihre oft legitimen Themen inakzeptable und gesellschaftlich schädliche Gestalt annehmen. Der Ursprung „problematischer" Einstellungen Kritisch Eingestellte (und nicht nur sie) rechtfertigen ihre gemeinhin als problematisch empfundenen Positionen — sei es zu der Zeit vor 1989, gegenüber Roma, Flüchtlingen und Migranten, der Europäischen 84 Union — häufig nicht in erster Linie mit autoritären oder fremdenfeindlichen Argumenten, sondern gerade durch den Hinweis, diese Themen seien in ihren Augen auf vielfältige Weise mit sich verschärfenden sozialen Problemen, Ungerechtigkeit beziehungsweise dem Verlust von Kontrolle und Sicherheit verbunden. Es kann mithin festgestellt werden: Ihre Wahrnehmung der sozialen Situation in der Tschechischen Republik beruht entweder auf objektiver Realität, welche die beiden anderen Meinungsgruppen im Gegensatz dazu weniger oder gar nicht wahrnehmen, oder auf ihren Lebenserfahrungen. Ihre Identifikation der genauen Ursachen und angemessener Lösungen führt sie jedoch in die falsche Richtung und nicht selten im Ergebnis zu autoritären, nationalistischen oder fremdenfeindlichen Positionen. In der Folge wird im Rahmen der wichtigen Auseinandersetzung um die Frage, was in der Gesellschaft tabu bleiben sollte, die Artikulation ihrer Einstellungen regelmäßig als Ganzes verurteilt, ohne dass alle anfänglichen Motivationen für ihre Entstehung konsequent eruiert und gegebenenfalls diskutiert würden. Dabei könnten zumindest einige von ihnen im Kern legitime Gesellschaftskritik darstellen. Unzufriedenheit mit dem Zustand der Gesellschaft und Ruf nach Zusammenhalt Es ist bemerkenswert, mit welcher Dringlichkeit, Besorgnis und Emotionalität die Meinungsgruppe der Kritischen ihre Einstellungen vorbringt. Dies hängt zweifellos damit zusammen, dass sie den Zustand der Gesellschaft und ihre Ausrichtung im Allgemeinen negativ sieht. Sie nimmt auch die Polarisierung der Gesellschaft schärfer wahr, einschließlich des Gefühls, dass im Grunde überhaupt kein Konsens vorhanden ist. Ihre Position ist durchdrungen von der Sehnsucht nach einer bestimmten Art von Zusammenhalt, auch im Blick auf die Zeit vor 1989, als aus ihrer Sicht mehr Vertrauen und zwischenmenschliche Nähe herrschten. Im Vergleich dazu befürwortet die Gruppe der Positiven auf abstrakter Ebene einerseits ausdrücklich das Recht auf unterschiedliche Meinungen und nimmt die Polarisierung als weitgehend natürlich wahr. Paradoxerweise stört sie selbst jedoch andererseits vor allem die Existenz unterschiedlicher Wahrnehmungen der Welt durch verschiedene Schichten der Gesellschaft, seien es die Wähler der Kommunistischen Partei oder jene Teile der Gesellschaft, die in ihren Augen Informationsbedarf haben, um zu einer ähnlichen Sicht 85 der Dinge zu kommen wie sie selbst. In dieser Gruppe erklingt auch weniger der Ruf nach einem Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt, sondern vielmehr nach der Möglichkeit, sich mit politischen Akteuren oder Bewegungen zu identifizieren, welche die eigene Weltanschauung teilen. Bemerkenswert laut ertönt der Ruf nach solchen Führungspersönlichkeiten auch in der Meinungsmitte. Die Problematik Roma, Flüchtlinge und Migration Die Themen Roma respektive Migration/Flüchtlinge scheinen in besonderem Maße gesellschaftlich bewegend zu sein. Im Unterschied zu Deutschland, wo negative oder positive Einstellungen zur Migration eine der Hauptkonfliktachsen zwischen Weltoffenheit und kritischer Perspektive bilden, werden diese Themen hierzulande über alle Meinungsgruppen hinweg kritisch wahrgenommen — Unterschiede sind allein im Blick auf Intensität und Kompromisslosigkeit erkennbar. Insbesondere in der Haltung gegenüber den Roma ist leistungsbasier-ter Verdienst ein sehr wichtiges Argument, was auf die sozioökonomi-schen Konnotationen der Gründe für ablehnende Einstellungen hinweist. Nicht selten verbirgt sich dahinter die Verinnerlichung der neoliberalen Wettbewerbslogik und der Konditionalität von Leistungen aus dem Sozialsystem oder der Appell an eine bedingungslose Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Für die Gruppe der Positiven ist es eher eine Frage der Ideologie, für die Gruppe der Kritischen ihrer eigenen Erfahrungen. Denn dieselben Prinzipien werden ähnlich unbarmherzig auf sie selbst angewendet, wenn ihnen selbst trotz schwerer Arbeit weder entsprechende Wertschätzung noch Respekt entgegengebracht werden und auch keine großzügigere Hilfe in schwierigen Situationen zusteht. Ideologie und Erfahrungen überschneiden sich aber letztlich in beiden Gruppen. In der Frage der Migration ist von schlüsselhafter Bedeutung, ob es sich um Arbeitsmigration insbesondere aus Osteuropa oder um überwiegend muslimische Kriegsflüchtlinge handelt. Während im ersten Fall in allen Meinungsgruppen das Thema leistungsbasierter Verdienst und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sowie in den sozialen Systemen eine größere Rolle spielt, ist im Gegensatz dazu das Thema Flüchtlinge dominant von Ängsten bezüglich kultureller Unterschiede und um die Sicherheit durchdrungen. Obwohl es schwierig ist, eine genaue Grenze zwischen Verständnis für Motivationen und Akzeptanz der daraus hervorgehenden Einstellungen zu finden, offenbart die Verankerung im breiteren Kontext 86 dieser Untersuchung doch, dass diese Einstellungen nicht als vollkommen unbegründet oder in erster Linie fremdenfeindlich abgetan werden können, sondern in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden müssen: nämlich als Teil eines Gefühls, klare und eingehaltene Regeln, Kontrolle, Sicherheit und Schutz zu verlieren, auch die eigene finanzielle Situation betreffend, was insbesondere für die diese Problematik verschärft wahrnehmende Gruppe der Kritischen besonders wichtig ist. Gleichstellung von Frauen und Männern und von sexuellen Minderheiten Sogar ein bedeutender Teil der Menschen aus der positiven Meinungsgruppe ist nicht besonders sensibel für Themen wie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen (z. B. sexuelle Gewalt, Lohnunterschiede u. ä.) oder die Rechte sexueller Minderheiten (z. B. Adoption). Zwar lehnen sie jede Form von Diskriminierung ab, haben aber gleichzeitig nicht das Gefühl, es sei vonnöten, sich diesen Themen intensiver zu widmen. Zudem geht eine Spaltung bei beiden Themen eher über Meinungsgruppen hinweg: Das Thema der Stellung von Frauen und Männern findet bei jüngeren Frauen mehr Resonanz, während ältere Männer es für relativ unbedeutend oder sogar überbewertet halten. Auch das Thema der Rechte sexueller Minderheiten ist weitgehend ein Generationenproblem — junge Menschen sind dafür etwas offener als ältere. Das Thema leistungsbasierter Verdienst und die zentrale Rolle der Arbeit Die Betonung der eigenen Anstrengungen und Arbeit und die damit verbundene Frage nach leistungsbasiertem Verdienst durchdringen alle Einstellungsgruppen. Menschen aus dem gesamten Meinungsspektrum teilen das Gefühl, dass jeder, der möchte, immer Arbeit finden wird, und stimmen daher darin überein, dass die Grundvoraussetzung für soziale Unterstützung ausreichende Anstrengungen (z. B. Arbeit) oder andere Verdienste (z. B. Kindererziehung, im Fall von Senioren geleistete Arbeitsjahre) des Einzelnen sein sollten. Der Hintergrund für die Betonung dieses leistungsbasierten Verdienstes und die entsprechende Argumentation ist jedoch jeweils etwas anders: 87 Für die positive Gruppe leitet er sich mehr vom neoliberalen Imperativ der Selbstverantwortung für das eigene Schicksal ab, für die kritische Gruppe bildet er eher eine Art zentrales integratives und damit auch in gewissem Maße disziplinierendes Element der Gesellschaft. In beiden Fällen führt dies jedoch zu der festen Überzeugung, dass diejenigen, die nicht hart arbeiten und sich nicht bemühen, auf nichts Anspruch haben, im Fall der zweitgenannten Gruppe oft nicht einmal darauf, überhaupt Mitglied der Gemeinschaft zu sein. In diesem Segment der Gesellschaft korreliert die Überzeugung zugleich stark mit dem Bezug auf die eigene harte, aber häufig weder ökonomisch noch symbolisch wertgeschätzte Arbeit. Beim gesellschaftlichen Gegenpol handelt es sich eher um eine abstrakte Werteüberzeugung. So oder so führt dies quer über die gesellschaftlichen Gruppen zu einer außerordentlich harten und mitleidslosen Haltung eine ganze Reihe zusammenhängender Themen betreffend. Verhältnis zur Politik Alle Einstellungsgruppen setzen Politik dem Staat gleich, von dem sie erwarten, dass er ihre Sachinteressen verteidigt oder Krisen bewältigt, z. B. Covid-19. Politische Konflikte sind für alle Einstellungsgruppen irritierend, sie nehmen sie nicht als Teil einer Debatte über die Form einer Gesellschaft wahr, in der unterschiedliche Gruppeninteressen aufeinandertreffen. Für kritisch Eingestellte ist ein Politiker jemand, der über den Menschen steht und sich nicht für sie interessiert, positiv Eingestellte kritisieren den Staatspräsidenten Miloš Zeman, den Premierminister Andrej Babiš und die Kommunisten für die Spaltung der Gesellschaft, der Meinungsmitte fehlen starke Führungspersönlichkeiten wie der erste Staatspräsident nach der 1918 ausgerufenen Eigenständigkeit der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk oder der erste Staatspräsident nach 1989 Václav Havel. Jede Gruppe bezieht sich also unausgesprochen auf eine andere Phase der Politik nach 1989, in der sie auf zentraler Ebene repräsentiert oder nicht repräsentiert war. Als Problem artikuliert wird die als inhaltsleer wahrgenommene Politik, und die Menschen glauben auch nicht, dass Konflikte entstehen, weil es den Politikern tatsächlich um die Erfüllung ihrer Versprechen und Programme geht. Sie haben vielmehr nicht selten das Gefühl, dass Streitigkeiten lediglich zum Schein ausgefoch-ten werden und es in Wahrheit nur um Strategien geht, Wählerstimmen zu gewinnen. Trotz der zum Ausdruck gebrachten Distanz zur Politik stoßen wir im Wortschatz der Vertreterinnen einzelner Einstellungsgruppen 88 auf Widerspiegelungen politischer Strategien wie des domestizierten Antikommunismus oder von Parolen wie Zemans „Unser Land sollte uns gehören". Eine gemeinsame Vision der Gesellschaft Allen gesellschaftlichen Gruppen fehlt eine gemeinsame oder überhaupt eine konkrete Vision der tschechischen Gesellschaft. Es wird artikuliert, Gemeinschaft sei nur in Krisen oder bei Sportveranstaltungen möglich und praktizierbar. Insbesondere die konservativere Gruppe führt dann die Geschichte und ihre herausragenden Persönlichkeiten und Ereignisse oder die gemeinsame Sprache als Bindeglied an. Dies markiert einen deutlichen Unterschied zu den Ergebnissen der deutschen Musterstudie, die im Gegenteil ergab, dass die beiden am weitesten voneinander entfernten sozialen Gruppen ganz konkrete Visionen für die deutsche Gesellschaft haben, welche sich jedoch radikal unterscheiden. Demgegenüber ist die tschechische Gesellschaft vor dem Hintergrund der Umfrage eher durch Uneinigkeit über die Vergangenheit beziehungsweise die Gegenwart und gegenseitiges Unverständnis und Meinungsverschiedenheiten über die Ursachen dieser Zwietracht geprägt. Definition tschechischer Einstellungsgruppen im tschechisch-deutschen beziehungsweise europäischen Kontext Die positive Gruppe in der Tschechischen Republik unterscheidet sich in ihren Einstellungen erheblich von der weltoffenen Gruppe in der Musterstudie zur Fragmentierung in Deutschland. Der vorherrschende Liberalismus dieser Einstellungsgruppe in der Tschechischen Republik beruht hauptsächlich auf der Wertschätzung der Errungenschaften des liberalen Rechtsstaats oder der persönlichen, bürgerlichen und unternehmerischen Freiheiten im Kontrast zu den früheren politischen Repressionen, der Zensur und der Planwirtschaft. Darüber hinaus finden in dieser Gruppe in der Tschechischen Republik allgemeine Werte wie Fairness, Verantwortung, Ehrlichkeit oder Anstand Widerhall, die indes in der Realität mit sehr unterschiedlichen konkreten 89 politischen Inhalten gefüllt werden können beziehungsweise von politisch linker oder rechter Seite für jeweils andere Konzepte stehen können. In dieser Gruppe bleiben sie meistens auf dieser abstrakten, unpolitischen Ebene, fallweise werden sie eher neoliberal oder mit einem antikommunistischen Unterton artikuliert. Andererseits wird diese tschechische Meinungsgruppe im Grunde nicht durch Werte, Themen und Ziele definiert, die der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland entsprechen: Liberalismus als Weltoffenheit, Emanzipation, Gleichberechtigung von Minderheiten und Benachteiligten, Berücksichtigung unterschiedlicher Identitäten, was sich in Deutschland üblicherweise mit linken Einstellungen in sozi-oökonomischen Fragen verbindet. Menschen, die für einen solchen kulturellen Liberalismus stehen, sei es mit einem linken oder einem rechten Fokus auf der sozioökonomischen Achse, sind in der Tschechischen Republik eine so marginale Gruppe, dass sie bei der Grundteilung in drei Einstellungslager überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Diese Schlussfolgerung erfordert einen weiteren, genaueren Vergleich. Nichtsdestoweniger ist unübersehbar, dass was sich bereits jetzt abzeichnet und im Vergleich der Entwicklung beider Länder und der größeren Blöcke, zu denen sie gehörten, eine logische Stütze findet, für tschechisch-deutsche und europäische Debatten von hoher Relevanz ist: Diskussionen über gemeinsame Themen wie die Aufnahme von Flüchtlingen, die Gleichstellung von Frauen und Männern oder die Zukunft der EU werden notwendigerweise anders rezipiert und mit anderen Ergebnissen geführt. Andererseits teilen diese Gruppen in beiden Ländern grundsätzlich eine positive Sicht auf ihr Land und seine Ausrichtung. Demgegenüber ist bemerkenswert, dass sich die Einstellungen der Kritischen in beiden Ländern deutlich überschneiden (natürlich mit Ausnahme der Besonderheiten in der Art der Beziehung zur Zeit vor 1989), und zwar auch in der Negativität und Dringlichkeit, mit der sie vorgetragen werden. Es erscheint mithin so, dass ein Teil beider Gesellschaften die aktuelle Situation als Kontrollverlust, Bedrohung und Unsicherheit wahrnehmen, unabhängig davon, ob es sich um einen spezifisch postkommunistischen Kontext handelt oder nicht. Die entsprechende Erfahrung stammt somit nicht notwendigerweise nur aus einem Vergleich mit dem Staatssozialismus, wie die tschechischen Ergebnisse nahelegen würden, sondern besitzt allgemeinere Gültigkeit. Schließlich waren die Gesellschaften auch im westlichen Kontext früher kulturell und sozial stabiler. 90 Empfehlunaen Linke Erklärungen und Lösungen anstelle von Fremdenfeindlichkeit Innerhalb des kritischen Teils der Gesellschaft finden sich zahlreiche legitime soziale Analysen und Kritik, die politisch angemessen aufgegriffen werden sollten, was bislang nicht geschieht. Bei der Identifizierung der tatsächlichen Gründe für diese sozialen Probleme und ihre möglichen Lösungen ist es allerdings vonnöten, anstelle konservativer, nationalistischer oder rassistischer Begründungen linke Erklärungen und Antworten anzubieten. Diese sind bisher in der gesellschaftlichen Debatte unbedeutend oder sie haben Probleme, sich zu behaupten im spezifischen, ins Rechtsliberale verschobenen postkommunistischen Diskurs, der gekennzeichnet ist durch Misstrauen gegenüber der Linken und dem Staat als Träger von Regulierung. Es ist notwendig zu verstehen, dass gerade dies einer der Hauptgründe dafür sein kann, warum die betroffenen sozialen Gruppen in eine problematische politische Richtung driften: für eine andere Artikulierung ihrer Lebenserfahrungen und Positionen fehlen ihnen die Sprache, der analytische Apparat und entsprechend glaubwürdige und durchsetzungsstarke Träger einer solchen Interpretation. Sensibilität für Lebenserfahrungen, die von sozialen Problemen und Unsicherheit geprägt sind Einstellungen in der positiven Gruppe sind in erheblichem Maße dadurch geprägt, dass sie entweder keine sozioökonomischen Probleme haben, diesen kaum Bedeutung beimessen, sie als etwas Natürliches wahrnehmen oder auf Fehler von Einzelnen zurückführen. Entscheidend ist ferner, dass sie Freiheit kaum als Unsicherheit erleben. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass Menschen aus diesem gesellschaftlichen Milieu wichtige Entscheidungspositionen in der Gesellschaft innehaben, wäre es notwendig, in diesen Schichten das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass in anderen Teilen der Gesellschaft in dieser Hinsicht andersartige Erfahrungen und Wahrnehmungen der Wirklichkeit existieren und viele von ihnen selbst als negativ wahrgenommene Positionen dieser Teile der Gesellschaft gerade dadurch bedingt sein können. Dabei könnten relevante Forschungsprojekte wie Durch Freiheit gespalten oder Landkarte der Zwangsvollstreckungen und journalistische Projekte wie 92 Armes Tschechien oder Helden der kapitalistischen Arbeit3 eine Rolle spielen, die Einbeziehung entsprechender Themen in den Schulunterricht und verschiedene gesellschaftspolitische Debatten für das erwachsene Publikum oder ihre Thematisierung durch politische Akteure. Gleichzeitig würde dies bedeuten, der kritischen Meinungsgruppe unter Berücksichtigung ihrer Perspektiven und Lebenserfahrungen Gehör zu schenken, was dazu beitragen kann, ihrer Abwanderung in die Sphäre alternativer Medien und der Fake News vorzubeugen. Fehlendes gegenseitige Verständnis infolge nicht reflektierter Differenzen bei der Interpretation und Bewertung von Themen Die umstrittensten und problematischsten Themen in der Gesellschaft, wie die Haltung gegenüber der Zeit vor und nach 1989 oder die Haltung gegenüber der EU beziehungsweise dem Westen, werden durch ihre verschiedenartige Wahrnehmung und die daraus resultierenden auseinandergehenden Bewertungen geprägt. Während zum Beispiel einige den Westen als Symbol der freiheitlichen Ordnung nach 1989 betrachten, verbinden andere damit die unfaire Behandlung tschechischer Angestellter durch westliche Unternehmen. Solange kein gegenseitiges Verständnis dafür entsteht, dass die Wahrnehmung einzelner Probleme legitimerweise unterschiedlich sein kann, sofern sie einerseits aus der Perspektive abstrakter oder moralischer Werte und andererseits aus der Perspektive einer (angeblich) sich verschlechternden sozialen Situation oder eines Kontrollverlusts betrachtet werden, können beide Seiten nicht übereinkommen. Grundlegendes Instrument eines Wandels ist hier die Stärkung und Entwicklung jener Strukturen, die in einer Gesellschaft gemeinsame und unterschiedliche Gruppen verbindende Erfahrungen schaffen. Beispiele hierfür können die Erneuerung einer möglichst langen 3. Beispiele für wissenschaftliche und journalistische Projekte aus den letzten Jahren, die eine bedeutende Rolle bei der Erfassung und Darstellung der sozioökonomischen Situation benachteiligter Bevölkerungsgruppen gespielt haben: Durch die Freiheit gespalten (Rozděleni svobodou) ist ein Projekt der Tschechischen Rundfunks, dass zum 30jährigen Jubiläum von 1989 die tschechische Gesellschaft in sechs Klassen nach ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital aufteilte. Landkarte der Zwangsvollstreckungen (Mapa exekucí) machte das erste Mal auf das dramatische Ausmaß der Überschuldung in Tschechien aufmerksam (zum Zeitpunkt der Erhebung 2018 war bis zu jede/r zwölfte betroffen). Armes Tschechien (Chudé Česko) ist ein Projekt des Servers Aktuálně, dass die Schicksaale von Menschen in sozial prekären Lebenslagen darstellt. Helden der kapitalistischen Arbeit (Hrdinové kapitalistické práce) ist ein Zyklus von Reportagen der Journalistin Saša Uhlová für den Portal A21arm, für den sie sich under cover in verschiedenen Berufen des Niedriglohnsektors hat einstellen lassen. 93 gemeinsamen Schulbildung sein, die Gewährleistung sozialer Vielfalt der Bevölkerung in Stadtbezirken, und auch die Medien spielen bei der Einbeziehung verschiedener regionaler, sozialer und sozioökonomischer Perspektiven eine Rolle. Notwendigkeit der Bearbeitung der kontroversesten Themen In diesem Sinne erfordern die umstrittensten Themen ausnahmslos eine weitere systematische Bearbeitung sowie sorgfältigere und tiefergehende Zuwendung. Verbreitete einfache Schemata und Abkürzungen („Alle Gegener von Zuwanderung sind fremdenfeindlich", „Menschen, für die das Jahr 1989 nicht eindeutig ein Wandel zum Besseren war, wollen den Autoritarismus zurück", „Menschen, die skeptisch gegenüber der EU sind, wissen Werte wie Frieden und Kooperation nicht zu schätzen" usw.) entsprechen einer vielschichtigeren Realität nicht und führen dazu, dass in der gesellschaftlichen Debatte destruktive Konflikte und Distanz überhandnehmen. Bemühen um konsequente Erklärung gegen Flüchtlinge gerichteter Stimmungen Namentlich bei den Themen Migration/Flüchtlinge besteht großer Bedarf für eine erneute Öffnung dieses gesellschaftlichen Konflikts, der ohne Anzeichen einer einvernehmlichen und produktiven Lösung lediglich unterdrückt, jedoch nicht wirklich ausgetragen wurde. Im Hintergrund aber schwelt, emotionalisiert und radikalisiert er weiter, unabhängig davon, wie aktuell er gegenwärtig tatsächlich ist — auch das ist letzten Endes ein Beweis dafür, dass es sich in hohem Maße um einen Stellvertreterkonflikt handelt, um ein Symbol für eine breitere wahrgenommene Angst, Unsicherheit und Bedrohung. Beispiele für best practice könnten in diesem Fall Debatten über die Situation im Osten Deutschlands sein, die durch ähnliche flüchtlingsfeindliche Reaktionen hervorgerufen wurden. Anstelle einer Unterdrückung des Konfliktes kam es im Nachbarland indes zu einer offenen, schmerzhaften, aber auch produktiven Debatte darüber, wodurch eigentlich der Konflikt wirklich hervorgerufen wurde und wie damit umzugehen sei. Auch bei den Nachbarn stieß man einerseits auf sozioökonomische Gründe, da ein Teil der Ostdeutschen, die schlechter 94 gestellt sind, das Gefühl hat, das Land habe in dieser Situation nicht die Kapazitäten, jemandem von außerhalb zu helfen. Anregende Hypothesen wurden auch im Blick darauf entwickelt, was sonst oberflächlich als Xenophobie gebrandmarkt würde: Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Osten des Landes in den letzten 30 Jahren einen großen Wandel durchlebt hat — die bestehenden Regeln betreffend, die Wertvorstellungen und die Anforderungen an Einstellungen und Mentalität. Gleichzeitig war er von einer enormen Abwanderung von Menschen betroffen, die in eine Entvölkerung und eine demografische Krise mündete. Beides kann — besonders bei Menschen, die in dem neuen System keine Stelle für sich gefunden haben, sondern für die es im Gegenteil eine schwierige Anpassung mit unbefriedigendem Ergebnis bedeutete — zu einem gewissen Grad den Widerwillen gegen die Aufnahme von Menschen aus anderen Kulturkreisen erklären: Die eigene Identität ist erschüttert und zerbrechlich und erträgt die Anpassung an eine abermals neue gesellschaftliche Situation in so schneller Abfolge nicht. Der Umstand, dass der Widerstand auch im Tschechien in jenem gesellschaftlichen Milieu am größten ist, welches mit der Transformation der Gesellschaft nach 1989 unzufrieden ist, deutet darauf hin, dass eine ähnliche Erklärung auch für den tschechischen Kontext tragfähig sein könnte. Daraus resultiert nicht die Notwendigkeit, die daraus hervorgehenden Einstellungen respektive ihre politischen Implikationen (in diesem Fall „keine Flüchtlinge aufnehmen") zu akzeptieren. Aber es bedeutet, den Ursprung dieser politischen Stimmungen konsequent aufzudecken, ihn nach Möglichkeit unmittelbar politisch ins Visier zu nehmen und dann das betreffende politische Problem zumindest zu kommunizieren und im Idealfall auch sachlich so zu behandeln, dass diese Stimmungen nicht weiter angestachelt werden. Dem strikten Konzept des leistungsbasierten Verdienstes den Kampf ansagen Desgleichen besteht die dringende Notwendigkeit, das Thema Roma oder allgemein der sozial Schwachen („nichtanpassungsfähigen"), das die Gesellschaft quer über alle Positionen hinweg beschäftigt, auf die Tagesordnung zu setzen. Hand in Hand damit muss das unmittelbar mit dem Thema verknüpfte Konzept des leistungsbasierten Verdienstes problematisiert werden. Es ist notwendig, es zu überwinden — sowohl in seiner ideologischen, neoliberalen Ausprägung, die vor allem im 95 positiven Milieu kursiert, wie auch in seiner dem Gefühl mangelnder Anerkennung und Wertschätzung eigener Anstrengungen, Arbeit und Verdienste geschuldeten Form, die in den unteren Schichten der Gesellschaft verbreitet ist. Die Antwort auf Zweiteres sind in erster Linie ausreichend hohe Löhne und ein universeller Sozialstaat, der im Gegensatz zum rückständigen derzeitigen tschechischen Staat Unterstützung bis in die obere Mittelschicht der Gesellschaft gewährleistet und damit deren Unterstützung und Großzügigkeit sicherstellt. Der residuale Sozialstaat hingegen erzeugt Neid, Härte und Unbarmherzigkeit, die in direktem Widerspruch zum Ideal einer kohäsiven, unterstützenden Gesellschaft stehen und deren Zeugen wir in Form eines außerordentlich starken Appells für den leistungsbasierten Verdienst sind. Gefühle von Bedrohtheit und Kontrollverlust ernst nehmen und ihre Ursachen angehen Für den kritischen Teil der Gesellschaft ist ein übergreifendes Gefühl der Unsicherheit und des Kontrollverlusts kennzeichnend. Aufgrund seiner stellenweise übertriebenen oder absurden Artikulation („An den Haltestellen stehen jetzt schon Horden von Flüchtlingen herum und verbreiten Angst.") besteht die Tendenz, es als unsinnig abzutun, oder von Positionen aus, die dieselbe Entwicklung eher als positive Freiheit wahrnehmen, als Rückständigkeit abzulehnen, die in einer modernen Welt, die „einfach unsicher ist", aufgegeben werden müsse. Aber dieser Ansatz ist nicht produktiv. Zum einen wird ein solcher Appell nicht nur kaum funktionieren, zum anderen wird er bei den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen den Eindruck schüren, verachtet zu werden, was zu ihrer politischen Radikalisierung führen kann. Außerdem ist es abermals ein Ansatz, der unterschiedliche Lebenserfahrungen und die daraus resultierende Bewertung der Situation ignoriert. Wenn der Kampf mit dieser Wahrnehmung der heutigen Welt, die einer ganzen Reihe als problematisch wahrgenommener Einstellungen entspricht, erfolgreich sein soll, muss er diese im Gegenteil in erster Linie ernst nehmen. Zweitens ist es vonnöten, nach ihren Ursachen zu fragen — im Rahmen dieser Untersuchung sind zahlreiche von ihnen in den Blick getreten: von prekären Wohnverhältnissen, Arbeit und Einkommen über das Gefühl fehlender Repräsentation und mangelnden zwischenmenschlichen Zusammenhalts bis hin zum Eindruck eines Autonomieverlusts 96 unter dem Einfluss ökonomischer und politischer Globalisierung. Nur wenn diese Ursachen angegangen werden, ist es möglich, diese Gefühle zu produktiv zu kanalisieren. Vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus und der Transformation Die unterschiedliche Bewertung des Staatssozialismus und des Regimes nach 1989 ist eine der bestimmenden Konfliktlinien in der heutigen tschechischen Gesellschaft. Dies ist vor allem auch auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in beiden Zeiträumen und die daraus resultierende Gewichtung dessen zurückzuführen, was für ihre positive oder negative Gesamtbewertung entscheidend sei. Die tschechische Debatte ermöglicht jedoch bislang noch keine vielschichtigere Auseinandersetzung mit beiden Phasen, sie ist autoritativ von der Interpretation der positiven Gruppe geprägt. Dies bedeutet jedoch zwangsläufig, dass sich ein Teil der Gesellschaft von einer solchen Interpretation ausgeschlossen oder missverstanden fühlt, etwa wenn seine Wertschätzung sozialer Errungenschaften als Zustimmung zu den Verbrechen des Kommunismus dargestellt wird. Da diese Konfliktlinie eine Reihe anderer sozialer Probleme und Themen betrifft und sich nicht selten in Form von sogenannten kulturellen Stellvertreterkriegen erhitzt, ist es wichtig, sie in der gesellschaftlichen Debatte anzusprechen. Ein Beispiel für best practice kann hier abermals der Osten Deutschlands sein, wo die bereits gut erforschte Perspektive auf das vom Staatssozialismus begangene Unrecht und auf seine Opposition in den letzten Jahren in der Debatte in den Hintergrund getreten ist hinter der Beschreibung des Alltags und der Biografien gewöhnlicher Menschen einschließlich ihrer komplizierten Lebenswege nach 1989. Daraus geht eine komplexe, vielschichtige Dokumentation der jüngsten Vergangenheit hervor, die das Verständnis aktueller gesellschaftlicher Konflikte erleichtert. Intensive Emotionen als Warnsignal Die dringend und emotional artikulierte Unzufriedenheit mit dem Zustand der Gesellschaft in der kritischen Gruppe muss ernst genommen werden. Sie kann ein schwerwiegendes Symptom sein, das ohne Behandlung 97 seiner Ursachen oder gar bei vollständiger Ignoranz, Verhöhnung oder Marginalisierung eine weitere politische Radikalisierung ankündigt, einschließlich — im Grenzfall — politischer Gewalt. Distanz und Misstrauen gegenüber der Politik überwinden Nach Lage der Dinge ist das Verhältnis von allen gesellschaftlichen Schichten zur Politik stark beschädigt oder gestört, es besteht eine tiefe Distanz. Dies kann einerseits dadurch überwunden werden, dass die Politik jene sozialen Probleme wirklich aufgreift, die ein Teil der Gesellschaft mit solchem Nachdruck artikuliert. Gleichzeitig dürfen die Benennung sozialer Probleme und Vorschläge zu ihrer Lösung nicht als „Populismus" oder Wählerkauf abgetan werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, die politische Kommunikation zu verändern in Richtung auf Sachlichkeit und ein erkennbares Interesse an der Findung und guten Begründung politischer Lösungen für bestehende Probleme. Eine Lösung sein kann darüber hinaus die Rehabilitierung politischer Parteien und von Gruppierungen, die Politik wieder zu einem Teil der Gesellschaft machen würden, sowie innovative Formen der demokratischen Teilhabe und schließlich die Förderung der politischen Bildung, die helfen kann, Politik als Mechanismus zur Lösung von Konflikten in der Gesellschaft zu verstehen und zu formen. Unterschiedliche Einstellungen verstehen kultivieren moderieren und vertreten Die für die Bewältigung größerer krisenhafter Situationen grundlegende Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist eine langfristige Aufgabe. Einer der notwendigen Schritte besteht darin, im öffentlichen Dialog das Bewusstsein zu stärken, dass es legitim ist, zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten von verschiedenen Positionen aus Stellung zu nehmen, die unterschiedlichen Werterahmen oder Lebenserfahrungen entsprechen. Ziel gesellschaftlicher Debatten ist es also nicht, berechtigte unterschiedliche Herangehensweisen an gesellschaftliche Probleme zu überwinden, was manche unpolitische und technokratische Zugänge nahelegen — das ist gar nicht möglich. Angebracht ist im Gegenteil, jeden solchen berechtigten Ansatz für sich zu kultivieren, aber zugleich Raum für Diskussionen unter ihnen 98 zu schaffen, welche Verständnis für abweichende Standpunkte herbeiführen können, aber wenn notwendig auch Kompromisse, um ein Ausmaß der Polarisierung der Gesellschaft zu verhindern, das tatsächlich ihrem Zerfall gleichkäme. In repräsentativen Demokratien westlichen Zuschnitts wurde diese Rolle im Wesentlichen von politischen Parteien übernommen, die in entsprechender Weise dem traditionellen politischen Spektrum zugeordnet waren. Dieser Rahmen wird heute jedoch zum einen durch autoritäre Ansätze erschüttert, die statt politischer Entscheidungsfindung wirtschaftliche und berufliche Interessen in den Vordergrund stellen, also eine bestimmte Form des Korporatismus, und zum anderen durch auf die Eigenverantwortung des Einzelnen zielenden neoliberalen Druck, herausgenommen aus den Möglichkeiten kollektiver Repräsentation, und auf unpolitischen bürgerlichen Aktivismus. Dies ist ein Trend, der die politische Arena für Zusammenstöße und Verhandlungen über kollektive Wertvorstellungen und Interessen erschüttert — es gilt, sie zu verteidigen. Eine selbstbewusste und integrative postkommunistische Identität, eine neue gemeinsame Geschichte Wie sich herausgestellt hat, mangelt es der tschechischen Gesellschaft empfindlich an einer gemeinsamen Geschichte und einer Zukunftsvision. Wie oben beschrieben, ist es legitim, dass die Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen von der Gesellschaft je nach ihren spezifischen Werten, Interessen und Lebenssituationen im Detail auseinandergehen. Darüber hinaus existiert in der tschechischen Gesellschaft aus der jüngeren Vergangenheit eine Abneigung gegen große Erzählungen und Utopien, und auch in globalem Maßstab befindet sich die Welt in dieser Hinsicht „am Ende der Geschichte". Dennoch erfordert das Zusammenleben innerhalb der Grenzen eines gemeinsamen Landes doch einen gewissen Zusammenhalt, der dadurch gebildet wird, wie wir uns als Gesellschaft verstehen und wohin wir gemeinsam gehen wollen. Implizit gibt es in der Tschechischen Republik ein zumindest von den gesellschaftlichen Eliten geteiltes Narrativ über den Aufbau von Demokratie, Kapitalismus und die Ausrichtung am Westen, aber die vorliegende Untersuchung hat nicht nur deutlich gemacht, dass dieses Narrativ nicht von der Gesellschaft als Ganzes geteilt wird, sondern — mehr noch — dass ein bedeutender Teil der Gesellschaft es sogar kritisch 99 wahrnimmt und nicht als etwas, woran positiv angeknüpft werden könnte. Es stellt sich mithin die Frage, ob es mehr als drei Jahrzehnte nach 1989 nicht Zeit ist für eine neue, inklusivere gemeinsame Erzählung. Als Inspiration bieten sich die sozial-demokratischen Debatten im Osten Deutschlands an, die darauf abzielen, eine Art selbstbewusste postkommunistische Identität aufzubauen, die sich ihrer Unterschiede zum Westen bewusst ist — ihre spezifischen Erfahrungen eingeschlossen, aus denen sie schöpfen kann. Dazu gehört indes auch ein produktiver Kampf etwa zur Beseitigung anhaltender Ungleichheiten im Vergleich mit dem Westen des eigenen Landes und mit Europa, sowohl materiell als auch symbolisch. Schließlich existiert bereits die nationalistische Ausbeutung der komplizierten postkommunistischen Identität von Seiten mitteleuropäischer Autoritärer, und es ist kein Zufall, dass sie eine solche Unterstützung durch Wähler erhält. Es ist nun geboten, dem wirksam entgegenzutreten — aus den oben beschriebenen Gründen kann aber das alte Narrativ von der Ausrichtung am Westen kein produktiver Kontrapunkt mehr sein. Kommunikation tschechischer Haltungen und Konfliktlinien nach außen Aus auswärtiger Perspektive besteht seit langem ein gewisses Unverständnis für den spezifischen tschechischen Kontext, geschuldet neben dem geringeren Interesse an kleineren Ländern an der Peripherie auch fehlenden Ambitionen zu seiner Erläuterung. Dies verursacht Missverständnisse und Konflikte, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union. Wenn es zu einem besseren Verständnis der tschechischen Gesellschaft, ihrer politischen Einstellungen und Reaktionen auch in der Außenperspektive kommen soll, müssen diese im Sinne der Ergebnisse dieser Umfrage in dieser Richtung besser kommuniziert werden. Hier ist insbesondere die Frage sozialer Probleme und Ungleichheiten relevant, die in einem gesamteuropäischen Kontext existieren und für die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft die EU verantwortlich gemacht wird — und damit die Art und Weise der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung, für die sie steht. Im Dialog mit Europa kann es auch hilfreich sein, zu erklären, dass flüchtlingsfeindliche oder europaskeptische Positionen teilweise durchaus legitime, sozialkritische Grundlagen haben können — und dass es entsprechend nicht unbedingt 100 zielführend ist, darauf mit dem Hinweis auf abstrakte Werte zu reagieren, sondern beispielsweise durch die Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der EU. 101 Beteiligte Organisationen Friedrich-Ebert-Stiftung, e. V.a Vertretung in der Tschechischen Republik Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist nach dem deutschen Sozialdemokraten Friedrich Ebert benannt, dem ersten, Anfang der 1920er Jahre demokratisch gewählten Präsidenten der Weimarer Republik, und ist die älteste sog. politische Stiftung Deutschlands. Diese Institutionen sind vom deutschen Staat beauftragt, die gesellschaftspolitische Debatte aus den einzelnen ideellen Positionen des klassischen politischen Spektrums zu begleiten, und werden zu diesem Zwecke aus öffentlichen Quellen finanziert. Von den ideell verwandten politischen Parteien sind sie damit finanziell sowie inhaltlich unabhängig. In Tschechien entsprechen diesem Modell in etwa die sog. politischen Institute, also beispielsweise die Schwesterorganisation der Friedrich-Ebert-Stiftung Masarykova demokratická akademie. Die Tätigkeit der Friedrich-Ebert-Stiftung wird von den sozialdemokratischen Werten geleitet, also Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie ist als Einrichtung der politischen Bildung und Think-Tank tätig, vermittelt Expertise in unterschiedlichsten Formaten, und stärkt damit die öffentliche Debatte über Themen wie europäische und Außenpolitik, Arbeit und Soziales, Geschlechtergerechtigkeit, Migration, sozial gerechte und nachhaltige Transformation der Wirtschaft und viele mehr. An diesen Aktivitäten arbeitet sie mit anderen Forschungsinstituten und Think-tanks, NGOs und Gewerkschaften aus dem In- wie Ausland zusammen. Das Büro in Prag gehört zu mehr als hundert Vertretungen weltweit, die dieselben Ziele verfolgen. Masarykova demokratická akademie, z. s. Das politische Institut Masarykova demokratická akademie leistet Forschungs-, Publikations-, Bildungs- und Kulturarbeit in den Bereichen Demokratieaufbau, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Menschenrechtsschutz, 102 nachhaltige Entwicklung, Stärkung einer Zivilgesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes, aktive Bürgerbeteiligung, Verbesserung der politischen Kultur und der Qualität öffentlichen Diskussion und Stärkung der internationalen Verständigung und Zusammenarbeit. Masarykova demokratická akademie ist seit 1896 die Bildungseinrichtung der sozialdemokratischen Bewegung, seit 2018 fungiert sie als politisches Institut der ČSSD im Sinne des Gesetzes über die politischen Parteien. Bei ihrer Arbeit lässt sie sich von den programmatischen und ideellen Standpunkten der sozialen Demokratie leiten und sie hat es zum Ziel, zu ihrer Kultivierung beizutragen. Neben der Herausgabe von Büchern und Studien, der Organisation von Kursen, Schulungen, Konferenzen und Debatten betreibt Masarykova demokratická akademie ebenfalls eine öffentliche Bibliothek mit zahlreichen raren Titeln zu den Themen der sozialen Demokratie und der Linken sowohl im In- wie auch im Ausland, aber auch mit zeitgenössischen politikwissenschaftlichen, soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten. STEM Institut für empirische Forschung, z. ú. Die Zielsetzung des Instituts für empirische Forschung STEM ist es, durch Datenerhebung, Beratung und Informierung der Bürgerinnen die demokratische Debatte, Verfassungs- und Rechtsstaat sowie eine internationale Verankerung der Tschechischen Republik zu unterstützen. Seine Tätigkeit wird von der Überzeugung geleitet, dass ein demokratisches Land für seine Entwicklung eine gute Rückkoppellung zu seinen Bürgerinnen, Expert_innen und der Medien braucht. STEM wurde 2015 zu einer Non-Profit-Institution transformiert und schließt damit unmittelbar an 26 Jahre andauernde Meinungserforschung des Vorgängers „Zentrum für empirische Forschung" an. Die Expert_innen von STEM wirkten in der Vergangenheit ebenfalls als Beraterinnen in landesweiten politischen Entscheidungen (bspw. dem Bürgerentscheid über den EU-Beitritt), öffentlichen Kampagnen (Gesetzesänderungen und die Nachverfolgung ihrer Folgen), Aktivitäten der Zivilgesellschaft oder in internationalen Angelegenheiten. Zu den Schlüsselthemen von STEM gehört zurzeit die Lebensqualität in der Tschechischen Republik, ihre Beziehung zur EU, der NATO und der Welt im Allgemeinen, die Vorgänge in der Zivilgesellschaft, die Bewertung der Demokratie, Einstellungen gegenüber demokratischen Institutionen und ihrer Funktionsweise. 103 1. Ausgabe, Prag, September 2021 Es handelt sich um die deutsche Übersetzung der Publikation Jedna společnost — různé světy. Poznatky kvalitativní studie o fragmentarizaci české společnosti (Friedrich-Ebert-Stiftung, e. V., zastoupení v České republice; Masarykova demokratická akademie, Juni 2021). Herausgeber Friedrich-Ebert-Stiftung, e. V., Vertretung in der Tschechischen Republik Zborovská 716/27,150 00 Praha 5 tel -* +420 224 947 076 web -* www.fesprag.cz fb -* www.facebook.com/FESPrag verantwortliche person -* Urban Überschär, Direktor Masarykova demokratická akademie, z. s. Hybernská 1033/7,110 00 Praha 1 tel -* +420 224 223 757 web -* www.masarykovaakademie.cz fb -* www.facebook.com/masarykova.akademie iNSTAGRAM -* mdakademie verantwortliche person -* Vladimír Špidla, Direktor die qualitative studie wurde STEM, Ústav empirických studií, z. ú. durchgeführt von Španělská 1073/10,120 00 Praha 2 tel -* +420 221180 197 web -* www.stem.cz verantwortliche person -* Martin Buchtík, Direktor autorjnnen-team Martin Buchtík, Patrik Eichler, Ondřej Kopečný, Kateřina Smejkalová, Jitka Uhrová Übersetzung ins deutsche Werner Imhof redaktionelle arbeiten und lektorát Jannik Oestmann, Kateřina Smejkalová der deutschen ausgabe Graphik und Satz Von Säten -* vonsaten.net tisk BirdPro, s. r. o. druck 978-80-87748-68-8 (elektronische Version FES) 978-80-87748-69-5 (gedruckte Version FES) 978-80-87348-97-0 (elektronische Version MDA) 978-80-87348-99-4 (gedruckte Version MDA) Kostenlose Exemplare können unter: fes@fesprag.cz bestellt werden. Kommerzielle Nutzung ist nicht gestattet. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Masarykova demokratická akademie führte STEM eine qualitative Untersuchung über die Fragmentarisierung der tschechischen Gesellschaft durch. Interviews mit den Mitgliedern unterschiedlicher Einstellungsgruppen bringen Erkenntnisse darüber, worin sich ihre einzelnen Teile einig sind und worin nicht. Als eine der wichtigsten Konfliktlinien tritt aus den Gesprächen die Bewertung der Entwicklung vor 1989 und danach hervor. Die Analyse der Interviews strebt es jedoch weiterhin an aufzuzeigen, wie die Menschen ihre unterschiedlichen Positionen konkret begründen, beziehungsweise welches Erleben der gegenwärtigen Realität und der nahen Vergangenheit auf diese Einfluss hat. Es tritt dabei unter anderem unterschiedliche Wahrnehmung von Freiheit oder der Dringlichkeit der sozialen Probleme hervor. Die Publikation schließen Empfehlungen beider Think-Tanks ab, was man aus der Untersuchung für die weitere politische, mediale oder bürgerliche Gestaltung des Geschehens in Tschechien ableiten kann. ISBN 978-80-87748-69-5 9788087748695