Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, hat sich
gegen eine Abschaffung der Hauptschule ausgesprochen. Angesichts der der
Probleme an der Berliner Rütli-Schule forderte er den Ausbau der Hauptschulen zu
Ganztagsschulen. Ferner müssten an diesen Schulen bevorzugt Stellen für
Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen eingerichtet werden.
Gerd Breker: Am Telefon begrüße ich nun den
Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus. Guten Tag, Herr
Kraus!
Josef Kraus: Guten Tag, Herr
Breker!
Breker: Ein Einzelfall, was sich an
dieser Rütli-Schule in Neukölln ereignet, oder gibt es Ähnliches auch
anderswo?
Kraus: Natürlich haben wir in
Deutschland die eine oder andere Problemschule. Das ist ganz klar. Wir sollten
aber auch nicht vergessen: Es gibt in Deutschland 42.000 Schulen und einen so
spektakulären Fall hatten wir bislang Gott sei Dank noch nicht und wir hoffen
auch, ihn nicht gleich wieder zu haben. Wenn dieser eine besondere Fall nun eine
Diskussion anstößt und manche in der Politik und in der Gesellschaft
wachrüttelt, dann hat es vielleicht auch sein Gutes gehabt bei aller Dramatik,
die man natürlich bedauert.
Breker: Dennoch,
Herr Kraus, muss man sich ja fragen, wie konnte es überhaupt so weit kommen. Ein
Hilferuf der Lehrer! Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten gelten als Seismographen
der gesellschaftlichen Entwicklung. Werden deren Aussagen, werden deren
Wahrnehmungen ignoriert oder was ist damit?
Kraus:
Das Gefühl habe ich schon ein bisschen. Das soll jetzt nicht nach
Weinerlichkeit oder berufstypischer Lamoryanz klingen, aber wir Lehrer haben
natürlich oft genug in der Öffentlichkeit, in der Politik gesagt Leute, so
geht's nicht weiter. Wir können nicht die Probleme lösen, die die Gesellschaft
in die Schule hineinschiebt. Um es mal deutlich zu machen: Wenn wir
Gewaltzuwächse unter Heranwachsenden in der Gesellschaft insgesamt haben, kommt
das in der Schule an. Wenn wir entstehendes politisch extremes Gedankengut in
der Gesellschaft haben, kommt das in der Schule an. Wenn wir Drogenprobleme
haben, kommt das in der Schule an. Wenn wir Sektenprobleme haben, kommen die in
der Schule an. Wenn wir - das ist immer wieder gesagt worden, auch in
vernünftiger und dezenter Form - Probleme haben mit der Integration von
Migrantenkindern, kommt das natürlich auch in der Schule an. Anders ausgedrückt:
Die Schule ist es natürlich irgendwann mal leid beziehungsweise fühlt sich
überfordert, gesellschaftliche Probleme lösen zu müssen und lösen zu sollen, die
die Gesellschaft nicht gelöst hat.
Breker:
Wo andere versagt haben! Sagen wir es doch ganz deutlich.
Kraus: So kann man es auch deutlich sagen,
ja.
Breker: Herr Kraus, das
gesellschaftliche Engagement in diesem Bereich ist das eine, aber man muss
natürlich auch nach der Schule selber fragen. Liegt es möglicherweise an unserem
Schulsystem, an der Auswahl und möglicherweise dadurch bedingten Konzentrationen
von Randgruppen in bestimmten Schulformen, wo man vielleicht auch Veränderungen
vornehmen müsste?
Kraus: Sie haben diese
Konzentration oder sagen wir es mal noch deutlicher eine Ghettoisierung oder das
Entstehen gewisser Parallelgesellschaften aufgrund einer multiethnischen
Herkunft in allen Nationen der Welt. In manchen Ländern, die völlig andere
Schulsysteme haben, vielleicht sogar noch ein bisschen krasser. In England, in
Frankreich, in den Vereinigten Staaten haben sie noch ein erheblich größeres
Gefälle zwischen behüteten und teueren Privatschulen und Ghettoschulen
andererseits. Am Schulsystem liegt es nicht und ich bitte auch herzlich alle
Beteiligten darum, jetzt nicht alte ideologische Grabenkämpfe wieder
aufzureißen: einheitliches Schulsystem versus differenziertes, gegliedertes
Schulsystem. Das ist eine Problem-Klientel unter Heranwachsenden. Das sind
übrigens nicht nur Migranten, sondern das sind natürlich auch teilweise Kinder
mit deutschen Eltern. Die sind da und wenn ich das Schulsystem umtransformiere,
dann habe ich auf diese Problem-Klientel nur ein anderes Etikett draufgeklebt.
Das Problem ist damit keineswegs gelöst.
Breker:
Also es liegt nicht an dem Umstand, dass es sich hier um eine Hauptschule
handelt?
Kraus: Nein, überhaupt nicht! Ich
habe größten Respekt vor den Hauptschulen. Was die Hauptschulen pädagogisch
leisten müssen mit einer extremen Heterogenität von Schülerschaft, das ist
wirklich bewundernswert. Das kommt in den Realschulen kaum vor. Das kommt in den
Gymnasien überhaupt nicht vor, weil sie dort eine andere Schülerschaft haben.
Man löst die Probleme nicht, indem man die Hauptschule abschafft. Im Grunde
genommen wäre das Aktionismus. Wir müssen uns überlegen: Wie können wir
Hauptschule oder Schule mit einer schwierigen Risiko-Klientel so gestalten, dass
wir dort vorankommen. All das kostet Geld. Das muss man klipp und klar sagen. Da
muss sich die Politik etwas einfallen lassen. Um es mal zu konkretisieren: Ich
würde sagen solche Schulen müssen bevorzugt vor allen anderen Schulen zu
Ganztagsschulen ausgebaut werden. Ich würde sagen solche Schulen müssen
zusätzliche Förderlehrer bekommen, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache bekommen,
müssen bevorzugt Schulpsychologen bekommen, Sozialarbeiter bekommen und
Sozialpädagogen bekommen. Da müssen halt vielleicht auch mal Gymnasien oder
Realschulen ein bisschen zurückstecken. Das sage ich auch als jemand, der selber
Leiter eines Gymnasiums ist.