01.11.2007 Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (Bild: Deutscher Lehrerverband)Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (Bild: Deutscher Lehrerverband) "Das ist keine Restschule" Vorsitzender des Lehrerverbandes lehnt Abschaffung der Hauptschule in Rheinland-Pfalz ab Moderation: Dirk-Oliver Heckmann Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat die geplante Abschaffung der Hauptschule in Rheinland-Pfalz kritisiert. Er halte die Pläne der Landesregierung für einen Fehler und für "Etikettenschwindel", sagte Kraus. Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon ist jetzt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, guten Morgen. Josef Kraus: Guten Morgen, Herr Heckmann! Heckmann: Herr Kraus, Hand aufs Herz, würden Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter an der Hauptschule anmelden? Kraus: Nun, mein Sohn ist 26 Jahre alt, insofern stellt sich die Frage nicht mehr. Er war an einem Gymnasium, aber mein Gott, wenn sich in der Grundschule gezeigt hätte, dass er in Mathematik und Deutsch den Anforderungen des Gymnasiums nicht gewachsen ist, hätte ich mich mit meiner Frau zusammen mit dem Gedanken durchaus angefreundet. Vor allem hätte ich mir dann überlegt, welche Durchstiegsmöglichkeiten gibt es aus der Hauptschule heraus. Und die gibt es ja doch auch zahlreich. Und das hätte mich dann womöglich wieder beruhigt. Heckmann: Aufstiegsmöglichkeiten von der Hauptschule aus. Die Kritiker sagen, eben diese Möglichkeiten sind eben nicht in ausreichender Anzahl vorhanden. Kraus: Da muss man sich die Situation der Hauptschulen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich mal anschauen. Vor allem darf man eines nicht übersehen: Es gibt ja zwei Formen von Durchlässigkeit in unserem Schulsystem. Es gibt die horizontale Durchlässigkeit, das ist also die Möglichkeit zu wechseln zwischen Realschule, Gymnasium, Hauptschule hin und her. Und es gibt die vertikale Durchlässigkeit, die Durchlässigkeit nach oben. Und wir haben in Deutschland etwa 50, 60 Wege zur Studierreife, zur Studierfähigkeit. Und da gibt es viele Wege auch für Hauptschüler, gerade auch über den Bereich der beruflichen Bildung. Es wird immer wieder übersehen, dass Leute mit einem Hauptschulabschluss oder mit einem gehobenen qualifizierten Hauptschulabschluss mit der Möglichkeit dann, mittlere Reife im beruflichen Bildungssystem zu machen und die Hochschulreife im beruflichen Bildungssystem zu erwerben. Das wird leider immer wieder übersehen. Heckmann: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Sie haben es gerade im Beitrag von Christoph Gering gehört, die spricht von einem Stigma, dass eben Hauptschüler stigmatisiert seien, wenn sie eben ihre Schule verlassen, und von einer Schule der Loser, so jedenfalls das Image der Schulausbildung auch in den Betrieben. Kraus: Also ich bedaure sehr, dass Pädagogen dieses Image noch mit befördern. Natürlich ist mir klar und bekannt, dass es in der öffentlichen Meinung und bei Eltern ein Imageproblem hier gibt. Aber da helfen solche Etiketten wie Loser oder Restschule oder Auslaufmodell nicht weiter. Gerade der verächtliche Begriff der Restschule, der stört mich sehr. Wir dürfen nicht übersehen, dass in Westdeutschland, wenn man das an der Schnittstelle siebte Jahrgangsstufe, also bei den etwa 13-, 14-Jährigen misst, 30 Prozent der Schülerschaft eine Hauptschule besuchen. Und das ist keine Restschule. Ich sage mal ein bisschen polemisch, es gibt Parteien, die haben 30 Prozent und weniger und fühlen sich als Volksparteien und würden sich nie gefallen lassen, als Restparteien bezeichnet zu werden. Heckmann: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, dann halten Sie die Abschaffung der Hauptschule in Rheinland-Pfalz für einen Fehler? Kraus: Ich halte das für einen Fehler. Es ist im Grunde genommen nichts anderes als ein Etikettenwechsel. Ich erinnere mich, weil ich lange genug in der Bildungspolitik tätig bin und sie analysiere und beobachte, sehr gut, dass man Anfang der 90er Jahre in Rheinland-Pfalz eine Hauptschule hatte mit einem Schüleranteil von 42 Prozent, der übrigens höher war als in den großen süddeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg. Und ich will nicht ganz einsehen, wie es "gelingen kann", in Anführungsstrichen gelingen kann, innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten eine Hauptschule von 40 Prozent auf 20 Prozent herunterfallen zu lassen beziehungsweise herunterzuwirtschaften. Ich glaube, man hätte was anderes tun müssen. Man hätte die Hauptschule für sich stärken müssen. Da gäbe es eine Reihe von Maßnahmen, die sich angeboten hätten: einen eigenen Abschluss, einen qualifizierten Abschluss mit zentraler Abschlussprüfung, hohe Individualisierung mit speziellen kleinen Fördergruppen, enge Zusammenarbeit mit dem Arbeitsmarkt, enge Zusammenarbeit mit der beruflichen Bildung, starker Praxisbezug, bevorzugter Ausbau der Hauptschule zur Ganztagsschule. Hätte man all diese Maßnahmen ergriffen, die wären natürlich ein bisschen aufwendiger, ein bisschen schwieriger gewesen, dann hätte man sich solche Etikettenmaßnahmen ersparen können. Heckmann: Aber der Trend bundesweit scheint ja in die andere Richtung zu gehen. Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt eine Diskussion. Die FDP dort hat zur Debatte gestellt, ob man nicht auch hier über eine Abschaffung der Hauptschule nachdenken muss. Kraus: Ja, nun gut, ich setze dagegen, dass wir in den letzten Jahren aber auch Landtagswahlen hatten und Wahlergebnisse hatten, die das gegliederte Schulwesen inklusive Hauptschule deutlich gestärkt haben. Ich denke an den Regierungswechsel in Hessen, ich denke an den Regierungswechsel in Niedersachsen, an den Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen, drei große Flächenländer, wo man das mehrgliedrige Schulsystem und damit die Hauptschule gestärkt hat. Aus Nordrhein-Westfalen vernehme ich so etwas nur vom kleineren Koalitionspartner. Schauen Sie auch mal in die süddeutschen Länder - Bayern, mein eigenes Bundesland beispielsweise, stärkt die Hauptschule, hat trotzdem beste Wirtschaftsdaten. Das ist übrigens natürlich auch ein Punkt, der wichtig ist, wenn der Hauptschüler auf dem Markt eine Chance hat. Und die hat er in Bayern in 15 Landkreisen mit einer Arbeitslosigkeit von unter 3 Prozent, von teilweise 1,5 Prozent. Dort, wo er Chancen hat, das verbinde ich letztendlich auch mit einem Appell an die Wirtschaft, dort steht Hauptschule auch gar nicht so schlecht da. Heckmann: Jetzt ist es aber so, dass in Rheinland-Pfalz der Ausstieg aus der Hauptschule beschlossene Sache ist. Was fürchten Sie für Auswirkungen auf die Hauptschule selbst und die Hauptschüler, aber vielleicht auch auf die Realschüler und die Gymnasiasten? Kraus: Ich befürchte zwei, eigentlich drei Auswirkungen. Ich befürchte, dass die Hauptschüler in einer integrierten Haupt-/Realschule teilweise nicht die Individualisierung erfahren, die sie bräuchten. Denn mit der Abschaffung der Hauptschule ist ja der Hauptschüler nicht abgeschafft. Ich befürchte zweitens, dass der vor allem leistungsfähige Realschüler sich möglicherweise ein bisschen bremsen muss. Ich befürchte drittens, dass es zu einer Wanderungsbewegung von klassischen Realschülern in Richtung Gymnasium kommt. Heckmann: Zur Abschaffung und zur Diskussion um die Abschaffung der Hauptschule in Rheinland-Pfalz war das Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Herr Kraus, danke Ihnen. Kraus: Danke auch, Herr Heckmann. Hilfe | Impressum | Kontakt