Definition von Bilinguismus und Bilingualität (aus: Josiane Hamers / Michel Blanc: Bilinguality and Bilingualism, 2.Aufl. Cambridge 2000, S. 6-8) Das Ziel dieses Buches ist es, einen kritischen Überblick über den Forschungsstand auf dem Gebiet der Sprachkontaktforschung zu vermitteln. Unter „Sprachen im Kontakt“ verstehen wir „die Verwendung von zwei oder mehreren Codes bei Kontakten zwischen Einzelnen oder Gruppen, sowie den psychologischen Zustand eines Individuums, das mehr als eine Sprache verwendet“. Wir unterscheiden dabei zwischen Bilinguismus und Bilingualität. Der Begriff „Bilinguismus“ bezieht sich auf die Lage, in der sich eine Sprachgemeinschaft befindet, in der zwei Sprachen in Kontakt stehen und in der demzufolge zwei Codes bei denselben Interaktionen verwendet werden können und eine Anzahl von Individuen zweisprachig ist (gesellschaftlicher Bilinguismus). Diese Begriffsbestimmung schließt allerdings den Begriff Bilingualität (individuelle Zweisprachigkeit) mit ein. Unter Bilingualität versteht man dagegen den psychischen Zustand eines Individuums, das zu mehr als einem sprachlichen Code als Mittel zur sozialen Kommunikation Zugang hat. Dabei ist anzunehmen, dass der Grad dieses Zugangs innerhalb einer Reihe von Dimensionen variiert, die selbst psychologischer, kognitiver, psycholinguistischer, sozialpsychologischer, sozialer, soziologischer, soziokultureller und sprachlicher Natur sind (Hamers 1981). 1.1. Definitionen Auf dem ersten Blick scheint der Begriff Bilinguismus keine größeren Probleme aufzuwerfen. Gemäß der Definition im Webster’s dictionary (1961) ist Bilinguismus „ die Beherrschung oder die Verwendung von zwei Sprachen, insbesondere, wenn sie fließend wie die Muttersprache gesprochen werden“. Bilingual ist „ eine Person, die zwei Sprachen (insb. gewohnheitsmäßig und fließend wie ein Muttersprachler) spricht“. Die Alltagsvorstellung setzt „bilingual seien“ mit der Fähigkeit, zwei Sprachen perfekt zu sprechen, gleich. Das ist auch der Ansatz von Bloomfield (1935, S.56), der Bilinguismus als „die quasi-muttersprachliche Beherrschung zweier Sprachen“ definiert. Im Gegensatz zu dieser Definition, die nur „vollständig Bilinguale“ einschließt, schlägt Macnamara (1967) vor, dass jeder als bilingual zu betrachten sei, der auch nur eine minimale Kompetenz in einer der vier Fertigkeiten (Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben) in einer anderen als seiner Muttersprache besitze. Zwischen diesen beiden Extremen findet man eine Fülle von weiteren Definitionen, wie z.B. die von Titone (1972), für den Bilinguismus die Fähigkeit eines Individuums ist, eine Zweitsprache entsprechend ihrer eigenen begrifflichen und formalen Strukturierung zu sprechen ohne dabei einfach nur die Strukturen der Muttersprache zu paraphrasieren. All diese Definitionen, die von der Forderung nach quasi-muttersprachlicher Kompetenz in zwei Sprachen bis hin zu minimaler Kompetenz in einer Zweitsprache reichen, werfen eine Anzahl von theoretischen und methodologischen Schwierigkeiten auf. Einerseits sind sie zu wenig präzise und schwer operationalisierbar. Es wird weder genauer bestimmt, was mit „quasi-muttersprachlicher Kompetenz“ gemeint ist, die ja schon innerhalb einer einsprachigen Population starken Schwankungen unterworfen ist, noch was unter „entsprechend der eigenen begrifflichen und formalen Strukturierung“ genau zu verstehen ist. Sollte man aus der Bilinguismus-Definition z.B. einen Sprecher ausschließen, der eine außerordentlich große Kompetenz in einer Zweitsprache hat, dabei aber wegen eines fremdsprachigen Akzents nicht unbedingt als Muttersprachler wahrgenommen wird? Oder kann man jemanden, der ein oder zwei Sprachkurse besucht hat, ohne in der Lage zu sein, die Sprache in einer authentischen Kommunikationssituation zu benutzen, oder z.B. auch jemanden, der sechs Jahre Latein gelernt hat, mit Recht als „bilingual“ bezeichnen? Und wie soll man feststellen, ob bei zwei strukturell verschiedenen Sprachen ein Sprecher die Strukturen seiner Muttersprache paraphrasiert, wenn er die andere Sprache spricht? Andererseits beziehen sich all diese Definitionen jeweils nur auf einen Aspekt der Bilingualität, nämlich auf das Niveau, das in beiden Sprachen erreicht wurde, und vernachlässigen außersprachliche Kriterien. Paradis (1986) z.B. reduziert die Bilingualität auf die sprachlichen Strukturen und Sprechfertigkeit, obwohl er gleichzeitig fordert, Bilingualität entlang eines multidimensionalen Kontinuums zu definieren. Selbst wenn Definitionen andere als rein sprachliche Dimensionen berücksichtigen, bleiben sie meistens eindimensional. Mohanty (1994) beschränkt sich bei der Definition von Bilinguismus z.B. auf den sozio-kommunikativen Aspekt, wenn er bilinguale Personen und Gemeinschaften als „mit der Fähigkeit ausgestattet, die kommunikativen Bedürfnisse des Einzelnen und der Gesellschaft auf normale Weise in zwei oder mehreren Sprachen befriedigen zu können, wenn es zu Interaktion mit anderen Sprechern einer oder aller dieser Sprachen kommt“ bestimmt. Neuere Definitionen heben die spezifischen Eigenarten von Bilingualen hervor. Grosjean (1985) z.B. definiert den bilingualen Sprecher als mehr als die Summe zweier Monolingualer, da er als Bilingualer ein besonderes, nicht mit dem eines Monolingualen vergleichbares Sprachverhalten entwickele. So ist auch für Lüdi (1986) Bilingualität mehr als die Summe zweier monolingualer Kompetenzen und eher eine extreme Form von Polylektalität. Baetens Beardsmore (1982) hat eine Reihe von Definitionen und Klassifizierungsversuchen zum Thema Bilinguismus zusammengetragen, von denen die wenigsten mehrdimensional sind. (...) Wir beabsichtigen nun aber nicht, alle bisher vorgeschlagenen Definitionen und Typologien in diesem Buch zu behandeln. Wir werden nur die erwähnen, die operationalisierbar und für empirische Untersuchungen brauchbar sind oder die auf einem theoretischen Unterbau ruhen. (...) 2.1. Verschiedene Dimensionen von Bilingualität und Bilinguismus Wenn man die Termini „Bilinguismus und Bilingualität“ mit Attributen benutzt, konzentriert man sich dadurch automatisch auf einen bestimmten Aspekt des Phänomens und betrachtet es von einem bestimmten Blickwinkel aus. Wir benutzen hier einige der klassifizierenden Attribute, die sich in der Forschung eingebürgert haben, weil wir sie in Bezug auf den jeweils zu beschreibenden Aspekt für relevant halten. Dabei darf man aber nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei Bilinguismus und Bilingualität um ein multidimensionales Phänomen handelt, das auch als solches untersucht werden muss. In der Vergangenheit hat die Neigung, andere als die rein sprachlichen Dimensionen zu vernachlässigen, leider schon zu oft zu unvollständigen oder falschen Ergebnissen bei der Interpretation der mit dem Phänomen „Bilinguismus“ verbundenen Erscheinungen geführt. 2.1.1. Verschiedene Dimensionen von Bilingualität 2.1.2. Verschiedene Dimensionen von gesellschaftlichem Bilinguismus Die soziolinguistische Forschung hat gezeigt, wie sich das Verhalten von Monolingualen in Abhängigkeit von verschiedenen Variablen wie z.B. Rollenbeziehungen, Statusverhältnis von Sprechern und Sprachen, Gesprächsthema oder Gebrauchsdomäne ändern kann (vgl. z.B. Ervin Tripp 1964; Fishman 1965; Labov 1966; Fishman 1972). Es ist anzunehmen, dass diese Variablen auch für Sprachkontaktsituationen relevant sind und dass sie mit der jeweilig spezifischen Ausprägung der Bilingualität in Wechselwirkung stehen. Das Sprachverhalten eines Bilingualen variiert je nach dem, ob er mit einem monolingualen oder einem bilingualen Gesprächspartner in einer unilingualen, bilingualen oder multilingualen sprachlichen Umgebung interagiert. Wenn ein Bilingualer mit den Sprachen Lx und Ly einen einsprachigen Gesprächspartner in einer unilingualen Sprachgemeinschaft mit der Sprache Lx begegnet, ist anzunehmen, dass er sich gemäß der gesellschaftlichen und sprachlichen Normen der Lx-Sprachgemeinschaft verhält. Wenn er aber in einer vergleichbaren Situation einen ähnlich Bilingualen trifft, wie er selbst einer ist (Lx und Ly), steht es den beiden offen, die auf Einsprachigkeit abgestimmten Normen der jeweiligen Sprachgemeinschaft zu beachten oder aber, da die Gesellschaft ja nur die Verhaltensnormen für Lx-Einsprachige bestimmt, sich ihr eigenen Verhaltensnormen zu schaffen. In einer multilingualen Gemeinschaft gibt es dagegen Normen, die das Verhalten von Bilingualen regeln. Damit man von einer bilingualen Gemeinschaft sprechen kann, muss es mindestens zwei Sprachen geben, die zumindest von einigen Mitgliedern dieser Gemeinschaft gleichzeitig benutzt werden. Entweder besteht die Gemeinschaft aus zwei Gruppen, die zwei verschiedene Sprachen als Muttersprachen sprechen, wobei es eine kleine Zahl von bilingualen Sprechern gibt, die beide Sprachen sprechen, oder eine kleine Zahl von Sprechern beider Gruppen spricht eine dritte Sprache, die dann als lingua franca dient. Eine weitere Möglichkeit ist, wie im Falle einer exogenen Sprache, dass einige Mitglieder der Gemeinschaft eine Zweitsprache sprechen, die sonst keine oder nur wenige Sprecher innerhalb der Gemeinschaft als Muttersprache verwenden. Jede dieser verschiedenen Sprachen kann in der Gemeinschaft den Status einer Amtssprache haben. Jede bilinguale Sprachgemeinschaft lässt sich an einem der beiden Pole eines Kontinuums ansiedeln, das von Gemeinschaften aus zwei weitgehend einsprachigen Gruppen mit jeweils einer kleinen Zahl von Bilingualen bis hin zu einheitlichen Gemeinschaften, in denen eine mehr oder weniger große Zahl von Individuen für bestimmte Zwecke eine Zweitsprache benutzt, reicht. Bewegt man sich in der Nähe des einen Pols, benutzen die meisten Sprecher der einen oder anderen Gruppe nur eine einzige Sprache für alle möglichen Zwecke. Nähert man sich dagegen dem anderen, benutzen immer mehr Sprecher beide Sprachen, allerdings für jeweils unterschiedliche Zwecke. Idealtypisch lassen sich folgende Fälle unterscheiden: (1) Territorialer Bilinguismus: Hier bewegt sich jede Gruppe innerhalb ihres eigenen, politisch definierten Territoriums, wobei beide (oder auch mehrere) Sprachen in ihrem jeweiligen Territorium den Status von offiziellen Amtssprachen haben. Der Status der jeweils anderen offiziellen Landessprachen variiert dabei von Land zu Land erheblich. Als Beispiel für Territorialen Bilinguismus lassen sich Belgien, die Schweiz, Spanien, Kanada oder auch Indien anführen. Jedes Land wendet das Prinzip des Territorialen Bilinguismus dabei auf eigene, spezifische Art und Weise an. (2) Ein anderer Fall von bilingualen Gemeinschaften liegt in den vielsprachigen Ländern von Afrika und Asien vor, wo neben den Sprachen der autochthonen ethnischen Gruppen bzw. Völker eine oder mehrere weitere Sprache(n) zur weiträumigeren Verständigung dienen.