Barock Vom Widerstreit polarer Kräfte 1542 Errichtung einer Inquisitionsbehörde in Rom 1564-1616 William Shakespeare 1568 Päpstliche Gründung einer deutschen Kongregation zur Bekämpfung der Reformation 1605/15 Miguel de Cervantes: »Don Quijote« 1608 Protestantische) Union 1609 Katholische Liga 23. Mai 1618 Prager Fenstersturz 8. November 1620 Schlacht am Weißen Berg 6. Mai 1629 Kaiserliches Restitutionsedikt (zur Stärkung der katholischen Seite) 6. Juli 1630 Entlassung Wallen-steins Um 1630 Höhepunkt der Hexenprozesse 16. November 1632 Schlacht bei Lützen (Tod Gustav Adolfs) 25. Februar 1634 Ermordung Wallen-steins 6. September 1634 Schlacht bei Nördlingen 1635 Eintritt des katholischen Frankreich in den Krieg auf protestantischer Seite 24. Oktober 1648 Westfälischer Frieden 1694 Gründung der Universität Halle Zwischen Lebenshunger und Todesangst im Zeitalter des Barock verschärft sich der Dualismus von 'Tradition und Moderne, Weltverneinung und -bejahung. Barrocco, portugiesisch für schief, unregelmäßig, bezeichnet den Widerstreit polarer Kräfte, das Streben nach vollendeter I larmonie und die Kräfte, die solches Streben immer wieder durchkreuzen. führte die katholische Gegenreformation zu gewaltsam ausgetragenen konfessionellen Spannungen, so beschwor der i6iS ausgebrochene Dreißigjährige Krieg eine Welt des Unfriedens und des Mordens. Das schöne Bild, das die Renaissance vom Menschen gezeichnet hatte, drohte im kompromißlos ausgetragenen Kampl der Konfessionen und im brutalen Kriegsgeschehen unterzugehen. Lebenshunger und Todesangst prägten das Bewußtsein des Menschen an der Schwelle zur Neuzeit. In dem Maße, wie die Hinwendung zum Diesseits sich verstärkte, nahmen das Verlangen zu leben, aber auch die Ängste vor dem Sterben zu. Lebenstrieb und Todesangst in einer Welt, die das Diesseits zu entdecken Der Kaiserpavillon der Residenz in Würzburg, ein Beispiel für die repräsentative Fassadenkunst des Barock und für den ausgeprägten Schönheitssinn der Epoche 36 Elegantia Barock begann, formten sich zum schöpferischen Impuls, der Vergänglichkeit des Daseins im Kunstwerk ästhetischen Widerstand entgegenzusetzen. Die prachtvollen Schlösser der Epoche legen dafür ebenso Zeugnis ab wie die aufwendig gestalteten Feste, aber auch die Literatur, die gerade dort, wo sie die Nichtigkeit allen Lebens thematisiert, es mit äußerster sprachlicher Eleganz tut. Elegantia, die Zierlichkeit des Sprechens, seine rhetorische Inszenierung, ein erklärtes Ideal der Zeit, ist Ausdruck des unbedingten Willens, sich im Angesicht des Todes schöpferisch zu behaupten, die Vergänglichkeit des Lebens durch die Ewigkeit der Kunst zu relativieren. Um dieses Ziel aber in der Literatur zu erreichen, war es notwendig, die Bemühungen der Humanisten fortzusetzen, die Muttersprache endgültig literaturfähig zu machen. Erst eine nach den Mustern der alten Sprachen rhetorisch reich instrumentierte Nationalsprache konnte Medium der schöpferischen Entdeckung des Diesseits und des neuzeitlichen Menschen werden. Peter Paul Rubens, Höllensturz der Verdammten, um 1620. Selbst noch im Höllensturz wirken die nackten, üppigen Frauengestalten schön und begehrenswert. Martin Opitz formuliert die Richtlinien einer deutschen Literatur Im Jahr 1624 erschien in deutscher Sprache »Das Buch von der Deutschen Poeterey«. In bündiger form formuliert Martin Opitz darin die Richtlinien einer deutschen Literatursprache. Seine Vorstellungen, den antiken Vorbildern ebenso verpflichtet wie der Eigenart der Muttersprache, erwiesen sich als von bahnbrechender Bedeutung. 37 Barock Das Opitzsche Regelwerk lvi A iv 1 i ÔS I OPITII l((/«i!0tllíe ťjctttl^ príit iiuifiiifi'ifjľa ivítř, míli ■$jti>wxttmt>tt$iitftli§tn ÖiiM Sirica*; SiläiifiMo tMnliihmr. Sil CS«fcdii)lí|X)»»» S!ufl«*35i# (jtlitblfrí m ÄM-fillaiť. p rfz+. '■I HIIMIHHU Vordere Einbandseite des faksimilierten Neudrucks der »Poeterey« im Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1963 Beispiel für den Originaldruck der »Poeterey« von Martin Opitz. Die empfohlene Variation im Ausdruck zeigt besonders deutlich das Bemühen um einen eleganten Stil. Anstelle von Satzzeichen innerhalb eines Satzes setzte man im 17. Jahrhundert noch sogenannte Virgeln (von lat. virgula = Zweig) Entschieden wendet sich Opitz gegen das sogenannte A-la-mode-Unwesen, die Vermischung des .HIH Deutschen mit lateinischen, französischen, italienischen und spanischen Brocken. Gegen das modische Kauderwelsch tritt er ein für die Reinheit der deutschen Sprache, die er überdies auch von den Einfär-bungen des Dialekts zugunsten eines korrekten Hochdeutschs reinigen möchte. Nachdrücklich empfiehlt er die stilistische Ausschmückung durch erlesene Bilder und rhetorische Figuren. 5 ÍH Richtungsweisend waren seine Regeln für die Verssprache. Im Unterschied zum silbenzählenden (quantitierenden) Prinzip des Griechischen und der romanischen Sprachen, ist beim deutschen Vers das akzentuierende Prinzip, die streng alternierende Abfolge von betonten und unbetonten Silben zu beachten. Nach Opitz ist jeder Vers entweder ein Jambus (unbetont, betont: Gedicht) oder ein Trochäus (betont, unbetont: Dichter). Erst der Poetiker und Lyriker August Buchner (i59i-i66r) trat auch für den Daktylus ein (betont, unbetont, unbetont: dichterisch). Neben der Reinheit und Eleganz der Sprache gilt es, den speziellen Anforderungen der einzelnen literarischen Aussageweisen (Gattungen) gerecht zu werden. Während im heroischen Gedicht (Epos) und in der Tragödie nach den gesellschaftlichen Ordnun- 9ictuc luüttcv / nictcIicS ßcmeiiiißlicij c^itfjetn, betet hiiť boib gcbcncítcn werben / nnb oon nnbevn niüvteim jueSnntmeii gcöctftt ijiiib / ftiic erbenclteit / iät spočten nicí)t allein ctlaitoct / Soitbein nincíit uncí) ben getieften / nienn cS mriSěůj gc3ei)icfjet / eine Son-bei-licíjc nitmutigíieit. Sílo iuciin iclj bic iittcíjt obce bic SOinSic cine nvueittröStcrinn / eine fmmmcfiitcn&ci-iun / bic SöeHotm mit einem bvcfyfncljcit luortc Iit*icii,ä=IiIiit=í>ttfStig / nnb So fottnn nenne. 3tcm ben Süotbloinb einen loolHCittreioe» / einen felSScn Stürmet unb mecr nnffragra 38 Die deutschen Dichterfürsten Barock gen der Zeit nur hohe Standespersonen auftreten sollten, ist die Komödie den Vertretern der niedrigeren Stände vorbehalten. Aber Opitz weiß auch, daß alle Regeln noch keinen Poeten machen. »Denn ein Poete kann nicht schrei-hen wenn er will, sondern wenn er kann und ihn die liegung des Geistes ... treibet.« Ziel der Dichtung ist es nach Opitz, die Dinge weniger zu beschreiben, wie sie sind, als wie sie sein könnten oder sollten. Litera-lur sollte immer ein Ausdruck einer als ideal angesehenen Ordnung der Menschen und der Dinge sein. 3D« Iff/ ■Son tet Jpod)tó&«dxti/ Stormy ©atjirnqm /' SBetfytbmniamm i SprôAtn; eíiiníjiKivecIjnfiímiiiiiiiiiWTOelflicljciiiíuätwiruImi' «adjricfjtmia/»«faff«/ m&i tw „,, „ íDItitet bitdíim. W( »film itinifíjlťrtítljcii.S'upf(vii grtťuŕŕi7im& Htttít ÍHfíf) ■SBeíľfaona enŕterii, 3)4tníira iŕ+z. Tod, Liebe und Lust - Die weltliche Lyrik Die barocke Lyrik ist die bleibende literarische Leitung der Epoche. Einmal vermochte sich hier das lyrische Ich im Rahmen geltender Daseinsordnun-ľ.cn bis zu einem gewissen Grade selbst auszuspre-i hen, und zum andern forderte gerade die Lyrik ein I löchstmaß an sprachlich eleganter Gestaltung. Drei I .yriker haben vor allem das lyrische Profil der Epo-i he geprägt und beispielhafte Positionen formuliert. Die sogenannten »Lissaer Sonette« von 1637 und die 1639 erschienenen »Sonn- und Feiertagssonette« von Andreas Gryphius (1616-64) kreisen immer wieder um die Nichtigkeit und Eitelkeit (vanitas) des Lehens, um die Vergeblichkeit aller Anstrengungen, sich im Diesseits einzurichten. Der Tod reißt den Menschen aus dem ungesicherten, angsterfüllten Im Barock bildeten sich nach Vorbildern in Italien und Frankreich Sprachgesellschaften mit dem Ziel der Reinerhaltung und Förderung der Muttersprache. Die wichtigste unter ihnen war die »Fruchtbringende Gesellschaft« mit dem Palmbaum im Wappen. Zu den über 500 Mitgliedern zählten auch Opitz (»der Gekrönte«) und Gryphius (»der Unsterbliche«). 39 Barock Andreas Gryphius, Paul Fleming und ... Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen Verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren, Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan! Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn. Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren Ich, du, und was man hat und was man sieht, hinfahren. Dies Leben kommt mir vor als eine Rennebahn. Laß höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten! Laß mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten! Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir! Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen, Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen, So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu Dir! Andreas Gryphius, "Abend«. Eines der typischen Sonette der Zeit gebaut aus zwei vierzeiligen Strophen (Quartette) und zwei dreizeiligen Strophen (Terzette). Der Vers ist ein sechsfüßiger Jambus (Alexandriner) mit einem jeweils deutlichen Einschnitt in der Zeilenmitte (Zäsur). Im dialektischen Aufbau spiegelt sich der Dualismus von diesseitiger Bindung und jenseitiger Bestimmung. Andreas Gryphius (1616-64) I eben und besiegelt die Ohnmacht der Sterblichen. Beben sehend ist die Tuuer über die schnelle Vergänglichkeit des Lebens, von dem der Abschied trotz dll scinei Widrigkeiten schwerfällt. Das Jenseits erscheint weniger wie im Mittelalter als die Erfüllung ticistci religiöser Sehnsüchte, als eine letzte verzweifelte Hoffnung, dennoch zu überleben. Der Tod löst im Menschen, der im Zeitalter der Renaissance begonnen hatte, das Leben zu lieben, tiefe Depressionen und Vernichtungsängste aus. Auffallend ist aber auch bei Gryphius die reiche bildliche Stilisierung, mit der das scheidende Diesseits wie das erwartete Jenseits sinnfällig vergegenwärtigt werden. Paul Flemings (1609-40) »Teutsche Poemata«, zwei Jahre nach seinem frühen Tod veröffentlicht, sind überragende Zeugnisse barocker Liebesdichtung. Liebe ist nicht in erster Linie erotische Faszination, sondern eine Halt gebende, sittliche Kraft, die innige Vergewisserung der Beständigkeit und der Solidarität der Liebenden. Erst wer die Unwandelbarkeit echter Liebe erfährt, ist gefeit gegen das launische Glück. War bei Gryphius die Liebe zum Leben gebrochen in der 40 ... Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau Barock Tiauer über den endgültigen Abschied, so bekennt sich Fleming unmittelbar zum Leben selbst, indem er in der Begegnung mit der verinnerlichten treuen Liebe die Vergänglichkeit für eine bestimmte Frist vergessen macht. Zur renaissancehaften Lebensaide und Lebenslust bekennt sich Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-79). Seine 1673 erstmals vorgelegten Gedichte, erweitert durch die postume Sammlung von 1695, feiern das Glück erotischer Liebe in freizügiger, galanter Ausdrucksweise, in der Lust erlebt der Mensch die Schönheit und die Fülle des Lebens, das Paradies auf Erden, denn auch die körperliche Liebe ist göttliche Schöp fung. »Die Lieb ist ja ein Werk, so aus dem Himmel kommen, Und so den Erdenkreis mit Lust hat eingenommen, Wer reine Liebe haßt, liebt Gott und Menschen nicht.« Paul Fleming (1609-40) Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-79) Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen? Was ist die Welt und ihre ganze Pracht? Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen, Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht, Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen, Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt, Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen, Ein faules Grab, so Alabaster deckt. Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen Und was das Fleisch für einen Abgott hält. Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen, Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt! Streich ab von dir derselben kurzes Prangen, Halt ihre Lust für eine schwere Last: So wirst du leicht in diesen Port gelangen, Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, »Die Welt«. Noch unter dem Aspekt der Vergänglichkeit betrachtet, erscheint die Welt in reich ausgeschmückten Bildern, in denen das Schöne und das Vergängliche sich spannungsvoll verbinden. 41 Barock Herrschender Gott und inniger Glaube n> / iiiiiieir -.htulihm f aul Ulm, , 0)ľi>u hli - J Titelkupfer der Ausgabe der »Gedichte« von 1697. Leipzig bei Th. Fritsch Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635) Wo die Hinfälligkeit der Schönheit und die Vergänglichkeit der Lust offenbar wei den wächst die Sehnsucht nach dem Paiadies jenseits aller Zeit. Das Paradies I loidiiannswaldaus jedoch ist kein ab-stukLcs Jenseits, sondern ein. sinnlicher Raum wo Ewigkeit und Schönheit sich m nii nuils endender i.ust umfassen. »Wie wunder muß der Schöpfer sein!« -Die geistliche Lyrik l.m 17. Jahrhundert erlebte auch die geistliche Lyrik einen Höhepunkt. Auf katholischer Seite ragt Friedrich Spee (1:591-1635) heraus. Seine »Trutz-Nach-tigal« aus dem Jahr 1:649 enthält eine Reihe bemerkenswerter geistlicher Gedichte, die das Wunderbare des Schöpfers im Wunder der Schöpfung spiegeln. Die Erde erscheint nicht länger als Jammertal, niedergedrückt unter der Last der Sünde, sondern als ein Abglanz des Garten Eden, wo alles in reicher Fülle wächst und gedeiht und Zeugnis gibt von der göttlichen Schöpferkraft. Unübersehbar schlägt sich auch hier die neue Liebe zum Diesseits nieder. Von Spee stammen darüber hinaus weiterhin gesungene Adventslieder, wie das berühmte »O Heiland reiß die Himmel auf«, wo Christus nach dem Geschmack des Barock als kraftvoller Held angesprochen wird. Auf protestantischer Seite ist vor allem Paul Gerhardt (1607-76) zu nennen. Seine bis heute in den Gesangbüchern abgedruckten Lieder zeigen eine mit Spees Gedichten vergleichbare Innigkeit in der Zuwendung zur sichtbaren Schöpfung. In den bekannten Liedern »Nun ruhen alle Wälder« und »Geh aus, mein Herz, und suche Freud« begegnet Gott dem lyrischen Ich in allem, was sich den Sinnen darbietet. Gegenwärtig ist der Schöpfer in lebendiger Wahrnehmung. In Gerhardts berühmtestem Lied »O Haupt 42 Das Jesuitendrama Barock Der Zweig und Nest sind tausend, Und tausend, tausend viel, Mehr tausend,tausend,tausend Der Blättlein und der Stiel; Doch Äderlein beineben Noch mehr man zählen tut: Da nähret sich das Leben Und Seel in grünem Blut. O Mensch ermeß im Herzen dein, Wie wunder muß der Schöpfer sein. Aus Friedrich Spee, "Anleitung zur Erkenntnis und Liebe des Schöpfers aus den Geschöpfen« voll Blut und Wunden« tritt Christus als Freund dem Menschen entgegen, diesem unmittelbar, fast körperlich nah. Im Einflußbereich der Renaissance gewinnt auch die geistliche Lyrik an sinnlicher Ausstrahlung. Leidende Engel und teuflische Versucher -Das barocke Märtyrerdrama Von den Zeitgenossen wurde das Drama des Barock wegen seiner sinnbildlichen Aussagekraft hoch geschätzt. Sah man doch das Leben selbst als ein Welttheater (theatrum mundi), in dem die einzelnen nach festgelegten. Regeln ihre Haupt- und Nebenrollen spielen. Das Finale, das Abtreten von der Bühne, stand sinnbildlich für den Tod. Neu war die Erkenntnis, daß es jedem einzelnen zukam, durch die Erfüllung seiner Rolle am Gelingen des Ganzen mitzuwirken. Insofern gewann der individuelle Beitrag durchaus an Bedeutung. Ablesbar ist die Entwicklung nicht zuletzt .1111 zeitgenössischen Entstehen der Oper, 111 der der Solist aus der Anonymität des 1 iliors heraustritt. I )ie wichtigsten Anstöße für das ba-11H ke Theater gingen vom Jesuitendrama ,111s, das sich mit seinen religiösen Er--iiliungszielen ganz in den Dienst der ' ii-|;enreformation stellte. Beliebt war vor .illi'in das sogenannte Märtyrerdrama, 'l.is unter Verzicht auf tragische Span- Paul Gerhardts Lobgesang aus J. G. Ebelings »Geistreiche Andachten«, Nürnberg 1683. Melodie: »Lasset uns den Herrn preisen« /- ligllilgl CrJoUt i(f) Hifiittti (Hott m'c&f finani/ ířelfti((j tßvmii* jel» in a!- ícaoitíôíti/ BBicjo iiiliiiiiiiě ilnT.m([)ťfi;řii(Mct)ní -ígfihoc&Biditéfllí lnuftt mirfcľiS mir tint iiicijn- J ~" ^ ^ litbtti/ Káč fii» miNá Werfte xe$U ©aá oůsi f8i.&e&c&íun!>ň'Ägf/E>iŕii |ll:|:í:í:i:;~ gf/SDjŕ in ftmímffliíitjí fťťíj íSlíllÉllIli á'Iicsi. íifiíá öimitfl&ftfrMit 3cii/ SÍKMtWta CiMtfcjr, 43 Barock Wider die Schlechtigkeit der Welt Das Cuvilliés-Theater in der Münchner Residenz. Das Theater bildete den Höhepunkt barocker Prachtentfaltung. nung die Standhaftigkeit des unter der Schlechtigkeit der Welt leidenden Glaubenszeugen darstellt. Geschrieben waren die Dramen in sechshebigen Jambenversen (Alexandriner), eine Form., die für das deutsche Barockdrama verpflichtend wurde. Als Vorbild wirkte vor allem das Märtyrerstück »Philemon Martyr« (i6i8) des Jesuiten Jakob ßidermann, in dem ein I leide zum Christentum übertritt und zum Blutzeugen seines Glaubens wird. In der Nachfolge trat vor allem Andreas Gryphius hervor. In seinem Drama »Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus« (1:657) nimmt er Bezug auf die Hinrichtung des englischen Königs Karl 1. am 30. Januar 1649. Unerschütterlich besteht Karl auf dem göttlichen Recht des Königs und ist bereit, den Märtyrertod zu sterben. Die sittliche Kraft des christlichen Helden triumphiert noch im Tod über die Machtgier seiner Feinde. Eingeteilt ist das Drama in »Abhandlungen« (Akte) und »Reyen«, in denen das Geschehen reflektiert und bewertet wird. Mit »Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit«, uraufgeführt 1651 in Köln, schrieb Gryphius sein wirkungsvollstes Märtyrerstück. Den Kern der dramatischen Handlung bildet der letzte Lebenstag der christlichen Königin Catharina, die, bedrängt von den unkeuschen Anträgen des Chach Abas, standhaft bleibt, entsetzliche Foltern erträgt und am Ende den Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen erleidet. Catharina ist der leidende Engel. Im Finale sagt sie dem teuflischen Versucher sein verdientes Schicksal voraus: »Tyrann! der Himmel ists! der dein Verderben sucht... Der Tod streckt schon die Hände nach dem verdammten Kopf.« Der einzelne, der unbeirrt seinem Glauben folgt, bleibt Sieger im Kampf mit dem Vertreter angemaßter Macht. Das Märtyrerdrama ist im letzten der Versuch der sittlichen Selbstbehauptung des Menschen vor der Unmenschlichkeit der Geschichte. 44 Umgang mit der Macht Barock Venus im Zeichen des Mars -Das barocke Geschichtsdrama Rückt der Dramatiker Gryphius den christlich-stoischen Helden ins Zentrum, so akzentuiert der zweite große Vertreter des Barockdramas, Daniel Casper von Lohenstein (1635-83) mehr die geschichtlichen. Kräfte selbst. Sein Interesse gilt vornehmlich den Machtträgern, die mit allen, selbst mit unmoralischen und verbrecherischen Mitteln danach streben, ihre Macht zu erhalten. Das »Agrippina«-Drama (1665) demonstriert die Verderbtheit politischen Handelns. Agrippina, die Mutter Neros, scheut auch nicht vor dem Inzest zurück, um ihren politischen Einfluß auf den Sohn zu wahren, während Nero seine Mutter am Ende ermorden läßt, um die Macht ungeteilt für sich selbst zu erhalten. In »Sophonisbe« (1669) geht die Titelheldin aus rein machtpolitischen Gründen mit dem. im. Augenblick Handlungsmächtigen die Ehe ein, nachdem ihr Mann geflohen ist, und wählt den Tod, als ihre Herrscbaftschancen zu schwinden beginnen. Einen herausgehobenen Platz im Schaffen Lohen-sleins nimmt das Drama »Cleopatra« (1661) ein. Zurückgezogen lebt Cleopatra mit ihrem Mann Marc Anton nach der verlorenen Seeschlacht bei Actiuna (it v. Chr.) in dem vom Sieger Octavian belagerten Daniel Casper von tohenstein (1635-83) L^W Gryphius, »Catharina von Georgien«, Szenenkupfer von Johannes Using 1655 45 Barock Der erste deutsche Roman der Weltliteratur: ... __:».. Alexandria. Doppelzüngig verspricht Octavian demjenigen den Erhalt der Macht, der den Partner opfert. Cleopatra, einen Selbstmord vortäuschend, treibt ihren Mann, der sie leidenschaftlich liebt, in den Tod. Als sie jedoch das intrigante Spiel des Siegers durchschaut und einsehen muß, daß sie ihn nicht für sich gewinnen kann, nimmt sie sich das Leben. Zum Schluß, mit der Giftschlange an der Brust, erkennt sie die Machtgier, der sie selbst erlegen ist, als die größte Widersacherin der Liebe und der Menschlichkeit. Venus unterliegt M'ars, die Macht triumphiert über die Liebe in der korrupten Welt der Politik. Theaterszenen, Handzeichnungen von Lodo-vico Burnaccini. Oben: Schäferpaar in einer Liebesszene, unten: Eifersüchtiger verfolgt Haremsfrau Der Schlange brennend Gift ist kein solch rasend Feuer Als Cäsars Ehrensucht. Man sucht bei Nattern Ruh, Bei Drachen, wenn man nicht bei Menschen Zuflucht hat. Aus Daniel Casper von Lohenstein, »Cleopatra« 46 Moloch Krieg - Grimmeishausens »Simplicissimus« Das 17. Jahrhundert ist vor allem geprägt durch die europäische Geschichtskatastrophe des Dreißigjährigen Kriegs, der jedoch den Anstoß zum ersten deutschen Roman der Weltliteratur gibt. Im Herbst 1668 erschien in fünf Büchern »Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch« von Hans Jakob Christoph von Grimmeishausen (um 1622-76) mit dem erklärten Ziel zu zeigen, »was der Krieg vor ein erschreckliches und grausames Monstrum sei«. Angelegt ist der Roman als fiktive Autobiographie, in die immer wieder Biographisches einfließt. Der Ich-Erzähler steht in der Tradition des Schelms oder Pikaros (Lazarillo de Tormes, 1554; Guzman de Alfarache, 1599), Modellfigur des typischen Antihelden niedriger Herkunft, der sich listig, gerissen und skrupellos durchs Leben schlägt und dabei die ethischen Ideale der höheren Gesellschaft desillusioniert. Die Fülle der anschaulich dargebotenen Figuren, Schauplätze und Episoden läßt ein buntes Bild der dargestellten Welt entstehen. ... Grimmelshausens »Simplicissimus« Barock Mit dem Einbruch schwedischer Truppen in das elterliche Anwesen des Erzählers im Spessart setzt die eigentliche Romanhand-lnng ein. In der betont naiven Sichtweise iTscheinen die Mordbrennereien, das Plündern und Vergewaltigen nur um so ungeheuerlicher. Die erste Begegnung des Heranwachsenden mit Fremden entlarvt den Krieg als brutales Verbrechen und den Menschen als zerstörerische Bestie. Nach einem kurzen Aufenthalt bei einem Einsiedler, der dem Ich-Erzähler christliche Werte zu vermitteln sucht, wird er hineingerissen in den Sog des Kriegs. Als Opfer und Narr stellt er zunächst die Unmenschlichkeit der Menschen bloß, his er sich selbst dem korrupten Treiben überläßt und vor Gott und den Menschen schuldig wird. Zur liikenntnis seiner Schuld gelangt, beschließt der lehli i'/ähler schließlich, als Einsiedler ein gottgefälliges Itiißerdasein zu fristen. Doch weniger der moralisch beispielhafte Weg des Ichs durch die Gefährdungen der Welt hin zu einer sill liehen Existenz haben den Erfolg des Romans begründet als die quasi authentischen Schilderungen des Kriegsinfernos und der heillosen gesellschaftlichen Verhältnisse. Fragwürdig erweisen sich im < I runde alle christlichen Werte angesichts von (lewalt, Grausamkeit und Mord. Der Roman entwirft il.is Bild einer Geschichte, in der der Mensch als Nillliches Wesen versagt und scheitert. Die Literatur, die sich zunehmend dem diesseitigen Treiben ■zuwandte, ließ auch die Schattenseiten des Menši hen, sein luziferisches Erbe grell hervortreten. Weniger ein göttlicher Heilsplan lenkt die Ge-:■> Ilichte als das zerstörerische menschliche Handeln. Illusionslos stellt Grimmeishausen in der linlfesselung kriegerischer Aggression sowohl die 1 luistliche Ethik als auch die Renaissance-Ideale in Fi .ige. Der Aufbruch des Menschen scheitert immer m ihm selbst. Titelkupfer der Erstausgabe von Grimmelshausens »Simplicissimus« 1669 (1668). Das groteske Wesen kündigt die satirische Absicht des Romans an. Titelblatt der Erstausgabe von Grimmelshausens »Simplicissimus« 1669 (1668). Der wirkliche Erscheinungsort ist Nürnberg. Der richtige Name des Verlegers ist J.W. E. Felßecker. Erst 1838 gelang die Enttarnung des als Anagramm (Umstellung der Buchstaben) angelegten Pseudonyms. SBflBtHUrflWuM a 1 3um intm/ gflwnt ÜXiliftfw trtoUi!«fiein/«!iniit/nWnaua«ttf. WWW/uutlMwaKwai Mou frrtbStJgtfvtfirl. Wnt 47 Barock Wider den Hexenwahn > Ciütid ^3^ «« fti 1)1 PRO* 1 >SII U ' CONTRA SAGAS >-*//**' M"'**1 ŕ ' i4D .!-/!( '* l'R/flvs geil Ai«lľ mttttfi w, <" M '.'^ \ľ ' , I, • luN i irr' n Titelseite der Erstausgabe von Friedrich von Spees »Cautio Crimina-lis«, Rinteln 1631 Mordbrennerei eines Dorfes durch plündernde Soldaten nach einem zeitgenössischen Kupferstich Hexen, Henker, Hysterien -Friedrich Spee und der Hexenwahn Hexenprozesse sind seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts nachweisbar. Ausgelöst wurden sie durch die sogenannte »Hexenbulle«, die Papst Innozenz VIII. 1484 erließ und damit den Inquisitoren in der Auseinandersetzung mit angeblich vom Teufel Besessenen und Andersgläubigen alle Mittel bis hin zur Folter in die Hand gab. In Deutschland übte vor allem der 1487 veröffentlichte »Hexenhammer« einen verheerenden Einfluß aus. Die Autoren, die Dominikaner (domini canes: die Hunde des Herrn) Sprenger und Institoris (eigentlich Krämer), geben dort detaillierte Anweisungen zur Führung von Hexenprozessen und berufen sich dabei auf das mosaische Gebot aus der Bibel: »Zauberer sollst du nicht leben lassen.« Unter dem crimen magiae, dem Laster der Zauberei, verstand man den in der Regel körperlich vollzogenen Pakt mit dem Teufel, der den ihm Verfallenen Macht über andere gibt, so daß sie mit seiner Hilfe den. Menschen Schaden zufügen können. Wo immer nun der Verdacht eines solchen angeblichen Teufelsbündnisses bestand, sei es wegen tatsächlicher unaufgeklärter Schadensfälle oder auch nur wegen eines auffälligen nonkonformen Verhaltens, konnte dem Verdächtigten und Denunzierten der Prozeß gemacht werden. Die Hexenverfolgung war der katholischen Kirche , ein willkommenes Mittel, ihre absolute Macht zu demonstrieren, Andersdenkende und Andersgläubige als Ketzer zu diskriminieren und uneingeschränkte Unterwerfung zu erzwingen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Hexenprozesse im Zuge der Gegenreformation um 1590 und 1630 erschütternde Höhepunkte 48 Spees »Cautio Criminalis« Barock erreichten. Zentren des Hexenwahns 111 Deutschland waren vor allem das Rheinland und Westfalen, wo Hunderte wehrloser Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Gegen den grassierenden Hexenwahn richtete der Jesuit Friedrich Spee seine 163t und 1632 anonym erschienene, in lateinischer Sprache geschriebene Schrift »Cautio Criminalis«, rechtliche Bedenken wegen der Flexenprozesse. Spee, Hexenbeichtvater 111 Paderborn, hatte eine große Zahl als Hexen be-:;i huldigter Frauen zum Scheiterhaufen führen müssen, ohne auch nur in einem Fall von. der Schuld de r Verurteilten überzeugt zu sein. Zwingend weist er nach, daß Dummheit, Aberglaube, Neid und Mißgunst die Prozesse antreiben und die Richter, Inquisitoren, Folterknechte und Scharfrichter von den Kopfgeldern profitieren. Spee richtet die Richter, indem er ihnen ein fundamentales Versagen vor dem höchsten christlichen < á'bot, vor dem Gebot der Nächstenliebe, vorwirft. Nur die Liebe vermag das Geschöpf seinem Schöpfer n.iherzubringen. In Wahrheit sind nicht die Opfer, 1.....dem die Täter, die den Mitmenschen mit blut- I ünstigem Haß verfolgen, des Teufels. Spees epochemachendes Werk steht am Anfang einer Entwicklung, die den blinden Autoritätsglauben II herwindet und sich anschickt, menschliche Ge- :;< Ilichte und menschliches Zusammenleben aus dem 1 ',i'ist christlicher Liebe neu zu entwerfen. Grimmels-li.iusens »Simplicissimus« und Spees »Cautio Crimi-n.ilis« zeigen aber auch das häßliche Gesicht des Menschen, seine verheerende Aggressivität, die dem .1 honen Ideal des Renaissance-Menschen tragisch widerspricht. Nicht nur der Zwiespalt von Lebens-hiinger und Todesangst prägte das Zeitalter des ll.irock, sondern darüber hinaus der deprimierende Widerspruch des Ideals mit der Wirklichkeit, der Si hönheit der Kunst mit der Häßlichkeit des Lebens. Hexenverbrennung nach einem zeitgenössischen Holzschnitt Damit es jedoch nicht den Anschein hat, als ob der Prozeß nur auf das Gerücht hin, ohne weitere Indizien, wie man sagt, angestrengt worden wäre, siehe, da ist gleich ein Indiz zur Hand, da man der Gaja aus allem einen Strick dreht. Ihr Lebenswandel war entweder schlecht und sündhaft oder gut und rechtschaffen. War er schlecht, so sagt man, das sei ein starkes Indiz, denn von einer Schlechtigkeit darf man getrost auf die andere schließen. War ihr Lebenswandel indessen gut, so ist auch das kein geringes Indiz: Denn auf diese Weise, sagt man, pflegen die Hexen sich zu verstecken und wollen besonders tugendhaft erscheinen. Aus Friedrich Spee, »Cautio Criminalis« (dt. Übersetzung) 49 Aufklärung Vernunft als Maxime; 1640-88 Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der »Große Kurfürst« 1643-1715 Ludwig XIV. von Frankreich wird zum Modell für /|.6-i7i6), der das Vernunftgemäße wie das Indivi-iliicIl-Persönliche hervorgehoben und den Glauben an die »prästabilierte Harmonie« die feststehende Ordnung der Dinge vertreten hatte. In seiner berühmten ••Theodizee« (1710) geht er davon aus, daß Gott die Im'siehende Welt als die beste aller möglichen Welten i;c::( haffen habe und alle Klagen über ihre Mängel nur in der menschlichen Kurzsichtigkeit begründet seien. Aufklärung, so definierte der Königsberger Philo-.'.o|ili Immanuel Kant (1724-1804) 1784 im Rückblick .ml die Epoche, sei der »Ausgang des Menschen aus -.einer selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Nur der M'-nsch, der sich aus den Fesseln von Dogma und kol-li -I-1 iver Autorität löst und seiner eigenen Vernunft vc -i 1 raut, ist ein mündiger Bürger und nützliches Mitglied seiner Gemeinschaft. Zugleich aber weist Kant im h der bloß rationalistischen Erkenntnis ihre Gren-iii, indem er die sensualistische Erfahrung hervor- Von besonderer Bedeutung war die Gründung von Porzellanmanufakturen durch die Landesherren. Meißen, Nymphenburg und Frankenthal erlangten bald europäische Geltung. Die Abbildung zeigt eine Schäfergruppe um 1760 aus der vom Kurfürsten von der Pfalz gegründeten Frankenthaler Porzellanmanufaktur. Titelseite der Erstausgabe der »Theodizee« von Gottfried Wilhelm Leibniz (1710): Dabei handelt es sich um den Versuch, die von Gott geschaffene Welt als »die beste aller möglichen Welten« darzulegen. £ S S AIS THEODICÉE v$ U li. L A BONTÉ d,. DIEU, 1 L A ' LIBERTáneĽHOMME cVOmCINfc co MAt. 1 2Mb »« A AMSTEH.BAM, MÍKřCX 22 ;:$ifkläŕMP^ Immanuel Kant, Gemälde aus dem Jahr 1791 hebt, denn allein die Sinne geben Kunde von der rea-en Außenwelt. Entscheidend bleibt, daß dem Menschen zugetraut wird, seine Welt und sich selbst zu erkennen und zu erfahren und nach Maßgabe seiner Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung zweckvoll zu handeln. Titelseite der vierten Auflage von Gottscheds »Critischer Dichtkunst« (1751) tníiCttiiíľŕiiiĽciiniitftľCľl'tfítiiSítricľcHiliiíret. einer (Sinlfftimg if! §iml(f!iiiiitauÄgntcIfc (ciirii'iift Im ». I&üle, Johann Christoph Gottsched -Die Literatur wird vernünftig Anknüpfend an die klassizistische Regel-und Normen poetik Frankreichs (Boileau), entwirft Johann Christoph Gottsched (.1.700-66), Professor in Leipzig, in seinem »Versuch einer Gotischen Dichtkunst vor die Teutschen« (1730) das Programm einer vernünftigen Literatur. Wichtig sind ihm die Klarhei t des S tils, Geschmack und Witz und der moralische Nutzen zur Förderung des Bürgertums. Während er die Barockliteratur als Unnatur und Schwulst abtut, geht es ihm um die Nachahmung der in seiner Sicht nach klassischen Regeln geordneten Natur. In diesem Sinn fordert er im Drama die strikte Einhaltung der drei Einheiten von Handlung (Durchführung eines Grundmotivs), Ort (gleichbleibender Schauplatz) und Zeit (Ablauf innerhalb von 24 Stunden). Im wesentlichen folgt er dabei dem klassizistischen französischen Drama (Racine, Corneille). Seiner Ablehnung des Wunderbaren, Irrationalen und scheinbar Regellosen fielen auch die Dramen Shakespeares, die Oper und der Hanswurst auf der Schauspielbühne zum Opfer. Die sprachlich künstlerische Einkleidung ist gleichsam nur der Zuckerguß, der die oft bittere moralische Pille genießbar macht. Gottscheds Regeln haben den Charakter von Gebrauchsanweisungen, beispielsweise bei der Gestaltung der Tragödie: »Der Poet wählt sich einen moralischen Lehrsatz ... Dazu nimmt er sich eine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellt. Hiernach suche er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet.« Gottscheds dogmatische Positionen blieben nicht unwidersprochen. Insbesondere die Schweizer Johann Fabel und Satire Aufklärung Jakob Bodmer (»Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie«, 1740) und Johann Jakob Brei-linger (»Kritische Dichtkunst«, 1740) reklamierten den Anspruch poetischer Phantasie und forderten eine Verknüpfung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen. Der Triumph der Didaktik: Fabel und Satire Dominant ist im Zeitalter der Aufklärung, zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, die belehrende, didaktische Literatur zur Förderung einer vernunftgeleiteten bürgerlichen. Lebenspraxis. Die Fabel, im engeren Sinne die Äsopische Fabel (Äsop: Held r irres frühgriechischen Volksbuchs), veranschaulicht einen moralischen Satz, eine praktische Lebensweisheit durch die Einkleidung in. eine Handlung, in der Tiere die eigentlichen Akteure sind. Die festliegende Typisie-111 ng der einzelnen Tiere (der maje-:;l;itische Löwe, der listige Fuchs, der kluge Rabe u. a. m.) dient der unmißverständlichen Erkenntnis der Lehre. Die uneigentliche Darstellung der nützlichen Wahrheit kann aber auch außerhalb der Ticrfabel gleichnishaft Gestalt gewinnen, indem sie :;i( h anderer Requisiten und Einkleidungen bedient. Stellt die Fabel die moralische Norm positiv dar, so lull sie in der Satire in ihrer Verkehrung entgegen. In ■inner 1734 veröffentlichten Satire »Die Vortrefflichkeit und Notwendigkeit der elenden Scribenten« ironisiert 1 'In istian Ludwig Liscow (r7oi-6o) in äußerst scharfer und polemischer Form die ewiggestrigen, der unaufge-I I.u len Tradition weiterhin anhängenden Autoren, die il: Zerrbilder der Vernunft dem Gelächter preisgege-l"'ii werden. I >it populärste Satiriker im 18. Jahrhundert ist der u'i'i 1 iger intellektuelle Gottlieb Wilhelm Rabener (1714- '/>/n/uw/ l/n/* ■?1 h / / , ' 1 ' / / J,/ / / // /, Kupferstich von Daniel Nikolaus Chodowiecki zu Gellerts »Fabeln« (1776) Bedeutende Fabeldichter Im 18. Jh.: Christian Fürchtegott Geliert (1715-69) Friedrich Hagedorn (1708-54) Johann Wilhelm Gleim (1719-1803) Magnus Gottfried Lichtwer (1719-83) 53 42 ^'i^feläiiŕuh'^ ■ ;■ .V^iö.öhehsch.HftSrii-. .^i é'. :''t;ěs'i5feíis::h:iJfe:: Christi m Luclwif I iscow (1.701 60), Kupferstich (.1.789), gcfürchteter Verfasser von Prosa-Satiren, die auch vor persönlichen Verletzungen nicht zurückscheuten Titelseite von Bodmers und Breitingers populären »Moralischen Wochenschrift«, in der die Mitarbeiter ihre Beiträge über nützliche Lebensweisheiten mit den Namen bekannter Maler unterzeichneten. Auf dem Titelkupfer umrahmen zwei Satyrn eine Gesprächsszene. tiMtfe 6« 88a&lcrm »tiit't« Sjofipfi imbiniKC 11721. 71). Die »Totenliste von Nikolaus Klimen« (1743) ist eine komisch-lächerliche Revue negativer Charaktertypen ms dem bürgerlichen Stand. Neben dem unter-wui (ig schmeichelnden Gelegenheitspoeten und dem pi ixisicinon Gelehrten stehen der schlafmützige Stadt-i U de 1 quacksalbernde Arzt, der habgierige Kauf-m 11111 der betrügerische Advokat, der ebenso tyrannise Ik wk dumme Schulmeister und, last but not least, die c 1111 verschwendungssüchtige Frau. Die moralischen Wochenschriften - Der Bürger auf der Suche nach sich selbst Nach englischem Vorbild (»The Tatier« 1709—1 r; »The Guardian« 1:71:3) erschienen schon bald auch in Deutschland die sogenannten »Moralischen Wochenschriften«. Die populärsten unter ihnen waren Matthe-sons »Vcrnünftlcr« (17131"-) in Hamburg, Bodmers und Breitingers »Discourse der Mahlern« (1:721-23) sowie Gottscheds »Die vernünftigen Tadlerinnen« (1725-27). Die Wochenschriften verstanden sich als praktische Orienlicrungshilfc im Alltag, indem sie den Bürger zur vernünftigen. Lebensgestaltung anleiteten und ihm Ideale bürgerlichen Wohlverhaltens vermittelten. Im einzelnen wurden sowohl Fragen des neu aufgekommenen Tabakrauchens und des Kartenspiels wie der Erziehung, des Aberglaubens, der Ehe und der Kunst behandelt. Um wahrhaft glücklich zu werden, galt es, mäßig und verantwortungsbewußt zu leben, ldar zu denken und alles Spekulative abzuwehren, Gemeinsinn zu entwickeln und sich für das Nützliche einzusetzen. Kleine Erzählungen, Briefe, Essays, Satiren und Dialoge boten eine Vielfalt an Abwechslung und Ideideten die Lehren unterhaltsam ein. Der durchgehend optimistische Grundton sollte den Bürger vergewissern, in der besten aller möglichen Welten zu leben, sofern er bereit war, das Bestmögliche aus sich selbst zu machen. 54 $&i&i$$g|^ Rokoko - Das Leben ein Spiel Wie die bürgerliche Aufklärung bejahte das mehr feudal-großbürgerliche Rokoko (frz. rocaille -Muschel, architektonisches Schmuckelement) die konsequente Hinwendung zum Diesseits, setzte aber an die Stelle des Nützlichen die Freude und den. Genuß, an die Stelle der Lehre das Schöne um seiner selbst willen und an die Stelle des sittlichen Ernsts das Spiel. Das Rokoko war die andere, die heitere Seite eines 'Zeitalters, das sich der Pflicht und Moral verschrieben hatte, dem Glück, das nicht aus der Leichtigkeit des Lebens, sondern aus der Anstrengung der Arbeit erwächst. In der Architektur, in der bildenden Kunst und in der Literatur des Rokoko herrschen das Graziöse und I lekorative, das Heitere und Verspielte, das Galante und mitunter Frivole. Die idyllische Natur, wie ein l'ark stilisiert, ist bevölkert mit Schäferinnen und Schäfern, mit Nymphen und Faunen, unter die sich gelegentlich Bacchus und Amor selbst mischen. Alles dreht sich um Freude und Vergnügen, um Wein und Liebe. Das Leben scheint ein Fest ohne Ende, dem li.ilbverhüllte Reize, anmutiges Werben und kokett angedeutetes Erfüllen die pikante Note verleihen. Ausdrucksformen sind vor allem leicht tändelnde Verse, eine poésie fugitive, flüchtig hingetupfte lyri-M he Augenblickskunst. Friedrich I l.igedorn, einer der führenden Verl reter der Rokoko-Poesie, emp-hehlt seine Lieder zum Zeitver-ln'ib: »Denitztan Liedern reichen ,'i'ilen / Empfehl ich diese Kleinigkeiten: / Sie werden nicht un-■.leiblich sein.« Neben Hagedorn ■ a 11 d es vor allem Heinrich Wil-hi Im Gerstenberg (»Tändeleyen«, Jean-Antoine Watteau, Gesellschaft im Freien, um 1718/19. Die idyllische Parkszene, die blühenden Farben, die heitere Atmosphäre und die schwerelos wirkenden Figuren veranschaulichen die beschwingte Leichtigkeit des Rokoko. Spiegelsaal der Nym-phenburger Amalien-bürg, erbaut 1734-39 nach Plänen von Fran-Qois de Cuvilliés. Die Amalienburg gilt als ein Höhepunkt des höfischen Rokoko. 55 Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing Der Kuß Ich war bey Chloen ganz allein, Und küssen wollt' ich sie: Jedoch sie sprach, sie würde schreyn, Es sey vergebne Müh. Ich wagt' es doch, und küßte sie, Trotz ihrer Gegenwehr. Und schrie sie nicht? Ja wohl, sie schrie; - Doch lange hinter her. Christian Felix Weiße Gotthold Ephraim Lessing (1729-81), Gemälde von Anton Graft, um 1770 1759), Johann Wilhelm Gleim (»Versuch in scherzhaften Liedern«, 1753/58), Johann Peter Uz (»Lyrische Gedichte«, 1749) und Christian Felix Weiße (»Scherzhafte Lieder«, 1759), die die Poesie des Rokoko ins Leben rufen. Lessing - Die Vereinigung von Kopf und Herz Gotthold Ephraim Lessing (1729-81) vollendet die bürgerliche Aufklärung, indem er deren einseitige Orientierung am Rationalismus überwindet. Sinnliche Wahrnehmung und innere Erfahrung bilden die Grundlagen aller Erkenntnis und der wahren Humanität. Formale Regel ha ftigkeit, dogmatische Orthodoxie und das Beharren aul der alleinigen logisch rationalen Ordnung der Dinge werden dem Menschen nicht gerecht. Als Religionsphilosoph wendet sich Lessing gegen den kirchlichen Dogmatismus, indem er sich in seinem »Anti-Goeze« (1778/79) mit dem orthodoxen Hamburger Hauptpastor Goeze auseinandersetzt. In der moralphilosophischen Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« (1777) vertritt er den Glauben an die Verinnerlichung tugendhaften Handelns, das der Vorschriften und Sanktionen letztlich nicht mehr bedürfe. Zukunftsweisend sind Lessings kunst- und literaturtheoretische Arbeiten. Auf Grund der unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Darbietung des Stoffs und der dadurch bedingten unterschiedlichen Aufnahmeweisen begreift er im Widerspruch zum klassischen Glaubenssatz »ut pictura poesis« (»wie die Bilder, so die Poesie«) die bildende Kunst als ein Nebeneinander im Raum und die Literatur als ein Nacheinander in der Zeit (»Laokoon«, 1766). Ausdrücklich setzt er sich in seinem 17. Literaturbrief für Shakespeare ein, der in seinen Dramen den wirklichen menschlichen Verhältnissen näherstehe als die Vertreter des klassizistischen französischen Dramas. Deutliche Kritik übt er an den Positionen Gottscheds, dessen formale Bindung an die drei Einheiten er als allzu äußerlich 56 Neue Dramaturgie Aufklärung zurückweist. Bahnbrechend war vor allem Lessings »Hamburgische Dramaturgie« (1767/69). Die dramatische Katharsis, die Reinigung von zerstörerischen Leidenschaften, geschieht durch die furcht, die der Zuschauer für den Helden empfindet und durch die Furcht des auf den Zuschauer bezogenen Mitleids. In diesem Sinn verwirft l.essing das barocke Märtyrerdrama, da weder das absolut Gute noch das absolut Schlechte dazu angetan sind, Mitleid zu erregen. Als Dramatiker schafft Lessing das erste moderne deutsche Lustspiel. Die Charakterkomödie »Minna von Barnhelm« (1767) überwindet (lie klassizistische 'Typisierung, indem sie den I lauptfiguren Entwicklungsfähigkeit zuspricht Das nach einer persönlichen Frustration starre Ehrverhal-leu des Majors von Teilheim wird durch die uner-:u hütterliche Liebe und die Einfühlsamkeit Minnas .1111 Ende aufgelöst. Glück stellt sich dort ein, wo das, was sich im Kopf als fixe Idee festgesetzt hat, durch die Weite und das Verständnis des Herzens korrigiert wird. Mit »Emilia Galotti« (1772) begründet Lessing das bürgerliche Trauerspiel. Tragik entfaltet sich in der Welt des Bürgers, der sich auflehnt gegen die Unter-111 ückung durch den Adel. Moralisch bloßgestellt wird der Vertreter des absolutistischen Regimes, der das lliügermädchen zu seiner Mätresse zu machen verein dir. und dadurch den Vater des Mädchens heraus-li 11 dert, die eigene Tochter zu töten. Moralisch triumph iert der Bürger über die Amoralität des Adels. •Nathan der Weise« (1779) ist das erste bedeutende üeispiel für das Ideendrama. Berühmt geworden i:.l die Ringparabel, mit der Nathan den Sultan im I deichnis davon überzeugt, daß weniger die Zugehö- II ľ, k e i t zu einer der positiven Religionen entscheidend ni als die Gesinnung und das praktische Tun ihrer lli keiiner. Wahre Humanität gründet sich auf sitt- In lies Empfinden und Handeln und auf die prakti--'n 1 le Toleranz dem Andersgläubigen gegenüber. Augusteer-Halle in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, die Lessing seit 1770 leitete Szenenbild aus Lessings »Nathan der Weise. , letzter Auftritt ■ « weit* 1 *if-■ $* h f 1 'K *• Mt 57 :r;|tüf kl äílif ÍI-:hiÍ; ■■■: ■ Ž^liiS^^^H: ■Síttl icl^'^.íť;1 ü;rtd:: '^i^ n I ie'ftKéit'': Christoph Martin Wie-land im Kreise seiner Familie, Ölgemälde von Melchior Kraus, 1775 Christoph Martin Wieland, »Die Abderiten«, Stich von H. Lips (1796). Der Prozeß um des Esels Schatten, Höhepunkt des Romans, findet sein Ende, als die Abderiten über den Esel herfallen und ihn in kleine Stücke zerreißen. Sittlichkeit und Sinnlichkeit - Die Romane Christoph Martin Wielands Wahrend der Roman in der englischen Literatur des :i:8. Jahrhunderts zur fühlenden Gattung avancierte (Defoe, fielding, Sterne), kam er in der deutschen Aufklärung nur selten über ein Mittelmaß hinaus. Johann Gottfried Schnabels »Insel Felsenburg« (1731-43) blieb ebenso weit hinter dem Vorbild von Derbes »Robinson Crusoe« zurück wie Wielands »Don Sylvio« (1764) hinter dem bewunderten »Don Quijote« von Miguel de Cervantes. Erst mit der »Geschichte des Agathon« (1:766/67) gelang Wieland (.1:733-1:813) ein zukunftsweisendes Romanmodell. Der hochbegabte Jüngling Agathon lernt durch den Rat weiser Freunde und durch eigene Erfahrung, daß das höchste Ziel menschlicher Vollkommenheit allein durch die Überwindung von Maßlosigkeit und Egoismus und die Zügelung der Leidenschaften zu erreichen ist. In Harmonie mit sich selbst wendet er sich am Ende mit all seinen Kräften der Förderung des Gemeinwohls zu. Letztlich ungelöst aber bleibt, veranschaulicht in Aga-thons Beziehung zu der ebenso liebenswerten wie geistreichen Hetäre (außereheliche Geliebte) Danae, der Konflikt von Sittlichkeit und Sinnlichkeit. Wielands »Agathon« leitet die Tradition des deutschen Bildungsromans ein. Im Roman »Die Abderiten« (1774) mißlingen alle Versuche, die Bürger Abderas , (das antike Schiida) zu vernünftiger Sittlichkeit zu führen. Schwärmerei, Engstir-'i nigkeit, das Verharren im Banalen, Aber-í kiw/ m^ glaube und fehlende Selbstkritik verhin-* ■' ■ * j^- dern jede Form sittlicher Vervollkomm-ItS nung- Mit den »Abderiten« und dem f! Á »Triumph ungeläuterter Sinnlichkeit« "" schrieb Wieland einen satirischen Gegenentwurf zum Bildungsroman. 58 'Äjih$išn<^ Lichtenberg - Der Selbstdenker als mündiger Bürger Der Professor für Naturwissenschaften in Göttingen und geistreiche Autor Georg Christoph Lichtenberg (1742-99) vertritt beispielhaft die Tendenzen der Spätaufklärung, Literatur verstärkt auf Erfahrung zu ľ.ľiinden und sich in kritischem Selbstdenken zu iiben. Spöttisch wendet er sich gegen jegliche Art von Beschränktheit und dogmatischer Verengung. Ms scharfer, unbestechlicher Beobachter fängt er die Ibrheiten und Unzulänglichkeiten in knappen, poin-I irrten Formulierungen ein und sammelt sie in seinen sogenannten »Sudelbüchern«. Oft sind die Ein-l.ille und Reflexionen in wenigen Sätzen zusammengedrängt und enthüllen als eine Art Pfennigswahr-lu'it den miserablen Zustand der Menschen und der Welt mit wenigen Worten. Lichtenberg ist der Mei-■,liT des Aphorismus, des knappen, schlagkräftigen, .11 iKerst prägnanten Worts. Genau beobachtet er sich selbst: »Ich vergesse das Meiste, was ich gelesen habe: nichts desto weniger .ilier trägt es zur Erhaltung meines Geistes bei.« lieigeistig und unspekulativ setzt er sich mit dem Keligiösen auseinander: »Gott schuf den Menschen 11.ich seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch ■,i buf Gott nach dem seinigen.« Den Menschen selbst lehl er illusionslos. »Ist es nicht sonderbar, daß die Helierrscher des menschlichen Geschlechts den Leh-iei 11 desselben so sehr an Rang überlegen sind? I heraus sieht man, was für ein sklavisches Tier der Mensch ist.« Immer wieder kreisen seine Gedanken um den rechten Umgang mit Büchern: »Man muß 111 r -111 anden für zu groß halten und mit Überzeugung ľJ.iiihen, daß alle Werke für die Ewigkeit die Frucht ilivi Fleißes und einer angestrengten Aufmerksamkeit gewesen sind.« Skeptisch beurteilt Lichtenberg h liließlich das bloße Gerede über die Aufklärung. M .111 spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr I 11 hl. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die I e 111 e entweder keine Augen haben oder die, welche iie haben, vorsätzlich schließen!« Es ist nun einmal nicht anders: die meisten Menschen leben mehr nach der Mode als nach der Vernunft. Georg Christoph Lichtenberg Horst Janssen, Georg Christoph Lichtenberg, Doppelportrait mit Horst Janssen, 1988 Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht denken dürfen. G. C. Lichtenberg Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß. G. C. Lichtenberg Laß dich deine Lektüre nicht beherrschen, sondern herrsche über sie. G. C. Lichtenberg 59 Empfindsamkeit Gegengewicht zur Vernunft 1680-1747 Barthold Hinrich Brockes: »Irdisches Vergnügen in Gott« 1764 Preußisch-russisches Bündnis 1765-90 Joseph II. 1772 Erste Teilung Polens 1779 Friedenskongreß von Teschen 1779-80 Bayerischer Erbfolgekrieg 1784 Toleranzpatent; Aufhebung der teibeigen-schaft 1785 Deutscher Fürstenbund Daniel Chodowiecki, Empfindung, zwei Kupferstiche. Deutlich hebt sich die wahre Empfindsamkeit von der exaltierten Empfindelei ab. Die Entdeckung des Herzens Um die Mitte des aufgeklärten Jahrhunderts begann das Gefühl gegen die allzu einseitige Herrschaft der Vernunft aufzubegehren. Das Herz meldete unmißverständlich seinen Anspruch an, wo bereits alles dem Kopf unterworfen schien. Vorbereiter war die Bewegung im Pietismus, der bereits am linde des 17. Jahrhunderts einsetzende Versuch, die subjektive l.iebesgemeinschait der Christen an die Stelle der objektiven kirchlichen Formen zu setzen. Insbesondere an der Universität Halle trat der evangelische Theologe August I [ermann Francké (1663-1727) für das seelische Erleben des Glaubens ein und leitete so eine Vcrinnerlichung und Vertiefung des Denkens ein. Die Zuwendung zum eigenen Innern verfeinerte die Selbstreflexion und kultivierte den Sinn für die zartesten Nuancen der Stimmungen und Empfindungen. Auf diesem. Boden entfaltete sich die literarische Empfindsamkeit als säkularisierte Form des Pietismus. Ausdrucksformen wie das Tagebuch und der Brief gewannen an Bedeutung, die lyrische Dichtung und das Idyll, erreichten einen Höhepunkt. Der Epochenname selbst geht auf Lessing zurück, der für die Übersetzung von Sternes »Sentimental Journey« das Wort »empfindsam« empfahl. Verpflichtend blieb wie in der Aufklärung das tugendhafte Verhalten, das sich aber nun weniger auf vernünftige Einsicht als vielmehr auf die empfindsame Bejahung von innen heraus gründete. Auswüchse der Empfindsamkeit lösten Kritik an der sogenannten Empfindelei aus, eine tränenselige Gefühlsschwärmerei, der es mehr um den rührenden Effekt als um die Aufrichtigkeit des Gefühls ging. 60 Bewegung der Seele Empfindsamkeit Die schöpferische Kraft der Seele -Klopstocks »Messias« Bahnbrechend für das neue empfindsame Bewußtsein war Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724-1803) von John Mil-lons »Paradise Lost« (1667) angeregter »Messias«. Die ersten drei Gesänge lagen bereits 1748 vor. Der abschließende vierte Band erschien 1773. Ziel des Leidensweges Christi ist »der sündigen M'enschheit Erlösung«. Durch sie wird »Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit / Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt.« Beherrschend sind der versöhnliche Ton und die (lewißheit des im letzten triumphierenden Guten, während das Böse abgeschwächt und der Teufel als ohnmächtig und erlösungsbedürftig begriffen wird. I )er verschachtelte Satzbau, die Bilderflut, die eindringlichen Wiederholungen, insbesondere aber der llexibel gehandhabte Hexameter (sechs-hrbiger Vers), der in aller Regel in den li'cien Rhythmus mündet, erzeugen i'ine mit fortreißende Dynamik, die die Seele in Bewegung setzen soll, um sie für die vermittelten Eindrücke empfänglich zu machen. I in Unterschied zur erwarteten objektiven epischen Darbietung läßt Mopstock die auftretenden Figuren .111:: ihrem eigenen, subjektiven Erleben sprechen. Alles scheint vermenschlicht, durchdrungen von einer empfindsamen Annäherung an die 1 d.mbensgehalte. Klopstock vertieft die Sprache zum Ausdruck schöpfe-1 im her Empfindung, die das Heils-1'eM'hehen in der Einzelseele 1 i.K hschafft. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) Aus Klopstocks »Messias«. Erster Druck in den »Bremer Beiträgen« (1748) £>cr Slŕefftak 6r(f(f ©efíing. ilß, im|teíblicŕ)c 6ftle, 6er ffiiiíuaítl 9)?(ec!>te bie Siebe ber ©ottbeit SJeit &(m!5!titet>etff)ťiligeiií8unbfo ton neuem 9eítÍKnít (tat. Sllfo 9<|eM t>ti eiiijtn SBJilie. ajíraebtiií „jut, (]d) Solan »er ben giltiidjtn ®ojro; umfon|l PaiUJmjáo öüibir iljn Gefühlskitsch< Empfindsamkeit um ein Dreiecksverhältnis. In der Rückschau erlebt ilie Gräfin noch einmal ihr Leben zwischen ihrem (ratten und dem Freund, dem sie sich, zugewendet hatte, nachdem ihr Mann für tot erklärt worden war. liei dessen unerwarteten Rückkehr jedoch nehmen die beiden die Ehe wieder auf, während der andere ,ils Freund des Hauses in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Der in der Ich-Form erzählte Roman hat seine Vorzüge in der sensiblen psychologischen I iarstellung, die auch das Intime miteinbezieht. 1 iefühle und Empfindungen werden reflektiert, und ihre Bedeutung für eine echte Tugend der Mit-1 Menschlichkeit wird nicht nur erörtert, sondern ,111ch im eigenen Verhalten verwirklicht. Auf dem Sterbebett bekennt sich der Vater des Grafen zur iidischen Glückseligkeit (Eudämonismus) des Men-;i hen: »Liebt getreu und genießt das Leben, das uns die Vorsehung zum Vergnügen und zur Ausübung ■ In Tugend geschenkt hat.« Gellerts einziges größeres Erzähl werk nach englischen und französischen Vorbildern (Richardson, ľ revost) begründete den empfindsamen Roman in Deutschland, der in der Nachfolge wie etwa im Fall vim |ohann Martin Millers »Sieg-w.ii'l« (1776) zum >Gefühlskitsch< .ms Tränen und Mondschein ab-s.ink und Kritik an der bloßen I' 1111) fmdelei hervorrief. nie Sehnsucht nach der Idylle Hie I linwendung zum Diesseits, 1 l.i:: Streben nach Glückseligkeit und nicht zuletzt der oft graue A III.ig der Arbeit und der Pflicht 1 ii-lcii die Sehnsucht nach einem hell iedeten, harmonischen Dasein im Abseits, im Einklang mit der w.i k losen Schönheit der Natur Kupfer zur zweiten Auflage des »Siegwart« (1777) von Johann Martin Miller. »Der edle Jüngling lag erstarrt und tot im blassen Mondschein auf dem Grabe seines Mädchens ..... 63 Empfindsamkeit Idyllik Kolorierter Kupferstich von Daniel Chodowiecki zu einem zeitgenössischen Idyllenbändchen (1789) Blick in den Endo des 18. Jahrhunderts angelegten, ältesten englischen Landschaftsgar ten auf dem Kontinent in Wörlitz. Der englische Park, auch als literarisches Motiv verwendet, entsprach in besonderer Weise dem empfindsamen Bewußtsein. »Es ist ... in einzigartiger Weise auf kleinem Raum zusammengefaßt, alles zum Ausdruck gebracht ..., was das ausklingende 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Empfindsamkeit, beseelte.« (W. van Kempen) wach. Die Grenzen zur Poesie des Rokoko wurden dabei fließend. In Anlehnung an die Bukolik (Hirtendichtung) Theokrits (um 300 v. Chr.) und die Eklogen (ländliche Gedichte) VcrgiJs (70-1:9 v. Chr.) entstanden außerordentlich beliebte idyllische Dichtungen. Im Wechsel von erzählender und dialogischer Darbietung, meistens in schlichter Prosa, gelegentlich auch in Versen, entwarf die Idylle (grieeh. aidyllion = Bildchen) Genrebilder eines empfindsamen Glücks in bescheidenen Umständen vor friedvoller ländlicher Kulisse. I landein weicht der Beschaulichkeit, Stille macht die I lektik des Alltags vergessen, und zweck-gerieb totes Tun löst sich auf in der natürlichen Schönheit um ihrer selbst willen. Line der ersten großen idyllischen Dichtungen des 18. Jahrhunderts ist Ewald von Kleists (1715-59) »Der Frühling« (1749). Aus der Sicht des betrachtenden und empfindenden Subjekts ziehen Bilder einer schönen, frühlingshaiten Natur vorüber. Mit dem erfrischenden Regen am Schluß kehren Stille und Gelassenheit auch ins menschliche Herz ein. Neben Ewald Kleist und Friedrich (genannt Maler) Müller ragt unter den idyllischen Dichtern vor allem der Schweizer Salomon Geßner (1730-88) hervor. Seine 1756 erschienenen Prosaidyllen sind empfindsame Genrebilder der ungestörten Harmonie von Natur und Mensch in einer bewußt stilisierten Gegenwelt zum Arbeitsalltag. Doch im Grunde ist die Idylle mehr Wunsch als Wirklichkeit: »Könnt' ich in einsamer Gegend mein Leben ruhig wandeln, im kleinen Landhaus, beim ländlichen Garten unbenei-det und unbemerkt! Im grünen Schatten wölbender Nußbäume stünde dann mein einsames Haus, vor dessen Fenstern kühle Winde und Schatten und sanfte Ruhe unter dem grünen Gewölbe der Bäume wohnen; vor dem friedlichen Eingang einen kleinen Platz eingezäunt, in dem eine kühle Brunn- 64 Empfindsame Lyrik Empfindsamkeit Quelle unter dem Traubengeländer rauschet, an deren abfließendem Wasser die Ente mit ihren |ungen spielte« (S. Geßner, »Der Wunsch«). Empfindsame Annäherungen - Das Gedicht als Zwiesprache des Ichs mit der Welt (Gesteigerte Empfänglichkeit für sinnliches Erleben, subjektive Offenheit und die Spontaneität des Ge-Iiihls ließen sich am eindruckvollsten in der Lyrik verwirklichen. Einen Vorklang bildet Albrecht von I lallers (1708-77) großes Naturgedicht »Die Alpen« (1732), in dem im Rahmen einer kritischen Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation die gewallige Gebirgslandschaft in detailfreudig ausgemalten Mildern idyllische Züge annimmt. Der eigentlich empfindsame Stil in der Lyrik erleb-iľ seinen Durchbruch in den »Geistlichen Oden und Liedern« (1757) von Christian Fürchtegott Geliert. I >ic Gedichte auf christliche Festtage, auf das Leben lesu und die Dank-, Bitt- und Trostlieder sprechen .ms der Frömmigkeit des Herzens, aus dem Glauben, der im Gefühl wurzelt. Berühmt geworden ist Gellerts Nachdichtung des 19. Psalms »Die Himmel rühmen lies Ewigen Ehre«. Getragen ist der Glaube von der hrude über die göttliche Güte und die Gnade des I i'bens. »Mit dankendem Gemüte / Freu ich mich ilriner Güte; / Ich freue mich in dir.« (»Abendlied«) Von den Zeitgenossen begeistert gefeiert wurden dir »Oden« (1771) Friedrich Gottlieb Klopstocks, von ilriK-n die frühesten bereits um 1748 im Druck vorla-l'rii. In dynamisch vorwärts drängenden, reimlosen, lirirn Rhythmen entlädt sich eine für die Zeit beispiellose Intensität des Gefühls. Gott und Natur wer-ilrn gleichermaßen begeistert und ergriffen gefeiert wir Liebe und Freundschaft. Mitunter klingen dunkln r löne an, die die verborgene Ganzheit von Leben II ml Sterben ahnen lassen. Zwischen Ankunft und Abschied, Freude und Trauer schwingt der Rhyth-11111:; des Herzens, in dessen Empfindungen sich nur ganze Welt spiegelt. Titel von Salomon Geß-ners »Schriften« (1770), von ihm selbst radiert Titel von Albrecht Hallers »Gedichte., achte Auflage, Zürich 1762 5 & \ \ 3! fSitH; 65 Empfindsamkeit Matthias Claudius Ihr Freunde, hänget, wann ich gestorben bin, Die kleine Harfe hinter dem Altar auf, Wo an der Wand die Totenkränze Manches verstorbenen Mädchens schimmern. Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden Die kleine Harfe, rauscht mit dem roten Band, Das, an der Harfe festgeschlungen, Unter den goldenen Saiten flattert. Oft, sagt er staunend, tönen im Abendrot Von selbst die Saiten, leise wie Bienenton; Die Kinder, auf dem Kirchhof spielend, Hertens, und sahn, wie die Kränze bebten. Ludwig Heinrich Christoph Hölty, «Auftrag«, 1776 Matthias Claudius (1740-1815) Von Klopstock unmittelbar angeregt wurde Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-76), der begabteste Lyriker des »Göttinger Hains«, eines 1772 gegründeten Freundschafts- und Dichterbundes. Ihm gehörte auch der bis heute geschätzte Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß an. Verglichen mit Klopstocks »Oden« sind H öl tys 1:783 postum erschienene »Gedichte« unpathetischer und elegischer, getragen von einem sich sanft verströmenden Gefühl. Die Freude am Leben, an den Blumen, dem Mai und dem Frühling, an den Freunden und den Mädchen gleitet immer wieder hinüber zur Trauer über das Verblühen und Vergehen. Leben und Sterben aber sind dem empfindsamen Dichter nur die beiden Seiten eines Daseins, klaglos hingenommen als das sich in jedem einzelnen stets neu erfüllende Schicksal. Das Gedicht gibt nur wieder, was das Leben in das lyrische Ich hincingegeben hat: »... tönen im Abendrot / Von selbst die Saiten, leise wie Bienenton ...« Matthias Claudius - Die Wahrheit der Empfindung Matthias Claudius (1740-1815) ist der bedeutendste Dichter und Autor der Epoche. Zwischen 1775 und 1812 erschienen in acht Teilen seine sämtlichen Werke unter dem Zeitungstitel »Der Wandsbecker Bote«. Bevorzugte Redeweisen des »Boten« sind das Gespräch, die Rede, der Brief, der Essay und nicht zuletzt das Gedicht, Formen der Ich-Aussprache und der Zuwendung zum andern gleichermaßen. Den Kern bildet jeweils der Austausch von Empfindungen, Gedanken, Meinungen und Urteilen. Vermittelt wird die Botschaft eines selbst empfindenden Querdenkers, der sich niemals einfangen läßt von der Selbstüberschätzung der Menschen im Zeitalter der Vernunft (»Eine Abhandlung vom menschlichen Herzen«). Erst die Besinnung auf den Tod läßt die grenzenlose Hilfsbedürftigkeit des einzelnen offenbar werden und weckt in ihm zugleich das Bedürfnis nach guter Nachbarschaft (»Der Besuch im St. Hiob«). Das illusionslose Eingeständnis 66 Die Wahrheit der Empfindung Empfindsamkeit menschlicher Ohnmacht führt zur Hoffnung auf lirlösung aus der Zeit im Vertrauen auf das Göttliche im Menschen selbst. »Wir sind nicht groß, unser Glück ist, daß wir an etwas Größers und Bessers ľJauben können.« Die Gedichte von Matthias Claudius gehören zu den lyrischen Flöhepunkten der deutschen Literatur. Im -Abendlied« (»Der Mond ist aufgegangen«) sind die slrahlenden Himmelslichter Sinnbilder gläubiger Sehnsucht in der Finsternis. Mit dem aufsteigenden Ni;bel richtet sich der Blick empor zur eigentlichen I leimat des Menschen, aus der er gekommen ist und in die er wieder einkehren wird. Erschütternd veranschaulicht Claudius aber auch die Katastrophe menschlicher Gewalt. In seinem »Kriegslied« greift der Mensch zerstörerisch in den Frieden der Schöpfung ľin und löst ein Chaos ohnegleichen aus. Das Kriegsbeil des Boten ist der Aufschrei des mitleidenden Sub-I< ■ k I s und Eingeständnis tiefer existentieller Scham. I inmer wieder kreisen die Gedichte um Liebe und h ni, zwischen denen sich das menschliche Leben '.p.uint. Sanft entführt der Tod in der empfindsamen lvi ischen Szene »Der Tod und das Mädchen« den noch jungen Menschen aus der Zeit in die Ewigkeit. Hn Tod erscheint nicht als Feind, sondern als Li in nd, als Begleiter des Menschen zu dem im 1 i Li üben verheißenen Ziel. I >en schönsten Ausdruck unerschütterlichen I irliesvertrauens hat Claudius in dem Gedicht ■ A11 Frau Rebekka« gefunden. Nicht Leiden-' halt und Begehren sind entscheidend, '.....dem die Gewißheit des Glücks, das der hui' dem andern gibt und das gegenseitige V'i hauen, in dem beide aufgehoben sind. I in Geschenk Gottes ist die Geliebte, ein l'."Uener Engel und Liebesbote, der in der 'iini'igung zum Geliebten die Erinnerung in das Paradies wachhält, in das beide am Linie ihrer Tage wieder einkehren werden, denn ill'- Liebe ist ihrer Natur nach ewig. Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar. Matthias Claudius, "Abendlied«, 1. Strophe Matthias Claudius und seine Frau Rebekka im Kreis der Mitarbeiter am »Wandsbecker Boten« (von oben im Uhrzeigersinn: Herder, Voß, F. Stolberg, Jacobi, Hamann, Lavater, A. Gal litzin , Perthes, Klopstock, Lessing). Außerdem arbeiteten mit: Goethe, Gleim und Hölty. 67 Sturm und Drang Das Zeitalter des »Zurück zur Natur« 1737 Gründung der ersten Freimaurerloge in Deutschland: Loge »Absalom« in Hamburg 1756-63 Siebenjähriger Krieg 1762 JoanJacquos Rousseau: »Du conlrat social« 1776-83 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg 1781 Immanuel Kant: »Kritik der reinen Vernunft«; Toleran/palent Kaiser Josephs II. 1789 -1.4. Juli: Erstürmung der Bastille; 4. August: Abschaffung der Privilegien; 26. August: Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte 1794 Preußisches Allgemeines Landrecht tritt in Kraft Der Dritte Stand zerbricht seine Ketten, während Adel und Klerus die Flucht ergreifen. Karikatur aus der Zeit der Französischen Revolution Die rebellierende Natur Der Sturm und Drang, so genannt nach dem gleichnamigen Drama von Friedrich Maximilian Klinger aus dem Jahr 1776, wandte die Kräfte des Gefühls weniger nach innen als nach außen. Die mehr introvertierte Empfindsamkeit wandelte sich zu extrover-tierter Leidenschaft, das Streben nach selbstgcnügsa-mer Fnlfaltung des inneren Reichtums zum Streben nach kritischer Veränderung der äußeren Verhältnisse. Im /.eilalter Jean-Jacques Rousseaus (1:712-78) mit seinem Ruf »Zurück zur Natur!« glaubte man an den Menschen als ein ursprünglich freies Geschöpf der Natur, das eine korrupte Zivilisation in Ketten gelegt hatte. Lis galt, alle Hemmungen und Verunsicherungen abzubauen und den Menschen und seine Verhältnisse zum natürlichen Urzustand zurückzuführen. Gleichaltrig mit den französischen Revolutionären und erfüllt von den gleichen Ideen der Freiheit, schreckten die Stürmer und Dränger jedoch vor einer Revolution selbst zurück. Das Unbehagen in der weiterhin absolutistisch bestimmten, inzwischen verzopften Aufklärungskultur schlug sich ausschließlich intellektuell und künstlerisch nieder. Der schöpferische Mensch war nicht länger der kritische Kopf, sondern das Originalgenie, in dem sich die ursprüngliche Wahrheit des Lebens offenbarte. Man begeisterte sich für Kraftnaturen mit ihrem dynamischen, spontanen Lebensverständnis und ihrer gesteigerten Sinnlichkeit. Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730-88) hob die Schöpferkraft des Gefühls hervor und trat für das Genie ein, das die Regeln immer wieder neu erschüttern müsse (»Sokratische . Denkwürdigkeiten«, 1759). ' i. Sein Schüler Johann Gottfried Herder (1744-1803) nannte die Sprache einen »Gesang der Natur«. Nicht die Nachahmung fremder Modelle führt nach seiner Auffassung zur Entfaltung der eige- 68 Die intuitive Kraft der Volksdichtung Sturm und Drang Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde; seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck »Weise« nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang derselben - habe es Bild und Bilder und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle: es ist kein Lied mehr. J.G. Herder, Einleitung zu seiner «Volkslieder-Sammlung«, 1779 nen nationalen Kreativität (keine »schiefen Römer«) Mindern allein die Besinnung auf die urwüchsigen, muttersprachlichen Kräfte (»Fragmente«, 1767). Sprache, so führt Herder in seiner »Abhandlung uber den Ursprung der Sprache« (1770) aus, ändert :i( h nach den gegebenen regionalen Bedingungen. |edes Wort offenbart ein menschliches Urerlebnis. Lin besonderes Interesse galt der Volksdichtung. III den Volksliedern und Volksballaden, wie sie in lingland und Schottland gesammelt wurden (J. Mac-pherson, »Fragments of Ancient Poetry«, 1760/63; l'h. Percy, »Reliques of Ancient English Poetry«, iy'>5) glaubte man den ursprünglichen dichtenden Vnlksgeist am Werk, der nicht nach Regeln, sondern 11.ich instinktiven Intuitionen schafft. Natur wurde 'inn Maß aller Dinge, nicht länger jedoch als Objekt iiiipfindsamer Anschauung, sondern als Quelle I 1 .ill voller Selbstverwirklichung. Darüber hinaus begann man auch die Gefährdungen durch ■ -11 it- ungezügelte Natur zu sehen. (Jjiiize Kerle - \)U> frühen Dramen Goethes und Schillers 11,1:; dynamische Lebensgefühl und das Kon-llil.ibewußtsein, geprägt von der Opposition 111 '/.cit, ließ das Drama zur charakteristi-'.1 hen Ausdrucksform der Epoche werden. Am 1 1 April 1774 wurde in Berlin Johann Wolfgang .....Ihes (1749-1832) »Götz von Berlichingen« urauf- IV liihrt und begeistert aufgenommen. Götz von Ber-lii hingen, eine historische Gestalt aus der Zeit der ILiin 111 kriege, ist das große, nach Freiheit strebende Individuum, das in seiner Zeit nichts anderes als Große Resonanz fand Macphersons literarische Fälschung »Ossian« (1760/63), eine episch-lyrische Dichtung von tragischheroischer Stimmung vor der Kulisse einer rauhen, düsteren Natur. Herders Übersetzung aus dem Jahr 1782 wurde begeistert als Gegenbild zur klassizistischen französischen Dichtung begrüßt Johann Wolfgang Goethe, Ölgemälde, Kopie von unbekannter Hand nach G.O. May, 1779 69 Sturm und Drang Goethes »Goetz« und ... Götz und Weisungen, »Götz von Berlichingeri", 1. Akt, 3. Bild, Ölbild von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1782 Friedrich Schiller, Ölgemälde von Anton Graff, 1786-91 Verfall und Dekadenz zu sehen vermag. Als Opfer von Verrat und Intrigen, in die selbst sein Jugendfreund Weisungen verwickelt ist, stirbt Götz nach heroischer Gegenwehr gegen die Übermacht der Fürsten und der Kirche in der Gefangenschaft. I n bewußter Abweichung vom Regeldrama schreibt Goethe sein Stück in volkstümlicher Prosa und öst alle Bindungen an die Einheilen von Handlung, Zeit und Ort aul. Im »Götz« verwirklicht Goethe, was er 1771: in seiner Rede »Zum Shakespeares-Tag« pro-gianimalisch ausgeführt hatte. Shakespeares »Stük-kc drehen sich alle um den geheimen Punkt..., in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte (geforderte) Freiheit unsres Willens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.« Parallelen bestehen zu Friedrich Schillers (1759-1805) 178:1: anonym erschienenem, am 13. Januar 1782 in Mannheim uraufgeführten ersten Schauspiel »Die Räuber«. Karl. Moor, wie Götz ein dynamischer, selbstbewußter Charakter, durch eine Intrige seines machtgierigen Bruders Franz aus dem Vaterhaus verstoßen, stellt sich an die Spitze einer Räuberbande, um sich an dem »tintenklecksenden Säku-furn« zu rächen und das »schlappe Kastratenjahrhundert« das Fürchten zu lehren. Doch schon bald muß er erkennen, daß er nicht die angestrebte Ordnung, sondern nur Chaos schafft. Die angeblich revolutionären Akte entpuppen sich als gemeine räuberische Umtriebe. Zum Schluß läßt sich Karl den Gerichten ausliefern, nachdem er eingesehen hat, daß zwei Menschen wie er »den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten würden«. 70 ... Schillers »Räuber« Sturm und Drang Moor: Nein, ich mag nicht daran denken! Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnür-biiist und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann l'.nbildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. ... Stelle mich vor ein Meer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. Der neue revolutionäre Geist schlägt sich am überzeugendsten in Schillers «Die Räuber« nieder, so im Monolog Karl Moors, 1. Akt, 2. Szene. Schillers Drama ist symptoma- II ri«■ 11 für die Haltung seiner Gene-i.ilion in Deutschland zum politi-.1 hcn Umsturz. Die Kritik an der 1 iNlarrten, kraftlosen Gesellschaft mundet in die Anerkennung einer iilľ.ilen sittlichen Weltordnung, die III ■111 einzelnen revolutionäres Han-ilcln verbietet. Das Aufbegehren I unlet ohnehin nur in Worten statt in ni wird am Ende als räuberisches I hiwesen diskriminiert. Götz und h .11I Moor sind Spiegelbilder bür-i'ri licher Ohnmacht, als literari--1 In- Figuren konzipiert, den realen Verzicht auf politisch verän-ili-i urles Eingreifen zu rechtfertigen. I)l(! Opfer klagen an: Der Dramatiker J. M. R. Lenz Hu hl die Kraftnaturen stehen im Zentrum der Prosa-ili.iincn von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-92), ......dern die Opfer einer autoritären, unmenschlichen I .i-iľllschaft. Von den Verletzungen und dem Leiden II ľ 1 1111 lerdrückten Menschennatur geht eine geheime, "iiliviTsive Sprengkraft aus. .Sim erstes Drama »Der Hofmeister oder Vorteile .In l'rivaterziehung« schrieb Lenz 1772. Die Urauf-I u 11111 n g fand 1778 in Hamburg statt. Im Haus eines -l.uiili'sstolzen, beschränkten adligen Majors soll der iľ. I loľrneister (Hauslehrer) angestellte Läuffer dem '.1 il 111 Weltmanieren und der Tochter Gustchen »etwas nľ: ili-in Christentum« beibringen. Gustchen, von Schiller trägt seinen Mitschülern auf der Karlsschule im Bopser-wald bei Stuttgart die »Räuber« vor. Skizze von Victor Heideloff 71 Sturm und Drang Opfer der Gesellschaft Von nun an die Sonne in Trauer, Von nun an finster der Tag, Des Himmels Tore verschlossenl Wer tut, sie wieder zu öffnen, Wer tut mir den göttlichen Schlag? Hier ausgesperrt, verloren, Sitzt der Verworfne und weint Und kennt im Himmel, auf Erden Gehässiger nichts als sich selber Und ist im Himmel, auf Erden Sein unversöhnlichster Feind. J. M. R. Lenz, «Der verlorne Augenblick, die verlorne Seligkeit" Jakob Michael Reinhold Lenz, Bleistiftzeichnung von Johann Heinrich Pfenninger ihrem Verlobten, vernachlässigt, beginnt eine Beziehung mit Läuffer. Unter dem Druck der Gesellschaft, die eine solche Verbindung nicht duldet, fliehen beide. Als Läuffer seinem Kind, das Gustchen in einer Waldhütte zur Welt gebracht bat, begegnet, kastriert er sich in einem Akt der Verzweiflung. Während sich in der adligen Gesellschaft, nachdem man Gustchen verziehen hat, alles wieder einrenkt, sieht sich Läuffer endgültig ins gesellschaftliche Abseits abgedrängt. Lenz hat sein Drama als Komödie bezeichnet, wobei er unter Komödie ein »Gemälde der menschlichen Gesellschaft« versteht. Im Grunde handelt es sich um eine der ersten Tragikomödien der deutschen Literatur. Das Happy-End ist der besseren Gesellschaft vorbehalten. Tragisch ist dagegen das Schicksal des unterdrückten Bürgers. Mit seiner Selbstkastration verzichtet Läuffer aufsein volles bürgerliches Lebensrecht. Das Drama klagt sowohl die Gesellschaft an, die den einzelnen zu solchen Verzweiflungstaten treibt, als auch den einzelnen selbst, der seinen Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht entschlossen verteidigt. In den »Soldaten« (1776) spiegelt Lenz in der unglücklichen Liebe zwischen dem mittellosen Offizier und dem Bürgermädchen den krisenhaften Zustand einer Gesellschaft, in der das Militär und das Bürgertum sich in unlösbaren Konflikten gegenüberstehen, solange von den Offizieren weiterhin die Ehelosigkeit verlangt wird. Angeprangert werden die ständische Erstarrung und die widernatürlichen sozialen Bedingungen, die das Glück des einzelnen verhindern und ihn zum wehrlosen Opfer machen. Leidenschaft und Leiden - Goethes »Werther« Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) wurde zum Kultbuch der jungen Generation am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autobiographischer Hintergrund ist Goethes Aufenthalt in Wetzlar im Jahr 1772, wo er Charlotte Buff, der Verlobten eines Gesandtschaftssekretärs begegnete und 72 »Die Leiden des jungen Werthers« Sturm und Drang jungen äBcľílm'é. Sift« <íl)(í(. > < ' P ! 1 It i 7 7 4. Titelseite des Erstdrucks 1774 von Goethes »Werther« mit der ersten Seite des Texts , 1 < ■ erfolglos umwarb. Nach seiner Abreise ohne Abschied erfuhr er vom Selbstmord des Legations-■i-kietärs Jerusalem in Wetzlar. I )er Roman besteht überwiegend aus Briefen Wer-IIiit's an einen Freund. Werther fühlt sich nach seiner Ankunft in dem kleinen Landstädtchen in Einklang nul der idyllischen Umgebung und genießt das einfa-> In- Leben. Schmerzlich empfindet er allerdings schon hui die Einschränkung durch einengende Verhältnis-r, die den einzelnen auf sich selbst zurückwerfen. An:; dem Zustand einer bedenklich gesteigerten Emp-111 u I samkeit und der bedrohlich zunehmenden Selbst-1 '.illation verspricht ihn die Begegnung mit Lotte auf mřín Ball hinauszuführen. Doch die aufkeimende I lnľfnung schlägt bei der Rückkehr Alberts, des Ver-Inlilcn Lottes, in bitterste Enttäuschung um. I lei: Versuch, Lotte in einer angenommenen Stelle lni der Gesandtschaft zu vergessen, schlägt fehl, ľ 111',stirnigkeit und Spießertum treiben Werther zu ilu zurück, da er sich nur bei ihr die Erfüllung sei-iiii liefsten Sehnsüchte erhofft. Doch in dem Maße, iviľ sich Lotte ihm versagt und seine Eifersucht auf iliiiii Verlobten wächst, nimmt seine Leidenschaft 'ihslzerstörerische Züge an. Bei pathologisch ge-1I111 Irr Wahrnehmung beginnt für Werther die Au-Kr n weit zu versinken. In äußerster Vereinsamung Charlotte Buff, das Vorbild für die Lotte im »Werther«, Pastellbild, anonym, um 1779 73 Sturm und Drang Das Kultbuch des ausgehenden Jahrhunderts schreibt er einen Abschiedsbrief an Lotte, leiht sich Alberts Pisto-cn und erschießt sich in dem blauen Frack mit gelber Weste, den ei beim Kennenlernen Lottes aul dem Ball getragen hatle. Wc i ther isl zum Opfer seines c igeiK u, ins Maßlose gesteiger-U n Gc (uhls geworden, ein Gefühl das ihn von der Gesellschaft und den realen Verhältnis-I sen entfernte und am linde zer- „. I störte. Die von Werther geschrie- Lotte, die Pistolen überreichend, Sepiazeichnung von Daniel Chodo-wiecki, 1775. Der >Wer-then hatte großen Einfluß auf die Mode: Blauer Frack und gelbe Weste wurden zur beliebten Kombination. V? i benen Briefe spiegeln ein i monomanisch um sich kreisendes, selbstverliebtes Ich. Antworten spielen verräterischerweise keine Rolle. Machte Lenz die von der Natur entfremdete Gesellschaft entscheidend für das Leiden des einzelnen mitverantwortlich, warnt Goethe vor dem fatalen Wirklichkeitsverlust durch das nur am eigenen Gefühl orientierte Erleben. Selbstverwirklichung setzt die Öffnung des Ichs für das andere und die anderen ebenso voraus wie die Bereitschaft der anderen, das Ich aufzunehmen. Die begeisterte zeitgenössische Zustimmung, wie sie sich in der sogenannten Werther-Mode und in einer Reihe von Selbstmorden in der Nachfolge Werthers äußerten, beruhte auf einem Mißverständnis. Werther ist weniger eine Identifikationsfigur, sondern vielmehr ein abschreckendes Beispiel. »Es schlug mein Herz ...« - Goethe und das moderne Erlebnisgedicht In der Straßburger Zeit zwischen 1770 und 1771 erfuhr Goethes Lyrik, bis dahin noch mehr der Rokoko-Poesie verpflichtet, ihren Durchbruch zum Erlebnisgedicht. Eng verbunden mit der dichterischen Wandlung war Goethes Zuneigung zur Pfarrerstochter 74 »Heideröslein« und »Prometheus« Sturm und Drang liiederike Brion in Sesenheim. Erlebnis meint die bedeutungsvolle Erfahrung in der spontanen Begegnung des Ichs mit der Welt, eine Erfahrung, die als Bereichern ng der eigenen Persönlichkeit empfunden wird. In »Willkommen und Abschied« (»Es schlug mein I lerz, geschwind zu Pferde!«) erlebt das lyrische Ich die Natur in unmittelbarer Anschauung. Alles scheint von einem geheimnisvollen, schauerlichen Leben erfüllt, gegen das der einzelne selbstbewußt tlen eigenen Lebensmut setzt. Erfüllung findet das überschäumende Lebensgefühl in der Begegnung mit der Geliebten. In ihrer Liebe erfährt das Ich göttliches Glück. Die Darstellung ist drängend und impulsiv, gespannt zwischen den Ursituationen der Ankunft und des Abschieds, dazwischen der clahin-sliümende Ritt durch die stark bewegte Szene des Lebens. Das liedhafte Gedicht »Maifest« (»Wie herrlich leuchtet / mir die Natur!«) versi Innilzt begeistertes Naturerleben mit der lief belebenden Kraft der Liebe. Die Gelieble scheint eins mit dem Blühen ringsum, und der Liebende ist der aufsteigenden I ľ» lie gleich. Nur wenige Jahre später, im Herbst 1774, 1 iil.sland die große Hymne »Prometheus« in icimlosen, freien Rhythmen. Der Titan der griechischen Sage, der das Feuer zu den Menschen brachte, ist bei Goethe der h liopferische Mensch schlechthin, dem, dleni gegen die Götter stehend, höchste 11,1 ll zuwächst. Schöpfung ist für ihn '.'llislverwirklichung und Hingabe zu-ľJi'M li. Im Rückblick auf seine Jugenddich-1 m igen schreibt Goethe, »daß die ganze '.1 Impfung nichts ist und nichts war als ein \ 111.111 (• n und Zurückkehren zum Ursprüng-hi ln'ii« und »daß wir, indem wir von einer '.i ih' uns zu verselbsten genötiget sind, von 'I11 .Mulern in regelmäßigen Pulsen uns zu Friederike Brion. Vermutliches Portrait von unbekannter Hand. Heideröslein Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön, Lief er schnell, es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Knabe sprach: Ich breche dich, Röslein auf der Heiden! Röslein sprach: Ich steche dich, Daß du ewig denkst an mich, Und ich will's nicht leiden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Und der wilde Knabe brach 's Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Angeregt von Herder, beschäftigte sich Goethe bereits in Straßburg mit der Volksballade. Das /'Heideröslein« entstand 1771 in enger Anlehnung an die volkstümliche Überlieferung. 75 Sturm und Drang Freiheitsdichter Schubart Bedecke deinen Himmel, Zeus Mit Wolkendunst! Und übe, Knaben gleich, Der Diesteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, Die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. entselbstigen nicht versäumen« tung und Wahrheit«, 8. Buch). (»Dich- Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen, Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich. Anfang und Ende von Goethes «Prometheus-Hymne« (1774), in der sich das gestiegene Selbstbewußtsein des Menschen überkommenen Ordnungen gegenüber besonders kraftvoll ausdrückt. Am 23. Januar 1777 wurde Schubart verhaftet und zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt. Das Kupfer von d'Ar-gent (1793) hält die Verhaftungsszene fest. »Wo Todesengel nach Tyrannen greifen ...« - Die politische Lyrik Im Sturm und Drang entwickelte sich als Ausdruck des inneren Widerstands gegen die Unterdrückung des Bürgers im absolutistischen Staat das gesellschaftskritische Gedicht. Sein wichtigster Vertreter ist Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-91). Respektlose, gegen Staat und Kirche gerichtete Veröffentlichungen führten zu seiner Verhaftung und zu einer mehr als zehnjährigen Haft auf der Festung Hohenasperg. Hier entstanden einige seiner ebenso ergreifenden wie kritisch vernichtenden Gedichte. Im Gedicht »Der Gefangene« (1782) überdenkt er sein Schicksal. Blutig geht die Sonne für ihn unter. Der Mond scheint bleich in seinen Kerker. Wie Fackeln bei einer Totenfeier leuchten die Sterne. Ketten, so ist ihm, taugen nur für Sklaven und Teufel. Doch der versklavte und verteufelte Freiheitskämpfer, den man in Ketten gelegt hat, klagt die Mächtigen und die Gesellschaft, die solches duldet, an und setzt sie ins Unrecht. Mit ihm, der nach Freiheit strebte, hat man die Freiheit selbst eingekerkert und dem Tod übergeben. In dem 1783 entstandenen Gedicht »Die Fürstengruft« rechnet Schubart mit seinen erklärten Gegnern unmittelbar ab. Gute Fürsten sind tote Fürsten. Noch die toten Tyrannen rufen nichts als schreckliche Erinnerungen wach, Erinnerungen an ihre Unmenschlichkeit, Machtgier und Geilheit. Kein Ruhmeslied erklingt. Anklage wird gegen die erbarmungslosen 76 Die deutsche Kunstballade Sturm und Drang Menschenfeinde erhoben, die der Verdammung am Jüngsten (Bericht sicher sind. Der gefangene politische Dichter steht liir die Ohnmacht des Bürgers ■:i hlechthin. Sein Wort muß die Tat, seine Aggressions-phantasie die wirkliche, langst überfällige Revolution ľ 1 setzen. Die Fürstengruft Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer, Eh'mahls die Götzen ihrer Welt! Da liegen sie, vom fürchterlichen Schimmer Des blassen Tags erhellt. Da liegen Schedel mit erlosch'nen Blicken, Die eh'mahls hoch herab gedroht, Der Menschheit Schrecken! - Denn an ihrem Nicken Hing Leben oder Tod. Das bürgerliche Epos -Die Wiederentdeckung der Ballade A11 geregt durch die alten eng-Ihu h-schottischen Balladen wie auch durch die deutschen Vulksballaden, entwickelten 1 lull fried August Bürger (iy47-94) und Ludwig Hein-1 u li Christoph Hölty in den iili/.iger Jahren die deutsche Kunstballade. Nach-ilini das Epos mit seinen feudalen Helden unzeit-l'ľiiiäls geworden war, bot sich das kurze epische 1 .ni i cht als Ausdruck bürgerlichen Selbstverständ-ni'isi'.s an. Insbesondere die Beschränkung der Ballade auf die Situation, in der der Konflikt offenbar wild, machte sie geeignet für die pointierte Darstel-111111 >, sozialer Krisen. M.ilistabsetzend war vor allem Bürgers »Lenore« (i'-y.|.). Vor demHintergrund des Siebenjährigen I 1 icgs begehrt Lenore auf gegen die kriegerischen \ii::rinandersetzungen der Mächtigen. In schlimmer A Inning, ihren Geliebten auf den Schlachtfeldern ni Inirri zu haben, weist sie alle religiösen Tröstun-|m n zurück. Nur ihrem Gefühl vertrauend, sieht sie 1I1 n l.cbenssinn allein in der Erfüllung ihres Liebes-l'Jui !•::. Trotzig bäumt sich der einzelne auf gegen die iiiil.incrnden Vereinnahmungen und Verletzungen 'mu .111 (sen. Lenores untrösüiches Aufbegehren zwingt Vertrocknet und verschrumpft sind die Canäle, Drin geiles Blut, wie Feuer floß, Das schäumend Gift der Unschuld in die Seele, Wie in den Körper, goß. Damit die Quäler nicht zu früh erwachen; Seyd menschlicher, erweckt sie nicht. Ha! früh genug wird über ihnen krachen Der Donner am Gericht. Schubarts »Fürstengruft« gehört zu den radikalsten Beispielen politischer Lyrik im Sturm und Drang. Gottfried August Bürger, Ölgemälde von Anton Graff, 1792 77 Sturm und Drang Bürger, Hölty, Goethe Li note iciLcL mit dem (l03irí)ft «Roman. 79 Klassik Der vollendete Menách 1788 Hölderlin zusammen mit Hegel und Schelling im Tübinger Stift 1792 Ausbruch der Revolutionskriege; Hinrichtung Ludwigs XVI. 1799-1815 Napoleon Bonaparte 1806 Der Rheinbund. Endo des »Heiligen Römi seilen Reiches« 1806/07 Doppelschlacht bei Jena und Auorstcdl; 1806/13 Kontinentalsperre 1807 Friede von Tilsit; Beginn der Preußischen Reformen (Stein, Hardenberg); Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Phänomenologie des Geistes« 1808 Fürstentag in Erfurt 1810-12 Bildungsreformen. Gründung der Universität Berlin 1812 Russischer Feldzug Napoleons; Koenig/ Bauers Schnelldruckpresse 1815 Schlacht bei Waterloo; Abdankung Napoleons; Wiener Kongreßakte; Heilige Alianz 1820 Wiener Schlußakte; Juli-Revolution in Frankreich; Unruhen in Deutschland Humanität und Vollendung Im Jahr 1786 trat Goethe von Weimar aus seine erste italienische Reise an. Mit der Übersiedlung in die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar und der Einstellung in herzogliehe Dienste hatte die klassische Wende eingesetzt. Ihre soziale Basis bildete die Verbindung des Bildungsbürgertums mit dem Adel bei gleichzeitiger Distanzierung vom sozial-revolutionären Engagement des Sturm und Drangs. Aufder Reise begann Goethe, seine beiden noch in Prosa geschriebenen Dramen »Iphigenie« und »lässo« in Blankverse umzuschreiben, in den fünf-hebigen reimlosen Jambus, den bereits Lessing anstelle des schwerfälligen sechshebigen Alexandriners für das Drama verwendet hatte. Klassisches ist ein formbewußtes Gestalten. Nur in der dichterisch vollendeten Gestalt kann sich der vorbildliche, allgemeingültige Gehalt abbilden. Die erlesene Form ist Ausdruck des edlen Menschen. In antiken Skulpturen, insbesondere auf Sizilien, begegnete Goethe die »edle Einfalt und stille Größe« des Menschen, wie sie bereits der Italienreisende Johann Joachim Winckelmann (1717-68) in seinen »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Goethe in der Campagna di Roma, Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein 80 Der Künstler als Vermittler de$ Idealen Klassik :;;Äl.....,;• Welke« (1755) ge-pi lesen hatte. In der \ nilendeten plasti-1 hen Gestaltung pi.igte sich fur ' .oethe das ideale Menschenmaß I lilechthin aus, ■ he Harmonie von t 01 per und GcisL, '.iiinlichkeit und 'alllichkeit, Eidos (Aussehen, Gestalt) und Ethos. Klassische Dichtung strebt auf dem. Höhepunkt I n 11 gerlichen Selbstbewußtseins nach der Darstellung der vollendeten diesseitigen Persönlichkeit. Während 1 Hirlhe die vollkommene Ausbildung des Menschen, • 111 ■ I intfaltung seiner geistigen und seelischen Anlagen in der Kunst für realisierbar hielt, verstand sie Schil-li'i als Ideal, das nur als Abglanz des Vollkommenen II |',<'stalten war. Allerdings schlägt sich auch in den 1 ill en Werken Goethes tragisches Bewußtsein nieder, ■ lei Konflikt zwischen. Vollendung und Wirklichkeit. I in beide Repräsentanten der klassischen deutschen I ilci.itur aber war das Streben nach Humanität, nach iliiii Guten, Wahren und Schönen das höchste Ziel .....11 schlichen Lebens, gegenwärtig selbst noch im tra- l'.i'ii hen Scheitern. Klassische Literatur ist geprägt 1.....G lauben an die Utopie erfüllter und vollkommene! Menschlichkeit, an den reinen, idealischen Men-■M hi'ii, den jeder in sich trägt, an die geprägte Form, 'lie lebend sich entwickelt, ein Glaube, der die uner-11111 le 11 nd unvollkommene Wirklichkeit relativiert. Der t n n.sil er, ausgestattet mit der Gabe, sich allgemein iiiilieilcn zu können, schafft als Genie nach Gesetzen, du die Natur ihm verliehen hat. Seine Werke gestalten I» ľipielhaft die Maßstäbe der Kunst. In vollendeter h.....soll sich die Vollendung des Menschen formen. I m den Philosophen und Sprachforscher Wilhelm von I liinilioldt (1767-1835) geht es bei aller Erziehung um 'In- Formung des Lebens zu einem Kunstwerk. »:J! Lithographie von A. Werl. Nach seiner Umsiedlung nach Weimar bezog Goethe das idyllische Gartenhaus in der Ilmenau. Juno Ludovisi. »Zu meiner Erquickung habe ich gestern einen Ausguß des kolossalen Junokopfes, wovon das Original in der Villa Ludovisi steht, in den Saal gestellt. Es war dieses meine erste Liebschaft in Rom, und nun besitz' ich sie. Keine Worte geben eine Ahnung davon. Es ist wie Gesang Homers.« (Goethe, »Italienische Reise«) 81 72 Klassik Schillers Programm Friedrich Schiller, Gemälde von L. Sima-nowitz, 1793 Die Versöhnung von Natur und Vernunft - Schillers Programm klassischer Dichtung Friedrich Schiller (1759-1805) ist der philosophische Kopf der klassischen Phase der deutschen Literatur. In einer Reihe von Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Men-I sehen« (1795) erörtert er das Wesen i des Schönen, der ursprünglichen Haimonie von Vernunft und. Natur. Das hindringen rationaler Wissenschaft hat die Harmonie zerstört und den Menschen von der Natur entfremdet. Aufgabe der Kunst ist es, die verlorengegangene Einheit spielerisch wiederherzustellen. Der »Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Kunst gestaltet den schönen Schein nicht als gelebte Wirklichkeit, sondern als erhoffte Möglichkeit, als Anschauung des Ideals. In seinem, literaturtheoretischen Essay »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96) setzt Schiller seine Erörterungen des Verhältnisses von Ideal und Wirklichkeit fort. Der geschichtliche Mensch ist aus dem naiven Zusammenhang der Dinge herausgetreten, aus dem Dasein der Natur, in dem alles nach ewig gleichbleibenden Gesetzen in unverrückbarer Harmonie existiert. Arkadien, das idyllische Land im heiteren Frieden der Natur ist versunken. Der Dichter aber vermag den Menschen nach Elysium zu führen, wo er einen Abglanz der ursprünglichen Harmonie erleben kann. Gestaltet naive Dichtung die Idylle als Einklang von Ideal und Wirklichkeit, so betont sentimentalische Dichtung den verlorengegangenen Einklang, indem sie in der Elegie die Trauer und in der Satire die Entrüstung angesichts des erlittenen Verlusts zum Ausdruck bringt. Sah Schiller in Goethe den Prototyp des naiven Dichters, der das Ideal in sinnlicher 82 i;!fÍcijärÍJ<(ié)l| fÄ|ff|ii|:!ifi "der iLjýjŕW i íK)tós|Í|i Realisierung als wirklich vorstellt, so verstand er sich nclbst als Dichter des Sentimentalischen, der die li'lztliche Unversöhnlichkeit von Sinnlichkeit und Idealität hervorhebt. Ilcdeutungsvolles Bild - abgebildete Bedeutung: Aussageweisen klassischer Lyrik I lie klassische Lyrik strebt nicht nach liedhafter I In mittelbarkeit, sondern nach gedanklicher Ver-luTung. Ob die bildhafte Erfahrung des Besonderen durchsichtig wird für das Allgemeine oder das All-l'.cmeine seinen Ausdruck im Entwurfein.es behinderen Bildes findet, in jedem Fall wird das lyrische Gedicht zum Gleichnis für das Allgemeingültige. In dem 1813 entstandenen Gedicht »Gefunden« nimmt Goethe noch einmal das Motiv des Heiderös-li'ius auf. Aus der Blume im Wald, absichtslos und n ich r zufällig entdeckt, entwickelt sich ein Sinnbild ilci ein Leben lang Geliebten und der zärtlich gepfJeg-itii Liebe selbst. Gewinnt bei Goethe das geschaute hni/elbild durch die Darstellung an Bedeutung, so l'.cl il Schiller in seinem 1800 gedruckten Gedicht -Nänie« von der Bedeutung aus, die er in einem Beispiel abbildet. »Auch das Schöne muß sterben!« Icilcl als allgemeine Satz die Verse Nänie Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter .111. der im folgen- bezwinget, den durch Anspie- Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. Innren auf die Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein I'.iiccliischeMytho- Geschenk. (• •(■ m - ins Bild Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde, m-cI/I wird For Die in den zierllcnen Leib grausam der Eber geritzt. Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, mal hcschreiben Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt. Iicidc Gedichte die Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, ■ . 1 1 Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. , n,i 1111 weire Kias- .. .... 1 _ Siehe, da weinen die Gotter, es weinen die Gottinnen alle, ■ ■im her Lyrik. Er- paß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. liinci 1 Goethes Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, 11, ., • Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. 1 miIii hl: mit sei- 6 6 . . Friedrich Schiller m-in /.weihebigen 83 Klassik Begegnung mít dem Süden Vers und seinen kreuzgereimten Vierzeilern noch an das Lied, so verwendet Schiller die antike Versform des Distichons, bestehend aus einem Hexameter und einem ebenfalls sechshebigen Pentameter. Klassische Versmaße spielen auch in Goethes Lyrik eine bedeutende Rolle. Die zwischen 1788 und 1790 nach der ' Rückkehr Goethes aus Italien entstan- MPftWi, ' denen »Römischen Elegien« sind im ~* 1 Slil der römischen liebesdichtung (Pro- ' , per/., Ovid) in Distichen geschrieben. Zentrales Thema ist die Vergegenwärtigung und sinnliche Aneignung der Antike aus der Sicht gesteigerter erotischer .;■ . Sensibilität, »ich denk'und vergleiche, / Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit n. ' : \-i;; sehender Hand.« Die Liebe erweckt die Christiane Vulpius Vergangenheit zu sinnlicher Gegenwart, (1765-1816), die Frau jn ^ej GeJiebteri. erwacht der antike Geist zu neuem Goethes, Zeichnung von . ,,,,,.,, , Horst Janssen (1983) Leben. Betretend erlebt das lyrische Ich aus dem grauen Norden den heiteren, farbigen Zauber des Südens. Roma und Amor, das eine ergibt rückwärts gelesen das andere, die Begeisterung für die Antike und die Seligkeit der Liebe sind im Grunde eins. Die 1790 entstandenen »Venetianischen Epigramme« schlagen kritische Töne an. Kritik erfahren im einzelnen Kirche, Gesellschaft, die Französische Revolution und die deutsche Literatur. Schillers klassische Lyrik war im wesentlichen um 1800 abgeschlossen. Gedichte wie »Das Ideal und das Leben« (1795) und »Das Lied von der Glocke« (1799) sind geprägt von der gedanklichen Darstellung und Durchdringung des menschlichen Daseins, der beispielhaften Schilderung der einzelnen Lebensstufen, aber auch von der Sehnsucht nach Befreiung aus den Fesseln des Alltags. Die reine, von allem Bedrük-kenden befreite, unvergängliche Gestalt jedoch ist nicht von dieser Welt. Im Gedicht »Der Spaziergang« erlebt ein nur vorgestelltes Ich die Entwicklung des Menschen zu immer höheren, kultivierteren Lebens-84 Lehrgedichte und Balladen Klassik formen, bis die Revolution das Errungene zerstört und das Rohe und Unkultivierte wieder hervorbrechen. Versöhnlich ist der Schluß mit seinem Glauben an den wiederkehrenden Frieden der Natur, in den auch die aufgeregte Zeit letztlich wieder einmünden wird. »Und die Sonne Homers, siehe! sie fichelt auch uns!« Der lehrhafte und reflektie-lende Ton, charakteristisch für ilie Lyrik Schillers, gewinnt . 11 ich in Goethes Alterslyrik breiteren Raum. Angeregt von der Liedersammlung (Divan) des persischen Dichters Hafis wandte sich Goethe in seinem »West-östlichen Divan« (1819) der orientalisierenden Dichtung zu. Im M i ttelpunkt steht das Thema innerer Verjüngung, die osi liehe Verheißung eines Neuanfangs im Zeichen der .im[gehenden Sonne. »Selige Sehnsucht«, das bekannteste Gedicht des Zyklus, beschwört das ewige •Slirb und Werde«, die freiwillige Selbstaufgabe als llc'dingung der Wiedergeburt. Nur indem der Mensch Alles und Überlebtes abstreift, erneuert er sich zu einem verjüngten Leben. Pas »Ur-Ei« der Dichtung -Die Ballade in der Klassik l'ii 1 Goethe ist die Ballade das »Ur-ľ'i- der Dichtung schlechthin, da mi li in ihr das Lyrische mit dem I í 11 i sehen und Dramatischen mischt. I >n- Ballade gestaltet in einer einzigen beispielhaften Situation grundlegende Gehalte menschlichen I i.iscins. Im »Zauberlehrling« [ľ■<>'/) entfesselt der Unerfahrene in einer phantastischen Szene Gewal-len, die seiner Kontrolle entgleiten Prachtausgabe von Goethes »West-östlichem Divan», 1819 Zeichnung von G. A. Stödel, 1904 85 Klassik ivbfrf |>!Z||'éti)^ Fi^i^H I ň;é:N: ll1'^ -^:Ö fi ŕgi c|hpa f| ^ 1792 war Goethe mit einem Heer unter Führung des Herzogs Karl August nach Vaimy aufgebrochen, um die revolutionären Umtriebe zu beenden. »Doch wie sollte man sich erholen, da uns die Ungeheuern Bewegungen innerhalb Frankreichs jeden Tag beängstigten und bedrohten, Im vorigen Jahre hatten wir den Tod des Königs und der Königin bedauert, in diesem das gleiche Schicksal der Prinzeß Elisabeth. Ro-bespierres Greueltaten hatten die Welt erschreckt, und der Sinn für Freude war so verloren, daß niemand über dessen Untergang zu jauchzen sich getraute; am wenigsten, da die äußern Kriegstaten der im Innersten aufgeregten Nation unaufhaltsam vorwärts drängten, rings umher die Welt erschütterten und alles Bestehende mit Umschwung, wo nicht mit Untergang bedrohten.« J. W. v. Goethe, »A utobiographische Schriften« und die allein der erfahrene Meister in ihre Schranken zu weisen vermag. Der Mensch ist nur dort Herr, wo er die dunklen, zerstörerischen Mächte in sich selbst und in der Geschichte zu zügeln versteht. Deutlich ist die kritische Anspielung auf die als Katastrophe erlebte Französische Revolution. Die ebenfalls im sogenannten Lalladenjahr 1797 entstandene »Braut von Korinth« konfrontiert die christliche Leibfeindlichkeil mit heidnischer Lebens- und Liebeslust. Am Schluß steht der Aufbruch der um ihr Lie-besglück betrogenen Wiedergängerin mit ihrem Bräutigam zu den allen Göttern, Einmal mehr erscheint die Antike in ihrer Harmonie von Körper und Geist als eine der glücklichsten Phasen in der Geschichte der Menschheit. Goethes ganz dem Diesseits zugewandte Haltung schlägt sich anschaulich, in der späten Ballade »Der Totentanz« (1:81:3) nieder. Der Raub des Totenhemdes droht dem Türmer hoch über dem Kirchhof teuer zu stehen zu kommen, als sich das be-stohlene Gerippe aufmacht, sich sein Hemd zurückzuholen. Doch noch einmal wird das Schlimmste abgewendet. Wahrhaft glücklich ist der Mensch nur dann, wenn er den Tod als ebenso ungewisse wie schicksalhafte Zukunft aus der Gegenwart seines Lebens ausblendet. Schillers Ideenballaden kreisen um Gefährdung und Triumph der Humanität. Im »Ring des Polykra-tes« (1797) erscheinen der Reichtum und das übermäßige Glück als Gefährdung des Menschen. Wo ihm alles zufliegt, muß notwendig seine sittliche Anstrengung erlahmen. »Die Kraniche des Ibykus« (1797) handeln von einer Mordtat und ihrer unerbittlichen, wunderbaren Aufklärung. Die brutale Mißachtung der Unverletzlichkeit des Menschen ruft die Gerechtigkeit wach, die als lebendige Idee in der Geschichte die beschädigte Humanität rächt und wiederherstellt. Vom Glauben an die letztlich triumphierende Humanität ist »Die Bürgschaft« (1799) getragen. Der verurteilte gescheiterte Tyrannenmörder läßt den Freund als Bürgen zurück, um notwendige Familienangele- 86 ':b||5|äfe|iö|g^j[^|jjji| p|f|f|i^i|j^^|*;ifjj^||^ic; ľ.enheiten zu regeln. Seine Rückkehr zu vereinbarter Frist beeindruckt den Tyrannen derart, daß er darum bittet, in den Freun-ilesbund humaner Menschen aufgenommen zu werden. Nicht revolutionäre Gewalt, mindern die Idee und die Praxis edler Menschlichkeit begründen die humane (lemeinschaft. Das Reich des Ideals und die reale Welt -Goethes »Iphigenie« und »Tasso« Als programmatisch für die deutsche Klassik und ihr Humanitätsideal gilt Goethes Drama ■• I phigenie«, entstanden 1:779 m einer Prosa-I.issung, 1786 auf der italienischen Reise in fünf-licbige Blankverse umgeschrieben. Im Mittelpunkt Jelit die Griechin Iphigenie, die der Artemis ge-npli'rt werden sollte, von der Göttin aber zu denTau-n'i'ii entführt wurde, wo sie sich als Priesterin für die Verbreitung der Humanität unter den Barbaren ein-'11T/I. Als ihr Bruder Orest eintrifft, wird ihre Sehn-•iiu lit nach der griechischen Heimat übermächtig. I'k 11zdem widersteht sie allen Fluchtplänen und bittet l'l 11 >ns, den König der Taurer, sie mit ihrem Bruder und di'.'isen Freund Pylades ziehen zu lassen. Iphigenies 11111 u -dingte Wahrheitsliebe hat Erfolg und bestätigt ihr hm lilbares Eintreten für das Ideal der Humanität. < inethes Drama mit seiner eleganten Verssprache, n 11 icľ strikten Bindung an die drei Einheiten mul seiner symmetrischen Personalstruktur (l'vl. n les, der Vertraute Orests - Orest- Iphi-i'enie -Thoas-Arkas, Vertrauter des Komi',.';) ist ein vor allem ästhetischer Entwurf ■ li", klassischen Menschenbildes. In der voll-1 nili'lcii Form spiegelt sich die Vollendung 1I1". Menschen. Klassische Dichtung formulu 1 1 vorbildliches Verhalten als prinzipiell n .ilisiľľbare menschliche Möglichkeit. .'.wischen 1788 und 1789, ebenfalls noch m ll.ilicn, arbeitete Goethe auch seine Dich- Schillers »Bürgschaft«, Stich nach H. Ramberg 1825 Aufführung von Goethes »Iphigenie« (1779) mit Goethe in der Rolle des Orest. Gemälde von G. M. Kraus 87 Klassik Dichterdrama »Tas$o« Laß den Anfang mit dem Ende Sich in eins zusam-menziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüber-fllehn. Denke, daß die Gunst der Musen Unvergängliches verheißt, Den Gehalt In deinem Busen Und die Form in deinem Geist. J. W. v. Goethe, «Dauer im Wechsel« (letzte Strophe) tertragödie »Torquato Tasso« in Blankverse um. Das Epos »Das befreite Jerusalem« (1575), das der berühmte italienische Renaissancedichter seinem Mäzen, dem Herzog von Ferrara, überreicht, beschwört ein goldenes Zeitalter des Einklangs von Natur und Leben, Geist und Tat. Zusehends aber gerät die dichterisch beschworene I larmonie in Widerspruch zum praktischen Leben, 'lässo muß erl'ahren, daß seine Vision an der Wirklichkeil scheitert. Im Bewußtsein der unüberbrückbaren Kl u Fl zwischen Wort und Tat, Kunst und Leben gerät er in eine persönliche Krise, da in der Wirklichkeil kein Platz Für den Dichter ist. Goethes Drama ist die Tragödie des Künstlers, der an seinem eigenen idealen Anspruch in der realen Welt zugrunde zu gehen droht. Deutlich wird die problematische Situation des Schriftstellers, dessen Streben nach freier, kreativer Entfaltung durch, die gesellschaftlichen Bedingungen ständig eingeschränkt wird. Erfüllte sich in der »Iphigenie« vor mythologischem Hintergrund das Ideal reiner Menschlichkeit, so scheitert im »Tasso« der ideale Entwurf an der geschichtlichen Welt. Die Grenze der Humanität verläuft dort, wo sie einzutreten versucht in Gesellschaft und Geschichte. »Da kommt das Schicksal - roh und kalt«: Zur Problematik des Schönen in Schillers Dramen Schillers Domäne ist das Geschichtsdrama. Seine bedeutendste Leistung als Dramatiker bildet die »Wal-lenstein«-Tragödie (1798/99) mit den Teilen »Wallen-steins Lager«, »Die Piccolomini« und »Wallensteins Tod«. Spiegelt sich im ersten Teil die Macht Wallensteins in seinem Heer, eine Macht, die selbst den Kaiser in den Schatten zu stellen beginnt, so gewinnen im zweiten Teil der geschichtliche Handlungsrahmen und die Machtkonstellationen Konturen. Deutlich wird, wie der mächtige einzelne eingebunden ist in ein Geflecht von Erwartungen und Bedingungen, die zunächst von ihm selbst geschaffen, sein eigenes Handeln schließlich bestimmen. Wallensteins Plan, durch 88 Schillers »Wallenstein«-Trilogie Klassik Annäherung an die Schweden, einen Frieden zu erzwingen, leitet seinen Untergang ein. Wo er noch frei .•iilscheiden zu können glaubt, haben ihn die Folgen seines Planens längst eingeholt, zumal er zaudernd und zögernd sich alle Türen offenzuhalten versucht. Max, der jugendliche Freund Wallensteins, Sohn des kaisertreuen Octavio Piccolomini, zerrissen zwi-::< hen Legalität und Freundschaft, Pflicht und Nei-l'.ung, sucht den Tod in der Schlacht. Die erhabene LiI dokumentiert den unbedingten Willen zur sittlichen Reinheit und persönlichen Freiheit. Fassungslos steht Thekla, die Tochter Wallensteins, am Grab ihres Geliebten. Das Schöne, die vollkommene Harmonie von Pflicht und Neigung hat keinen Platz in der geschichtlichen Welt, in der der einzelne seine Freiheit nur retten l.inn, wenn er sich aus ihr verabschiedet. In tragi-si hem Irrtum bleibt Wallen-sicin selbst befangen. Bis zum lli Muß glaubt er, die Geschicke 11.11 ir eigenem Willen lenken .•11 können, so lange, bis ihn il.is Schicksal einholt und er ilrii Tod durch die Hand eines Morders findet. Geschichte ist I i'in Raum der Selbstverwirk-I11 hung, sondern Schauplatz dir Kapitulation und der li.igödie des Individuums. Die tragische Verflechtung des einzelnen mit der Ge-M Lichte bestimmt ebenfalls Schillers »Maria Stuart« (1 Mi 10). Im Machtkampf der Königinnen trägt Elisa-I ni 11 den politischen Sieg davon, indem sie ihre Rivalin Maria nach einer gescheiterten Aussprache hin-1 ii hlen läßt. Moralische Siegerin aber ist am Ende Maria, die das über sie verhängte Schicksal annimmt, das I) nausweichliche in freier Willensentscheidung I»■ 1.1111 und so die Freiheit der »schönen Seele« zurück-IV'winnt. Elisabeth aber zahlt für ihren Triumph mit ili'iu Preis persönlicher Isolation und der Einsamkeit. - Da kommt das Schicksal - roh und kalt Faßt es des Freundes zärtliche Gestalt Und wirft ihn unter den Hufschlag seiner Pferde - - Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Friedrich Schiller, Monolog Theklas im 4. Aufzug, 12. Auftritt von »Wallensteins Tod« *$&> Szenenbild zu Schillers »Wallensteins Lager«, kolorierter Kupferstich von C. Müller 89 Klassik »Wilhelm Tell« Wilhelm Toll Gemälde von Ferdinand Hodler »Maria Stuart« ist klassisch streng komponiert. Die Akte i und 5, Exposition, und Finale, stehen im Zeichen Marias, 2 und 4, aufsteigende und abfallende Handlung, stellen Elisabeth in den Mittelpunkt. Dazwischen liegt im 3. Akt, genau im Zentrum, das Gespräch der Königinnen, die sogenannte Peripetie, der Scheitelpunkt der dramatischen Handlung, auf dem der Umschlag in die Katastrophe erfolgt. »Wilhelm Teil« (1804), Schillers letztes vollendetes Diania, behandelt das Streben der Bewohner von Sihwy/, Uri und Unterwaiden nach Freiheit von der Unk idi iickung und Ausbeutung unter dem habsbur-gisclun Reichsvogt. Die Naturidylle, mit der das Stück t uiset/l, wird schon bald darauf durch die brutale geschichtliche Wirklichkeit zerstört. Entschlossen ist man beuit, die Tyrannen Herrschaft zu brechen (»Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern.«). Die Entscheidung führt der Einzelgänger Teil herbei. Nachdem ihn Gelsler gezwungen, hat, einen Apfel vom Kopf seines Soh nes zu schießen, erschießt er den Vogt aus dem. Hinterhalt und gibt so das Signal, zur Vertreibung der Unterdrücker. Am Ende ist die Idylle des Anfangs wiederhergestellt. Schillers »Volksstück« ist getragen, vom Konflikt zwischen politischer Macht und ursprünglicher Natur, den die Natur für sich entscheidet, weil alle Macht, die dem Menschen Gewalt antut, widernatürlich ist. Siegreich ist in einer optimistischen Wendung weniger die revolutionäre Tat als die natürliche Ordnung. In seinem letzten Drama setzt Schiller das Schöne als unveräußerliches Naturrecht wieder ein. Die Aufhebung des Tragischen geht einher mit ungeschichtlicher Legendenbildung, wie sie in der sagenhaften Gestalt Teils vor allem ihren Ausdruck findet. Goethes »Faust« - Das Spektrum menschlicher Existenz Anknüpfend an die »História von D. Johann Fausten« (1587), entwarf Goethe die ersten Szenen bereits zwischen 1773 und 1775.1808 war der Tragödie erster Teil 90 ilÄirtliífilfellŕlim'lil: iiaillM! abgeschlossen. In einem vorausgeschickten Dialog zwischen dem Herrn und Mephistopheles erscheint ľaust als der beispielhafte Vertreter der Menschheit, der verdient, erlöst zu werden, solange er strebt. Die eigentliche Faust-Handlung zerfällt in zwei leile. Am Anfang steht die Tragödie des Erkennenden, der jedoch trotz »heißen Bemühns« und der Zuflucht zur Magie nicht herauszufinden, vermag, -was die Welt im Innersten zusammenhält«. Bei seinem Osterspaziergang entdeckt er in sich neben seinem Erkenntnisdrang den bisher vernachlässig-ii-ii Lebenshunger. Von Mephisto verjüngt, beginnt er, das Diesseits in vollen Zügen zu genießen. Dem Teufel aber, so die llľdingung des Pakts, wird er nur dann verfallen, wenn er sein Streben, aufgibt und im Augenblick des Genie-Kens verharrt. Zwischen dem Trinkgelage in Auerbachs Keller und den grob sinnlichen Ausschweifungen in der Walpurgisnacht liegt die Gretchen-Hand-liing, in der Faust Schuld auf sich lädt und so auch als liebender tragisch scheitert. Fragwürdigerscheint gerade hier das ich-bezogene faustische Streben. »Der Tragödie zweiter Teil«, 1832 im Todesjahr 1 loethes abgeschlossen, war wohl kaum für die Bühne gedacht. An die Stelle der Darstellung eines Lebenslaufs tritt die symbolische Gestaltung von Ideen. .-'war ist Faust zwischen Streben und Schuld weiterhin präsent, mehr und mehr aber erscheint er als personales Medium für ein gedankliches, philosophisches Programm. Zentral sind die einzelnen Ent-wii klungsstufen der Verwirklichung, der Verwandlung und der Steigerung. Im Finale wird Fausts Seele über immer höher I hin ende Stufen in den Himmel entrückt. Trotz Ver-wic k lung in Irrtum und Schuld hat er den Pakt mit Mephistopheles zu seinem eigenen Heil entschieden. . Wi ■ r immer strebend sich bemüht, /Den können wir ii losen.« Die Vollendung des Menschen ist auch in 1 a h • 1 h es Alters werk weniger als erreichtes Ziel denn if. immerwährender Weg zu ihm gestaltet. Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh' ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr' Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum-Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen. Anfang des berühmten Faust-Monologs Faust und Gretchen, Gemälde von G. H. Naeke 91 Klassik »Wilhelm Meister« Daß ich Dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich eben diese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als Du glaubst, und sie besser benutzt, als Du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach Deinem Sinne sein sollte. Wilhelm Meister in einem Brief an einen Freund in J. W. v. Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre« Epische Modelle - Der Erzähler Goethe Goethes dichterisches Werk umfaßt in allen Schaffensphasen Lyrik, Epik und Dramatik, die drei »Naturformen« der Dichtung, wie er es selbst einmal formulierte. Nach dem »Werther« und den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« (1795), einem Novcllcnzyklus in der Nachfolge von Boccaccios »Decameronc« (um .1350), wandle er sich dem. Bil-dungs- und Entwicklungsroman zu. Zwischen 1795 und 1796 erschienen »Wilhelm Meislers Lehrjahre«. Dem Helden gehles darum, »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«. Aus wohlhabendem bürgerlichen I lause stammend, empfindet er die Weit des Geldes und der Geschäfte als einengend und versucht, in der theatralischen Kunst seine Persönlichkeit zu entfalten. Nach dem Tod des Vaters finanziell unabhängig, widmet er sich verstärkt seiner Selbstverwirklichung. Zur Kultur des Bürgertums und zur Kunst treten als weitere Bildungsmäch-tc der Adel, der Pietismus sowie die Aufklärung und das Freimaurertum (Turmgesellschaft). Doch der Bildungsprozeß muß so lange unvollendet bleiben, wie Wilhelm zu sehr sein Selbstwertgefühl betont und dabei den Gemeinsinn vernachlässigt. Erst in der Gesellschaft scheint eine Selbstverwirklichung möglich. Folgen die »Lehrjahre« geradlinig dem Lebenslauf des Helden, so gbt Goethe in den 1821/29 (Umarbeitung) erschienenen »Wilhelm Meisters Wanderjahren« das lineare Erzählprinzip auf. Das handlungsarme Geschehen zerfällt in eine Fülle von kleinen Erzählformen, die Gehalte und Ziele der persönlichen Bildung reflektieren. Im Vordergrund steht die Einsicht des gereiften Helden in die Notwendigkeit, sich »als ein nützliches, als ein nötiges Glied der Gesellschaft« auszubilden. Wilhelm Meister hat erfahren, daß der Mensch in seinem Denken und Handeln begrenzt ist, und bekennt sich zur Entsagung, zur Integration des Ichs in die Gesellschaft. Tragisch endet die Entwicklung in Goethes 1809 erschienenem Roman »Die Wahlverwandtschaften«. 92 f »Die Wahlverwandtschaften« Klassik Anknüpfend an eine zeitgenössische Veröffentlichung ,111s der Chemie, nach der Elemente einmal eingegangene Verbindungen wieder auflösen, um Verbindungen mit anderen Elementen einzugehen, stellt der lloman vier Personen in einer Art Experiment in riiien Zusammenhang von Reiz und Reaktion. Den Ulieleuten Charlotte und Eduard stehen Ottilie, die Nichte Charlottes, und der Hauptmann, ein Freund liduards, gegenüber. Schon bald entwickeln sich emotionale Beziehungen zwischen Eduard und Ottilie auf der einen und Charlotte und dem Hauptmann .111 (der anderen Seite. In einer von Eduard mit Char-liilte verbrachten Liebesnacht kommt es zu einem doppelten, wenn auch nur vorgestellten Ehebruch. 1 Üiarlotte glaubt, den Hauptmann, Eduard, Ottilie in 1I1'ii Armen zu halten. Tatsächlich ähnelt das Kind dieser Nacht sowohl Ottilie als auch dem Hauptmann. Während aber Charlotte und der Hauptmann allen Versuchungen widerstehen, kann Eduard der magi-M hon Anziehungskraft Ottilies nicht Herr werden. Nach einer Reihe tragischer Verwicklungen sterben 1111 i lie und Eduard und werden nebeneinander in der K.ipelle beigesetzt, wo sie einem gemeinsamen Er-w.iHien entgegenschlafen sollen. Erfüllung wird in eine vage Zukunft verlegt. Die .1 hicksalhaft empfundene Liebe l'ei.it in Konflikt mit der Ordnung der Ehe und zerstört die l'esellschaftlichen Bindungen, her zurückbleibende Eindruck kí zwiespältig. Ein vollkomme-nei Hinklang von bedingslosem 1 leliihl und gesellschaftlicher Heilingung scheint nicht mogln Ii. Die Ordnung kann nur il.iiin aufrecht erhalten werden, wenn man wie Charlotte und ■ lei I lauptmann in sittlicher ľieilioit entsagt. Goethe in seinem Arbeitszimmer, Gemälde von J. Schmeller, 1831 93 l KjpSiJ k:: Bib i^ÍÚ!ei^rv HI #i:ltej:ŕ; f, f Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wle-derkäuete sich. Aus der berühmten Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, in Jean Pauls «Siebenkäs« Jean Paul, Gemälde von H. Pfenniger, 1797 Geniale Gegenstimmen: Jean Paul, Hölderlin, Kleist Der vergleichsweise homogene Eindruck klassischer Literatur, solange man sich auf die engere Weimarer Klassik beschränkt, täuscht. Das Ideal der Humanität, der Glaube an die Utopie vollendeter Menschlichkeit gelten im strengen Sinn nur für das Denken und Dichten Goethes und Schillers. Zu ihren Stimmen bildeten sich früh Gegenstimmen, die weniger das Ideali-sche und Utopische als das Tragische menschlicher Existenz betonten. Bezieht man die Werke Jean Pauls (1763-1825), ľ'riedrich Hölderlins (1770-1843) und I leiiirich von Kleists (1777-18:1:1) in die sogenannte klassische Phase der deutschen Literatur mit ein, so ergibt sich ein durchaus differenziertes, spannungsreiches literarisches Prolil, das die oft einseitigen Darstellungen korrigiert und vertieft. Die Beschwörung idealer Humanität war nur eine Antwort auf das revolutionäre Zeitalter, die andere war ein tief verunsichertes, von Geschichtspessimismus geprägtes Bewußtsein. In seinem Roman »Siebenkäs« (1796/97) erzählt Jean Paul (eigentlich Johann Paul Friedrich Richter) die Geschichte der allmählichen Entfremdung der Eheleute, verbunden mit den Leiden an den Konventionen und der Pedanterie bürgerlicher Wirklichkeit, die den einzelnen immer wieder in seinem eigenen Innern Zuflucht suchen läßt. Charakteristisch ist die Spannung zwischen empfindsamer, nach innen gewandter Schwärmerei und satirischer Entlarvung der äußeren Welt. Jean Pauls zwischen 1800 und 1803 erschienener Roman »Titan« zeigt die Zwiespältigkeit idealer Erziehungskonzepte. In dem Maß wie Albano auf dem Weg zur harmonischen Persönlichkeit voranschreitet, werden seine menschlichen Konturen undeutlicher. Markanter scheint eine Gestalt wie Roquairol, der, zerissen und amoralisch, die Fragwürdigkeit eines Lebens offenbart, das sich allein dem schönen Schein der Kunst verschrieben hat. Nach einer Aufführung erschießt er sich auf offener Bühne. »Titan sollte heißen Anti-Titan«, schreibt Jean Paul in einem Brief, »je- 94 MM '$äiä!.^M^P^SWMlE ri:Äsii1: der Himmelstürmer findet seine Hölle.« Im komischen Anhang zum »Titan« erscheint der Mensch in der Erzählung »Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch« einsam und verloren zwischen Himmel und Erde. Jean Pauls fragmentarischer Roman »Flegeljahre« (1804/05) ist zunächst als Erziehungsroman angelegt, .ilier schon bald drängt sich die Kontrastierung der unterschiedlichen Brüder Walt und. Vu.lt in den Vordergrund. Sieht der eine die Welt mit den Augen poetischer Phantasie, so der andere aus der Sicht des Satirikers. Beide sind auf ihre idealistische bzw. rea-lislische Haltung festgelegt. Eine Veränderung oder ľ,.ir eine Entwicklung scheint ausgeschlossen. Bei ■einem Abschied hinterläßt Vult seinem idealistisch eingestellten Bruder einen Brief: »Gehabe dich wohl, du bist nicht zu ändern, ich nicht zu bessern.« Jean l'.iuls Romane stellen das klassische Menschenbild, die angebliche idealische Bestimmung des Menschen im Frage. Der Bildungsoptimismus droht immer wieder an den Bedingungen einer Welt zunichte zu werden, der sowohl die Perspektive als auch, der hnhere Sinn abgeht. Friedrich Hölderlins Oden in antiken Versmaßen, l'edankliche Gedichte in hohem, feierlichem Stil, und leiiie in Distichen geschriebenen Elegien, beide zwi-■» lien 1797 und 1806 entstanden, gehören zu den bedeutendsten lyrischen Leistungen der deutschen I ileratur. Ausdrücklich nennt Hölderlin, seine Oden ■■Magisch«, geprägt von dem ursprünglichen Verlust ile;; liinklangs von Natur und Leben, der selbstver-•il.inillichen Harmonie des Göttlichen mit dem Menschlichen. Die antiken Formen sind Ausdruck der Sehnsucht nach der idealisierten altgriechischen ,'eil. Aber das Ziel des ersehnten Einklangs mit der M.iliir und den Göttern bleibt unbestimmt und iiiil.ilsbar. Beherrschend ist das Bewußtsein des 1111 w iederbringlichen Verlusts. 1111 mer wieder findet sich das lyrische Ich allein mit ■ einer Sehnsucht, unzugänglich sind ihm die Licht-mic h<> der Erfüllung. »Seit der gewurzelte / Allent- Ganz allein wie das letzte Leben flog ich über die breite Begräbnisstätte der schlafenden Länder, durch das lange Totenhaus der Erde. Jean Paul, »Titan' Friedrich Hölderlin, Gouache von K. Hiemer, 1792 95 Klassik Heinrich von Kleist Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Friedrich Hölderlin, "Die Hälfte des Lebens« Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinen wenig zu achten, Ob wir leben ... Friedrich Hölderlin, »Brot und Wein« Heinrich von Kleist. Miniatur von P. Friedel, 1801 1 zweiende Haß Götter und Menschen trennt« (»Der Abschied«), sind Frieden und Liebe geschwunden, und der Dichter ist erfüllt von tiefer Trauer. Die »leidenden Menschen« fallen »Jahr lang ins Ungewisse hinab« (»Hyperions Schicksalslied«). Am Ende stehen die Leere und die Kälte, die Hoffnung, die vergebens auf Antwort wartet. In der großen Elegie »Brot und Wein« »rauschen die Waffen nicht mehr / In Olympia«, und »schweigen auch sie die alten heiigen Theater«. Ins Leere gehen die Fragen nach den Tempeln, nach den Gesängen und den Göttern. Nur noch ein »Traum von ihnen ist... das Leben«. Unerfüllt und zcrissen ist die Zeil, fern von den Göttern, ein Leben unerfüllter, unerfüllbarer Sehnsüchte. Heinrich, von Kleist, die dritte gewichtige Gegenstimme zur Weimarer Klassik, ist Dramatiker und Erzähler von hohem Rang. Mit dem »Zerbrochenen Krug« (1808) schrieb er eine der wenigen bedeutenden Komödien der deutschen. Literatur. Das einaktige Stück, das mit dem Erwachen des an Kopf und Bein verletzten. .Dorfrichters Adam einsetzt und mit seiner Flucht endet, zeigt das Recht in der bürgerlichen Gesellschaft in einem bedenklichen Zustand. Der Richter, der sein eigenes Vergehen verhandelt, denn er hal den Krug zerbrochen, als er einem Mädchen nachstellte, versucht vor den Augen des Gerichtsrats, den Prozeß zu verschleppen, Tatbestände zu verdunkeln, Zwang auf Zeugen auszuüben und den Unschuldigen schuldig zu sprechen, während das betroffene Mädchen aus Scham zunächst schweigt. Nur die Gegenwart des Gerichtsrats verhindert eine menschliche und gesellschaftliche Katastrophe, den Triumph des Unrechts über das Recht. Deutlich aber wird die Gefährdung der Gesellschaft durch Autoritäts- und Macht-mißbrauch. Komik und Tragik liegen dicht beieinander, / Im gleichen Jahr wie die Komödie erschien Kleists \ 1 rauerspiel »Penthesilea«. Die Amazonenkönigin und ■ Achill begegnen sich vor Troja und fassen eine leiden- X schaftliche Liebe zueinander. Unfähig aber, sich unter den gegebenen Umständen dem anderen mitzuteilen, 96 !:pjf§§|förit^ Inirimt es zu Mißverständnissen und tragischen Verwicklungen. Leidenschaft schlägt um in Aggression. In einem mörderischen Zweikampf finden beide den Ind. Der Ausbruch des zerstörerischen Affekts, die I iiinpromißlose Leidenschaft stellen das edle Maß des Menschen und die Möglichkeit seiner Humanisierung in Frage. Kleists Trauerspiel widerlegt die humane Utopie der Weimarer Klassik, indem er an die Stelle Iphige- .....s Penthesilea, an die Stelle des idealisierten Kunst- l'eschöpfs den Menschen aus Fleisch und Blut setzt. Die Entdeckung des leidenschaftlich bewegten Men-■■■1 lien und die Gewißheit eines im Kern gebrechlichen Wellzustands ließen Kleist zum Begründer der modernen deutschen Novelle werden. »Michael Kohlhaas« h ilel den ersten, 1810 erschienenen Band der Erzählungen ein. Es ist die tragische Geschichte eines Pferdehändlers, dem offenbares Unrecht zugefügt wird, II ml der, sein Recht verfolgend, sich selbst in äußerte:; Unrecht verstrickt. Das entfesselte Subjekt schickt m h an, die Welt aus beleidigtem Rechtsgefühl in ein 1 li.ios zu stürzen. Zum Schluß wird zwar der Rechts-1 inland wiederhergestellt, zurück aber bleibt das Ge-I11I1I einer erregenden Verunsicherung. Kleist gestaltet die Novelle musterhaft als Darstellungeines Prozesses, dei zwar vom Menschen ausgelöst, seiner Kontrolle ihei entgleitet und sich verselbständigt. Der Wende- I.....kl, typisch für die Handlungsführung der Novel- le. ľ;I dort verwirklicht, wo die scheinbar gefestigte 111111111 ng in die um sich greifende Unordnung .....::i hlägt, die den wahren Weltzustand entlarvt. I »ein Menschen kann »um der gebrechlichen Ein- III h 11111 g der Welt willen« verziehen werden, der Glau-lie an die Vollendung des Menschen und die Vervoll-I" n 1111 n ung seiner Verhältnisse ist aber 1 in h mnmer Wunsch. Neben Jean Paul mul I lölderlin ist es insbesondere ľ lenil, der die dunkle Seite der Literatur ■ I« 1 ľ l.issischen Phase repräsentiert 111111 A11 s toß gibt zu einer Revision des ill, u engen Klassik-Begriffs. MEJt. & Anekdote Bach, als seine Frau starb, sollte zum Begräbnis Anstalten machen. Der arme Mann war aber gewohnt, alles durch seine Frau besorgen zu lassen; dergestalt, daß da ein alter Bedienter kam, und ihm für Trauerflor, den er einkaufen wollte, Geld abforderte, er unter stillen Tränen, den Kopf auf einen Tisch gestützt, antwortete: »sagts meiner Frau.« -Heinrich von Kleist ist einer der bedeutendsten Autoren der Anekdote, der knappen pointierten Darstellung spontaner Einfälle. Der Richter oder der zerbrochene Krug, Stich von J. J. te Veau. Dieser Stich gab den Anstoß zu einem literarischen Wettstreit, den Kleist mit seiner Komödie für sich entschied. 99 Romantik Desillusionjert nach der Revolution 1804 Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3 »Eroica« 1807 Edikt zur Bauernbefreiung in Preußen 1810 Heinrich von Kleist und Adam Müller geben die »Berliner Abendblätter« heraus. 1817 Wartburf'lest (Deutsche Bursehenschaft) 1819 Ermordung Kotzebues; Karlsbacher Beschlüsse (Demagogenverfolgung) 1817 Waltor Scotts »Ivanhoe« erscheint auf deutsch. 1821-29 Griechischer Befreiungskampf 1832 Hambacher Fest (Massenkundgebung gegen die Reaktion) 1837 Die Göttinger Sieben (u.a. Entlassung der Brüder Grimm aus ihren Professorenämtern) 1841 Leopold Ranke wird Historiograph des preußischen Staats Kreidefelsen auf Rügen, Gemälde von Caspar David Friedrich, um 1818. Der Blick des Betrachters geht hinaus in die Unendlichkeit des Meeres, über dem die Morgenröte eines neuen Tages liegt. Flucht in die Unendlichkeit Die zumeist in den siebziger Jahren des i8. Jahrhunderts geborenen Romantiker erlebten die 1789 einsetzende Französische Revolution bereits in jungen Jahren als Aufbruch und Sackgasse, als liberale Verheißung und, angesichts des blutigen Terrors, als Enttäuschung. Desillusioniert von der zunächst begrüßten geschichtlichen Umwälzung, die in die Militärdiktatur Napoleons mündete, wandten sie sich ab von der realen politischen Szene. Vollendung koiinle für sie im Unterschied zum klassischen Idealismus nicht länger in der endlichen Wirklichkeit erreicht werden, sondern allein in einer poetisch, geahnten und gestalteten unendlichen Welt, in der die realgeschichtlichen Bedingungen ihre Gültigkeit verloren und die tinge der Verhältnisse in der Weite der Phantasie überwunden war. Die Sehnsucht öffnete die eingeschränkten und einschränkenden Gesellschafts- und Geschichtsräume. In der Perspektive der Träume und Ahnungen gewann das Reich des Uneingeschränkten, Unbedingten Gestalt. Nicht das, was ist, sondern das, was wird, nicht der graue Alltag, sondern das bunte Reich der Phantasie erschienen den Romantikern darstellenswert. Daher spielten Liebe und Tod, Überschreitung und Auflösung der engen persönlichen Grenzen eine zentrale Rolle. Zugleich hatten das Chaos der Revolution, die Entfesselung politischer Gewalt den Romantikern die Augen für die Nachtseiten der Natur, für das Grauen vor dem mensch- 98 Die drei Phasen der Romantik Romantik lieh Abgründigen geöffnet. Phantasie und Phanta-stik, Hoffnung auf Entrückung ins Unendliche und Angst vor der Verstrickung im Endlichen prägten das romantische Bewußtsein. »Progressive Universalpoesie« - Das frühromantische Literaturkonzept a, ,. t Die romantische Bewegung entfaltete sich in drei Phasen. Die philosophisch bestimmte . Frühromantik setzte 1797 mit Wilhelm Heinrich Wackenrodcrs (1773-98) »Herzensergie- """" ■'■""" ßungen eines kunstliebcnden Klosterbru- ■ .,,,,,,...... tiers« in Berlin ein und fand, in Jena mit der Programmzeitschrift »Athenäum« ihren ; <2ä» Höhepunkt. Friedrich Schlegel formulierte im 116. Athenäumsfragment den zentralen Begriff von der »progressiven. Universalpoesie«, die sowohl das Wirkliche wie das Mögliche, das Diesseitige wie das Jenseitige, die Phantasie wie das Phantastische umfassen und verändernd in alle Lebensbereiche eindringen sollte. Ziel war eine poetische Umgestaltung des Daseins aus der Sicht schöpferischer Phantasie. Mit August Wilhelm Schlegels Berliner »Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst« (1802-04) klang die erste Phase aus. Die mittlere oder auch Heidelberger Romantik genannte Phase reichte bis 1815. Vorherrschend wurde die Dichtung selbst. Besonderes Interesse galt der sogenannten volkstümlichen Dichtung, dem Volkslied und dem Märchen. Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben zwischen 1806 und 1808 »Des Knaben Wunderhorn«, eine Sammlung volkstümlicher Lyrik heraus. Zwischen 1812 und 1819 erschienen die »Kinder- und Hausmärchen« der lirüder Grimm. Die Spätromantik reichte bis 1830 und darüber hinaus. In dieser Phase traten verstärkt religiöse Bewegungen hervor. Daneben nahmen die Tendenzen zu, das Gefährdete und Abgründige mensch-I icher Existenz darzustellen. 99 Titelseite der wichtigsten Programmzeitschrift der Romantik (»Athenaeum«) Autoren der Frühromantik (1797-1804) Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-98) Friedrich Schlegel (1772-1829) August Wilhelm Schlegel (1767-1845) Ludwig Tieck (1773-1853) Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ./Ŕffittantill; Verfremdung: der Wirklichkeit Titelentwurf von Clemens Brentano für den 1808 erschienenen zweiten Band von »Des Knaben Wunderhorn« Sprich aus der Ferne! Sprich aus der Ferne Heimliche Welt, Die sich so gerne Zu mir gesellt. Wenn das Abendrot niedergesunken, Keine freudige Farbe mehr spricht, Und die Kränze still leuchtender Funken Die Nacht um die schattige Stirne flicht: Wehet der Sterne Heiliger Sinn Leis durch die Ferne Bis zu mir hin. Clemens Brentano 100 > Triffst du nur das Zauberwort Lyrik als magische Gebärde In den Gedichten von Novalis, Bicntano und Eichendorff erreichte die lomantische Lyrik ihren charak-tt nsiischen Ausdruck und ihren I lolicpunkt. Endliches begann du i c hsic.hl.ig zu werden für Unendliches Au ľ den frühen Tod seiner Gc he htc n Sophie antwortet Novalis mit den sechs 1800 gedruckten »I lyrnru n an die Nacht«. Die Nacht ist I ic Ix s und Todcsnacht zu-gkich in der, sie durchschreitend, dei Mensch seine Erlösung und seine Wiedergeburt in einer raum-und zeitlosen Existenz erfährt. Wie Chiistus so ist auch Sophie den Liebestod gestorben, der für die noch im Raum und in der Zeit Hinterbliebenen künftige Verheißung bedeutet. Das Erlebnis der Liebe und des Todes löst die Begrenztheit des Lebens auf und läßt die Ewigkeit ahnen. Endliche und unendliche Wirklichkeit durchdringen sich auch in den »Geistlichen Liedern« (1801). Am »Tisch der Sehnsucht« wird der Mensch der versöhnenden Liebe teilhaftig. Die Lyrik Clemens Brentanos übersteigt in kühnen Metaphern immer wieder die Wirklichkeit und verfremdet und öffnet sie zugleich für die Botschaften aus einer Welt jenseits des beengten und bedrük-kenden Alltags. Beschwört er in »Sprich aus der Ferne« die unendliche heimliche Welt der Sterne, verschmelzen im »Abendständchen« Akustisches und Visuelles in entgrenzenden Synästhesien (Verschmelzung von Sinneseindrücken) und löst sich die Welt im »Wiegenlied« in eine allumfassende, tönende atmosphärische Stimmung auf, so artikuliert sich im »Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe« die Sehnsucht des Menschen nach der verlorenen Heimat jenseits der Zeit. In dem Gedicht »Nachklänge 1 Lyrik'uhcí IVlüisiR Romantik lleethovenscher Musik« gestaltet Brentano die innige Verflechtung von Musik und Dichtung in. der Roman-lik. Die Musik hebt den Menschen weit über alle Grenzen hinaus. »Und nun klingen all die hellen / Sternensphären meiner Seele.« Ähnlich wie Brentano fügt der spätromantische Lyriker Joseph von Eichendorff, dem ganzheitlichen Denken der Romantik verbunden, seine Gedichte in Erzählungen und Romane ein. Seine insbesondere vom Volkslied inspirierten Gedichte umkreisen wenige Motive. Das einsam wandelnde lyrische Ich genießt die blitzende Morgenfrische wie die verheißungsvolle Nacht, es durchstreift die Felder, Täler und Wälder mit dem Blick auf die unablässig dahinfließenden Ströme und die aufragenden Höhen und fühlt sich immer wieder ergriffen von der Sehnsucht und dem Fernweh im Schmerz über sein Begrenztsein in der bürgerlichem Existenz. Die Natur richtet seinen Blick auf und offenbart ihm die Nähe des Schöpfers. Die Gegenwart ist durchdrungen von der Ahnung einer höheren Welt, zu der ihm die Sehnsucht den Weg weist. In dem berühmten Gedicht »Mondnacht« entfaltet die Seele ihre Flügel, »als flöge sie nach Haus«. In der Möglichkeitsform erscheint die Wirklichkeit nur noch als Ort des Aufbruchs. Volkstümlich geworden sind Gedichte wie »Abschied« (»O Täler weit, o Höhen«), »Heimweh« (»Wer in die Fremde will wandern«), »Sehnsucht« (»Es schienen so golden die Sterne«), »Das zerbrochene Ringlein« (»In einem kühlen Grunde«), »Der Einsiedler« (»Komm Trost der Welt, du stille Nacht«), Volksmärchen / Kunstmärchen Der poetische Charakter des Märchens, seine Weigerung, verwirklichte Wirklichkeit einfach hinzunehmen, mußte vor allem die Romantiker faszinieren, die in der volkstümlichen Überlieferung die ursprüngliche Poesie der Gattung wiederentdeckten. Zwischen 1812 und 1819 gaben Jakob und Wilhelm Grimm die zumeist auf mündliche Überlieferung Titelseite von Robert Schumanns Vertonung des Eichendorff-Gedichts »Mondnacht«, Zeugnis inniger Verbindung von Dichtung und Musik in der Romantik Die Brüder Grimm, Gemälde von Elisabeth Jerichan, 1855 101 5685 Romantik Märchen Illustration von Otto Ubolohde (1907) zu dem Grimmschen Märchen »Rapunzel« Autoren der mittleren Romantik (1805-1815) Achim von Arnim (1781-1831) Clemens Brentano (1778-1842) Johann Joseph Görres (1776-1831) Joseph Görres (1776-1859) Jakob Grimm (1785-1863) Wilhelm Grimm (1786-1859) Zacharias Werner (1768-1823) Clemens Brentano, Gemälde von Emilie tinder, 1835 zurückgehenden »Kinder- und Hausmärchen« heraus. Mit ihnen war der Typus des Volksmärchens geschaffen, wenn insbesondere auch Wilhelm Grimm in die überkommenen Texte stilistisch und strukturell erheblich, eingriff. Durch Kontamination. (Verknüpfung) mehrerer Versionen, Umstrukturierung der Handlung und einheitliche Stilisierung entstand ein t harakteristischer Märchen typ. Als \ ol kstü m lieh können a ngesprochen werden die einfachen Strukturen, der I ei ch I vers tä n d I i c he, bi kl ha ft a n seh au-hche Ausdruck, die Perspektive der Zu kurzgekommenen und Glücklosen und schließlich die Glücksfiktion selbst. Prägend wirkt im sogenannten Volksmärchen vor allem, die weiterhin spürbare Herkunft aus den. untersten sozialen Schichten. Volksmärchen in diesem Sinn sind individuell bearbeitete kleine Erzählungen mit überkommenen Inhalten, Motiven und Sinnbildern, die in einfacher Sprache und nicht komplexer Struktur die soziale Wirklichkeit des Mangels durch die wunderbare, von der Kraft des Wünschens vorangetriebene Fiktion der Glückserfüllung poetisch ausgleichen. Mit den Volksmärchen teilen die Kunstmärchen Brentanos (»Gockel, Hinkel, Gackeleia«, 1838), Tiecks (»Die Elfen«, 1811), Hoffmanns (»Der Goldene Topf«, 1813/14, »Nußknacker und Mausekönig«, 1816) und Hauffs (»Die Geschichte von Kalif Storch«, 1825, »Der Zwerg Nase«, 1827) als bewußte individuelle Schöpfungen die Fiktion des Wunderbaren, die aber, von der Wirklichkeit oft relativiert und durchkreuzt, die unerfüllte Alltagswelt entgrenzt und dabei ein grundsätzlich skeptisches Ver- 102 :;:VomnMarcheh;zür^ liältnis zur Wirklichkeit zu erkennen gibt. Der literarische Individualstil des Autors Formt die Sprache. Komplexität zeichnet in der Regel die Strukturen aus. Die soziale Orientierung an den untersten Schichten ist eher untypisch. Statt dessen geht es um umfassende existentielle und gesellschaftlich-geschichtliche Problemstellungen. Erfüllung findet in betont imaginären Räumen statt, während die Wirklichkeit ein Ort fortgesetzten Scheiterns ist. Als beispielhaft kann das frühromantische Märchen »Hyazinth, und Rosenblütchen« (1797) von Novalis gelten. Nur jenseits seines sich in Düfte und Klänge auflösenden Alltags kann Hyazinth zu sich selbst finden, indem er träumend in der liebenden Vereini gung mit Rosenblütchen die höchste Stufe seiner Selbsterfüllung erlebt. Joseph von Eichen-dorff, Kolorierte Radierung von Eduard Eichens, entstanden um 1840 Grenzgänge zwischen Märchen und Novelle Der Tendenz der Romantiker, Gattungen, zu mischen, kam die Novelle mit ihren unerhörten. Begebenheiten und überraschenden Wendungen entgegen. Beliebt war vor allem die Verschmelzung der Novelle mit dem Märchen. Wo sich novellistischer und märchenhafter Stil verbinden, entsteht eine Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen der Gewißheit des verlorenen Paradieses und der Sehnsucht nach seiner Wiedererlangung. Ein klassisches Beispiel stellt Friedrich de la Motte Fouqués »Undine« (1811) dar. In der Märchenwelt einer naiven Harmonie von Natur und Mensch erfüllt sich zunächst die Liebe Undines und des Ritters. Der Einzug des Paars in die Reichsstadt bedeutet die Wende vom Wunderbaren zum Wirklichen, vom Märchen zur Novelle. Am Ende ist das Glück des Einklangs von Natur und Mensch zerstört. Romantisierende Illustration zu Friedrich de la Motte Fouqués »Undine« von Julius Höppner, Ende des 19. Jahrhunderts 103 Romantik Öffnung der geschichtlichen Realität Es mögen nun wohl schon viele hundert Jahre her sein, da gab es einmal einen alten guten Fischer, der saß eines schönen Abends vor der Tür und flickte seine Netze. Er wohnte aber in einer überaus anmutigen Gegend. Der grüne Boden, worauf seine Hütte gebaut war, streckte sich weit in einen großen Landsee hinaus, und es schien ebensowohl, die Erdzunge habe sich aus Liebe zu der bläulich klaren, wunderhellen Flut in diese hineingedrängt, als auch, das Wasser habe mit verliebten Armen nach der schönen Aue gegriffen, nach ihren hochschwankenden Gräsern und Blumen und nach dem erquicklichen Schatten ihrer Bäume. Eins ging bei dem andern zu Gaste, und eben deshalb war jegliches so schön. Die Einleitung zu Friedrich de la Motte Fouqués "Undine' ist charakteristisch für die romantische Sehnsucht nach Harmonie von Mensch und Natur Achim von Arnim, Gemälde von P. E. Ströhling »Aus dem Leben eines Taugenichts«, Federlithographie von A. Schroedler, 1842 linde t in der »Uridine« dys Wunderbare im Wirklichen, so nimmt in Adalbert von Cha-missos (1781-1838) »Peter Schlcmihl« (1814) das Wunderbare .seinen Ausgang von einer menschlieh ungenügenden Wirklichkeit. Am Anlang stehen die reiche, aber korrupte bürgerliche Welt und der Kniefall des armen Schlukkers vor dem Reichtum. Mit den Siebenmeilen-stieleln indes distanziert er sich schließlich von der materiell beherrschten Wirklichkeit und kommt in dem Maße, wie er diese hinter sich läßt, dem Wunderbaren näher. Überhaupt zeigt eine Reihe romantischer Novellen die Tendenz, nach der Erfahrung verengter Wirklichkeit die gesellschaftlich-geschichtliche Realität ins Weite und Utopische zu öffnen. Dies gilt neben Achim von Arnims »Isabella von Ägypten« (1812), wo die Zigeunerprinzessin mit ihrem Volk der materiell verblendeten Geschichtswelt den Rücken kehrt, ebenso wie für Joseph von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« (1826), wo sich nach Begegnungen mit dem Spießigen und vordergründig Sinnlichen eine wunderbare Welt der Erfüllung öffnet. Novelle und Märchen gehen in der Romantik mannigfache Verbindungen ein, in denen die Begrenztheiten des Alltags im Ausblick auf ein :- unbegrenztes Dasein jeweils aufgehoben erscheinen. '{«^l 104 iE.T, A, Hoffmann Romantik Das Wunderbare und das Grauen -Der Erzähler E.T. A. Hoffmann. E. T. A. Hoffmann ist der bedeutendste Erzähler der Romantik. Seine Erzählungen gestalten den unauflösbaren Widerspruch von Alltag und Poesie, von der erfahrenen realen Bedingtheit und dem in der Phantasie geschauten Unbedingten. Medium eines Daseins jenseits des Alltäglichen ist für Hoffmann das Kunstmärchen. Sowohl im »Goldenen Topf« (18.1:4) als auch im »Klein Zaches« (18:1:9) gehen die von der Poesie erfüllten und geleiteten Figuren schließlich in ein wunderbares Märchenreich jenseits des Alltags ein. »Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie«, heißt es am Ende des »Goldenen Topfs«, »der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?« Die meisten Novellen Hoffmanns erfassen den Menschen im Einflußbereich dunkler Mächte. Insbesondere in den »Nachtstücken« treten die Menschen getrieben von Verletzungsängsten und dämonischen Verführungsgewalten auf. Nathanael in »Der Sandmann« (1816) erfährt an einem traumatischen Wendepunkt seines Lebens die Besessenheit des Menschen vom technischen Allmachtsstreben. Der Versuch des Geschöpfs, sich an die Stelle des Schöpfers zu setzen, bringt nur Stückwerk hervor und reißt die Opfer in den Abgrund. »Das Majorat« (1817) zeigt den Menschen im Bann politisch materieller Verblendungen. Die starre Bindung an Besitz und Macht beschwört einen phantastisch inszenierten Untergang der Verblendeten herauf. Die zerstörerische Herrschaft des Produkts über seinen Produzenten steht im Mittelpunkt der Novelle »Das Fräulein von Scuderi« (1819). Unter einem bösen inneren Zwang muß der Goldschmied Cardillac seine Werkstücke stets wieder an sich zurückbringen, indem er die Käufer ermordet. In der späten Novelle »Des Vetters Eckfenster« (1822) öffnet sich die eigentliche Wirklichkeit nicht den Sehenden, sondern dem Blinden, »der mit Jfe mmm Illustration zu Hoffmanns »Klein Zaches« von F. Hechelmann, 1978 Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt wie ein guter Por-traitmaler so aufzufassen, daß du es ähnlich findest, ohne das Original zu kennen, ja daß es dir ist, als hättest du die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen. Vielleicht wirst du, 0 mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei als das wirkliche Leben, und daß dieses der Dichter doch nur wie in eines matt geschliffnen Spiegels Widerschein auffassen könne. E. T, A. Hoffmann, "Der Sandmann« 105 Romantik Děr romantische Roman E.T.A. Hofíiruinn (links) und der Schauspieler Ludwig Dovriont in dor Berliner Weinstube von Lutter & Wegener, Gc mäkle von C. Themann Autoren der Spätromantik (1816-1830) Joseph von Eichen-dorff (1788-1857) E.T.A. Hoffmann (1776-1822) Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843) Adalbert von Cha-misso (1781-1838) Bettina von Arnim (1785-1859) Luise Hensel (1798-1876) Ludwig Uhiand (1787-1862) Justinus Kerner (1786-1862) Gustav Schwab (1792-1850) Wilhelm Hauff (1802-1827) 106 emporgerichtetem Haupt in die weite Ferne zu schauen scheint... Sein inneres Auge strebt schon das ewige Licht zu erblicken, das ihm in dem Jenseits voll Trost, Hoffnung und Seligkeit leuchtet.« »Wir leben in einem kolossalen Roman« - Der romantische Roman als Lebensentwurf Im Zentrum tier romantischen Literatur steht der von Goethes »Wilhelm Meister« inspirierte Roman als Ausdruck ties charakteristischen Lebcnsgefühls der iipoche. Ziel ist die Darstellung der Bildung eines Menschen, der liebend und in Auseinandersetzung mit der Welt reif wird für ein erfülltes Leben in der Gemeinschaft. Der romantische Roman gestaltet über die Alltagswelt hinausgehobene Leitbilder, in denen die ideale Existenz in Ahnungen und poetischen Entwürfen Konturen gewinnt, ohne allerdings in der geschichtlichen Gegenwart wirklich Fuß zu fassen. Modell einer solchen Romankonzeption ist Wilhelm Heinrich Wackenroders 1797 entstandenes Werk »Her-zensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders«. Der Tbnkünstler Josef Berglinger ist ergriffen von der Sehnsucht nach einem Leben mit der Kunst, die ihm Weg und Ziel, zugleich ist. Aber seine Hoffnungen auf den Erfolg seiner Musik werden enttäuscht. In seinem frühen Tod spiegelt sich die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben. Der Künstler steht auch im Mittelpunkt von Ludwig Tiecks »Franz Sternbalds Wanderungen« (1798). Der aus der Nürnberger Werkstatt Albrecht Dürers stammende Maler lernt auf seinen Reisen die niederländische und venezianische Malerei kennen. Begeistert von allem Neuen, findet er nicht zu seiner eigenen Kunst. In der Phantasie aber erschließt sich ihm eine Welt, die nur dem wahren Künstler offensteht, sich aber der Konkretisierung beharrlich widersetzt. NoväliSi Kliňgemänn; Romantik »Heinrich von Ofterdingen« (1799) von Novalis, der bedeutendste Roman der Romantik, ist Fragment geblieben. Heinrich wird im ersten, »Erwartung« genannten Teil allein durch die Kunst und die Liebe gebildet. In der Liebe zwischen ihm und Mathilde beginnt sich die reine Selbsterfüllung in der unbegrenzten Zuwendung zum andern zu verwirklichen. Klingsohrs Märchen beschließt den ersten Teil. Der zweite, » Erfüllu mg« ge na n n te Tei 1, ist n i ch t meh r a u sge-führt worden. Flier sollte das Märchen Wirklichkeitwerden und die Alltagsweltsich auflösen. Aber die Überführung ins Wunderbare, für das bei Novalis das Symbol der »blauen Blume« steht, mußte Fragment bleiben, weil das Märchen nur geahnt, nie inals aber in den engen Grenzen des Alltags verwirklicht werden kann. In diesem. Sinne führt auch Eichendorff seinen Helden, den Grafen Friedrich, in »Ahnung und Gegenwart« (1811) nach einer ausgedehnten Phase des Schweifen s zur Einsicht ins Unge-nügen der Welt. Am Ende zieht sich Friedrich, allen weiteren Versuchen, sein Glück in der Welt zu finden, entsagend, in die Stille eines Klosters zurück. In den Ernst August Friedrich Klingemann (1777-r83i) zugeschriebenen, anonym erschienenen »Nachtwachen. Von Bonaventura« (1804) erscheint die Sinnlosigkeit des Lebens unaufhebbar. Der Nachtwächter, Jakob Böhme-Leser, Puppenspieler und Tollhäusler in einer Person, kommentiert bei seinen nächtlichen Rundgängen die verworrenen Verhältnisse in einer deutschen Residenz. Verbunden sind die locker gereihten Episoden durch die trostlose Perspektive des Kommentators, dem die Öde der Welt fortgesetzt begegnet, ohne daß sich Ausblicke auf das Unbedingte und Unendliche öffnen. Der Roman ist Zeugnis der schwarzen Romantik, die das Ungenügen an der endlichen Welt durch den konsequenten Verzicht auf poetische Entgrenzung bis zum Grauen vor der absoluten Leere steigert. Novalis, Gemälde von F. Gareis, 1799 Clemens Brentanos Roman »Godwi« (1801) ist ein ins Unendliche fortgesetztes Spiel, in dem lineare Handlungsabläufe regelmäßig durchbrochen, eine Fülle von Lebenslinien verwirrend miteinander verknüpft und Perspektiven ständig verschoben werden. Ergebnis ist eine fortschreitende Auflösung von Wirklichkeit, eine Aufhebung von Zeit. Gegen die reale Begrenzung setzt der Roman die Entgrenzung eines von Liebe, Natur und Kunst erfüllten Daseins. 107 Romantik Phaňtastikund Grauen E.T. A.Hoffmann, »Die Elixiere des Teufels«. »Da erhob sich plötzlich ein nackter Mensch bis an die Hüften aus der Tiefe empor und starrte mich gespenstisch an mit des Wahnsinns grinsendem, entsetzlichem Gelächter.« Zeichnung von T. Hosemann, 1844 Der Kapellmeister Johannes Kreisler, Aquarell Hoffmanns, 1815. Die Romanfigur trägt viele Züge von Hoffmann selbst. In dieser Tradition steht auch Hoffmanns phantastischer Roman »Die Elixiere des Teufels« (1815). Angeregt durch Lewis' »The Monk« (1796), stellt Hoffmann einen unter einer teuflischen Droge mordenden und vergewaltigenden Mönch in den Mittelpunkt der Handlung. Ein entfesselter Trieb bricht sich Bahn, alle moralischen Barrieren niederreißend und sich ins Anarchische und Perverse verstrickend. Gestalt gewinnen die Nachtseiten der Natur und des Menschen. Die romantische Bewegung öffnete den Blick nicht nur in die Weite einer möglichen Erlösung, sondern auch in die Tiefe abgründiger Verstrickungen. In der fiktiven Doppelbiographie »Die Lebens-ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler« (181:9/21) stehen sich Künstler- und Philistertum kontrastreich gegenüber. Schroff wechseln die spießigen Lebensansichten des Katers mit den Episoden aus dem Leben, des in einer höheren Welt lebenden genialen Musikers, wobei der Kater seine Ansichten auf der Rückseite eines Manuskripts festhält, auf dem die Biographie Kreislers niedergeschrieben ist. Kreisler ist der Prototyp des romantischen Künstlers, im hohen Maße kreativ und liebesfähig, markant profiliert durch den grotesken Kontrast mit der im. Kater verkörperten banausischen Alltagsmentalität. »Selbständige Weiblichkeit« -Dichtende Frauen in der Romantik Der romantische Glaube an die ursprüngliche Polarität des Weiblichen und Männlichen und an die in der Frau verkörperte Einheit von Natur und Liebe wies der Frau in der Kunst einen gleichberechtigten Platz neben dem Mann zu. Die Romantik entdeckte und würdigte erstmals die weibliche Kreativität. Eine bedeutende Stellung in der Frühromantik nimmt Karoline Schlegel (1763-1809) ein. Sie hatte wesentlichen Anteil an den Shakespeare-Übersetzungen ihres Mannes August Wilhelm. Wichtig für die theoretischen Vorstellungen des Jenaer Kreises sind vor allem ihre 108 Dichtende: Frauen"■ Romantik geistreichen Briefe aus der Frühromantik. Ihre wichtigste Leistung ist aber wohl das Kunstgespräch »Die Gemälde« (1799) anläßlich eines Besuchs der Dresdener Kunstgalerien. In der Gesprächsrolle der Louise bekennt sie sich zur Einheit von Produktion und Rezeption, indem, das Kunstwerk durch die Mitteilung der Eindrücke seiner Betrachter stetig wächst und an Bedeutung zunimmt. Ähnlich hatte bereits Novalis den Leser als erweiterten Autor gewürdigt. Die literarisch begabteste unter den dichtenden Frauen der Romantik ist zweifellos Bettina von Arnim, die Schwester Clemens Brentanos (1785-1859). In dem zum größten Teil fingierten Briefroman »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« (1835) entwirft sie in frei schwebender poetischer Phantasie ein subjektives Goethebild, in das der romantische Glaube an die unendliche Schöpferkraft des Künstlers eingegangen ist. »Dies Buch gehört dem König« (1843) enthält ein erfundenes Gespräch mit Goethes Mutter, in dem die Dichterin für die Freiheit gegen spießige Moral und für die geistige und politische Emanzipation der Frau eintritt. Gerichtet ist das Buch an Friedrich Wilhelm IV., dem die Dichterin in schwärmerischer Fehleinschätzung die Fähigkeit zutraute, ein von allen Privilegien freies Zeitalter des allgemeinen Glücks zu begründen. Eine oft unterschätzte Dichterin ist die mit Bren-lano befreundete Luise Hensel (1798-1876). In ihrer geistlichen Lyrik gestaltet sie die Erfüllung des menschlichen Glückstrebens in der unbedingten Zuneigung zu einem Gott der Liebe. Die romantische Sehnsucht nach dem Unendlichen und Unbegrenz-len konkretisiert sich in einer allumfassenden christlichen Liebesreligion, wie sie in der Spätromantik mehr und mehr in den Mittelpunkt trat und die freigeistigen Vorstellungen der Romantiker abzulösen begann. Berühmt geworden ist vor allem ihr Abendgebet »Müde bin ich, geh' zur Ruh'«. Bettina von Arnim, Radierung von L. E. Grimm, 1809 Der versteht in Lust die Tränen Und der Liebe ewig Sehnen Eins in Zwei zu sein, Eins im Andern sich zu finden, Daß derZweiheit Grenzen schwinden Und des Daseins Pein. Von Karoline von Günderode (1780-1806) stammen melancholische Gedichte um das Wesen romantischer Liebesauffassung. 109 Restauration Das Zeitalter der Restauration 1818-83 Karl Marx 1830 Juli-Revolution in Frankreich 1834 Deutscher Zollverein 1835 Erste deutsche Eisenhahn Nürnberg-Fürth 1840-61 Friedrich Wilhelm IV., Könif! von Preuften, »Romantiker aul dem Thron«, der ab 1841/ 42 die Vollendung des Kölner Doms fördert 1844 Weberaufstand in Schlesien 1848 Januar: Kommunistisches Manifest; Februar: Revolution in Frankreich, die auf die Märzrevolutionen in Preußen, Österreich, Baden und anderen deutschen Ländern ausstrahlt; Mai: Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1849 Paulskirchenverfassung; Friedrich Wilhelm IV. lehnt die ihm angebotene Kaiserkrone ab, militärische Niederwerfung von Aufständen 1850 Aufoktroyierte Verfassung in Preußen, Dreiklassenwahlrecht Entsagung und Empörung Die Wiener Schlußakte von 1820 setzte allen liberalen und nationalen Bewegungen ein Ende und schloß jede Form echter demokratischer Repräsentanz aus. Mit polizeistaatlichen Mitteln wurde das monarchische Prinzip, die Vereinigung der Staatsmacht im Staatsoberhaupt, durchgesetzt. Die Restauration, die Wiedereinsetzung des absolutistischen Adels in seine vorrevolutionären Machtpositionen, lösten liefe Resignation, aber auch kritisches Aufbegehren aus. Biedermeier und junges Deutschland, Bezeichnungen für polare geistige Haltungen der Zeit, sind im Grunde nur die beiden Seiten einer Medaille. Je nach Temperament reagierte man auf die enttäuschten politischen Hoffnungen mit dem. Rückzug in die Innerlichkeit oder mit kritischen individuellen Attacken auf die Reaktion. Verweist der Begriff Biedermeier auf einen bestimmten Stil der Inneneinrichtung, so kam die Bezeichnung junges Deutschland (zuerst in Ludwig Wicnbargs »Ästhetische Feldzüge«, 1:834) auf nach dem 1:835 erlassenen Verbot angeblich staatsgefährdender Schriften jungdeutscher Autoren wie Ludwig Börne, Karl Gutzkow, Heinrich Heine u. a. Die literarischen Aussageweisen der Zeit sind geprägt von der Ambivalenz des Lebensgefühls. Lyrik wird zum Ausdruck bejahter subjektiver Isolation, aber auch leidenschaftlichen Aufbegehrens gegen die Unterdrückung des Individuums. Drama und Novelle gestalten ein bis zum Zerreißen angespanntes Konflikt- und Krisenbewußtsein, und im Roman, im. Essay und im Brief versuchen sich die Autoren des eigenen Standorts in einer Zeit zu vergewissern, über der die Stickluft der Restauration liegt. Problematisches Handeln und scheiternde Helden - Das Drama der Restaurationszeit Das Drama der Restaurationszeit problematisiert menschliches Handeln und läßt den Helden regelmäßig scheitern. Gelegentlich artikuliert sich von 110 Tiefe Resignation Restauration Caspar David Friedrich, Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung), 1823/24. Ein gekenter-tes Schiff unter aufgetürmten Eismassen signalisiert das Ende der von den fortschrittlichen Kräften vorangetriebenen Befreiungsbewegung. Der Geschichtsfluß kommt zum Erliegen, die Welt erstarrt unter dem Eiseshauch der Restauration. der Resignation getragene Kritik an der allgemeinen gesellschaftlichen und geschichtlichen Stagnation. Franz Grillparzer (179:1-1:872) gestaltet im Niedergang des böhmischen Königs Ottokar in seinem Geschichtsdrama »König Ottokars Glück und Ende« (1825) das Schicksal des von der Hybris verblendeten Machtmenschen. Deutlich spiegelt sich in seinem Verhalten das menschlich und politisch rücksichtslose Handeln des Revolutionskaisers Napoleon. Im Scheitern Ottokars scheint das Scheitern des Franzosen vorweggenommen. Intimer ist Grillparzers lyrisches Drama »Des Meeres und der Liebe Wellen« (1831). Hero, zur Priesterin bestimmt, gerät in einen unlösbaren Kon-llikt zwischen ihrem Amt und ihrer Liebe zu Leander. Im Angesicht ihres toten Geliebten erhebt sie Anklage gegen die Götter und die Menschen. Eine Zeit, die den einzelnen durch institutionelle Zwänge um seine tiefste Erfüllung bringt und ihn zum Opfer macht, beschwört persönliche Katastrophen herauf. Kaum ein anderes Stück spiegelt so nachhaltig re-stauratives Bewußtsein wie Grillparzers »Der Traum ein Leben« (1834). Der Traum von Abenteuern, Ruhm und Macht endet, in die Tat umgesetzt, konsequent in einem Desaster. Ein bescheidenes Glück findet der Mensch allein in der selbstgewählten, idyllischen Beschränkung. 111 Restauration Christian Dietrich Grabbe Hortense. ... Bedenke, was würde die Welt, wären alle wie du! Napoleon. Nun, die wurde nicht so übel. Hortense. Ewiger Krieg und tärm würde aus ihr - Napoleon. Hortense - Hortense. Verzeihe Kaiser -- Bin ich zu frei, ist deine Güte schuld. - Aber wie viele Kürassiere, Dragoner, Batterien, Grenadiere, Voltigeurs ziehen wohl schon auf allen Straßen? -• O gesteh' es nur - ich kenne dich - dir donnern bereits tausend Kanonen im Haupte - Schone, schone die Jugend Frankreichs, schone die Mütter, welche mit zerrißnen Herzen ihre Söhne in den Tod senden! Napoleon. Die Truppen, welche jetzt marschieren, sind Veteranen aus Spanien und Rußland, haben schwerlich noch Mütter, und hätten sie deren, welche Französin wäre so schlecht, ihren Solin nicht gern dem Vaterlande auf dem Felde der Ehre zu opfern? Wo stirbt er besser? Hortense. Feld der Ehre sage oft: Feld der - {Sie stockt.) Napoleon. Sprich. Hortense. der Eitelkeil. Christian Dietrich Grabbe, »Napoleon« III, 3 Christian Dietrich Grabbe. Figurine von Ottomar Starke zu »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« 1937 112 Die großen Gestalten in Christian Dietrich Grab-bes (1801-36) Geschichtsdramen sind weniger heroische 'later als Opfer beschränkter Verhaltnisse und des eigenen Machtwahns, im »Hannibal« (1:835) scheitert der karthagische Feldherr an dem bornierten Krämergeist seiner Heimat, während Napoleon in »Napoleon oder die hundert'T'age« (1831) einzig getrieben erscheint von seinem zerstörerischen Machtwillcn. Die Bedingungen und Ziele verändernden politischen Handelns werden in einer Geschichtsphase ohne Perspektive und Zukunft desillusiomert. Bereits 1827 hatte Grabbe mit seinem satirischen Lustspiel »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« zynisch mi t seiner in der Mittelmäßigkeit und Korruption verkommenen Zeit abgerechnet. Der zweifellos bedeutendste Dramatiker der Restaurationsphase ist Georg Büchner (1813-37). In seinem Revolutionsdrama »Dantons Tod« (1835) handelt nicht der Held, sondern der blinde Fatalismus der Geschichte. Weder der liberale, lebens- und genußfrohe Danton noch der radikale Fanatiker Robespierre haben eine Antwort auf die Nöte des Volkes. Die Revolutionsmaschine-rie, die sie selbst in Gang gesetzt haben, überrollt am Ende beide. »Die Welt ist das Chaos«, resigniert Die Dramen Georg Büchners Restauration 0pi 4*1! »' y*> ŕ \ Danton vor seinem Tod, »das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.« Tiefste Resignation und Melancholie beherrschen auch Büchners einziges Lustspiel »Leonce und Lena« ([838). Zukunft scheint offenbar nur noch möglich als ironischer, sich selbst parodierender Entwurf. Real ist allein die Satire der spießigen Kleinstaaterei und der sterilen Adelsgesellschaft. Kurz vor seinem Tod, zwischen 1836 und 1837, entstand Büchners Fragment gebliebener »Woyzeck«, ein Stationendrama mit szenisch gereihten Episoden, in denen der Mensch ausschließlich als Verlierer und Opfer Gestalt gewinnt, geschunden, ausgebeutet und um sein Lebensglück betrogen. Woyzeck, der seine treulose Geliebte ersticht und sich damit selbst des Zentrums seines Lebens beraubt, ist der Antiheld schlechthin, der isolierte, von Gott und der Welt verlassene Mensch auf dem Weg in die Katastrophe. Büchners »Woyzeck« ist der radikale Gegenentwurf zur idealistischen Utopie vom Menschen. Im Märchen der Großmutter ist die Rede von einem elternlosen, armen Kind, das von seinem enttäuschenden Gang zum Himmel auf die Erde zurückkehrt. »Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen (Schüssel) und es war ganz allein und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.« Danton und Robespierre, Plakat von Volker Pfüller, 1981 Die Auffassung, die Büchner Lenz in seiner gleichnamigen Novelle (1835) in den Mund legt, weist bereits auf den Realismus voraus: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzu-schaffen. Ich verlange in allem - Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist.« Georg Büchner, Pastell, anonym 0. J. 113 Restauration Mörike und Lenau Eduard Mörike mit Familie und Schwester Klara, Fotografie um 1860 Das lyrische Ich zwischen Revolution und Resignation Die Geschichtsphase der Restauration brachte eine Reihe bedeutender lyrischer Leistungen hervor. Das Gedicht profilierte sich zum Entwurf subjektiver Selbstbehauptung, indem sich das Ich seiner uneinnehmbaren IInnerlichkeit und Erlebensfähigkeit vergewisserte oder sich in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den repressiven äußeren Kräften zu behau plen suchte. -. I'dii ud Monke (1804-75) wendet sich ab iSííiři*'* d' ~'í.''N. U)M einei enttäuschenden Zeit - »Laß, 0 C/Äiffer'vl'.iN Well, o Lils mich sein'« -, um unge-sLoit mit seinem Selbst in all seinen I lohen und Liefen umgehen zu können (»Gedichte«, 1838). Wie das echte Kunstwerk, so trägt auch j das Ich seinen Wert tief in sich selbst. »Was abci schön ist, selig scheint es in ihm selbst« (»Auf eine Lampe«). Zwischen Träumen und Wachen ist der Dichter selbstgenügsam eingesponnen im Rhythmus von Nacht und Tag, Sommer und Winter (»An einem. Wintermorgen vor Sonnenaufgang«). Der deutsch-ungarische Lyriker Nikolaus Lenau (1802-50) spiegelt seine eigene innere Zerissenheit in leidenschaftlich bewegten Naturbildern, deren idyllischer Schein unter dem Andrang persönlichen Leidens zerreißt (»Schilflieder«, »Gedichte«, 1832). Erst in seinen späten Gedichten findet er zum Einklang im Frieden der Natur. Aufgehoben und getröstet fühlt er sich im zyklischen Wechsel von Werden und Vergehen (»Waldlieder«, 1843/44). In der Verschmelzung mit ihrem natürlichen Daseinsraum erlebt Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) die persönliche Befreiung vom gesellschaftlichen Druck (»Gedichte«, 1844). Als Geschöpf unter anderen Geschöpfen entwächst sie den Ein- 114 Von Hoffmann von Fallersleben bis Heine Restauration engungen und Beschneidungen und ent- ,,, . ^ .. ... , „ i.-* u ^ ° ° ° Wer hat die schönsten Schafchen? faltet sich harmonisch mit dem wahrhaft Die hat der goldne Mond, Lebendigen: »Süßer Taumel im. Gras« °er hinter unsern Bäumen , T „ o . Am Himmel droben wohnt. (»Im Grase«, 1844). In der Zeit vor 1848, in der Phase des Er kommt am späten Abend, sogenannten Vormärz, entwickelte sich Wann alles schlafen will, __ 111 , ■ 11 .. Hervor aus seinem Hause ,n Deutschland erstmals eine selbstan- Zym Himme| |e|s, und gt|||_ dige politische Lyrik. Ihr zentrales An- Iiegen ist Kritik an den antidemokrati- Dann weidet er die Schäfchen , , . „riii Auf seiner blauen Flur; sehen, reaktionären Kräften des absolu- Denn a|| dje wejßen steme listischen Staatsapparats. Den Anfang Sind seine Schäfchen nur. 1 nacht Heinrich Hoffmann von Fallers- Heinrich August Hoffmann von Fal- ...on , . , , lersleben ist einer der bedeutend- leben (1798- 1874), der Dichter des sten AMoren mn Kinderliedern, »Deutschlandlieds«, mit seinen »Unpolitischen Liedern« (1840í.). Ihm folgen Georg Her-wegh (1817- 75), »Gedichte eines Lebendigen«, 1:841-43) und Ferdinand Freiligrath (1801-76) mit »Ein (I laubensbekenntnis« (1844). In oft leidenschaftlichem Pathos wird die Freiheit als unveräußerliches Menschenrecht eingefordert und werden die Fürsten als Loreley (»Ich weiß nicht unerträgliche Behinderungen einer notwendigen de- was soll es bedeuten«), inokratischen Entwicklung an den Pranger gestellt. Heines bekanntes Gedicht aus dem »Buch In Heinrich Hernes (1797-1856) lyrischem Werk der Lieder„ in seiner vereinigen sich alle wesentlichen Tendenzen der Handschrift Kcstaurationslyrik. Knüpft er mit seinem ••ISuch der Lieder« (1827) noch an die " '"*? ^s y~ " romantische Liedtradition an, die er aller- _:Jfr '"^'''^i^'y...-. dings bereits ironisiert, so wendet er sich !/íi',"'ÍĹU~~.~ -/'.^ .-._. -ü.. im den »Neuen Gedichten« (1844) ver- ;í'-.-ý-- •-" '?*■ -'•:,;• ->-""í'-' stärkt dem Zeitgedicht zu, in dem er .ikluelle politisch-soziale Probleme verarbeitet. Sein berühmtestes Zeitgedicht, das »Lied von den Schlesischen Webern«, cul stand 1847 als Reaktion auf den Weberaufstand in Schlesien. Von vornherein aber schwingen in I leines sogenannter politischer Lyrik auch skeptische Töne mit, die den verändernden Einfluß des Gedichts auf die Praxis in Frage stellen. Heines bleibende ^ " 115 %'%^y?% :,■>- '••--,• '■-—' ,.Ä .«£•-___• ......, ,„ ■~:~___j.^ ,.,^- / ^ .sri:-~ Jis £U J-' ■— —i^.yä- ^ fi.,í„^.S .#_«..*, ^^ z4: '3 l.^^.:V. ^ s„ „^ tež^-s-T- '^/y '"S^ý^ir- •V '^^~Ve- 36 Restauration Politische Lyrik Karl Wilhelm Hübner, Die schlesischen Weber, 1844 Heinrich Heine in der »Matratzengruft«, Kupferstich von J. Frangois, 1852 lyrische Leistung ist weniger das politische Gedicht als die Lyrik, in der er sich mil seiner eigenen existentiellen Situation auseinandersetzt, Einen I lö'he-punkt slelll der 185.1 erschienene »Romanzero« dar. Insbesondere der Zyklus »Lazarus« enthält Meines intimste Auseinandersetzungen mit den M Öffnungen und Sehnsüchten des Menschen und seinen Leiden an der eigenen Gebrechlichkeit und der Unvoll-kommenheit der Welt, Auseinandersetzungen, in denen sich die Untröstlichkeit einer ganzen um ihr Lebensglück betrogenen Generation spiegelt. »Goldne Wünsche! Seifenblasen! Sie zerrinnen wie mein Leben -Ach, ich liege jetzt am Boden, kann mich nimmer mehr erheben.« Leben über dem Abgrund - Das Lebensgefühl im Spiegel der Novelle Irn Zentrum der restaurativen Novelle steht der entsagende, in Krisen verwickelte und scheiternde Mensch. Spürbar werden hinter dem bürgerlich Geordneten und Idyllischen stets das Chaos und das Grauen, die Spannungen zwischen kurzfristig erlebter Idylle und dem drohenden Inferno. Charakteristisch ist Jeremiáš Gotthelfs (d. i. Albert Bitzius, 1797-1854) »Schwarze Spinne« (1842). Eingeschlossen in einem schwarzen Fensterpfosten, lauert die Spinne, das zerstörerisch Böse schlechthin, unmit- Tragik und Ausweglosigkeit des Lebens Restauration telbar unter der Oberfläche des öffentlichen Lebens. Zweimal bricht sie durch menschliches Verschulden hervor und richtet unvorstellbares Leid an. Nur äußerste sittliche Anstrengungen sind imstande, das triebhaft Verderbliche wieder zurückzudrängen. In einer Zeit gescheiterter revolutionärer Anstrengungen und der Unterdrückung freiheitlicher Entwicklungen ist die Sensibilität für das Abgründige des Daseins gestiegen. In Annette von Droste-Hülshoffs ebenfalls im Jahr 1842 erschienenen »Judenbuche« zerbricht Friedrich Mergel an den Verhältnissen seiner Heimat, die ihm jegliche Chance, zu sich selbst zu finden, verwehrt. Nach einem Leben der Demütigungen und der Ausgrenzung erhängt sich das »arm verkümmert Sein« und wird noch im 'Tod durch ein Grab auf dem Schindanger geächtet. Tragisch ist die Grundstimmung in Eduard Mö-rikes »Mozart auf der Reise nach Prag« (1855). Auf dem Weg zur Uraufführung seines »Don Giovanni« geht dem jungen Komponisten die Flüchtigkeit des Lebens auf. Für einen seligen Augenblick glaubt er, im Schloßgarten, wo er eine Orange pflückt, im Paradies zu sein. Doch die Früchte sind gezählt. Sein Handeln ruft die Mißbilligung des Gärtners hervor. Es gibt keine Paradiese. Überall ist das Leben begrenzt und eingeschränkt. Dem Künstler, der sich im schöpferischen Akt verausgabt und verströmt, ist ein nahes Ende bestimmt. Das ausweglose Scheitern eines Lebensentwurfs als Ausdruck des Leidens an einer perspektivelosen Zeit schildert Georg Büchner in seiner 1839 postum erschienenen Novelle »Lenz«. Gemeint ist der bekannte Sturm- und Drang- Dramatiker. Es ist die Fallstudie eines todkranken Menschen in hoffnungslos stagnierender Zeit. Die Novelle gestaltet keine Entwicklungen des Helden, sondern seine Verwicklungen in ein tragisch unaufhebbares Schicksal. Der fruchtbarste Novellist der Zeit ist der österreichische Erzähler Adalbert Stifter (1805-68). In Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist. ... Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. Sie muß schon sehr lange stehen; denn ich erinnere mich, als ich vor fünf Jahren dort immatrikuliert und bald daraus konsiliiert (verwiesen) wurde, hatte sie schon dasselbe graue, altkluge Aussehen. Einleitung zu Heines »Die Harzreise», ein Beispiel für die beliebte Reiseliteratur der Zeit 117 Restauration Adalbert Stifter Die ungarische Puszta, Ölgemälde von Adalbert Stifter, 1841. Die Puszta ist Schauplatz von Stifters Novelle »Brigitta«. ■ 1Ö* -ť seiner ersten Frzählsammlung »Studien« (1:844-50) ragt insbesondere die bereits 1843 erstmals erschienene Novelle »Brigitta« hervor. Es ist die Geschichte einer durch die Untreue des Mannes zerstörten Ehe-und Familiengemeinschaft. Erst nachdem der Mann für seine leidenschaftlichen Verfehlungen gebüßt hat und ihm die innere Schönheit seiner Frau aufgeht, kommt es zu einer Versöhnung der Eheleute. Dauerhaftes Lebensglück stellt sich nur dort ein, wo der einzelne entsagt und sich zu den inneren, leidenschaftslosen Werten bekennt. Aus Stifters zweiter großer Erzählsammlung »Bunte Steine« (1853) ist vor allem die Erzählung »Bergkristall« (1845) bekannt geworden. Auf dem Rückweg vom Besuch ihrer Großeltern am Heiligabend verirren sich die Kinder nach einem gewaltigen Schneefall in der Gletscher- und Eiswüste. Beispielhaft gewinnt im Rahmen der Novelle die Situation des Menschen Gestalt, sein ohnmächtiges Ausgeliefertsein an die anonyme, sich seiner Kontrolle entziehenden Gewalt. Alles Dasein ist in letzter Konsequenz ein Dasein zum Ende. Die Grenzerfahrung bleibt auch nach der wunderbaren Errettung der Kinder bedrückend gegenwärtig. 118 Angst und Vergessen Restauration Unheimliche Begegnungen -Balladische Psychogramme In einer Phase existentieller Verunsicherungen und persönlicher Verletzungsängste entstehen beachtliche phantastische Balladen. Phantastik wird zum Medium seelischer Krisen zwischen Aggression und Angst. Richten sich in Heinrich Heines »Belsatzar« (1822) die phantastischen Kräfte noch gegen den hybriden Herrscher, in dem sich historisch verfremdet der absolutistische Potentat spiegelt, so ist Eduard Mörikes Ballade »Die Geister am Mummelsee« (1828) erfüllt von verführerischer Todessehnsucht, von dem Wunsch, angesichts einer menschlich zutiefst ungenügenden Zeit in immerwährendes Vergessen zu versinken. In Nikolaus Lenaus Ballade »Der traurige Mönch« (1836) begegnet ein Reiter auf der Suche nach Schutz i n einem zerfallenen Turm einem gespenstischen Mönch. Der traurige Wiedergänger aus einem Land, in dem alle Hoffnung zur Illusion geworden ist, wird dem Reiter zum phantastisch erregenden Sinnbild universaler Trauer und eines hoffnungslosen Todes. Das Kind, das in Annette von Droste-Hülshoffs ••Der Knabe im Moor« (1841) durch das als unheimlich erlebte, trügerisch grundlose Moor stürzt, verkörpert in restaura-liver Zeit die Situation des Mense Iren, dem eine persönliche Entwicklung versagt ist. Seine Jugend isl ohne Perspektiven. Konfrontiert mit einer seiner Kontrolle entzogenen, von gespenstischem Eigenleben erfüllten Außenwelt, wird Nun das Haus zum Fluchtort. Dem ••Fräulein von Rodenschild« (1841) begegnet in einer weiteren Ballade der Droste in der Osternacht die eigene Doppelgängerin. In der !!i bönheit und Anmut ihrer Be- 0 schaurig ist's übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist's über Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Annette von Droste- Hülshoff, "Der Knabe im Moor«, erste Strophe Annette von Droste-Hülshoff, Gemälde von J.J. Sprick, 1838 119 Restauration Reiseliteratur wegungen liegl das geheime individuelle Bekenntnis zum ganzen Menschen, zur Harmonie von Körper und Seele. Doch unter gesellschaftlichem Druck sieht sich das Fräulein gezwungen, die schöne Doppelgängerin zu verdrängen. Nach der Handreichung löst sich die Erscheinung auf. Zurück aber bleibt die gelähmte rechte Hand, Signal der empfindlich beschnittenen Handlungsfreiheit. Zeit und Raum - Die neuen sinnlichen Qualitäten der Prosa Als Antwort auf die zunehmende Verengung und Erstarrung der Lebensverhältnisse entwickelte sich in der Restaurationszeit eine Reiseliteratur, die den konkreten Aufbruch aus der Philisterwelt als kritischen Anstoß erfährt. Am. Anfang steht Heinrich Heines 1826 erschienene »Harzreise« (s.S. 117), in der er im Rahmen einer Wanderung, die ihn von Göttingen bis auf den Brocken füht, die unverstellte, nicht entfremdete Natur mit dem verspießerten Restaurationsbürgertum und dem sterilen Rationalismus des Wissenschaftsbetriebs konfrontiert. In den »Nordsee-Reisebildern« (1827) übt Heine angesichts der gigantischen, sich frei entfaltenden Natur Kritik am herrschenden Adel. Die italienischen »Reisebilder« (1830/31) erörtern die Möglichkeiten geistiger und politischer Emanzipation in einem Land, das einst die Wiege der Renaissance war. 120 Rückzug statt sich zu stellen Restauration Ähnlich wie Heine verknüpft auch Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871) in seinen »Briefen eines Verstorbenen« (1830/31) Raumschilderung und '/eitkritik indem er in den demokratischen Tendenzen in England die reaktionären politischen Verhältnisse in Deutschland kritisch spiegelt. Durch die Konfrontation mit den realen Bedingungen in konkreten Geschichts- und Gesellschaftsräumen gewinnt die Prosa eine neue sinnliche Qualität. Karl Immermann (1796-1:840) entwirft in seinem »Münchhausen« (1838/39) das Modell eines Zeitromans, der im erzählten Nacheinander keine Entwicklung mehr gestaltet, sondern im Nebeneinander von Hpisoden und Einzelszenen ein komplexes kritisches Bild der eigenen Epoche zeichnet, indem er deren Beschränktheit und innere Hohlheit satirisch hervorhebt. Das umfangreiche Oberhof-Kapitel stellt gegen die sozialen Mißstände der Restaurationsphase die 11 topie einer intakten bäuerlichen Welt, in deren Spiegel die Realität aber um so defizitärer erscheint. Adalbert Stifter blendet in seinem Roman »Der Nachsommer« (1857) die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit nahezu völlig aus. In ländlicher 11 tngebung entsteht in intensiver, poetischer Raum-:k hilderung die ungetrübte Idylle eines harmonischen Zusammenlebens jenseits von Konflikt- und Krisenerfahrungen. Das Rosenhaus des Freiherrn von Risach, der sich von allen Geschäften zurückgezogen hat, wird zum zentralen Sinnbild eines ästhetischen Lebensentwurfs, in den sich auch der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf schließlich fügt und wo er sein Glück findet. Nicht in der Auseinander-:;i'lzung mit der Welt, sondern sich von ihr distanzierend erfährt der Mensch seine innere Bildung. Die Zeit scheint entwertet in dem poetisch suggerierten Kaum menschlicher Selbsterfüllung. Für Stifter selbst bedeutete der Roman Abrechnung mit der eigenen Epoche. »Ich habe eine große einfache sitt-I■ < lie Kraft der elenden Verkommenheit gegenüber ,'ilellen wollen.« Titelblatt zur Erstausgabe von Stifters »Nachsommer« von Stifters Freund P. J. N. Geiger. Die Szene zeigt den Freiherr von Risach bei der Pflege seiner Rosen. 121