Anfänge der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (1450-1750) Die Anfänge der deutschen Kinder- und Jugendliteratur lassen sich zeitlich nicht exakt bestimmen, doch reichen ihre Spuren zurück bis ins Mittelalter. Die ersten Bücher, die man Heranwachsenden in die Hand gab, waren Lehrbücher zur lateinischen Grammatik, Rhetorik und Dialektik, also zu den Fächern, die seit der Antike ganz am Beginn des wissenschaftlichen Unterrichts standen. Die sog. Artesliteratur bezeichnet die in den Schulen und Universitäten des Mittelalters verwendete Fachliteratur. Wesentlichen Anteil daran hatten Werke zu den Artes liberales, den sieben freien Künsten, die in der Antike entstanden und im Bildungswesen des Mittelalters Gegenstand der Grund- und Allgemeinbildung waren. Dazu gehörten das sprachliche Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und das mathematische Quadrivium (Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musiktheorie). Eine Ausbildung in diesen Fächern war Voraussetzung für das Studium der Theologie und später auch für das Studium der Medizin und Jurisprudenz. Der Lateinunterricht bestand im Streben nach Gottes- und Selbsterkenntnis. Hier wurden auch Werke zur Vermittlung von Pflichten, Tugend- und Anstandsregeln verwendet, die Heranwachsenden Orientierungshilfen für die Lebensführung bieten sollten. Das verbreitete Sittenbuch des Mittelalters für Schüler war die Spruchsammlung „Disticha Catonis“, bekannt als „Der Cato“. Sie wurde bereits im 3. oder 4. Jh. verfasst und kam 1487 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung heraus. Das als Lehrgespräch zwischen Vater und Sohn gestaltete Buch forderte zu klugem und gelassenem Handeln im Alltag auf. Artes-, Virtus- (Ethik) und ritterlich-höfische Standesliteratur markieren die Anfänge der KJL, aus denen sich nach dem Entstehen des Buchdrucks ab 1450 ein verzweigtes Gattungsspektrum herausbildete. Die Zuweisung zur KJL erfolgte aufgrund einer besonderen Erwähnung dieser Zielgruppen, z. B. im Buchtitel, in der Vorrede oder der Zueignung. Da Kindheit und Jugend bis zum 18. Jh. nicht als eigenwertige Lebensphasen, sondern allein als Vorbereitungsphase auf das Erwachsensein verstanden wurden, nahmen auch Werke für K und J in der Anfangsphase nicht auf altersgemäße Interessen, Bedürfnisse oder Fähigkeiten Rücksicht, sondern entwarfen Modelle für zukünftige Rollen in Familie und Gesellschaft. Literatur für junge Leser diente stets der Belehrung. Die mögliche Leserschaft war auf einen privilegierten Kreis von Söhnen und Töchtern aus Familien des gehobenen Stadtbürgertums und des Adels begrenzt. Das Lehrbuch „Psalterium puerorum“ (vor 1486) von Erhard Ratdolt in Venedig. Es gilt als erstes Lesebuch für Lateinschulen. Auf der ersten Seite sind ABC und Paternoster abgedruckt, es folgen weitere Gebete, Psalmen und Merkverse zu den Zehn Geboten. Tugend- und Anstandsliteratur seit dem Humanismus Einen ersten Aufschwung erlebte die KJL während des Humanismus. Von Italien aus hatte sich die Bildungsbewegung, die sich an der Philosophie und dem Menschenbild der klassischen Antike orientierte, bis zum 16. Jh. in ganz Westeuropa verbreitet. Die Humanisten überwanden das heilgeschichtliche christliche Denken des Mittelalters und stellten den Menschen in den Mittelpunkt ihres Denkens. Der Humanismus war auch eine pädagogische Reformbewegung. Erziehung sollte nicht mehr länger primär religiös definiert werden, sondern hatte das vernünftig handelnde Individuum im Blick. Der wichtigste Vertreter des humanistischen Bildungsideals war der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam (1466-1536). In seinem Werk wies er auf die große Bedeutung der literarischen Originalquellen der Antike für die Weiterentwicklung der abendländischen Kultur hinauf. Er kritisierte erstarrte Dogmen der Kirche und bereitete Reformation vor. Er trat gegen jede Form des Aberglaubens ein. Erasmus´ pädagogisches Programm gründete in der Auffassung von der natürlichen Neigung des Menschen zu moralischer Würde und Tugend. Mit seinem Werk „De civitate morum puerilium“ („Züchtiger Sitten zierlichen Wandels und höfflicher Geberden der Jugent“; lat. 1530, dt. 1531) verfasste Erasmus die erste innovative Anstandsschrift des Humanismus. Sie wurde häufig als Lesebuch im Lateinunterricht verwendet. Inhalt: in 7 Kapiteln werden Anweisungen zum korrekten Benehmen in allen Lebenslagen gegeben (die äußere Erscheinung, die Kleidung, das Verhalten in der Kirche, bei Tisch, gegenüber anderen, bei Spiel und Geselligkeit sowie im Schlafzimmer. Ein anderer Autor der Zeit, Friedrich Dedekind (um 1525 – 1598) legte mit seinem Werk „Grobianus“ (lat. 1549, dt. 1551) das Gegenstück zu Erasmus` Anstandslehre vor. Er formulierte eine Anstandslehre in satirischer Form, die jede Benimmregel in ihr Gegenteil verkehrte. Sein Werk stand in der Tradition antiker Ethikvorstellungen (Aristoteles, Plato, Ciceron), nutzte auch mittelalterlich Vorbilder und die sog. Narrenliteratur (Eulenspiegel 1515). Der Begriff Satire bezeichnet literarische Texte, die sich in kritischer, mahnender, polemischer oder spöttischer Weise mit moralischen Verfehlungen oder gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzen, in der Hoffnung, dadurch eine Besserung zu erreichen. Inhalt des „Grobianus“: Es wird der Tagesablauf des unmanierlichen Grobianus begleitet, der nur seinen eigenen Nutzen im Sinn hat, vom mittäglichen Aufstehen bis zum Hinauswurf der Gäste nach dem Abendessen. Im Mittelpunkt steht das Benehmen bei Tisch: Empfohlen wird unter anderem sich zuerst die besten Stücke aus den Schüsseln zu nehmen, die Zähne zwischendurch mit dem Messer zu reinigen und solange zu essen, bis man sich zum Platzen vollgestopft hat. Ein weiteres negatives Beispiel aus der KJL ist der Struwwelpeter (1845). Ab 1650 spielt eine wichtige Rolle die Phase der „galanten“ Erziehung. Als Galantes Zeitalter wird in der Literaturgeschichte die Übergangsphase vom Barock zur Aufklärung (ca. 1680-1730) bezeichnet. Angestrebt wurde eine Verknüpfung der höfischen Ideale des Adels mit den Interessen des aufstrebenden Bürgertums und der Beamten des absolutistischen Staates. Den Erfolg hatte nur derjenige, wer über vollendete Höflichkeit und gewandte Umgangsformen verfügte, und zudem das Komplimentieren und die Konversation perfekt beherrschte. Das nötige Wissen vermittelten Galanterie-, Komplimentier- und Konversationsbücher. Produktiv war in diesem Genre der Zittauer Gymnasialrektor Christian Felix Weise (1642-1708). Er schrieb Werke für junge Adlige und Bürgerliche, die auf die Praxis bezogen waren. Er wollte seine jungen Leser auf die Berufs- und Lebensbedingungen im Dienst des absolutistischen Staates oder der städtischen Kaufmannschaft vorbereiten. Weises bekanntestes Werk für junge Leser war das Rhetoriklehrbuch „Der politische Redner“ (1677). Für die richtige Handhabung der Komplimente gibt Christian Weise in seinem Werk „Der politische Redner“ folgende Hinweise: „1. Höre lieber einen andern als sich selbst. 2. Rede von Sachen, die der andere lieber hört als du. 3. Rede mehr von Sachen, welche dem andern zum Ruhme gereichen als dir selbst.“ Die besondere Leistung von Christian Felix Weise ist darin zu sehen, dass er Elemente der antiken Rhetorik auf die deutsche Sprache übertrug. Zur Gattung der Standesliteratur gehören die Fürstenspiegel. In solchen Werken werden das Verhalten sowie die Aufgaben und Pflichten eines Herrschers thematisiert. „Spiegel“ (lat. speculum) ist ein im Mittelalter gebräuchliche Bezeichnung für didaktische Literatur. Als berühmtestes Werk dieses Genres für Heranwachsende gelten „Die Abenteuer des Telemach“ (1699, dt. 1700) des französischen Pfarrers und Hofmanns Francois de Salignac de la Mothe Fénelon (1651-1712), den Ludwig der XIV. zum Erzieher seines Enkels und Thronfolgers ernannte. Fénelon wollte auf unterhaltsame Weise belehren und wählte deshalb Motive des Abenteuerromans, wie spektakuläre Reisen, Schiffbrüchige und Liebesromanzen als Rahmen für seinen Unterricht. Abenteuerroman ist eine Gattungsbezeichnung für Romane, in denen ungewöhnliche, vom alltäglichen Leben deutlich unterschiedliche Ereignisse geschildert werden. Stets werden Ordnung und Sicherheit zugunsten fremder und möglicherweise gefährlicher Erfahrungsräume aufgegeben. Fast immer ist der Abenteuerroman mit einer Reise verbunden. Inhaltlich bezog sich Fénelon auf Homers „Odyssee“. Telemach begibt sich in Begleitung der Göttin Athene, die die Gestalt des Mentors angenommen hat, auf die Suche nach seinem Vater Odysseus. Die Schilderung der aufregenden Reiseerlebnisse wird durch Gespräche und Prüfungen ergänzt, die den Grundsatz veranschaulichen sollen, dass tugendhaftes Handeln immer belohnt wird. Mit seiner indirekten Kritik an der Regierung des „Sonnenkönigs“ zog Fénelon sich dessen Zorn und wurde nach Cambrai verbannt. Der „Telemach“ wurde zu einem Hauptwerk der frühen JL. Tugendschriften für die weibliche Jugend Bereits in der Frühzeit der KJL gab es zahlreiche Werke, die an Mädchen oder junge Frauen wandten. Geschlechtsspezifische Unterschiede kennzeichneten insbesondere die Tugend- und Zuchtliteratur. Gewarnt wurde vor Schwächen, die als typisch weiblich galten: Prunksucht, Geschwätzigkeit, Eitelkeit und Faulheit. Es ging darum zur Keuschheit zu erziehen und auf die Aufgaben der Hausfrau und Mutter vorzubereiten. Im Zentrum zeitgenössischer Mädchenbildung standen die Vermittlung elementarer Kenntnisse im Beten, Schreiben und Singen sowie Unterweisungen in praktischer Haushaltsführung. Der Zugang zu gelehrtem Wissen blieb jungen Mädchen in der Regel verwehrt. Als Mädchenlektüre wurde die sog. Exempelliteratur verwendet. EL ist eine Gattung der belehrenden Literatur, bei der die moralische Lehre durch eine Beispiel-Erzählung – eine fiktionale Geschichte, eine Fabel oder ein Gleichnis – veranschaulicht wird. Als das 1. ausschließlich für Mädchen geschriebene Werk gilt „Der Ritter von Turn“(um 1371, dt. 1493) von Geoffroy Chevalier de Latour-Landry. Die Exempelsammlung für junge Adlige wollte über Sitte, Anstand und Betragen belehren, erhielt aber auch unterhaltende Elemente. Das 1493 von Marquart vom Stein ins Deutsche übersetzte Werk hat die Form eines väterlichen Vermächtnisses an die Töchter. Tadelnswerte Eigenschaften wie Hochmut, Neid und Habsucht werden mit Tugenden wie Keuschheit, Schamhaftigkeit und Bescheidenheit verglichen. Werke zur Rhetorikerziehung Im Mittelpunkt humanistischer Pädagogik stand eine methodische Revision des Lateinunterrichts. In der Konversation sah man das beste Mittel zum Erlernen der klassischen Sprachen. Deshalb wurde im Humanismus die Rhetorik zur Leitdisziplin der Gelehrsamkeit. Mit Hilfe dialogischer Gattungen wie Schauspiel und Schülergespräch sollten junge Menschen auf spielerische Weise ihre Sprachkenntnisse perfektionieren. Die umfangreichste und populärste der zahlreichen Dialogsammlungen waren „Vertraute Gespräche“ (1518-1533) des Erasmus von Rotterdam. Es finden sich z. B. Gespräche über Glaubens- und Kirchenfragen, die Gräuel des Krieges, die Lebensführung des Adels, die Stellung der Frau und vieles andere mehr. Wichtige Daten der Zeit 1455 Mit Gutenbergs Bibeldruck beginnt das Zeitalter des Buchdrucks. 1492 Kolumbus entdeckt Amerika. 1517 Thesenanschlag zu Wittenberg: Martin Luther kritisiert öffentlich den Ablasshandel. 1519 Regierungsantritt von Kaiser Karl dem V. (bis 1556) 1522 Der erste Teil der deutschen Bibelübersetzung Luthers erscheint. 1524 Beginn des Bauernkrieges Den quantitativ größten Anteil an der frühen KJL seit dem 16. Jh. hatten religiöse Lehr- und Erbauungsschriften, insbesondere Kinder- und Bilderbibeln, Sammlungen biblischer Geschichten, Katechismen, Lieder- und Gebetbücher. Christliche Autoren begannen altersgemäße und der Frömmigkeit dienliche Werke zu verfassen. Dieser Intention folgte der unbekannte Autor des „Seelentrostes“ (1474), das als erstes spezifisches Jugendbuch bezeichnet wird. In der Form des Vater-Sohn-Gesprächs werden Exempel zu den zehn Geboten aufgeführt, ergänzt um Gebete, religiöse Betrachtungen und Erklärungen. Mit Martin Luther (1483-1546) begann ein breiter christlicher Erneuerungsprozess. Luthers religiöses Grundanliegen war die Neudefinition des Verhältnisses zwischen Gläubigem und Gott. Insofern sich der Mensch nicht aus eigener Kraft und auch nicht mit den Mitteln der Kirche aus eigener Sündhaftigkeit befreien kann, ist er auf die Gnade Gottes verwiesen. Martin Luther reformierte auch die Schule. 1524 forderte er in einem „Sendschreiben“ die Städte zum Aufbau eines Elementarschulsystems auf und erklärte Bildung damit zu einer öffentlichen Aufgabe. In der religiösen KJL ist Luther vor allem durch sein Werk „Der kleine Katechismus“ (1529) präsent. Im Mittelpunkt des KK stehen die drei Hauptstücke religiöser Belehrung: das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote. Im 17. Jh. entstanden als katholische KJL Kinderbibeln. Johann Hübner (1688-1731): „Zweymahl zwey und fünfzig auserlesene Biblische Historien“ (1714). Hübner wollte zu Gottesfurcht und Tugend erziehen. Die biblischen Gestalten des Alten Testaments wurden „verbürgerlicht“ und in familiäre Kontexte gestellt. Abschnitt: „Das Kind Johannis wuchs, und wurde starck im Geiste, Die Hand des Herren war in allem, was er that. Ach ja darauf beruht beym Kinderziehn das meiste, Ob sie der liebe Gott in seinen Händen hat. Gott, reiche mir doch auch die Hand aus deiner Höhe, Damit ich als Kind den Weg zur Tugend gehe!“ (Johann Hübner: Zweymahl zwey und fünfzig auserlesene Biblische Historien“). Anfänge der Sachliteratur: „Orbis pictus“ Im 16. Jahrhundert zeigten sich nach und nach Schwächen eines Schulsystems, das gänzlich von den klassischen Sprachen dominiert wurde. Kritiker tadelten die Lebens- und Weltferne traditioneller Gelehrsamkeit sowie ihren Mangel an Systematik. Ein neues Bildungsideal wurde gefordert. Ziel war es, von der abstrakten akademischen Lehre hin zu den Dingen selbst zu gelangen. Der beste Vertreter dieser „Realienpädagogik“ war Johann Amos Comenius (1592-1670). C. gilt als der wichtigste Vertreter eines erneuten philosophischen Christentums im 17. Jh. Comenius´ Hauptanliegen war es, die Trennung der verschiedenen Wissensbereiche zu überwinden und alles Wissen (von Gott, der Welt, den Wissenschaften) in ein universales System, die sog. Pansophie, zu überführen. Sein Elementarwerk „Orbis sensualium pictus“ (1658) sollte den allerersten Zugang zum Wissen eröffnen. Das Werk gilt als Ursprung des Sachbuchs oder des Bilderbuchs. Comenius´ pädagogisches Programm prägten die Maximen Anschaulichkeit oder Sinnlichkeit. Seine Methode sah vor, bei der Vermittlung des Stoffes vom Einfachen zum Komplizierten und vom Bekannten zum Unbekannten voranzuschreiten. Außerdem sollte der Anfangsunterricht in der Muttersprache stattfinden. Gott ist für den Theologen Comenius Ursprung und Ziel aller Dinge. Unterhaltungslektüre: Fabeln, Volksbücher, Ritterromane Die Gattung Fabel wurde wegen ihrer Kurze und Prägnanz sowie wegen der zumeist explizit formulierten Lehre als geeignete Lektüre für junge Leser angesehen. Am Anfang der literarischen Überlieferung wurden Fabeln des griechischen Dichters Aesop gelesen. Die erste Übersetzung aesopischer Fabeln „Der Edelstein“ stammt vom Berner Dominikaner Ulrich Boner (ca. 1324-1349). Diese berühmte Handschrift des Mittelalters wurde als erstes deutschsprachiges Buch 1461 in Bamberg gedruckt. Tierische Protagonisten präsentieren teils in ersten, teils in komischen Taten menschliche Schwächen und gesellschaftliche Zustände. Befördern wollte Boner die Klugheit im Handeln. Auf Aesop berief sich in der Folge auch Martin Luther („Etliche Fabeln aus Esopo“, 1557). „Volksbücher“ und „Ritterromane“ gehörten seit ihrer Entstehungszeit im späten Mittelalter zu den beliebtesten Lesegattungen. Obwohl bis zum Ende des 18. Jhs. Pädagogen und Theologen diese „unwahren und deshalb „verderblichen“ Romane kritisierten, begeisterten sich insbesondere Jugenliche für die spannenden Geschichten um Liebe und Abenteuer, die oft als billiger Massendruck auf grobem Papier veröffentlicht wurden. Bestseller der frühen Neuzeit waren Prosaromane wie „Pontus und Sidonia“ (dt. 1483) von Geoffroy Chevalier de Latour-Landry oder „Die schöne Magelona“ (1535) von Veit Warbeck (um 1490-1534), die sich insbesondere auf junge Adlige richteten. An Eigenständigkeit gewann der deutsche Prosaroman des 16. Jhs. durch den Colmarer Gerichtsschreiber Jörg Wickram (um 1505-vor 1562). Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte wurden von ihm die Lebenswelt sowie die Werte des Bürgertums im Roman thematisiert. In seinem ausdrücklich an junge Leser gerichteten Erziehungsroman „Der jungen Knaben Spiegel“ (1554) vertritt er die Überzeugung, dass für den Erfolg im Leben nicht die Herkunft, sondern die individuelle Leistung entscheidend ist. Primär waren pädagogische Ziele des Autors: Die konträren Biografien des tugend- und arbeitsamen Bauernsohnes Fridbert und des lasterhaften Rittersohnes Wilbald zeigen dem jungen Leser in Form eines Vorbilds einerseits und eines Abschreckungsmodels andererseits Muster für die eigene Lebensführung. Aufklärung „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Aus: Immanuel Kant (1724-1804) „Was ist Aufklärung?“ (1784) Wichtige Daten 1740-1786 Regierungszeit des preußischen Königs Friedrich II., der Große 1740 Friedrich der II. von Preußen verkündet das Toleranzedikt der Religion 1747 Der Prediger Johann Julius Hecker richtet in Berlin die erste deutsche Realschule ein. 1756-1763 Siebenjähriger Krieg zwischen Preußen und Österreich 1772 Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ wird uraufgeführt. Rousseau und die Folgen Die Kernidee der Aufklärung bestand in der Annahme, dass der Mensch fähig sei aus seiner„geistigen Dunkelheit“ herauszutreten, durch Vernunft sollte man zur Selbst- und Welterkenntnis gelangen. Diese optimistische Grundhaltung korrespondierte mit dem zunehmenden Selbstbewusstsein des Bürgertums im 18. Jahrhundert, das sich vom politisch führenden Adel zu emanzipieren begann. Es kam auch zum Wandel des traditionellen Kindheitskonzepts. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) formulierte in seiner Schrift „Emil oder über die Erziehung“ (1762) den prinzipiellen Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein. In der Folge galt Kindheit nicht länger nur als Phase der Vorbereitung auf den Erwachsenenstatus, sondern erhielt einen Eigenwert. Kindern wurde eine Sonderstellung im sich herausbildenden bürgerlichen Familienmodell eingeräumt. Die Familie bot ihnen den Schonraum für eine ungestörte Entwicklung (die sog. heile Welt). Philanthropistische Kinderliteratur Die philanthropistische Pädagogik bildete sich in der 2. Hälfte des 18. Jhs. heraus. In Deutschland begeisterten sich die Philantropisten (Menschenfreunde) um Johann Bernhard Basedow (1724-1790) für Rousseaus Thesen zur „natürlichen Erziehung“. Als Alternative zur lateinischen Schulgelehrsamkeit wurden neuartige Bildungsinstitute gegründet, in denen man junge Menschen zu „Weltbürgern“ erziehen wollte. Neben Latein und Griechisch standen moderne Fremdsprachen (Englisch, Französisch), Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer auf dem Stundenplan, aber auch Garten- und Feldarbeit, Sport und Spiel. Die Philantropisten forderten eine neue Literatur für junge Leser, die ebenfalls vom Kind ausgehen sollte. Reformer wie Christian Gotthilf Salzmann, Christian Felix Weiße und vor allem Joachim Heinrich Campe „erfanden“ zwischen 1770 und 1790 gewissermaßen die moderne Kinderliteratur. Sie waren darum bemüht, sich in Sprache und Gehalt dem kindlichen Publikum anzupassen. In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. entstand so eine spezifische KJL: Literatur, die bewusst für junge Zielgruppen konzipiert wurde, bildete in der Folge ein selbständiges Segment des Literatursystems mit einem eigenen Markt und eigenen Institutionen. Unterhaltungsschriften: Lieder, Almanache, Fabeln In der Zeit des Philanthropismus erschienen erstmals Bücher, die Kindern und Jugendlichen ausdrücklich zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung dienen sollten. Gefordert wurde ein spielerisches Lernen, das Vergnügen bereitet. Eine inhaltliche Umgestaltung erhielten z. B. Lieder, Gedichte oder Reime. Aufgrund ihrer mündlichen Überlieferung enthielten sie noch zahlreiche Elemente des Aberglaubens und der Volksfrömmigkeit. Der Schriftstelle Christian Felix Weiße (1726-1804) empfand sie unpassend für Heranwachsende und dichtete selbst moralische „Lieder für Kinder“ (1767). Joachim Heinrich Campe (1746-1818) war bestrebt, Werke der Gegenwartsliteratur für Kinder zugänglich zu machen. J.H. Campe wurde in Deensen bei Holzminden geboren. Nach seinem theologischen Studium war er Hauslehrer, u. a. für Alexander und Wilhelm von Humboldt. Anschließend arbeitete er als Erzieher am Philantropin in Dessau, später leitete er sein eigenes Erziehungsinstitut in Hamburg. 1786 wurde Campe in das Herzogtum Braunschweig berufen, wo er sich große Verdienste als Schulreformer, Kinder- und Jugendbuchautor, Sprachforscher und Verleger erwarb. Die Gesamtausgabe seiner Kinder- und Jugendschriften umfasst 38 Bände. Die traditionsreiche Gattung der Fabel erlebte eine ungeahnte Blüte. Den Aufklärern galt sie vollkommene Verwirklichung ihrer Vorstellung, auf poetische Weise moralischen Nutzen zu stiften. Das Werk „Fabeln“ (1759) von G. E. Lessing richtete sich gleichermaßen an Kinder wie Erwachsene. ABC- und Lesebücher Es waren Anfangslehrbücher für fünf- bis sechsjährige Kinder. Buchstaben wurden hier einzeln, in passenden Wörtern und kleinen Texten präsentiert, oft veranschaulicht mit kolorierten Bildern. Ratgeber für die Jugend Mit Vorliebe wählte man im 18. Jh. die Form des elterlichen Rates an die Kinder. J.H. Campe: „Väterlicher Rath für meine Tochter“ (1789). In dieser Jugendschrift folgt Campe dem Modell eines weisen und erfahrenen Vaters, der mit Ratschlägen seine Kinder vor den Gefahren bewahren will. Den männlichen Jugendlichen werden Regeln für den Beruf und den Umgang mit anderen Menschen mitgegeben, junge Mädchen bereitet das Buch auf ihre Rollen der Ehefrau und der Mutter. Die Welt entdecken: Sachliteratur Im 18. Jh. erschienen zahlreiche Enzyklopädien, wie z. B. die von Denis Diderot. In diesem Kontext ist auch die Entwicklung der Sachliteratur für K u. J in der Zeit der Aufklärung zu sehen. Friedrich Justin Bertuch (1747-1822): „Bilderbuch für Kinder“ (1790-1830). Bertuchs Bilderbuch hatte kaum etwas mit der älteren Sachliteratur gemein, denn es wollte zur selbständigen, kreativen Beschäftigung anregen, beispielsweise zum Ausschneiden und Kolorieren der Bilder. Der Betrachter sollte selbst auf Entdeckungsreise gehen und beim Blättern immer wieder auf neue und unerwartete Dinge stoßen. Christian Felix Weiße übertrug das Prinzip der Moralischen Wochenschriften auf die KL. „Der Kinderfreund“ (1776-1782) war die damals bekannteste Zeitschrift speziell für junge Leser. Die Beiträge waren eingebunden in ein Rahmenkonzept, das dem liberalen Erziehungsmodell der bürgerlichen Kleinfamilie entsprach. Im Mittelpunkt steht der selbstlose Vater „Mentor“, der das Wohlergehen und die Bildung seiner Kinder im Sinn hat. In den Gesprächen werden Sachthemen aus Naturkunde, Geografie und Volkskunde behandelt, aber auch Anregungen zur Bildung des Kunst- und Literaturgeschmacks gegeben. Der erste deutsche Kinderbuch-Klassiker J. H. Campe: „Robinson der Jüngere“ (1779-80). Dieses Werk wurde zum Bestseller aufgrund seines enormen Einflusses auf die weitere Entwicklung des Genres. Das Werk ist bis heute im Buchhandel erhältlich und wurde bislang in 25 Sprachen übersetzt. Als Vorlage diente der weltberühmte englische Abenteuerroman „Robinson Crusoe“ (1719) von Daniel Defoe. Die Handlung entsprach nur in groben Zügen der Urschrift: Der 17-jährige Robinson, bei Campe verwöhnter Spross einer Hamburger Kaufmannsfamilie, reißt von zu Hause aus, nimmt an mehreren Seereisen teil, erleidet Schiffbruch und kann sich als einziger Überlebender auf eine einsame karibische Insel retten. Ohne Hilfsmittel und Werkzeuge überlebt Robinson nur, weil er die Errungenschaften der Zivilisation aus sich selbst hervorzubringen vermag. Nach einigen Jahren wird er gerettet und kehrt mit seinem Begleiter Freitag nach Deutschland zurück, wo beide eine Tischlehre absolvieren und dann gemeinsam eine Werkstatt gründen. Campe wollte mit seinem Werk zeigen, wie man sich selbst durch Nachdenken und zielstrebiges Handeln aus einer hilflosen Lage befreien kann. Kein Werk der Weltliteratur ist so häufig nachgeahmt worden wie Defoes Roman. Mit der „Robinsonade“ entstand eine Subgattung des Abenteuerromans in zahllosen Varianten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Robinsonaden für Kinder sind u. a.: A. Th. Sonnleitner: „Die Höhlenkinder“ (1918-1920) Lisa Tetzner: „Die Kinder auf der Insel“ (1944) William Golding: „Herr der Fliegen“ (1954, dt. 1956) Romantik und Biedermeier Das „göttliche“ Kind In der Zeit der Romantik kam Kindern eine Sonderrolle zu, die den Erziehungsvorstellungen der Aufklärung diametral entgegen stand. Dichter wie Ludwig Tieck oder Joseph von Eichendorff übten scharfe Kritik am philanthropischen Nützlichkeitsdenken und lehnten die zu frühe Bildung der Kinder ab. In der Frühromantik entwickelte sich das idealisierte Bild vom göttlichen, der Gegenwart entfremdeten Kind. Die durch die Niederlagen während der Napoleonischen Kriege ausgelösten Empfindungen von Verunsicherung und kulturellem Verfall beförderten im Bürgertum die Sehnsucht nach politischer Einheit und kultureller Identität. Die Suche nach den kulturellen Wurzeln der deutschen Nation führte zurück zu den aus dem Volk entstandenen, über die Jahrhunderte mündlich tradierten Märchen, Sagen, Rätseln, Reimen und Legenden. Wichtige Daten: 1806 Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1807 Edikt zur Bauernbefreiung 1809 Beginn der Bildungsreform unter Wilhelm von Humboldt 1813/14 Befreiungskriege gegen die Napoleonische Besatzung 1815 Restaurative Neuordnung des deutschen Reichsgebiets auf dem Wiener Kongress Volkspoesie als Kinderliteratur Der Beginn romantischer KL in Deutschland kann auf das Jahr 1808 datiert werden, als Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) den dritten Band ihrer Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ herausgaben. Diese Texte wollten nicht belehren. Die Verse ahmten den kindlichen Sprachgebrauch nach, boten Sprachspiel oder Lautmalerei oder orientierten sich am Rhythmus körperlichen Bewegungen, wie etwa bei den Kniereiter- oder Schaukelliedern. Wesentlich nachhaltiger noch wirkten sich die volkspoetischen Ideen der Romantik auf die Gattung der Kindermärchen aus. Gegenüber den Aufklärern betonten die Romantiker die besondere Neigung der Kinder zum Wunderbaren. Als bedeutsamste Märchensammler der Zeit gelten die hessischen Philologen Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859). Sie trugen Sagen, Märchen und Legenden aus der schriftlichen, vor allem der mündlichen Überlieferung zusammen. J. und W. Grimm wurden in Hanau geboren. Sie studierten Jura in Marburg und waren anschließend als Bibliothekare in Kassel tätig. 1830 wurden sie an die Universität Göttingen berufen und 1837 rechtswidrig entlassen, weil sie zusammen mit 5 Kollegen gegen die Aufhebung der Staatsverfassung (von 1833) durch König Ernst August II. von Hannover protestiert hatten. 1840 zogen sie nach Berlin und widmeten sich bis zu ihrem Tode der Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“, dessen erster Band 1854 erschien. 1812 gaben die G. Grimm den ersten von drei Bänden ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ heraus. Erfolgreich waren sie damit zunächst nicht, weil dort Obszönitäten, derbe Zoten (e Zote oplzlost) und Grausamkeiten ziemlich häufig sind. In den nächsten Jahren überarbeitete W. Grimm die Sammlung, indem er glättete und milderte anstößige Stellen und strich einige besonders brutale Märchen. Im Vorwort zur zweiten Auflage von 1819 hieß es dann: „Dabei haben wir jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck sorgfältig gelöscht.“ Unverkennbare Merkmale der Grimmschen Märchen sind: - schlichte Struktur, - zahlreiche Wiederholungen, - der stereotype Handlungsablauf, - formelhafter, naiver Sprachgestus. Typische menschliche Grundsituationen und -probleme werden in prägnante Bilder gefasst und mittels wunderbarer Lösungen (durch Zauberei) nach einem immer gleichen Muster bewältigt. Figuren sind auf wenige Merkmale reduziert, zum Ausdruck kommen immer eine schichte Moral und ein glücklicher Ausgang. Kunstmärchen Einige Märchendichter wandten sich bewusst gegen die volkspoetische Märchentradition. Ihnen dienten orientalische Märchen und französische Feenmärchen als Vorbilder. E.T.A. Hoffmann (1776-1822) bildete sog. „Alltags-„ oder „Wirklichkeitsmärchen“, in denen sich zugleich der Beginn der phantastischen Literatur markierte. Die Handlung blieb nicht auf die Märchenwelt beschränkt, sondern war in die zeitgenössische Realität eingebunden. „Nußknacker und Mausekönig“ Zum Weihnachten bekommte Marie, Tochter einer Berliner Arztfamilie, einen hölzernen Nussknacker geschenkt. In der Nacht wird das Spielzeug lebendig, der Nussknacker verwandelt sich in einen tapfern Feldherrn und besiegt schließlich mit seinen Zinnsoldatentruppen den garstigen Mausekönig. Der Autor zieht seine Heldin und die Leser in ein Spiel zwischen Traum, Fantasie, Wirklichkeit und Märchenfiktion hinein. Ist der Nussknacker der Gebrauchsgegenstand? Ein Spielzeug? Der König des Puppenreichs? Oder doch der verzauberte Neffe von Maries Patenonkel? Mit der literarischen Gestaltung dieses Vorgangs nahm Hoffmann wichtige Aspekte der Psychologisierung in der KJL vorweg. Herzens- und Gemütsbildung Nach 1815 begann für die KJL ein „goldenes Zeitalter“. Friedrich Fröbel (1782-1852) gilt als wichtiger Vertreter der romantischen Pädagogik. 1837 gründete Fröbel die erste „Pflege-, Spiel- und Beschäftigungsanstalt“ für Kleinkinder, die seit 1840 „Kindergarten“ genannt wird. „Mutter und Koselieder“ (1844) kann gleichzeitig als Erziehungsratgeber oder Sing-, Spiel und Bilderbuch genutzt werden. Fröbel wollte mit seinem Werk die Kommunikation zwischen Mutter und Kind fördern, alle Sinne ansprechen und die kindliche Freude an Sprachspiel, Reim und Rhythmus unterstützen. Später wurden die „Mutter- und Kinderlieder“ als Lehrbuch für angehende Erzieherinnen genutzt. Wichtige Anregungen zum Werk verdankt Fröbel Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Pestalozzi war Schweizer Pädagoge und Sozialreformer. Er verstand Erziehung als umfassende, auf konkreter Anschauung basierende Entwicklung der geistigen, ethisch-moralischen und praktischen Kräfte. Seine Vorstellung von den drei Lebenskreisen, in die jeder Mensch eingebunden ist, bestimmen die Erziehung von der „Wohnstube“ über die Berufswelt bis zur Stellung in Volk und Vaterland. Erste Bilderbücher Auch die „Fünfzig Fabeln für Kinder“ (1833) von Wilhelm Hey (1789-1854) transportieren den Geist der Romantik ins Biedermeier. Illustrationen von Otto Speckter (1807-1871). Mit der traditionellen Fabel hatte diese poetische Tierkunde nur noch sehr wenig gemein. Aus der Perspektive von Kindern und eingebettet in ihren Alltag, werden heimische Tiere mit teilweise menschlichen Eigenschaften vorgestellt. „Was ist das für ein Bettelmann? Er hat ein kohlschwarz Röcklein an, Und läuft in dieser Winterzeit Vor alle Türen weit und breit, Ruft mit betrübtem Ton: Rab! Rab! Gebt mir doch einen Knochen ab.“ (das Gedicht „Rabe“ aus „Fünfzig Fabeln für Kinder“) Es war den neuen grafischen Techniken zu verdanken, dass in der 1. Hälfte des 19. Jhs. die Anzahl der veröffentlichten Bilderbücher deutlich zunahm. Denn erst als Lithografie, Stahl- und Holzstich den teueren Kupferstich und den groben Holzschnitt abgelöst hatten, konnten Abbildungen von hoher Qualität, vor allem aber in höherer Auflage produziert und preisgünstiger verkauft werden. Biedermeierliche Illustrationen zeigen eine niedliche, wohlgeordnete Tier- und Kinderwelt, üppig ausgeschmückt mit Ornamenten und Randzeichnungen. Bis eines Tage das skandalöse Bilderbuch des Kinderarztes Heinrich Hoffmann erschien – und mit einer Gesamtauflage von mehr als 15 Millionen Exemplaren zum berühmtesten deutschen Kinderbuch wurde. Heinrich Hoffmann (1809-1894) setzte mit seinem Werk „Der Struwwelpeter“ (1845) einen Kontrapunkt zum damals herrschenden Ideal eines Kinderbuchs. Untertitel: „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. Erfunden hatte er die Geschichten vom Suppenkaspar, Zappelphilipp und Hans-Guck-in-die-Luft, um seine kleinen Patienten zu beruhigen und von ihrer Krankheit abzulenken. 1844 zeichnete und schrieb er sie in ein Heft, das er seinem damals 4-jährigen Sohn zu Weihnachten schenkte. Die im Handel angebotenen Kinderbücher hatte Hoffmann als zu moralisch empfunden und kritisiert. Obwohl er in seinen Geschichten auf das altbekannte Muster der moralischen Abschreckung zurückgriff, schuf er dennoch ein innovatives Werk. Die Illustrationen tendieren zur Karikatur, der bürgerliche Kinderalltag wird in surrealer Weise überzeichnet und die schrecklichen Folgen des Ungehorsams sind so absurd übertrieben in Szene gesetzt, dass sie nicht nur Angst, sondern auch befreiendes Lachen produzieren. Märchen und Sagen im Biedermeier Weit über die Romantik hinaus zählten die Märchen zu einer der bedeutsamsten Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur. Im Biedermeier wurden sie zunehmend sentimentaler gestaltet. Wilhelm Hauff (1802-1827) übernahm Elemente der romantischen Märchentradition und erweiterte sie ins Unterhaltende, Abenteuerliche und Unheimliche: „Märchenalmanach für Söhne und Töchter gebildeter Stände“ (1826-1828). Bekannte Märchenstoffe und Sagen, aber auch Kriminal- und Gespenstergeschichten werden durch einen einheitlichen Erzählgestus und spannende Rahmenhandlungen zusammengehalten. 1839 erschienen „Mährchen und Erzählungen für die Kinder“ des dänischen Dichters Hans Christina Andersen (1805-1875) zum ersten Mal in deutscher Sprache. Seine teils melancholischen, teil ironisch pointierten Geschichten sind in kunstvoll einfacher Sprache erzählt und spielen in einem geheimnisvollen Zwischenreich von Wirklichkeit und Zauberwelt. Neben menschlichen Protagonisten übernehmen auch Alltagsgegenstände, Spielzeuge, Pflanzen oder Tiere eine Hauptrolle. „Der standhafte Zinnsoldat“, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, „Die kleine Meerjungfrau“ thematisieren tiefes Leid und enden mit einem glorifizierten Tod. Ludwig Bechstein (1801-1860) „Deutsches Märchenbuch“ (1845) „Neues Deutsches Märchenbuch“ (1856) Zu deren Beliebtheit trugen die Abbildungen von Ludwig Richter (1803-1884). Bechstein nutzte teilweise dieselben Quellen wie die Brüder Grimm, übertrug sie aber aus der märchentypischen Zeit- und Ortlosigkeit in ein familiär-bürgerliches Ambiente. Die volksliterarische Gattung der Sage Sagen entwickelten sich zwischen Romantik und Biedermeier vom Schulbuch zur Unterhaltungslektüre für die ganze Familie. Gustav Schwab (1792-1850): „Das Buch der schönsten Geschichten und Sagen“ (1836-37) und den „Schönsten Sagen des klassischen Alterthums“ (1838-40) Sein bleibendes Verdienst ist es, die Sage für die erzählende KJL entdeckt zu haben. Moralisch-religiöse Erzählungen Christoph von Schmid (1768-1854), katholischer Theologe und Lehrer, verband Märchen und Sagen mit Elementen der Belehrung und religiöser Unterweisungen. Der bayrische König Ludwig I. adelte ihn 1834 wegen seiner Verdienste um die JL. „Die Ostereier“ (1816) Das Buch zeichnet ein pseudoromantisches Bild von Mittelalter und Rittertum. Tendenzen des Realismus Hinwendung zur Wirklichkeit. Vom Vormärz zum Deutschen Kaiserreich 1831-33 Aufstände in mehreren deutschen Ländern 1848 „Das kommunistische Manifest“ von Karl Marx erscheint. 1848 Deutsche Revolution, das erste deutsche Parlament tritt in der Frankfurter Paulskirche zusammen. 1870 Der Deutsch-Französische Krieg beginnt. 1871 König Wilhelm I. von Preußen wird Deutscher Kaiser. Die Jahrzehnte zwischen 1830 und 1900 waren gesellschaftspolitisch geprägt durch ein Wechselspiel von Tendenzen der Beharrung und des Aufbruchs. Parallel zur politischen Entwicklung verlief die industrielle Revolution, die tief greifende Veränderungen der sozialen und demografischen Strukturen nach sich zog. 1769 Der Engländer James Watt erfindet die Dampfmaschine. 1835 Erste deutsche Eisenbahn 1876 Nikolaus August Otto erfindet den Viertakt-Motor 1882 In Berlin wird die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt. 1897 Erfindung der drahtlosen Telegrafie. Der industrielle Aufschwung in Deutschland beförderte ein allgemeines Interesse an technischen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen. In der KJL entwickelte sich vor allem die Sachliteratur. Ein besonderer Stellenwert kam den Themenbereichen Naturwissenschaft und Technik zu. Geschichte im Dienst der Nationalerziehung Ale ein zweiter aktueller Schwerpunkt entwickelte sich im Verlauf des 19. Jhs. die KJL zu historischen Themen. Es ging darum, jungen Menschen durch nationalerzieherische Schriften ein politisch-patriotisches Bewusstsein zu vermitteln. Mit Titeln wie das „Heldenbuch“ (1816) von Christian Niemeyer, „Germania“ (1835) und „Teutonia“ (1837) von Heinrich Eduard Maukisch wurden Leitbilder entworfen, die jungen Menschen die Identifikation mit dem erstrebten Nationalstaat erleichtern sollten. Herausragende Ereignisse der deutschen Geschichte zeigten Stärke und Leistungsfähigkeit des deutschen Reiches, die Biografien berühmter Männer sollten deutsche Nationaltugenden wie Heldenmut, Treue, Tapferkeit und Selbstlosigkeit symbolisieren. Als besondere Repräsentanten deutscher Geschichte galten Martin Luther, Schwedenkönig Gustv Adolf, Kaiser Friedrich I. Barbarossa, Friedrich der Große von Preußen. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870 verstärkte sich die Produktion historischer Romane für Heranwachsende. Aber auch geschichtliches Erzählwerk der Allgemeinliteratur wie Gustav Freytags „Ahnen“ (1872-80) fand unter den Jugendlichen zahlreiche Leser. Der Realismus von Gustav Nieritz Während ruhmreiche Episoden aus der deutschen Geschichte geschildert wurden, fanden Themen der sozialen Wirklichkeit, wie Massenarmut, Hungerkatastrophen, Landflucht oder soziale Ungleichheit nur zögernd Eingang in die KJL. Eine Ausnahme ist der Dresdner Lehrer Gustav Nieritz (1795-1876), dessen Jugendschriften in 120 Bänden erschienen. Nieritz schuf eine lit. Welt voller Abenteuer, Historik und Exotik. Häufig gestaltete Nieritz historische Stoffe, z. B. in „Die Türken vor Wien“ (1855). Ferne Welten im Abenteuerbuch Die Reise- und Abenteuerliteratur bot einer zunehmend breiteren Leserschicht Fluchtmöglichten aus dem Alltag. Theodor Dielitz (1810-1869) kompilierte insgesamt 15 Bände „Land- und Seebilder“ (1841-62). Die Schilderungen von Naturkatastrophen, Kriegen, Besiedlungen und Überfällen dienten in erster Linie der Unterhaltung. Leseprobe: „Oft richtet ein einziges dieser Raubtiere entsetzliche Verwüstungen an. So hatte sich in einem Engpasse eine Tigerin mit zwei Jungen gelagert und würgte täglich mehrere Menschen. Da sie auch gegen zwölf Postboten zerriß, so hörte mehrere Wochen lang jede Verbindung zwischen den beiden zunächstgelegenen Städten auf.“ Aus: Theodor Dielitz: „Die Tigerjagd in Ostindien“, in „Lebensbilder“, 1841 Exkurs in die Weltliteratur Jules Verne (1828-1905) Die Reisen der Romanhelden des Franzosen J. Verne führten nicht nur rund um die Erde, sondern auch in ihr Inneres und bis zum Mond. Verne kombinierte Elemente des Abenteuerromans mit Erkenntnissen moderner Technik und Wissenschaft zu einem neuen Genre. Einen großen Erfolg konnte er mit der „Reise um die Erde in 80 Tagen“ (dt. 1874) verbuchen. Der englische Gentlemen Phileas Fogg wettet, dass es ihm gelingen wird, den Erdball in 80 Tagen zu umrunden. Er und sein Diener nutzen dabei die fortschrittlichsten Kommunikations- und Verkehrsmittel. „Fünf Wochen im Ballon“ (dt. 1887) „Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren“ (dt. 1875) Verne erwies sich als Meister spektakulärer Erfindungen und kühner Gedankenspiele. Die Sklavenfrage: „Onkel Toms Hütte“ Die Sklaverei wurde in der KJL häufig bearbeitet. Die unzivilisierten „Wilden“ sollten einen pittoresken Gegensatz zu gesitteter deutscher Lebensart bilden. Harriet Becher Stowe (1811-1896) zeigte dagegen in ihrem Werk „Onkel Toms Hütte“ (dt. 1852) eine politische Anklageschrift gegen die Sklaverei. Die Theologentochter Becher Stowe betrachtete „die Frage der Sklaverei im Licht des Evangeliums“. Toms Martyrium und schließlich sein Tod auf der Farm eines skrupellosen Baumwollfarmers sind analog zur christlichen Überzeugung gestaltet, durch das Sterben Jesu Christi im Tod erlöst zu werden. Begeisterung für Indianerbücher Bei den jungen Lesern im 19. Jh. herrschte ein großes Interesse an der Literatur über Nordamerika. James Fenimore Cooper (1789-1851) mit seinen „Lederstrumpf“ Erzählungen wurde ein Vorbild für zahllose weitere Indianergeschichten. Der ideale Deutsche: Old Shatterhand Den Höhepunkt des Abenteuer- und Indianer-Fiebers im Deutschland des 19. Jhs. markiert das Werk Karl Mays (1842-1912). Der Sohn einer Weberfamilie scheiterte in seinem Bemühen als Lehrer sein Leben zu erfüllen. Wegen Betrüge geriet er sogar ins Gefängnis. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er 1874 mit historischen Erzählungen. Jedoch erst Mit „Winnetou“ (1893) und der „Old Shatterhand“ Trilogie (1894-1896) sowie dem 6-bändigen Orient-Zyklus „Durch Wüste und Harem“ (1892) stieg er zu den auflagestärksten Autoren auf. Das Geheimnis seines Erfolgs lag in der erzählerischen Mischung aus Spannung, Rührung und Komik. In allen seinen Werken wurde die Überlegenheit der christlich-abendländischen Kultur und der europäischen Technik beschworen. Old Shatterhand verkörperte das Nationalklischee vom ehrlichen und aufrichtigen Deutschen. Leseprobe: „Der jüngere war genauso gekleidet wie sein Vater, nur dass sein Anzug zierlicher gefertigt war. Seine Mokassins waren mit Stachelschweinborsten und die Nähte seiner Leggins und des Jagdrocks mit feinen, roten Zierstichen geschmückt. Auch er trug den Medizinbeutel am Hals und das Kalumet dazu. Seine Bewaffnung bestand wie bei seinem Vater aus einem Messer und einem Doppelgewehr. Er trug ebenfalls den Kopf unbedeckt und hatte das Haar zu einem helmartigen Schopf aufgebunden, durchflochten mit einer Klapperschlangenhaut, aber ohne es mit einer Feder zu schmücken. Es war so lang, dass es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel. Gewiß hätte ihn manche Frau um diesen herrlichen, blauschimmernden Schmuck beneidet. Sein Gesicht war fast noch edler als das seines Vaters und die Farbe ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch.“ Karl May „Winnetou“ (1893) Vom trotzigen „Backfisch“ zur perfekten Dame Seit dem Beginn des 19. Jhs. hatten engagierte Frauen gegen die in der Gesellschaft herrschende Auffassung von der „natürlichen“ Unterlegenheit der Frau protestiert und ihre Gleichstellung in rechtlicher und sozialer Hinsicht und im Hinblick auf die Chancen zum Erwerb von Bildung und Beruf gefordert. Bis zum Ende des 19. Jhs. war jedoch die Erziehung der „höheren“ Töchter des Bürgertums auf das Ziel der Eheschließung hin ausgerichtet. Zeitschrift „Herzblättchens Zeitvertreib. Unterhaltungen für kleine Knaben und Mädchen zur Herzensbildung und Entwicklung der Begriffe“ (1909). Gegründet von Thekla von Gumpert (1810-1897) 1856 und erschien bis 1933. Berufstätigkeit galt als Notlösung für diejenigen, die vergeblich nach einem Bräutigam gesucht hatten, oder für unversorgte Witwen. In der Gattung der Mädchenliteratur traten zum ersten Mal in größerer Zahl Schriftstellerinnen hervor. Clementine Helm: „Backfischens Leiden und Freuden“ (1863) Das Buch enthält zahlreiche Anstands- und Benimmregeln. Emmy von Rhoden (1832-1885): „Trotzkopf“ (1885) Das Werk wurde zum Klassiker. Ilse, die Gutsbesitzertochter aus Pommern, verwandelt sich in einem Pensionat zur vollendeten Dame und begegnet auf der Heimreise einem standesgemäßen jungen Mann, der bald um ihre Hand anhält. Johanna Spyri (1827-1901): „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ (1882) Die Waise Heidi wächst auf einer Bergalm bei ihrem Großvater auf. In der gesellschaftsfernen Alpenwelt entwickelt sie sich zu einem fröhlichen Kind. Dann bringt eine Verwandte sie nach Frankfurt, wo sie in einer reichen Familie einem gelähmten Mädchen Gesellschaft leisten soll. Heidi wird krank und verweigert das Essen. Gesund wird sie erst nach ihrer Rückkehr in die Berge. Die Natur mit ihren heilenden Kräften wird der verderblichen Zivilisation der Großstadt gegenübergestellt: Die Alm ist hier ein Symbol der Vertrautheit, dagegen Frankfurt der Verlorenheit und Entfremdung. Heidi gelingt die Ablösung von ihrer vertrauten Umgebung nicht, sie kehrt zurück in die Berge. Aus diesem Grund bezeichnete Bettina Hurrelmann (deutsche Literaturwissenschaftlerin) dieses Werk als einen antipädagogischen Roman, den sog. Antientwicklungsroman. Die ungepassten Kinder Hauptfiguren der KJL des 19. Jhs. waren die braven Kinder der moralischen Beispielgeschichte. Handelten sie einmal ungehorsam, so waren sie am Ende doch wieder zur Tugend bekehrt. Der Amerikaner Mark Twain (1835-1910) erfand zwei Helden, die sich nicht anpassen wollten: „Tom Sawyer“ (dt. 1876) „Huckleberry Finn“ (dt. 1890) Twain lehnte die übliche KL mit ihren moralischen Intentionen entschieden ab. Twain zeigt die Welt der Kleinbürger und sozial Benachteiligten, die entlang des Mississippi leben. Hier strolchen Tom und Huck herum und geraten immer wieder in gefährliche Situationen und Konflikte mit den Erwachsenen. Die Bedeutung des Werkes für die KL ist vor allem im Verzicht auf jede pädagogische Intention zu sehen. Auch in Deutschland war ein Künstler, der sich vor dem Kleinbürgerleben ekelte und dessen Helden seiner Werke Kinder waren. Wilhelm Busch (1832-1908) war ein Außenseiter, ebenso gescheitert als Student des Maschinenbaus wie als akademischer Kunstmaler. Seine Bildergeschichten: „Hans Huckenbein, der Unglücksrabe“ (1867) „Max und Moritz“ (1865). Die sieben Streiche der „bösen Buben“ sind Parodien auf die moralische Beispielgeschichte. Der Erzähler in der Art eines Bänkelsängers erzählt mit lakonischen Knittelversen über das „Lumpenpack“ Max und Moritz, doch seine geheime Verachtung gilt den dörflichen Spießern wie der Witwe Bolte, dem Schneider Böck, Lehrer Lämpel, deren Leben auf die Hühnerhaltung, Nadel und Faden oder ein Pfeifchen Tabak beschränkt ist. Es ist eine mitleidlose Welt, in der die Kinder auf sich allein gestellt sind: „Und die Kinder werden Sünder, / Wenn´s den Eltern einerlei“ heißt es in der „Frommen Helene“. Die Aggressivität von Max und Moritz ist als Ventil für deren Ohnmacht und Hilflosigkeit zu deuten. Busch zweifelte an der Erziehbarkeit des Menschen. Neue bildungspolitische Akzente Im letzten Drittel des 19. Jhs. kam der Prozess der Alphabetisierung zum Abschluss: Alle Kinder lernten jetzt Lesen und Schreiben. Die Zunahme der Lesefähigkeit in der Bevölkerung hatte auch zur Folge, dass die Literatur für Heranwachsende ein breites Publikum jenseits der bildungsbürgerlichen Elite erobern konnte. Es entstanden zahllose, nur auf den kommerziellen Erfolg gerichtete Unterhaltungsromane für KJ. Das niedrige Niveau der KJL kritisierte Heinrich Wolgast (1860-1920), Volksschullehrer und bekanntester Vertreter der Jugendschriftenbewegung. In seinem Werk „Das Elend unserer Jugendliteratur“ (1896) plädierte er für eine Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus. Er lehnte pädagogische Intentionen des Werkes ab. Er lehnte die sog. „Tendenzschriften“ ab (Werke, die moralische, religiöse oder politische Überzeugungen vermittelten), sowie Werke, die bloße Unterhaltung vermittelten. Einer seiner Kernsätze lautete: „Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein.“ Welche Lektüre empfahl Wolgast Jugendlichen? Sie sollten sich mit den „klassischen Denkmälern“ der Literatur vertraut machen, wozu er vor allem Kunstmärchen und andere Gattungen der Volksliteratur zählte. Für Wolgast war die Geschlossenheit der Handlung, eine schichte Sprache und die Gestaltung eher einfacher, klar strukturierter Charaktere wichtig. Zitat: „Der Dichter und Kenner der Kinderseele versetzt sich vermöge seiner Imagination auf den Standpunkt des Kindes, und aus kindlicher Stimmung, Gesinnung und Sprache heraus gestaltet sich eine Dichtung.“ Heinrich Wolgast: „Das Elend unserer Jugendliteratur“ von 1910. Jugendstil und Kunstmoderne Um die Wende zum 20. Jh. trug in Deutschland die Reformpädagogik zur Entstehung der Gattung des künstlerischen Bilderbuchs bei. Als Bilderbuch werden in der KJL Bücher bezeichnet, die gekennzeichnet sind durch eine Gleichwertigkeit von Bild und fiktionalem Text. Beide ergänzen sich gegeneinander und bilden die Grundlage der literarisch-künstlerischen Gesamtaussage. Sachbilderbücher hingegen zielen darauf, die Kinder mit den Gegenständen und Lebensformen ihrer Umwelt vertraut zu machen. Als primäre Zielgruppe werden in der Regel Kinder im Vorschulalter angesprochen. Zum Leitbegriff der Reformpädagogik wurde die Erziehung „vom Kinde aus“. Anstatt der üblichen formalen Lehrmethoden wurden Kriterien wie Anschaulichkeit, Erklärung und Selbsttätigkeit bevorzugt. Nach Wolgast sollte sich der Autor in die kindliche Psyche hineinversetzen und aus dieser Perspektive sein literarisches Werk gestalten. Wichtige Impulse für die Entwicklung des künstlerischen Bilderbuchs gab Jugendstil. In den Bilderbüchern des Jugendstils zeigt sich eine idealisierte, romantisch gefärbte Vorstellung vom Kind. Als bedeutendster Illustrator dieser Richtung im deutschsprachigen Raum gilt der Schweizer Grafiker und Maler Ernst Kreidolf (1863-1956). Sein Werk: „Blumenmärchen“ (1898) Den wichtigsten literarischen Beitrag zu den Bilderbüchern der Kunstmoderne leisteten Richard Dehmel (1863-1920) und seine erste Frau Paula Dehmel (1862-1918). Anfänge des Adoleszenzromans Unter Adoleszenzliteratur werden literarische Werke, zumeist Romane verstanden, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter thematisieren. Behandelt werden Themen wie die Ablösung von den Eltern, die Ausbildung eigener Wertvorstellungen, erste sexuelle Kontakte, der Aufbau von Sozialbeziehungen und das Hineinwachsen oder die Ablehnung eigener sozialen Rolle. In Erzählungen, Dramen und Romanen am Anfang des 20. Jhs. wurde das Erwachsenwerden als Phase tief greifender Irritationen und Leiden bis hin zum Tod begriffen. Einige Autoren der Allgemeinliteratur wie Frank Wedekind und Robert Musil gestalteten in den Werken „Frühlings Erwachen“ und „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ Identifikationsfiguren für junge Leser. Bereits 1891 hatte Frank Wedekind (1864-1918) in seinem Schauspiel „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ eine Gesellschaft angeklagt, die durch ihre lebens- und sexualfreundliche Scheinmoral Jugendliche an freier erotischer Entfaltung und dem Aufbau einer selbstbestimmten Identität hinderte. Robert Musil (1880-1942) schildert in „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) den Prozess sexueller und seelischer Selbstfindung. Im gleichen Jahr erschien Hermann Hesses (1877-1962) Erzählung „Unterm Rad“ (1906), in dem er aufzeigt, wie ein junger talentierter Mensch im rigiden Gesellschaftssystem zugrunde gerichtet wird. Exkurs: Comics Um 1900 erschienen in der Presse der USA die ersten Comics-Strips: Lustige Bildergeschichten mit einer Verknüpfung von Illustrationen, Sprechblasen und Blockkommentaren. Die Geschichte der Comics in Deutschland entstand trotzdem erst nach 1945. In den 50er Jahren explodierte dann der Comic-Markt, den größten Anteil daran hatten Abenteuercomics (Tarzan). Es gab kaum einen bekannten Stoff der Abenteuer- und Sagenliteratur, der nicht im Comic visualisiert wurde. In den 60er Jahren kamen Serien wie „Batman“ und „Superman“. Die lustigen Comics repräsentierten die Serien „Micky Maus“, „Donald Duck“ und „Fix und Foxi“. In dem neuen Lesevergnügen sahen konservative Kreise eine akute Gefährdung von Moral und Sittlichkeit. Erst mit den „Peanuts“ (deutsch 1964) von Charles M. Schulz (1922-2000) wurde erstmals der ganz normale Alltag zum Thema eines Comics (Protagonist Charlie Brown und sein Hund Snoopy). Die Serie „Asterix“ (dt. 1968) über den Kampf der unbeugsamen Gallier gegen die römische Besatzungsmacht gehört mit ihren Anspielungen auf Geschichte und Ethnografie zur intelligentesten Form der Comic-Unterhaltung. Von der Jahrhundertwende zur Weimarer Republik Neuromantische Strömungen Der Begriff Neuromantik bezeichnet eine gegen den Naturalismus gerichtete literarische Strömung um die Wende zum 20.Jh., die durch eine Neubelebung der Romantik gekennzeichnet ist. Motive der romantischen Literatur und vor allem Gattungen wie Traumliteratur, Märchen und Legenden werden wieder entdeckt. Vertreter der Neuromantik in der Allgemeinliteratur waren Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann („Hanneles Himmelfahrt“, 1893). Märchen und Fantastik Als Fantastische Literatur werden Texte bezeichnet, in denen Phänomene geschildert werden, die jenseits der Erfahrungswirklichkeit liegen. Im Unterschied zur geschlossenen Welt des Märchens, in der irrationale Erscheinungen selbstverständlich sind, ist für die Fant. Literatur ein „Zwei-Welten-Modell“ typisch. Wesentliche Anregungen hatte die deutsche Fantastik aus anderen europäischen Ländern bekommen. Lewis Carroll (1832-1898): „Alice im Wunderland“ (dt. 1869) Carlo Collodi (1826-1890): „Die Abenteuer des Pinocchio” (dt. 1913) „Alice im Wunderland“ Alice fällt durch ein Kaninchenloch aus ihrer Kinderwelt in eine bizarre Traumwelt. Hier muss sie sich gegen tyrannische Tiere wehren, die als Repräsentanten der Erwachsenen zu deuten sind. Dieses Werk verknüpft das romantische Kunstmärchen (E.T.A. Hoffmann) mit der Nonsens-Literatur. Von „Alice“ ließen sich z. B. Lyman Frank Baum („Der Zauberer Oz“,1900), M. Ende („Die unendliche Geschichte“, 1979) und Joanne R. Rowling („Harry Potter, 1997) anregen. Alan Alexander Milne (1882-1956) entführt die Leser in seinen Geschichten „Pu der Bär“ (dt. 1928) in eine Spielzeugwelt. Wildgänse, Rehe und andere Tiere Der Übergang vom Agrarstaat zur Industrienation wurde von vielen Menschen als Entfremdung von der Natur verstanden. Zwischen 1900 und 1930 schrieben Autoren wie Rudyard Kipling, Selma Lagerlöf und Waldemar Bonsels Werke, die das Verhältnis zwischen Mensch und Tier thematisierten. Die zwei Bände der „Dschungelbücher“ (1894-95) des in Indien aufgewachsenen Engländers Rudyard Kipling (1865-1936) erzählen vor allem von Mowgli, einem indischen Jungen, der von einem Tiger in die Wildnis verschleppt und von Wölfen aufgezogen wird. Kipling ging es um eine naturalistische Darstellung der Tiere. Diese Geschichte verfilmte Walt Disney (1967). Von Kipling ließ sich die Schwedin Selma Lagerlöf (1858-1940) anregen. Für die „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ (dt. 1908) bekam sie 1909 den Literaturnobelpreis verliehen. Der kleine Nils erlebt aufregende Abenteuer auf seiner unfreiwilligen Reise mit den Gänsen. Lagerlöf integrierte in ihr Buch Wissenswertes aus Literatur, Geografie und Landeskunde. Die Tiere vermitteln nicht nur wichtige Detailkenntnisse, sondern auch Lektionen im Sozialverhalten. Am Ende hat sich der ungehorsame Nils durch das Beispiel der Tiere zu einem verantwortungsvollen Jungen entwickelt. „Die Biene Maja“ Die bekannteste deutsche Tiergeschichte am Beginn des 20. Jhs. ist Waldemar Bonsels (1881-1952) neuromantisches Naturmärchen „Die Biene Maja“ (1912). Von dem Buch wurden bis 1922 eine halbe Million Exemplare verkauft. Viele davon steckten in den Tornistern junger Soldaten, die 1914 in den Krieg zogen. Majas Ausbruch aus dem Bienenstock symbolisiert das Lebensgefühl der jungen Menschen, die in der Natur Freiheit, Abenteuer und Lebensfreude suchten. Zitat: „Die Biene Maja liefert ein prägnantes literarisches Beispiel für die ambivalente Haltung der bürgerlichen Jugend am Beginn des 20. Jhs. hin und her gerissen zwischen Freiheits- und Sicherheitsstreben.“ Von Schatzsuchern und Goldgräbern Robert Louis Stevenson oder Jack London ein angelsächsischer und ein angloamerikanischer Autor, wurden mit einer Verspätung in Deutschland bekannt. In seiner „Schatzinsel“ (dt. 1897) setzte Robert Louis Stevenson (1850-1894) Motive der Schauerromantik effektiv in Szene. Die Lebenserinnerungen des ehemaligen Schiffsjungen Jim Hawkins enthalten geheimnisvolle Charaktere, beängstigende Atmosphäre, schnelle und unerwartete Wendungen, Piraterei, Meuterei (vzpoura), Schatzsuche, Überlebenskämpfe, Gewalttätigkeiten und Mord. Stevenson verwendet Umgangssprache aus Seemannsjargon in den Dialogen, wodurch die Anschaulichkeit und Authentizität des Romans gesteigert werden. Jack London (1876-1916) verarbeitete seine Lebenserfahrungen in Abenteuererzählungen über Goldgräber, Matrosen, Jäger und Fallensteller. „Der Ruf der Wildnis“ (dt. 1929). Es ist die Geschichte eines tapferen Schlittenhundes Buck, der am Ende als Ruderführer einer Wolfsmeute dem „Ruf der Wildnis“ folgt. Weitere Werke: „Der Seewolf“ (dt. 1926) „Lockruf des Goldes“ (1928) In diesen Werken wird das Leben als Kampf dargestellt, der nur mit Mut, Stärke und Scharfsinn zu bestehen ist. Der „Kolonialroman“ In der deutschen KJL hatten Abenteuerbücher für Jungen auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. weiterhin Konjunktur. Mit so genannten „Kolonialromanen“ sollten junge Leser für die Überseegebiete in Afrika und im Pazifik begeistert werden. C. Falkenhorst (eigentlich Stanislaus von Jezewski) veröffentlichte in den Jahren 1893-1900 eine zehnbändige Reihe „Jung-Deutschland in Afrika“. In diesem Werk wurden Schicksale deutscher Pioniere und Naturforscher vorgestellt. Mit einem offenen Rassismus wurde in diesem Werk die angebliche Rückständigkeit der Eingeborenen mit ihren Sitten und Gebräuchen gezeigt. Krieg als Abenteuer Die KJL wurde am Anfang des 20. Jhs. für politische Propaganda im Kaiserreich missbraucht. Der Krieg wurde zum spannenden Abenteuer verklärt. Bekannte Künstler und Dichter Wenngleich in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. in der dt. KJL vor allem nationalistische Tendenzen dominierten, schrieben auch anerkannte Künstler für Kinder: Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und Bertolt Brecht. Die Lyrik Christian Morgensterns (1871-1914) ist durch Elemente des Musikalischen und Spielerischen wesentlich bestimmt. Er knüpfte an die Traditionen des Sprachspiels an, aber auch an die Kinderlieder der Romantik. In seinen Gedichten spielen Rhythmus und Reim, Lautmalereien und Wortspiele eine wichtige Rolle. Speziell für junge Leser verfasste er ein einziges Buch: „Das Hasenbuch“ (1908). Joachim Ringelnatz (1883-1934) steigerte die humoristischen Sprachspielereien Morgensterns bis ins Schaurig-Groteske. Mit seinen anarchistischen Versen verhöhnte er das Bürgertum. In seinem Werk „Geheimes Kinder-Spiel-Buch“ (1924) setzte er an die Stelle der Pädagogik fantasievolle und freche Kinderspiele. Thematisch knüpfte er an Wilhelm Busch und Mark Twain an. Joachim Ringelnatz „Die Ameisen“ (1912) In Hamburg lebten zwei Ameisen, Die wollten nach Australien reisen. Bei Altona auf der Chaussee, Da taten ihnen die Füße weh, Und da verzichteten sie weise, Dann auf den letzten Teil der Reise. Bertolt Brecht (1898-1956) schrieb sein erstes Kinderbuch „Die drei Soldaten“ (1932). Mit seinen Gedichten wollte er das kritische Bewusstsein von Heranwachsenden schärfen. Die drei Soldaten sind Allegorien auf Hunger und Krankheiten. Ihre Botschaft lautet: Wer passiv bleibt, wird untergehen, wer sich gegen politische Ungerechtigkeiten wehrt, wird sie überwinden. Mit dem Werk „Kinderkreuzzug“ (1939) äußerte er sich gegen die Unmenschlichkeit des Krieges. Geschildert wird, wie eine Gruppe von Kindern auf der Suche nach Frieden durch zerstörte polnische Dörfer irrt. Realistische Großstadtgeschichten Im Verlauf des 19. Jhs. entdeckten Schriftsteller wie Émile Zola, Charles Dickens die Großstadt als literarischen Ort. Mit Charles Dickens´ (1812-1870) Waisenjungen „Oliver Twist“ (dt. 1838) kämpft zum ersten Mal ein Kind in den bedrohlich wirkenden Gassen der Großstadt gegen Armut und Verbrechen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Berlin zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt Deutschlands – und auch zum Schauplatz von Kinderbüchern. Die Großstadt- und Kriminalgeschichte um „Emil und die Detektive“ (1929) wurde auch international zum erfolgreichsten deutschen Kinderbuch des 20. Jhs. Erich Kästner (1899-1974) Geboren in Dresden (Neustadt) in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Journalist in Leipzig. Der Höhepunkt seines lit. Schaffens fiel in seine ersten Berliner Jahre zwischen 1928 und 1933, in denen neben zahllosen gesellschaftskritischen Gedichten und dem Roman „Fabian“ (1931) seine berühmten Kinderromane entstanden: „Emil und die Detektive“ (1929), „Pünktchen und Anton“ (1931), „Der 35. Mai“ (1932) und „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933). In der Zeit des NS waren seine Bücher verboten und verbrannt, K. veröffentlichte unter diversen Pseudonymen harmlose Unterhaltungsbücher. Ab 1945 lebte K. in München. Nach „Das doppelte Lottchen“ (1949) und „Die Konferenz der Tiere“ (1949) zeigte sein kinderliterarisches Werk zunehmend Züge der Resignation. Er bearbeitete Klassiker für Kinder, z. B. „Die Schildbürger“ (1954) und „Gullivers Reisen“ (1961), schrieb seine Kindheitserinnerungen unter dem Titel „Als ich ein kleiner Junge war“ (1957) und erfand als letzten seiner Kinderhelden einen Miniatur-Erwachsenen im Streichholzschachtel-Format mit dem Werk „Der kleine Mann und die kleine Miss“ (1963). Dass er trotz oft sehr deutlicher moralischer Botschaften zu einem Lieblingsautor junger Menschen wurde, verdankte er seiner Fähigkeit, deren Probleme mit großer Ernsthaftigkeit, zugleich aber mit ausgeprägtem Humor darzustellen. Sein „Emil“ gehört ganz der literarischen Richtung „Neue Sachlichkeit“. Aus der Kleinstadt, die nicht nur die Geborgenheit der Mutter, sondern auch die Enge symbolisiert, gerät der Schüler Emil Tischbein bei der Verfolgung des „Herrn mit dem steifen Hut“ mitten hinein in die pulsierende Metropole. Eine Gruppe kesser Berliner Jungs hilft ihm dabei, den Dieb zu überführen, der ihm auf der Zugfahrt hundertvierzig Mark gestohlen hat. Kästners zweiter Kinderroman spielt ebenfalls in Berlin: „Pünktchen und Anton“ (1931). Es geht hier um soziale Unterschiede, Freundschaft und wiederum – ein Verbrechen. Einen großen Anteil am Erfolg Kästners Bücher hatten Illustrationen von Walter Trier. Sozialistische Kinderliteratur Die Diskussion um eine spezifisch sozialistische bzw. kommunistische KL begann mit der Reformbewegung um die Wende des 20. Jh. Beliebt waren wieder die Märchen. Die bekannteste Autorin proletarischer Kindermärchen in der Weimarer Republik war Hermynia zur Mühlen (1883-1951). Märchensammlung: „Was Peterchens Freunde erzählen“ (1921) Dem kranken Peter erzählen die Gegenstände, die ihn in seinem Zimmer umgeben (Kohle, Bettdecke, Eisentopf usw.) von ihrer Herkunft und ihrer Bedeutung im jeweiligen Produktionszusammenhang. Im Jahre 1931 schreibt Erich Kästner seinen nächsten Detektivroman „Pünktchen und Anton“, über die Freundschaft eines Fabrikantenkindes Luise Pogge und Anton Gast, der Sohn einer lungenkranken armen Frau ist. Ähnlich schreibt auch die Autorin Grete Weißkopf unter ihrem Pseudonym Alex Wedding (1905-1966) in ihrem Werk „Ede und Unku“ (1932). Hier geht es um die Freundschaft eines Arbeiterjungen und eines Zigeunermädchens. Neben Freundschaft und Solidarität ist das Hauptthema von Weddings Geschichte die politische Verwandlung Edes, der nachdem der Vater arbeitslos geworden ist, soziale Verantwortung übernehmen muss und binnen weniger Tage zum klassenbewussten Proletarier wird. Lisa Tetzner (1894-1963) Zu ihrter Lebzeit war ihr Werk bekannter als das von Erich Kästner. „Hans Urian“(1931) Hans Urian sucht für seine Familie Brot und lernt, dass die Prinzipien des Kapitalismus dieselben sind. „Die Kinder aus Nr. 67“ Neunbändiger Zyklus (1933-1949). Erzählt wird von einer Gruppe Heranwachsender aus einem Berliner Hinterhaus zwischen den Jahren 1931 und 1946. Am Anfang steht die Geschichte von Erwin und Paul. 1933 werden sie getrennt. Erwin muss mit seinem Vater, einem Sozialdemokraten flüchten, eine andere Hausbewohnerin ist gezwungen ihre Heimat zu verlassen, weil sie Jüdin ist. Tetzner schildert Schicksale der Flüchtlinge während ihrer Fahrten durch Europa, Nord- und Südamerika und ihr Robinsonleben auf einer einsamen Insel nach einem Schiffbruch. Literaturlenkung Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 endete die Phase der lebendigen und innovativen KJL der Weimarer Republik. Ab Juli 1933 koordinierte die „Reichsstelle für das Jugendschrifttum“ die Bestrebungen um einen ideologisch einheitlichen Kurs in der KJL. Die Werke von sozialdemokratischen Autoren, aber auch von Vertretern der Neuen Sachlichkeit wie Erich Kästner oder Irmgard Keun wurden verboten. Der Literaturlenkung im Sinne des Nationalsozialismus dienten diverse Listen und Empfehlungskataloge wie z. B. „Wir lehnen ab“ (1937), „Das Buch der Jugend“ (1934) oder „Das Verzeichnis guter Mädchenbücher“ (1942) Trotz der staatlichen Kontrolle konnten einige verbotene erscheinen, wie 1933 „Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner oder „Der Bankrott des kleinen Jack“ (dt. 1935) von einem jüdischen Arzt Janusz Korczak (1868-1942). J. Korczak kümmerte sich im Warschauer Getto um die Kinder eines Waisenhauses und mit diesen wurde er 1942 im KZ Treblinka ermordet. Literarische Erziehung zu Gemeinschaft und Krieg Nationalsozialistische Erziehung sollte uneingeschränkt in den Dienst der Machtsicherung gestellt werden. Es wurden Protagonisten präsentiert, die den Lesern vermitteln sollten, dass der Staat nur durch Einordnung, Unterordnung und absoluten Gehorsam des Einzelnen funktioniert. Fritz Steuben Krieg, Führertum und Volk waren bevorzugte Themen der Kriegs- und Indianerbücher von Fritz Steuben. „Tecumseh“ (1930-39) ist eine Indianergeschichte um einen Indianerhäuptling, der zu Beginn des 19. Jhs. die Indianerstämme einigen wollte, um gegen die weißen Siedler bestehen zu können. Einige Autoren, darunter auch Hans Fallada (1893-1947) schrieben nach der schlechten Erfahrung mit den Nazis harmlose Geschichten. Die Nazis verdächtigten ihn nämlich nach seinem Welterfolg des Werkes „Kleiner Mann, was nun?“ (1932) sozialkritischer Tendenzen. In den Werken „Hoppelhoppel, wo bist du?“ (1936) und „Geschichten aus der Murkelei“ (1938) gab er sich als betont harmloser Erzähler für Kinder. Im Unterschied zu den genannten Autoren besaß Kästner keine Publikationserlaubnis für Deutschland, alle seine Bücher für Kinder und Erwachsene waren verboten, außer „Emil“ – möglicherweise wegen der internationalen Popularität der Detektivgeschichte. Der wenig überzeugende Folgeband “Emil und die drei Zwillinge“ (1935), in dem die Detektive ein Selbsterziehungsmodell an der Ostsee erproben, und die Nacherzählung einiger Schwänke von „Till Eulenspiegel“ (1938) mussten in der Schweiz erscheinen. Die bedeutendsten Kinderbücher, die Autoren während des Exils verfassten, wurden in der Schweiz geschrieben. So z. B. Kurt Held (1897-1959, eigentlich Kurt Kläber) und seine Ehefrau Lisa Tetzner fanden Zuflucht in der Schweiz. Helds Räuberroman „Die rote Zora und ihre Bande“ (1941) mit Robin-Hood-Motiven wurde Klassiker der JL. Die von der rothaarigen Albanerin Zora geführte Bande haust in einer Burgruine und lebt von Mundraub und Diebstahl. Es ist eine Notgemeinschaft von Jugendlichen, die nach dem Verlust ihrer Eltern aus der „anständigen“ Gesellschaft der dalmatischen Kleinstadt herausgefallen sind. Kinder- und Jugendliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Nachkriegszeit (1945 – 1969) Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kam auch das literarische Leben nur allmählich in Gang. Der Buchmarkt normalisierte sich erst nach der Währungsreform von 1948. Doch wie in der Erwachsenenliteratur so gab es auch in der KJL keinen Neuanfang von einer „Stunde Null“ aus. In manchem kinderliterarischen Werk lebte die nationalsozialistische Ideologie weiter fort. Repräsentanten der nationalsozialistischen KJL wie Hans Baumann oder Alfred Weidenmann setzten ihre Karrieren ungestört fort. Baumann schrieb Sach- und Abenteuerbücher und Weidenmann – Film- und Fernsehregisseur – passte Werte wie bedingungslose Kameradschaft, straffe Gruppenhierarchie und Autoritätsglauben ganz pragmatisch der veränderten gesellschaftlichen Situation an. Aufbruchstimmung Erich Kästner, Herausgeber der Jugendzeitschrift „Pinguin“ (1946-1948) glaubte unentwegt an die junge Generation und er forderte: „Wir müssen unsere Tugenden revidieren“. Motto der Zeitschrift Pinguin: „Pinguin ist mein Name! Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich lache, wie es mir gefällt. Ich will mich anfreunden mit all denen, die jung sind und sich jung fühlen. Ich liebe das Leben und alles, was lebendig ist. Ich hasse das Abgelebte und Verstaubte, den Spießbürger und den Schnüffler. Ich freue mich an der Schönheit der weiten Welt, an den Wundern der Natur und den Schöpfungen der großen Künstler. Ich habe ein offenes Ohr für die Klagen der bedrückten, und mein Herz schlägt mit allen, die guten willens sind. Ich will Euch begeistern für all das, was wir tun können, um uns selbst ein besseres Leben zu schaffen.“ Dieses Ziel leitete auch Jella Lepmann (1891-1970), auf deren Initiative hin 1949 die „Internationale Jugendbibliothek“ in München gegründet wurde. Lepmann war es auch, die Kästner zu seinem politischen Kinderroman „Die Konferenz der Tiere“ (1949) anregte. Inhalt: Löwe, Elefant und Giraffe streiten für das Recht der Kinder auf Frieden und Menschlichkeit. Da die Politiker Forderungen nach einer Abschaffung von Krieg, Not und Revolution ignorieren, greifen die Tiere zu drastischen Maßnahmen. Doch erst, als alle Kinder verschwunden sind, lenken die Verantwortlichen ein und unterzeichnen „den ewigen Friedensvertrag“. Diese mit viel Witz geschriebene Tierparabel ruft zu gesellschaftlichem Umdenken auf. In seinem 1949 veröffentlichten Kinderroman „Das doppelte Lottchen“ versucht Kästner die defekte Familienwelt wieder ins Lot zu bringen. Die Zwillinge Lotte und Louise versöhnen die geschiedenen Eltern miteinander. In den folgenden Jahren musste Kästner erkennen, dass sich Politik und Gesellschaft immer weiter von seinen Utopien einer besseren Welt entfernten. Der Autor, der sich selbst als Schulmeister, Moralist und Aufklärer beschrieb, resignierte. Zitat: „Dass wir wieder werden wie die Kinder, ist eine unerfüllbare und bleibt eine ideale Forderung. Aber wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir.“ Erich Kästner in der Ansprache „Resignation ist kein Gesichtspunkt“ (1953). Neue Kinderbuchhelden Ab Ende der 40er Jahre erscheinen ganz ungewöhnliche Kinderbuchhelden der Weltliteratur in Deutschland heimisch. „Der kleine Prinz“ (1943, deutsch 1950) des französischen Schriftstellers und Piloten Antoine de Saint-Exupéry gehört zu den beliebtesten und liebenswertesten Figuren der gesamten KJL in der Welt. Seine melancholischen Überlegungen zum Geheimnis von Freundschaft und Liebe und zur Einsamkeit des Menschen haben offenbar auch für die Menschen des 21. Jhrs. nichts von ihrer Trostfunktion nichts verloren. Einen wesentlich größeren Wirbel verursachte auf dem deutschen Markt die Figur von Pippi Langstrumpf ihrer Schöpferin Astrid Lindgren. Astrid Lindgren (1907-2002) ist die weltweit berühmteste Kinderbuchautorin. Sie wuchs in einem südschwedischen Dorf auf und zog 1926 nach Stockholm. Mit „Pippi Langstrumpf“ wurde sie 1945 berühmt. Zwei Grundtendenzen ihres Werkes: Humorvolle Bücher über glückliche, starke Kinder in einem idyllischen Lebensumfeld wie „Wir Kinder aus Bullerbü“ (1946, dt. 1954) oder „Michel in der Suppenschüssel“ (1963, dt. 1964). Sie schrieb auch melancholische Märchenromane über die Einsamkeit, Sterben und Tod wie „Mio, mein Mio“ (dt. 1955) oder „Die Brüder Löwenherz“ (dt. 1974). Zu ihren bekanntesten Figuren gehören auch der eitle und unberechenbare „Karlsson vom Dach“ (dt. 1956). Ihr letzter Kinderroman war „Ronja Räubertochter“ (dt. 1982). Mit ihrer „Pippi Langstrumpf“ (dt. 1949) gestaltete Lindgren eine starke anarchistische Heldin mit wunderbaren Eigenschaften, übernatürlicher Kraft und unerschöpflichen Einfällen. In Pippis völlig ungebundenem Leben in der „Villa Kunterbunt“ erfüllen sich kindliche Wunschträume von Autonomie gegenüber den Forderungen der Erwachsenen. A. Lindgren kämpfte in ihrem Werk für antiautoritative Erziehungsvorstellungen: Gegen repressive Systeme und pädagogische Botschaften plädierte sie für Fantasie und Freiheit. Suche nach der „heilen Welt“ Die deutsche KJL der 50er Jahre ist durch restaurative Tendenzen gekennzeichnet. In der Zeit der kollektiven Unsicherheit und ungewisser Zukunft werden wieder die Helden der KJL der Vorkriegszeit hervorgehoben: „Robinson“, Grimms Märchen, „Schatzinsel’“, „Trotzkopf“, „Winnetou“ und „Heidi“ wurden wieder aufgelegt. Bevorzugte Handlungsorte waren Dorf und Kleinstadt, wobei die intakte, patriarchalisch organisierte Großfamilie meist im Mittelpunkt stand. Die Hauptfiguren waren charakterlich gefestigt, im christlichen Glauben verwurzelt, von Heimat- und Elternliebe durchdrungen, zielstrebig und optimistisch. Mit großer Vehemenz wurde der Kampf gegen „Schmutz- und Schundliteratur“ geführt, der teilweise Züge von Hysterie trug. Das „gute“ Jugendbuch sollte Unvereinbares leisten: in Sprache und Thema der entwicklungspsychologisch bestimmten Altersstufe entsprechen und zugleich ästhetisch überzeugen. Gefordert wurden Werke, die Lebenshilfe boten, positive Grundhaltungen und ein intaktes Weltbild vermittelten, von inhaltlicher und formaler Geschlossenheit zeugten und keine Fragen offen ließen. Der Erfolg von Enid Blyton Ende der 50er Jahre erschienen die ersten Bücher von Enid Blyton (1896-1968, Erzieherin aus England) auf dem deutschen Markt. Ihr Werk wird auf 600 Titel geschätzt. Heute gilt Blyton als die meistgelesene und meist übersetzte Kinderbuchautorin der Welt. In Deutschland sind von den vielbändigen Reihen die Abenteuer-Serie der „Fünf Freunde“ (dt. 1959) und die Internatsserien „Hanni und Nanni“ (dt. 1965) am populärsten. Das Erfolgsgeheimnis der Bücher liegt gerade in den Merkmalen, die am meisten kritisiert werden: oberflächlich gezeichnete, idealisierte Charaktere, standardisierte Konflikte, schematische Lösungen und eine ausgesprochen schlichte Sprache. Die vermittelten gesellschaftlichen Werte folgen einem einfachen „Gut-Böse-Raster“. Es sind gerade Trivialität und Stereotypie der Geschichten, die bei den jungen Lesern Vertrautheit und Identifikation mit den Figuren und ihren Verhaltensweisen erzeugen. Fantastische Zivilisationskritik In der zweiten Hälfte der 50er Jahre bildete die erzählende KL in Deutschland allmählich ein eigenständiges Profil heraus. Zugrunde lag die Vorstellung einer autonomen Kindheit: Kinder sollten sich zunächst ganz ungestört, unbelastet von den gesellschaftlichen und sozialen Anforderungen des Erwachsenenlebens entwickeln können. Deshalb ging es Autoren der jüngeren Generation wie Otfried Preußler, James Krüss oder Micheal Ende nicht darum, junge Leser unmittelbar mit der Realität zu konfrontieren, sondern in die Räume der Fantasie und Imagination vorzudringen. Otfried Preußler (*1923), Volksschullehrer aus Rosenheim, machte mit seinen paradoxen Märchen „Der kleine Wassermann“ (1956), „Die kleine Hexe“ (1957) und „Das kleine Gespenst“ (1966) das Genre der fantastischen Geschichte auch für Vorschulalter attraktiv. Preußler knüpfte an Sagen und Märchen seiner Heimat und Kindheit an, verkehrte aber ihre Wirkung durch Verfahren der Entdämonisierung und Entzauberung ins Gegenteil. Eine „gute“ Hexe oder ein liebeswürdiges Gespenst verlieren so ihre Bedrohlichkeit und werden zu Verbündeten der Leser. Preußler wurde zum beliebtesten deutschen Kinderbuchautor der 60er Jahre. Michael Ende (1929-1995) bekannte sich in seinem Werk zur Tradition der romantischen Idee von einer Erneuerung der Gesellschaft durch Kunst und Poesie. Sein Erstlingswerk „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ (1960) ist die Geschichte um das Findelkind Jim, das im Postpaket auf die Insel Lummerland gerät. Im Modelstaat Lummerland sind Mensch, Natur und Technik noch in ein harmonisches Ganzes eingebunden. Von Lummerland aus brechen Jim und sein väterlicher Freund Lukas mit der Lokomotive Emma zu Abenteuern auf, kämpfen gegen Drachen, befreien eine Prinzessin und gewinnen am Schluss das Märchenreich der Kindheit. Dieses Werk wurde auch für das Kinderfernsehen adaptiert und wurde in Deutschland sehr populär. James Krüss (1926-1997) wurde Anfang der 60er Jahre durch seinen fantastischen Bildungs- und Abenteuerroman „Jimm Thaler“ (1962) bekannt. Jimm Thaler ist ein Junge, der sein Lachen verkaufte, weil er reich werden wollte. Mit der Zeit versteht der Protagonist den Akt des Lachens als eine symbolisch bewahrte Menschlichkeit. Nach einem heftigen Kämpfen möchte er das Lachen zurückgewinnen. Mit diesem Werk übte Krüss Kritik an der kapitalistischen Konsumwelt. Weitere bekannte Werke von Krüss ist die Abenteuergeschichte „Der Leutchtturm auf den Hummerklippen“ (1956) und „Mein Urgroßvater und ich“ (1959). Zögerliche Vergangenheitsbewältigung Das Interesse der KJL an der schrecklichen Vergangenheit war in den ersten beiden Nachkriegjahrzehnten relativ gering. Die allgemeine Tendenz der Nachkriegsgesellschaft, die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 zu verdrängen, war in der KJL noch stärker ausgeprägt, weil es dem pädagogischen Denken der Zeit entsprach, Heranwachsende nicht mit derartigen Themen zu konfrontieren. Gegen Schweigen, Gleichgültigkeit und Vergessen schrieb als erster Willi Fährmann (*1929) mit den Werken „Das Jahr der Wölfe“ (1962) und „Es geschah im Nachbarhaus“ (1968). Eine Sonderstellung kommt mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ (1947, dt. 1950). Es handelt sich um Aufzeichnungen eines jungen Mädchens, entstanden zwischen 1942 und 1945. Zwischen ihrem 13. und 15. Lebensjahr schilderte Anne Frank (1929-1945) in Briefen an die fiktive Freundin Kitty das beengte Leben im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses, die Angst vor Entdeckung, die psychischen Belastungen der Eingeschlossenen, aber auch ihre Träume und Hoffnungen. Anne Frank starb im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr Vater veröffentlichte eine gekürzte Fassung des Textes, seit 1991 liegt eine von Mirjam Pressler übersetzte, vollständige kritische Ausgabe der Tagebücher vor. Hans Peter Richter (*1926) war dann der erste deutsche Autor, der im Werk „Und damals war es Friedrich“ (1961) das Thema Judenverfolgung in einem realistischen Kinderbuch erzählerisch gestaltete. Am Beispiel von zwei gleichaltrigen Jungen, die im selben Haus aufwachsen, beschreibt er das grausame Alltagsgesicht des Faschismus. Der bescheidene Aufstieg der opportunistischen Kleinbürgerfamilie des Ich-Erzählers verläuft entgegengesetzt zum Abstieg der anfangs gut situierten jüdischen Familie. Schließlich wird der Vater verhaftet, die Mutter stirbt an Misshandlungen durch die SA und der Sohn kommt um, weil ihm bei einem Bombenangriff der Zugang zum Keller verwehrt wird. „1968“ (Die neue Aufklärung; Umbau der Gesellschaft) Politische Ereignisse in der Welt und in Deutschland 1967: Der Student Benno Ohnesorg wird bei einer Demonstration erschossen. 1968: Attentate auf Kaufhäuser; in den USA wird der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet. 1969: Der Sozialdemokrat Willy Brandt wird Bundeskanzler. 1976: Kernkraftgegner demonstrieren gegen das Kernkraftwerk Brokdorf. (In Österreich gegen das KKW Zwentendorf ). Um die Mitte der 60er Jahre wurden erste Proteste gegen eine „Wohlstandsgesellschaft“ laut, die vor allem von der sich stark formierenden Studentenbewegung geführt wurden. Gefordert wurde ein umfassender Umbau der Gesellschaft, wobei insbesondere Institutionen wie Schulen, Medien und Kirchen in den kritischen Blick gerieten. 1969 begann allmählich die Phase der Reformen, die vor allem zur Demokratisierung im Schul- und Hochschulwesen führte. Deutlich wandelte sich auch das pädagogische Grundverständnis. An die Stelle bis dahin dominierender Erziehungsziele wie Gehorsam, Ordnung und Reinlichkeit traten jetzt Selbstvertrauen, Kritik und Durchsetzungsfähigkeit. Erziehung sollte nicht länger der sozialen Ein- und Unterordnung dienen, sondern der Emanzipation und Veränderung der Gesellschaft. In dieser Atmosphäre wurde die KJL enorm aufgewertet. Der KJ-Betrieb weitete sich aus. Zahlreiche neue Fachzeitschriften, Preise und Auszeichnungen kamen hinzu, die KJL wurde Gegenstand universitärer Forschung und Lehre. Resultat dieser Veränderungen: 1. Verzicht auf die Forderung nach „Kindgemäßheit“ und auf eine feste Orientierung an Altersstufen. 2. Die Kinder- und Jugendbücher sollten sich prinzipiell nicht mehr von der Erwachsenenliteratur unterscheiden, sondern dieselben gesellschaftlich relevanten Themen behandeln. Antiautoritäre KL Den Beginn einer neuen Kinderliteratur markierten provokante Erzähltexte. Dementsprechend zeigten die antiautoritären Bücher für Heranwachsende – in der Tradition von W. Busch, J. Ringelnatz oder A. Lindgren – starke, energische Kinderfiguren, die sich gegen jede Form von Willkür zur Wehr setzten. Friedrich Karl Waechter (*1937), der für Satiremagazine wie „Pardon“ und „Titanic“ arbeitete, schockte mit seinem sexuell-freizügigen „Anti-Struwwelpeter“ (1970), in dem die Kinder sich gegen Autoritäten kräftig zur Wehr setzen und die Drohungen der Eltern nicht ernst nehmen. Konsequenter Realismus Es setzt sich die sozialkritische Erzählliteratur durch. Ursula Wölfel (*1922) gilt als Pionierin einer emanzipatorischen, problemorientierten Kinderliteratur. Sie begann ihr Schaffen mit psychologisch motivierten Büchern wie z.B.: „Der rote Rächer“ (1959), „Sinchen hinter der Mauer“ (1960), „Feuerschuh und Windsandale“ (1961), „Mond Mond Mond“ (1962). Am bedeutendsten ist jedoch ihre Geschichtensammlung „Die grauen und die grünen Felder“ (1970). Die Kurzgeschichten dokumentieren die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens in verschiedenen Ländern und Kulturen mit brutaler Nüchternheit. Die Themen waren bislang Tabu: Das Leben der Kinder aus den Unterschichten und aus der Dritten Welt, Erfahrungen von Gewalt, Krieg und Diktatur. Ursula Wölfel erzählt von einer alkoholkranken Mutter und einem behinderten Jungen, von Feindschaft zwischen Kindern, von Angst, Verrat, Diskriminierung, Neid und Schadenfreude. Statt glücklicher Lösungen wird allenfalls aufgezeigt, dass nur etwas ändern kann, wer selbst aktiv wird. Problembücher ohne Tabu Die Kinderliteratur der 70 Jahre überwand Tabus, stellte ihre Leser mitten hinein ins so genannte „wirkliche Leben“. Der literarisch ambitionierte und produktivste Autor war in dieser Phase Peter Härtling (*1933), der erfolgreich sowohl für Erwachsene als auch für Kinder schreibt. Der Sonderpreis des Jugendliteraturpreises wurde Härtling 2001 unter anderem verliehen, weil man in ihm einen „maßgeblichen Vertreter des sozialkritischen Realismus“ und einen „Botschafter der Humanität“ sieht. Bekannt wurde Härtling mit der Geschichte „Das war der Hirbel“ (1973) über einen geistig behinderten Jungen, der so anders ist als andere und doch auch dazugehören möchte. „Eine autoritäre Erziehung hat lange Jahre eine autoritäre Literatur geschaffen. Hoch klang das Lied vom braven Kind. Es gab nicht nur den Professor Unrat; es gab auch den Schüler Unrat. Generationen von Eltern halfen mit, seelische und geistige Krüppel ins Leben zu schicken, gelehrige Untertanen, die gelernt hatten, nicht aufzumucken: dem Vater gegenüber nicht, dem Lehrer gegenüber nicht. … Es ist schwer, dem Kind beizubringen, dass sich Wirklichkeit und Freiheit unaufhörlich verbünden.“ Peter Härtling, Rede anlässlich der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises, 1969. In seinen Erzählungen „Oma“ (1975) und „Alter John“ (1981) werden Alter und Sterben thematisiert. Dass auch Kinder dem Gefühlschaos einer ersten Liebe begegnen können, macht „Ben liebt Anna“ (1979) deutlich. Auch andere Autoren wollten mit den Mitteln des Erzählens aufklären, zu Solidarität, Toleranz und Mitmenschlichkeit erziehen. Max von der Grün (*1926) lässt in „Die Vorstadtkrokodile“ (1976) einen querschnittsgelähmten Jungen seinen Platz in einer Kinderbande finden. Wie Kinder den Tod von Familienangehörigen erleben, schildert Elfie Donnelly (*1950) in „Servus Opa, sagte ich leise“ (1977). Einen weiteren Schwerpunkt in der zeitgenössischen KL bildeten Erzähltexte über soziale Probleme, Jugendkriminalität, Drogen, Alkoholismus und Heimerziehung. Hans Georg Noack (*1926) schildert im Buch „Rolltreppe abwärts“ (1970) den Weg des 13jährigen Jochen in die Kriminalität und in Fürsorgeeinrichtungen. Alles beginnt in der Familie. Jochens geschiedene Mutter hat einen neuen Lebenspartner gefunden, der Jochen nicht mag. Ein Ladendiebstahl, den Jochen in einem Kaufhaus begeht, reicht und der Junge wird in eine Anstalt für kriminelle Jugendliche gebracht. Der Aufenthalt im Heim bedeutet für den Jungen Gefangenschaft und Qual. Noacks Darstellung fragt auch nach dem Zustand einer Gesellschaft, wo Jugendliche wie Jochen nur Ausgrenzung und Verachtung erfahren. Die Gefahren des Drogenmissbrauchs wurden der Mehrheit der deutschen Bevölkerung wohl erst mit dem autobiographischen Protokoll der 16-jährigen Christiane F. hinreichend deutlich. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1979) schildert Erlebnisse einer drogensüchtigen Adoleszentin mit allen elenden Begleiterscheinungen (das Buch wurde verfilmt). Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Nach 1970 vermehrte sich die Zahl der Sach- und Erzählbücher zu Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg, Judenverfolgung und Holocaust, zu Exil, Flucht und Vertreibung. Es stieg der Anteil der autobiographisch geprägten Texte. Dadurch wurde deutlich, dass den Autoren auch darum ging, das Erlebte für sich selbst zu verarbeiten. Viel Anerkennung bekam Judit Kerr (*1923), die ihre Kindheitserfahrungen während der Emigrationsjahre in der Schweiz und Frankreich unter dem Titel „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (dt. 1973, Deutscher Jugendbuchpreis 1974). Judith Kerr ist die Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr. Sie wurde 1923 in Berlin geboren, musste wie die Heldin ihres Buches während des Dritten Reiches emigrieren und kam nach London. Heute ist sie mit dem Schriftsteller Nigel Kneale verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter. Judith Kerr hat (neben drei Bilderbüchern) noch zwei Romane geschrieben, Fortsetzungen dieses Buches: „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“. Beide sind in der „Ravensburger Jungen Reihe“ erschienen. Im Jahre 1968 wurde der Antikriegsroman „Es lebe die Republik!“ des tschechischen Schriftstellers Jan Procházka (1929-1971) ins Deutsche übersetzt. Inhalt: Der Protagonist des Romans Olin lebt mit seinen Eltern in einem kleinen südmährischen Dorf. Als der 2. Weltkrieg endet und die Rote Armee sich dem Dorf nähert, schickt der Vater seinen Sohn in den Wald, um das Pferd vor den Soldaten zu verstecken. Olin findet einen scheinbar ruhigen und stillen Ort am Fluss. Es überraschen ihn dort aber zwei deutsche Soldaten und stehlen ihm sein Pferd. Olin weiß, dass er von nun an nicht mehr nach Hause zurückkehren kann und streift in der Gegend herum. Zunächst möchte er sich auf die gleiche Weise ein neues Pferd beschaffen und es den sowjetischen Soldaten stehlen, stattdessen befreundet er sich mit ihnen. Die Atmosphäre wird sehr authentisch, kommentarlos und natürlich geschildert: Von der Ferne beobachtet er die Bewohner des Dorfes, wie sie den Gutshof eines reichen Bauern plündern. Als das Dorf befreit wird, sieht er, wie ein Mann aus dem Dorf, der andere Dorfbewohner denunziert hat, Selbstmord begeht. Schließlich nimmt Olin all seinen Mut zusammen und kehrt nach Hause zurück. Im Hof seiner Eltern stehen drei neue Pferde, und die Eltern laden gerade vom Fuhrwerk fremde Möbel aus. Der Autor nannte das letzte Kapitel des Buches: Was ich nie erfahren habe. Es ist eigentlich ein Nachwort, in dem das Schicksal des Pferdes sentimental geschildert wird. Die Diebe hatten das Tier nach Deutschland gebracht, wo es verlassen auf einem Marktplatz steht, die Menschen gehen vorbei und beobachten das Tier und ein kleines Mädchen streichelt es. Der historische Gegenstand, das Ende des 2. Weltkriegs, wird im oben genannten Werk von der Erlebnisperspektive eines Adoleszenten geschildert. Durch die Einbeziehung des Schicksals des Pferdes ist es Jan Procházka gelungen, eine neue, intime Erzählebene zu schaffen, die über das Verhältnis des Jungen zum Pferd aussagt. Christine Nöstlinger (*1936) schildert in ihrem autobiographischen Kinderroman „Maikäfer flieg“ (1973), wie sie als 8-jähriges Mädchen das Ende des 2. Weltkrieges erlebt hat. Der Einmarsch der sowjetischen Armee in Wien, das irritierende Verhalten der Erwachsenen, ihre Kameradschaft mit einem russischen Koch, aber auch die Gefahren im bombardierten Wien, das alles schildert Nöstlinger lakonisch mit Sprachwitz und Humor. Fantastik gegen den Zeitgeist Nach 1970 setzte sich in der KJL Realismus durch, für den eine bisher unbekannte Radikalität und Authentizität unbekannt war. Dagegen der fantastischen Literatur wurden Tendenzen des Eskapismus vorgeworfen. Jedoch gerade solche Bücher waren bei den Kindern beliebt. Es war z. B. das Buch „Die Wawuschels mit den grünen Haaren“ (1967) von Irina Korschunow oder „Kleiner König Kall Wirsch“ (1969) von Tilde Michels. Das Buch „Eine Woche voller Samstage“ (1973) von Paul Maar wurde bald Klassiker. Die Ängste des schüchternen Herrn Taschenbier, der nicht genug Selbstbewusstsein besitzt, sich gegen anmaßende Zeitgenossen zur Wehr setzen, konnten junge Leser durchaus als ihre eigenen erkennen. Dass auch das Wunderbare wieder in die Wirklichkeit zurückführen kann, zeigt Ch. Nöstlingers Kinderbuch „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ (1972), in dem der traditionellen Familie ein fantastischer Spiegel vorgehalten wird. So wie die die Gurkinger ihren tyrannischen König Kumi-Ori vertreiben, so emanzipieren sich die Hogelmanns vom autoritären Vater. Ein weiteres Werk aus dieser Sparte ist Michael Endes „Momo“ (1973). Die kleine geheimnisvolle Heldin, die in einer der antiken Ruinen Roms lebt, kämpft gegen die grauen Herren, denen es gelang, die Menschen von dem Grundsatz „Zeit ist Geld“ zu überzeugen. Michael Endes Märchenroman ist eine Parabel über soziale Kälte, Rationalisierung und Uniformierung des Alltagslebens. Ende entwirft eine soziale Utopie einer Gesellschaft, in der Lebensfreude und Geselligkeit mehr zählen als fremdbestimmte Arbeitsprozesse und Glücksversprechen auf eine ferne, ungewisse Zukunft. Auch O. Preußler schrieb gegen den Zeitgeist der 70er Jahre eine auf alten Lokalsagen basierte Geschichte „Krabat“ (1971). Die Geschichte über den Waisenjungen namens Krabat, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts bettelnd durch die Lausitz wandert, vereint Motive aus Sage, Legende und Märchen mit historischem Wissen, zeigt das Brauchtum der Sorben, die Riten (Brauch, Gewohnheit) der Schwarzen Magie und das Handwerk des Müllers, der Pakt mit dem Teufel hat. Als Lehrling (Müllerknappe) in dieser Mühle gerät Krabat in eine alptraumhafte Welt, in der er selbst über magische Kräfte verfügt. Erst durch eigene Willensstärke und durch die Macht der Liebe zur Kantorka kann der dem Teufel entkommen. Dieses Werk beinhaltet eine starke Metaphorik. Die Mühle steht als zentrales Symbol für die Zerstörung des Menschen. In seiner Suggestivität, aber auch in seiner bedrückenden Atmosphäre erinnert das Werk „Krabat“ an Franz Kafka („Das Schloss“). Sowohl „Momo“ als auch „Krabat“ wurden in den 80er Jahren zu Kultbüchern der jungen Generation. 1986 wurde „Momo“ mit großem Werbeaufwand verfilmt. Exkurs: KJL der DDR Vierzig Jahre (1949 – 1989) verlief die Geschichte der deutschen KJL auf getrennten Wegen. In der DDR war die Literatur für junge Leser anerkannter und stärker in die Allgemeinliteratur eingebunden als in der Bundesrepublik und häufiger schrieben Autoren für beide Zielgruppen. 1949 übernahm der „Kinderbuchverlag“ als Editionshaus die Monopolstellung auf dem Jugendbuchmarkt. In den ersten Nachkriegsjahren wurden primär Jugendbücher der Sowjetunion in Ostdeutschland veröffentlicht. Wieder aufgelegt wurden auch unpolitische Werke aus der Zeit des Nationalsozialismus (Hans Fallada: „Geschichten aus der Murkelei“). Aus dem Exil sind in das Gebiet der späteren DDR Autorinnen wie Alex Wedding zurückgekehrt. Ihr Werk „Das Eismeer ruft“ (1948, zuerst 1936) zeigt antifaschistisches Heldentum einer Kindergruppe. Ihr proletarischer Klassiker „Ede und Unku“ erschien erst 1954 in der DDR. Etwas später wurde die sozialistische Literatur der Weimarer Republik entdeckt (Berta Lask, Hermynia zur Mühlen). Im Sinne des sozialistischen Realismus ging es in der DDR darum, Gegenwartsstoffe zu gestalten und positive junge Protagonisten darzustellen, die sich aktiv an Aufbau und Gestaltung kollektiver Strukturen beteiligten. Der im Westen vorherrschenden Vorstellung von einer autonomen, geschützten Kindheit stand die der DDR entgegen. Hier war die Kindheit ganz in die Gesellschaft integriert, jeder hatte seinen Platz und seine Aufgabe, alle gemeinsam schufen den sozialistischen Staat. Erwin Strittmatter (1912-1994) schrieb den Kinderroman „Tinko“ (1954). Der Konflikt zwischen altem Feudalsystem und neuem Genossenschaftsprinzip spiegelt sich in der Familie des 8-jährigen Martin. Er muss seine Position finden zwischen dem Besitzdenken des Großvaters und dem Gemeinschaftssinn des Vaters. Anfangs steht Tinko auf der Seite des Großvaters, der mühsam seinen kleinen Hof bewirtschaftet. Den aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vater lehnt der Junge ebenso ab, wie dessen Überzeugung von den Vorzügen des Kollektivs. Doch dann beginnt Tinko die Gemeinschaft zu schätzen, er findet positive Seiten der Genossenschaft. Strittmatter schildert den Mikrokosmos des Dorfes höchst lebendig, anschaulich und glaubwürdig. Ludwig Renn (1889-1979), der mit seinem Hauptwerk „Krieg“ (1928) zu den bekanntesten kommunistischen Autoren der Weimarer Republik gehört hatte, schreib in der DDR für die Jugend die Abenteuergeschichte „Trini“ (1954). Der mexikanische Befreiungskrieg ist aus der Sicht eines mitkämpfenden Indiojungen geschildert. Relativ früh thematisierten DDR-Autoren Erfahrungen der Zeitgeschichte. Stephan Hermlin (1915-1997) würdigte im Werk „Die erste Reihe“ (1951) Widerstandskämpfer des Dritten Reichs Dieter Noll (*1927) schildert im Werk „Abenteuer des Werner Holt“ (1960) die Irr- und Umwege eines 16-jährigen, der seine schwärmerische Kriegsbegeisterung als Fehler erkennt. In den 60er Jahren wurden die engen ideologischen Grenzen der DDR ein Stück weit überschritten. Romane von Benno Pludra (*1925) wurden wegen der poetischen Eindringlichkeit geschätzt. In der Geschichte um den Fischkutter „Tambari“ (1969) schildert er den Widerspruch zwischen den materiellen Interessen der Fischer, die das Schiff verkaufen wollen und der Solidarität einer Kindergruppe, die das Schiff zuvor wieder hergerichtet hat. Ein weiteres Werk von Benno Pludra ist „Die Insel der Schwäne“ (1980). Das Werk über große Vorbilder und engstirnige Väter, die Kreativität und Fantasie kindlichen Handelns behindern. Gegen Ende der DDR wurde es auch in der KJL möglich, einen schonungslosen Blick auf die Schattenseiten der Gesellschaft zu werfen. Mit „Umberto“(1987) veröffentlichte Günter Saalmann (*1936) einen Kinderroman über einen sozial verwahrlosten Jungen, der keine Chance hat, einem von Alkoholismus, Gleichgültigkeit und emotionaler Kälte geprägten Milieu zu entkommen. Im Roman „Ich bin der King“ (1997) wird über soziale Widersprüche und die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen nach der Wende die Rede. Gegen Ende der 70er Jahre ließ sich in der DDR ein Rückzug ins Private beobachten. Besonders deutlich machten diese gesellschaftliche Trendwende ein kleiner Bär und ein kleiner Tiger, die Helden des Bilderbuches „Oh wie schön ist Panama“ (1978) von Horst Eckart, besser bekannt als Janosch (*1931). Ihre aufregende Expedition ins Land ihrer Träume führt sie zurück ins eigene Heim. Am Ende sitzen sie glücklich und zufrieden auf dem Plüschsofa. Die Idylle versieht Janosch mit einem ironischen Fragezeichen. Das Biedermeiersofa fungiert als Attribut einer überlebten Bürgerlichkeit. Ende der 80er Jahre schrieb Karin König den Jugendroman „Ich fühle mich so fifty fifty“ über Gefühle einer Adoleszentin in der DDR zurzeit des Falls des eisernen Vorhangs. Fantastische Wende Im Jahre 1979 erschien das Buch „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende und wurde zum bis dahin größten literarischen Erfolg der Nachkriegszeit. Als erstes Kinderbuch erklomm „Die unendliche Geschichte“ im Sommer 1980 die Bestsellerliste des „Spiegel“, wo sie sich jahrelang auf den vorderen Plätzen behaupten konnte. Es war auch ein Sieg der Fantasie über die Realität. Im Buch erringt ihn der schüchterne Bastian Bux, der das vom Untergang bedrohte Reich Phantásien und dessen schwerkranke Herrscherin, die Kindliche Kaiserin, retten kann, weil er einen neuen Namen für sie weiß. Dafür bekommt er alle Wünsche erfüllt. Zusammen mit seinem Freund Atréju und dem Glücksdrachen Fuchur zieht er durch die Lande und entfernt sich immer weiter von der Menschenwelt. Im letzten Augenblick erkennt er jedoch seinen wahren Willen: den Wunsch, zu lieben und selbst geliebt zu werden. Jetzt kann er in die Wirklichkeit zurückkehren. „Die unendliche Geschichte“ gilt als erstes „postmodernes“ Kinderbuch. Ganz bewusst ließ M. Ende die Märchen- und Mythenwelt der Vergangenheit wieder aufleben. Er übernahm Stoffe, Figuren und Motive aus der gesamten Literatur- und Kulturgeschichte, der Philosophie, der Mythologie und Anthroposophie. Die archaische Gegenwelt ist voller Paradoxen, Metamorphosen, Verzauberungen und Wunscherfüllungen. Im Buch spiegeln sich verschiedene Dimensionen des Unendlichen: Werden und Vergehen, Leben und Tod, Tag und Nacht, der ewige Kreislauf allen Seins. Nur die Kraft der Fantasie kann zur Gesundung der Welt beitragen. Für Michael Ende ist der Weg in die Phantasie keine Einbahnstraße, sondern ein Umweg zurück ins Leben. Als Bastian aus Phantásien zurückkehrt, hat er an Selbstbewusstsein gewonnen und kann sich den Problemen seines Alltags stellen. Einen der Gründe für den Erfolg sah man in der wertkonservativen Haltung, die Endes „Unendlicher Geschichte“ zugrunde liegt, und die insbesondere der „verunsicherten“ jungen Generation Orientierung bot. Fantasy Fantasy bezeichnet eine relativ junge Subgattung der phantastischen Literatur. Im Unterschied zur „klassischen“ Fantastik ist das Aufeinandertreffen von Real- und Wunderwelt kein konstitutives Merkmal. Fantasy-Romane bleiben ganz auf die irrationale, magische oder mythische Anderswelt bezogen. Die Handlung spielt in archaischen, historisch unbestimmten Gesellschaften und ist gekennzeichnet durch Motiv- und Stoffübernahmen aus Märchen, Sage, Volksbuch und Legende. Der bekannteste deutsche Fantasy-Autor ist Wolfgang Hohlbein (*1953), der seine Romane meist mit seiner Frau Heike Hohlbein (*1954) verfasst. Seit seinem erfolgreichen Debüt mit „Märchenmond“ (1983) hat Hohlbein rund 160 weitere Bücher veröffentlicht und er ist Herausgeber der Reihe „Meister der Fantasy“. In Deutschland wurden manche Werke des Genres erst jetzt entdeckt und erlebten einen Popularitätsschub. Das betraf in erster Linide John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973), der mit „Der kleine Hobbit“ (1937, dt. 1967) den ersten bedeutenden Fantasyroman für Kinder geschrieben hat. Er handelt von dem Hobbit Bilbo Beutlin, der zusammen mit 13 Zwergen und einem Zauberer auf abenteuerliche Schatzsuche zieht, auf Trolle, Elfen, Orks und Riesenspinnen trifft und einen magischen Ring findet. Mit „Der Herr der Ringe“ (1954, dt. 1970) erfuhr die Geschichte ihre monumentale Fortsetzung in drei Bänden, die das Grundmuster aller Fantasy deutlich erkennen lässt: Abenteuerreise, während der man wundersamen Gestalten begegnet, der Kampf zwischen guten und bösen Mächten, Symbolkraft magischer Gegenstände – bei Tolkien der Ring, mit dessen Hilfe die Herrschaft über das Universum erreicht werden kann. Problembücher über Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit 80er Jahre Diese Zeit war geprägt durch irrationale und rationale Ängste vor Umweltzerstörung, atomarer Bedrohung und militärischer Hochrüstung, aber auch durch individuelle Lebensängste. Die fantastische und realistische KJL existieren neben einander. Die Themen der sozialkritischen KB passten sich den gesellschaftlichen Veränderungen an. Großes politisches Engagements zeigte Gudrun Pausewang (*1928). In „Die Kinder von Schewenborn“ (1983) zeigte sie die Folgen eines Atomkrieges und in „Die Wolke“ (1987) die bedrückende Vision eines Atomreaktorunfalls mitten in Deutschland. Pausewang berücksichtigte offizielle Berichte über die Ereignisse von Tschernobyl. Offenbar wollte Pausewang nicht nur Betroffenheit erzeugen, sondern einen Prozess des politischen Umdenkens in Gang setzen. Neue Problembücher wollen Problembewusstsein und Lösungsansätze vermitteln. Über die letzten Jahrzehnte hin hat sich auch das Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erhalten. Die zunehmende zeitliche Distanz trug zur besonderen stilistischen Dichte und psychologischer Sensibilität bei. Mirjam Presslers (*1940) Werk „Malka Mai“ (2001) sind authentische Aufzeichnungen der Jüdin Malka Mai in der Zeit einer umfassenden Bedrohungssituation während der Flucht aus Polen nach Budapest am Beginn des Zweiten Weltkrieges. Klaus Kordon (*1943) stellt historische Romane in den Mittelpunkt seiner schriftstellerischen Arbeit. In der „Trilogie der Wendepunkte“ (1984-1993) werden das Ende des Kaiserreichs, der Übergang zum Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkrieges aus der Perspektive einer Berliner Familie dargestellt (der Roman „Der erste Frühling“). Weitere Romane, die die Gegenwartsgeschichte des 2. Weltkrieges aufarbeiten: Gudrun Pausewang: „Du darfst nicht schreien“ Kirsten Boie: „Monis Jahr“ Hermann Schulz: „Flucht durch den Winter“ Käthe Recheis: „Lena, unser Dorf und der Krieg“ Renate Welsh: „Dieda oder das fremde Kind“ Es ist eine autobiographische Geschichte aus der eigenen Kindheit von Renate Welsh. Ihre Mutter starb, ihr Vater, der Arzt war, musste in Wien bleiben. Renate kam mit ihrer neuen Mutter ins Haus der Familie auf dem Lande. Ihr Stierfgroßvater hat sie nicht angenommen war sehr streng zu ihr, bezeichnete sie anstatt dessen nur mit dem Namen nur „Dieda“. Leseprobe: Jeden Morgen ging der Alte sehr früh aus dem Haus und holte eine Zeitung. Während er die Zeitung las, schlichen die Frauen auf Zehenspitzen durch die Küche, die Kinder schickten sie in den Garten, auch wenn es regnete. Dann hockten sie unter dem Vordach, wo die Weberknechte auf ihren langen Beinen über die Mauer staksten. Sie veranstalteten Schneckenrennen, bei denen meist Tommys schwarz geringelte Weinbergschnecke gewann, worauf er unbändig stolz war. Er behauptete, es käme davon, dass er sie mit Erdbeerblättern fütterte und ihr geheime Sprüche zuflüsterte. Geänderte Familienbilder Wichtige soziologische Ereignisse der Zeit 1962 Antibabypille kommt auf den deutschen Markt. 1969 Abschaffung von § 175 des StGB, der Homosexualität unter Strafe stellte. 1974 Reformierung von § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch) 1975 Das Volljährigkeitsalter wird von 21 auf 18 Jahre heruntergesetzt. 1976 Die erste Ausgabe der Frauenzeitschrift „Emma“ erscheint: Reform des Ehescheidungsgesetzes (an die Stelle des Schuldprinzips tritt das Zerrüttungsprinzip) Ende der 80er Jahre wurde die „heile“ Familie endgültig aus der KL verabschiedet und durch realistische Darstellungen ersetzt. Weitreichende Auswirkungen hatte vor allem die Modernisierung des Ehescheidungsrechts. Heute bestimmt die Trennung der Eltern den Alltag vieler Kinder, denn fast jede dritte Ehe wird geschieden. Christine Nöstlinger zeigt in ihrer Trilogie „Gretchen Sackmeier“ (1981-1988) den Entschluss der Mutter, aus der traditionell fixierten Hausfrauenrolle auszubrechen. Dadurch zerstört sie das harmonische Familienleben. Ihre Entscheidung bedarf zahlreicher Zugeständnisse, bis das Beziehungschaos sich allmählich wieder ordnet. Nöstlinger benutzt dabei den lässigen Ton, Komik, Bissigkeit, Wiener Umgangssprache. Renate Welsh (*1937): „Disteltage“ Jutta Treiber: „Solange die Zikaden schlafen“ (1998) Jenseits der ansonsten üblichen Ausrichtung am bürgerlichen Mittelstand bewegt sich Renate Welsh mit ihrem sozialkritischen Jugendroman „Johanna“ (1979), der das Schicksal einer historischen Figur aus der ländlichen Unterschicht in den 30er Jahren zum Thema hat. Johanna ist als Magd auf einem Bauernhof vielfältigen Kränkungen und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Trotzdem gelingt es ihr allmählich, sich aus ihrer Abhängigkeit zu befreien und eine innere Selbständigkeit zu erlangen. Dieses Werk beruht auf einer wahren Biographie. Die Autorin selbst sagt über die Zeit, als sie das Buch zu schreiben begonnen hat: „Um Johannas Geschichte so zu erfahren, mußte ich zuerst von meiner Nachbarin im Dorf, die im Buch Johanna heißt, eine Menge handfester Dinge lernen, vom Umstechen bis zum Strudelausziehen. Wir tranken unzählige Tassen Kaffee in ihrer oder meiner Küche, bevor sie mir wirklich von sich erzählen konnte. Natürlich hatten wir auch früher geredet, über ihre Enkel und meine Kinder, über die Politik und Dorftratsch, aber diese Gespräche waren immer außen geblieben. Vielleicht hatte sie Angst, die Unordnung ihrer Herkunft könnte Schatten auf ihre gegenwärtige Ordnung werfen.“ Renate Welsh hat viele Zeitungen durchgelesen, mit Zeitzeugen gesprochen und die Dreißiger Jahre aus der Literatur studiert, um ein Bild der damaligen Zeit zu bekommen. Sie hat auch auf dem Bauernhof gearbeitet, um nicht nur im Kopf, sondern auch im Kreuz zu wissen, was der Alltag einer Magd bedeutet. „Eines Tages erzählte mir meine Nachbarin, dass sie als Jungdirn noch zu Allerheiligen barfuss Kühe hüten musste. Ich stellte mir den Frost auf den Stoppelfedern vor, den stechenden Schmerz in den Fußsohlen und Zehen. Ich stellte mir vor, wie Johanna auf einem Fuß stand, den anderen zwischen den Händen warm zu reiben versuchte. Dann fiel mein Blick auf die Kuhfladen, die in die kalte Luft dampften. Ekel, dachte ich, war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Ich ließ Johanna in die Kuhfladen steigen, die Wärme zwischen den Zehen spüren. Ich schrieb diese Szene auf, offenbar hatte ich die Hoffnung doch nicht ganz aufgegeben, irgendwann ihre Bewilligung zu erhalten. Zwei Tage später tranken meine Nachbarin und ich Kaffee in meiner Küche. Plötzlich lachte sie. „Ich kann Ihnen ja gar nicht erzählen, was wir gemacht haben beim Hüten, wenn es frostig war.“ Ich stand auf, holte die wenigen Zeilen und gab sie ihr zu lesen. „Wer hat es Ihnen ja vertratscht?“ fragte sie. „Niemand.“ „Woher wissen Sie das?“ Ich sagte, es wäre mir logisch vorkommen. „Wenn Sie solche Sachen logisch finden, dann dürfen Sie ein Buch über mich schreiben“, sagte sie.“ Der psychologische Kinderroman In den 80er Jahren wird häufiger die kindliche Innenwelt dargestellt. Der auktoriale Erzähler wird durch den Ich-Erzähler ersetzt. Dies ermögliche einen neuen Blick auf psychische Vorgänge, auf Emotionen und Befindlichkeiten. Eine wichtige Schriftstellerin in dieser Hinsicht ist Mirjam Pressler (*1940): „Bitterschokolade“ (1980), „Kratzer im Lack“ (1981), „Novemberkatzen“ (1982) und „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“ (1994). In all diesen Kinderromanen gibt sie sozialen Außenseitern eine Sprache, zeigt ihre Sehnsüchte, Ängste und ihre Einsamkeit. Kirsten Boie (*1950) gestalte in ihrem Werk politische und soziale Probleme literarisch anspruchsvoll. „Erwachsene reden. Marco hat was getan“ (1994). Es sind Aussagen von Personen aus dem Umfeld der Hauptfigur Marco, der ein überwiegend von Türken bewohntes Haus angezündet hat. Von den Aussagen der Mitschüler, der Freunde, des Klassenlehrers, des Pastors, der Nachbarin, des Bürgermeisters u. a. entsteht eine Mosaik, die nicht nur die Figur von Marco darstellt, sondern auch die Meinung der Deutschen über die Rolle der Ausländer ergibt, vor allem der Türken, die sie in Deutschland spielen. Muster des modernen Adoleszenzromans aus der Weltliteratur Einen neuen Maßstab für die moderne JL setzte Jerome David Salinger (*1919) mit „Der Fänger im Roggen“ (1951, dt. 1954). Der Ich-Erzähler Holden Caulfield monologisiert über die drei Tage seines ziellosen Herumirrens durch New York, nachdem ihm der vierte Schulverweis erteilt wurde. Seine zwanghafte Suche nach menschlicher Nähe geht einher mit der Unfähigkeit zu konventionellem sozialem Handeln. Salinger zeichnet das Bild einer desillusionierten Jugend, die die Schwelle zum Erwachsenen-Dasein ohne Hilfe der Gesellschaft bewältigen muss. Die hochexpressive, mit Flüchen, Slangausdrücken und Übertreibungen aufgeladene affektive Sprache Caulfields sahen Generationen von Jugendlichen als Ausdruck ihres eigenen Empfindens in einer als existenzielle Krise begriffenen Lebensphase. „Der Fänger im Roggen“ wurde Muster auch in der deutschen JL, blieb jedoch unerreicht. Die moderne JL des letzten Jahrzehnts ist gekennzeichnet durch die literarische Fragmentierung von Wirklichkeitserfahrung, unkonventionelle Protagonisten, psychologische Verrätselungen und Verknüpfung verschiedenster Problemkomplexe. Peter Pohl (*1940) als deutsches Kind aufgewachsen im schwedischen Exil. „Jan, mein Freund“ (1985, dt. 1989) „Der Regenbogen hat nur acht Farben“ (1986, dt. 1993, Deutscher Jugendbuchpreis 1995) In seinen Werken geht es immer um die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber Aggression und Gewalt und um „Heimatlosigkeit“ im geografischen, individuellen oder gesellschaftlichen Sinn. Ähnliche Themen gestaltet z.B. auch Bart Moeyaert (*1964) in seinem Jugendroman „Bloße Hände“ (1995, dt. 1997). Tendenziell lässt sich eine – von Autoren wie Verlagen unterstützte – Auflösung der Grenzen zwischen Jugend- und Allgemeinliteratur erkennen und eine Orientierung junger Leser an der Belletristik. Beliebt sind vor allem spannende Unterhaltungsromane (vor allem Stephen King) und in den letzten Jahren die sog. Popliteratur. Die Wiederentdeckung der Leselust Kinder lesen nicht mehr! Diese vielzitierte Pädagogenklage ist nur teilweise berechtigt. Das Fernsehen hat längst die mediale Leitfunktion in der Gesellschaft übernommen. Wenn die Kinder lesen, dann erwarten sie vor allem Entlastung vom Alltag, Spannung, Nervenkitzel und Unterhaltung. Von der Trivialliteratur bedient zurzeit Thomas Brezina (*1963) am erfolgreichsten das ausgeprägte Interesse junger Leser an Tier-, speziell Pferde-, Grudel- und Detektivgeschichten mit diversen Reihen, die dem Trivialschema in der Tradition von Enid Blyton verpflichtet bleiben. Brezina hat bisher weltweit etwa 20 Millionen Bücher verkauft. Der größte Wirbel in der Geschichte der KJL wurde unumstritten um einen britischen Zauberlehrling veranstaltet. Die mit „Harry Potter und der Stein der Weisen“ (1997, dt. 1998) beginnende Buchserie von Joanne K. Rowling (*1965) entwicklte sich zum Markenprodukt „Harry Potter“. Die Autorin hat sich durch Klassiker der englischsprachigen KL (z.B. „Alice im Wunderland“ und „Der Zauberer Oz“), aber auch durch Sagen, Märchen sowie Fantasy-, Detektiv-, Schul- und Entwicklungsgeschichten anregen lassen. Ihre Romane enthalten das, was Kinder zu allen Zeiten zum Lesen animiert hat: vor allem aufregende Abenteuer, innige Freundschaften, und Kämpfe gegen das Böse. Großen Anteil am Erfolg hat die Hauptfigur: Harry ist ein Held mit Schwächen, schüchtern und unauffällig lebt er in der Welt der Muggels, wo ihn seine Verwandten drangsalieren. In der Wunderwelt ist er jedoch eine bewunderte Gestalt mit legendärem Ruf, hier kann er die Ohnmacht des Ausgeliefertseins überwinden.