Günther Schneider: Wozu ein Sprachenportfolio?

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8. Benutzergruppen

Das Sprachenportfolio hat viele potentielle Benutzer und Adressaten. Das sind zunächst die Lernenden als Eigentümer des Portfolios. Das können eventuell auch Mitlernende sein, wenn beispielsweise in der Gruppe Sprachlernerfahrungen ausgetauscht und verglichen werden. Das sind zu bestimmten Zeiten die Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schulen, Prüfungsverantwortliche und Prüfungsinstitutionen oder (potentielle) Arbeitgeber.

Verschiedene Benutzergruppen können das Portfolio nutzen, einerseits um sich zu informieren und andrerseits um selbst Informationen in das Portfolio einzugeben. Was das Sprachenportfolio den Benutzergruppen bringt und was sie selbst einbringen, ist im Folgenden kurz zusammengefasst. Eine von der EDK herausgegebene Informationsbroschüre zum Schweizer Sprachenportfolio beschreibt für vier Benutzergruppen ausführlicher, wie sie das Sprachenportfolio nutzen können und was sie beitragen können (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 1998c:4-7).

Diese Benutzergruppen sind:


Wie können Lernende das Europäische Sprachenportfolio nutzen?

Lernende können mit dem Europäischen Sprachenportfolio

 

Wie können die Unterrichtenden das Europäische Sprachenportfolio nutzen? Was können sie einbringen?

Die Unterrichtenden können

 

Wie können Schulen, Bildungs- und Prüfungsinstitutionen das Europäische Sprachenportfolio nutzen? Was können sie einbringen?

Schulen, Hochschulen, Prüfungsstellen und andere Institutionen können

 

Wie können Betriebe das Europäische Sprachenportfolio nutzen? Was können sie einbringen?

Betriebe und besonders ihre Personalabteilungen können

In welchem Ausmass die verschiedenen Benutzergruppen etwas zum Europäischen Sprachenportfolio beitragen und wie viel sie in individuelle Portfolios eingeben, hängt sicher auch davon ab, wie bekannt und verbreitet das ESP sein wird. In der Erprobungsphase könnten Portfolios entstehen, die möglicherweise beispielhaft zeigen, wie ausgefüllte, gefüllte Portfolios aussehen können und sollten. Eine solche Sammlung von konkreten Portfolios dürfte auch Aufschlüsse darüber geben, wo eventuell Probleme liegen und ob für bestimmte Benutzergruppen mehr Information oder Hilfe nötig ist. Denn so wünschenswert es ist, dass viele etwas zu den Portfolios beitragen, so wichtig ist es, dass die Einträge nicht beliebig sind, sondern relevant, informativ, transparent, verständlich und verlässlich.

 

9. Das Portfolio als Katalysator - seine Bedeutung für den Unterricht

Das ESP als Auslöser/Verstärker - ESP und "Gesamtsprachenkonzept" - Das ESP im Unterricht

An das Europäische Sprachenportfolio werden viele, vielleicht zu hohe, Erwartungen geknüpft. Es ist kein Allheilmittel, aber es kann wahrscheinlich in vielen Fällen eine Katalysatorfunktion erfüllen (Richterich/Schneider 1993: 41). Seine Einführung kann für Unterricht und Schülerbeurteilung Innovationen und Verbesserungen auslösen oder laufende Reformen unterstützen und verschiedene Tendenzen bündeln.


Neuerungen auslösen und unterstützen

Schon seit vielen Jahren wird in Empfehlungen und einschlägigen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Fähigkeit zur Selbstbeurteilung zu fördern (z. B. CREA 1992; Coste/Moore 1992; EDK 1995 u. 1998 b).

Im Rahmen des Projekts "Evaluation und Selbstevaluation der Fremdsprachenkompetenz an Schnittstellen des schweizerischen Bildungssystems" haben wir die Schülerinnen und Schüler auch gefragt , ob sie ihre Sprachkenntnisse schon öfter selbst beurteilen konnten. Wie die Umfrage von 1995 zeigte, ist Selbstevaluation immer noch die Ausnahme (Abbildung "Erfahrung mit Selbstbeurteilung").

Erfahrung mit Selbstbeurteilung

Wenn das Sprachenportfolio eingeführt wird, so kann man erwarten, dass diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Lerner schon Erfahrungen mit Selbsteinschätzungen machen liessen, auf diesem Weg bestärkt werden und dass dort, wo dies bisher noch nicht üblich war, die Instrumente im Portfolio genutzt werden, um mit dieser Praxis zu beginnen.

Ganz ähnlich könnte die Einführung des Portfolios auch manche andere vielleicht schon länger gewünschte oder geplante Neuerungen oder Verbesserungen anschieben und verschiedene Tendenzen einer lernerorientierten kommunikativen und interkulturellen Didaktik sichtbar machen und bündeln. Dazu gehören vor allem die Punkte:

Vgl. z. B. die Empfehlungen für den Deutschunterricht in der Westschweiz (CREA 1992), den Bericht über neue Unterrichts- und Organisationsformen (EDK 1995) und die Empfehlungen zum neuen Sprachenkonzept (EDK 1998b).

Das Europäische Sprachenportfolio ist ganz besonders dort hilfreich, wo nicht nur eine Fremdsprache im Blick ist, sondern die Mehrsprachigkeit der Lernenden und ein Gesamtkonzept für den Sprachenunterricht.


Die Rolle des Sprachenportfolios im "Gesamtsprachenkonzept"

Der von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (1998b) in Auftrag gegebene Expertenbericht zu einem Gesamtkonzept für den Sprachenunterricht während der obligatorischen Schulzeit in der Schweiz schlägt ein Konzept vor, das für Kantone und Regionen einigen Spielraum bei der Wahl der Landessprachen und Fremdsprachen, bei der Reihenfolge ihrer Einführung und bei den Organisations- und Unterrichtsformen vorsieht. Je mehr Flexibilität ermöglicht werden soll, desto wichtiger werden Mittel, welche die Kohärenz und Transparenz des Fremdsprachenlernens gewährleisten. Diese Aufgabe soll das Europäische Sprachenportfolio mit seinem Bezug zum "Europäischen Referenzrahmen" erfüllen. In den Thesen und Empfehlungen zum neuen "Gesamtsprachenkonzept" werden daher mehrfach Funktionen des Sprachenportfolios angesprochen:

Die Kantone sollen die Transparenz und Kohärenz des Fremdsprachenlernens gesamtschweizerisch dadurch sicherstellen, dass sie für das Ende der obligatorischen Schulzeit verbindliche Richtziele vereinbaren (Empfehlung 2). In ihren Vorschlägen für diese Richtziele stützt sich die Expertengruppe auf die Referenzniveaus des Europarats und verwendet die Formulierungen aus dem Raster des ESP. Dies erlaubt es, die Ziele zu differenzieren in Bezug auf Hörverstehen, Leseverstehen, Gespräch, Zusammenhängendes Sprechen und Schreiben. Als Richtziele werden die in der folgenden Tabelle angegebenen Niveaus vorgeschlagen:

 

Hörverstehen

Leseverstehen

Gespräch

Zusammenhängendes Sprechen

Schreiben

Lokale Landessprache (wenn sie nicht mit der Erstsprache identisch ist)

B2

B2

B2

B2

B2

Zweite Landessprache

B1+

B1+

B1

B1

B1

Englisch

A2+

A2+

A2+

A2

A2

Dritte Landessprache

A2+

A2+

A2

A1

A1

(Für die Niveaubeschreibungen siehe Anhang 1 oder Gesamtsprachenkonzept http://www.romsem.unibas.ch./sprachenkonzept)

Diese Richtziele sollen für Schulen mit mittleren Ansprüchen als Minimum gelten und als Ausgangspunkt für die Formulierung differenzierter Lernziele dienen.

Obwohl die Kompetenzbeschreibungen nicht im Hinblick auf die Erstsprache entwickelt wurden, macht es nach Auffassung der Expertengruppe doch Sinn, "namentlich mit Rücksicht auf die Diglossiesituation in der Deutschschweiz (und in geringerem Masse im Tessin)" mit dem gleichen Instrumentarium auch Richtziele für den Erstsprachunterricht zu formulieren. Für die entsprechende Standardsprache wird als Richtziel das Niveau C1 vorgeschlagen

Im Kommentar zur Empfehlung 2 heisst es: Die Richtziele und die daraus zu entwickelnden Grob- und Feinziele "erlauben es, eine transparente Evaluation der erreichten Kompetenzen zu entwickeln; Fremd- und Selbstbeurteilung sowie die Art des Erwerbs der sprachlichen Kompetenzen können durch das Europäische Sprachenportfolio sichtbar gemacht werden".

Die Empfehlung 4 geht davon aus, dass aufgrund der Migrationsbewegungen ein immer grösser werdender Teil der Schulbevölkerung zwei- oder mehrsprachig aufwächst. Die Kantone sollen die in ihrer Schulbevölkerung vorhandenen Sprachen respektieren und fördern und sie in die Stundentafeln / Lehrpläne integrieren. Der Unterricht in den Herkunftssprachen soll u. a. aufgewertet werden "durch gleiche Bewertung/Benotung wie für die übrigen Fächer" und "durch Aufnahme der entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten ins Europäische Sprachenportfolio".

Um den Übergang zwischen den Schulstufen innerhalb der Kantone sicherzustellen und die vertikale und horizontale Koordination zu gewährleisten, sollen die Kantone "für jede unterrichtete Sprache und jede Fertigkeit (Hörverständnis, Leseverständnis, Gesprächskompetenz, zusammenhängende mündliche Produktion, schriftliche Produktion) verbindliche Richtziele am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I" formulieren (Empfehlung 7). Im Kommentar dazu heisst es: "Es sollen mit anderen Worten Treffpunktziele formuliert werden, die für alle Schülerinnen und Schüler einer Region (über Kantonsgrenzen hinweg) das gemeinsame Minimum sind, ob sie nun die betreffende Sprache in der 1. Klasse mit bilingualem Unterricht angefangen haben oder aber als zweite Fremdsprache in der 5. Klasse (mit bilingualem Unterricht oder mit traditionellem Sprachunterricht)."

Ganz im Sinne der Funktionen des Sprachenportfolios wird darauf hingewiesen, dass die Ziele so definiert werden sollten, dass sie

Die Expertengruppe betont, es sei eine wichtige Voraussetzung für die gewünschte Transparenz, "dass sich alle Kantone für die Lernzielbeschreibung desselben Instrumentariums und derselben Beschreibungssprache bedienen. Daher sollen die Ziele mit der im europäischen Referenzrahmen festgelegten Beschreibungssprache und unter Bezugnahme auf die entsprechenden Niveaus formuliert werden." Es wird zu Recht auf die folgenden Punkte hingewiesen:

Es wird empfohlen, für die Formulierung der Zwischen- und Endziele für die Primarschule das Europäische Sprachenportfolio für jüngere Lernende zu berücksichtigen. (Sprachenportfolios für jüngere Lernende werden in England und Frankreich erprobt.)

Die Kantone sollen die Transparenz zwischen Sprachlernprozessen innerhalb und ausserhalb des Bildungssystems gewährleisten. Als geeignetes Mittel wird die Verwendung des Europäischen Sprachenportfolios empfohlen (Empfehlung 12). Dazu heisst es:

"Zurzeit ist es für Lernende schwierig, ihre Fremdsprachenkenntnisse auszuweisen, ausser wenn sie ein internationales Zertifikat erworben haben. Schulnoten geben keine präzisen Auskünfte über das erreichte Niveau, ausserschulisch erworbene Sprachkenntnisse sind kaum präsentierbar. Die Lösung dafür ist das Europäische Sprachenportfolio (...)".

Der Kommentar zur Empfehlung 12 beschreibt das Europäische Sprachenportfolio ausführlicher und hebt u. a. folgende Funktionen hervor:

Wenn die Empfehlungen umgesetzt werden sollen, so müssen die Grundausbildung und die Weiterbildung der Lehrkräfte den neuen Anforderungen angepasst werden (Empfehlung 13). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Rolle der Lehrperson vermehrt in Richtung eines Coaching einer grossen Anzahl von Lernenden bewegen wird. Dazu sollen die Lehrpersonen u. a. in die Lage versetzt werden,

Es wird postuliert, die notwendigen Reformen in die Studienpläne einzuplanen und durch obligatorische Fort- und Weiterbildung zu garantieren, "dass nicht erst die nächste Generation von Lehrkräften über das Rüstzeug für einen modernen (Fremd-)Sprachenunterricht verfügt". Dabei werden u. a. die folgenden Voraussetzungen hervorgehoben:

 

Das Sprachenportfolio im Unterricht

Es ist in erster Linie Sache der Lernenden, wann und wozu sie das Portfolio nutzen wollen. Dies setzt allerdings den instruierten, selbstständigen Lerner voraus. Zweifellos wird es in den Schulen und wohl oft auch in der Erwachsenenbildung nötig sein, die Lernenden in die sinnvolle Nutzung des Portfolios einzuführen. Das Portfolio muss nicht zwingend in den Unterricht einbezogen werden, aber die Beschäftigung mit dem Portfolio in der Klasse kann den Unterricht bereichern und eine grosse Hilfe für die Lernenden sein. Lehrerinnen und Lehrer können das ESP nutzen als Mittel der Lernberatung und als Instrument, das die Kommunikation mit den Lernenden über ihre Lernziele, Lernwege und Lernfortschritte in Gang bringen, strukturieren und erleichtern kann.

Ich will hier nur kurz auf einige Möglichkeiten - und auch auf mögliche Schwierigkeiten und Gefahren - der Verwendung des ESP im Unterricht hinweisen. Wie die Arbeit mit dem Portfolio in den Klassen konkret gestaltet werden kann, darüber wird sicher die Erprobung des ESP durch eine grosse Zahl von Lehrerinnen und Lehrern Aufschluss geben. Es wäre schön, wenn möglichst viele interessante Erfahrungen und Beispiele aus dem Unterricht dokumentiert und ausgewertet werden könnten, damit auf dieser Basis ein Lehrerhandbuch mit Ideen und Vorschlägen für die Hinführung zum Portfolio und seine Verwendung im Unterricht zusammengestellt werden könnte.

Es gibt viele Möglichkeiten, ins Sprachenportfolio einzuführen. Man kann mit jedem der drei Teile beginnen. Mit welchem Teil, mit welchem Instrument, mit welcher Aktivität man am besten einsteigt, hängt von der konkreten Situation ab, zum Beispiel davon, ob die Lernenden schon mit Verfahren der Selbstbeurteilung vertraut sind, ob sie gewöhnt sind, über ihr Lernen zu reflektieren, ob die erste Beschäftigung mit dem ESP auf den Anfang oder das Ende eines Schuljahres oder Kurses fällt, ob eine Abschlussprüfung oder eine Bewerbung bevorsteht usw. Einige "Tipps zum Einsteigen" finden sich im letzten Abschnitt dieses Artikels.

Der Sprachenpass muss wohl in der Regel nur in grösseren Zeitabständen ausgefüllt werden. Die Lernenden sollten zu bestimmten Gelegenheiten ihre Eintragungen aktualisieren können, besonders vor Beginn einer (neuen) Schule, eines Studiums oder Kurses bzw. bei Schul-, Studien- oder Kursabschluss, bei Antritt eines Praktikums, einer Lehrstelle oder einer Arbeitsstelle, am Anfang und am Ende eines längeren Austausches. Vor allem bevor sie zum ersten Mal ihren Sprachenpass ausfüllen, muss den Lernenden bewusst gemacht werden, dass die Angaben in diesem Dokument verlässlich sein müssen. Die verschiedenen Quellen - Prüfungsergebnisse/Diplome, ausserschulische Sprachlernerfahrungen und Resultate der Selbstbeurteilung - müssen sorgfältig genutzt werden. Vorläufig stehen die Lernenden noch vor dem Problem, dass sie nicht wissen können, auf welchem Niveau Prüfungen, die sie abgelegt haben, zu situieren sind. Mit der Zeit aber werden immer mehr Schulen und Prüfungsinstitutionen ihre Prüfungen und Diplome den Referenzniveaus des Europarats zugeordnet haben.

Vor allem die Lernenden, die noch wenig Erfahrung in der Selbstbeurteilung haben, müssen durch die Präsentation des Portfolios im Unterricht vorbereitet werden, den Sprachenpass verantwortungsvoll auszufüllen. Sie sollten Lust bekommen, diese Verantwortung für die Dokumentation ihrer eigenen Sprachkenntnisse zu übernehmen, und sie sollten Freude daran haben, mehr und Genaueres über sich und ihre Sprachkompetenzen auszusagen, als dies Prüfungsnoten tun. Keinesfalls dürfen sie den Eindruck erhalten, es genüge, einmal schnell den Raster zur Selbstbeurteilung anzuschauen und dann über den Daumen gepeilt ihre Kenntnisse den Referenzniveaus zuzuordnen. Damit sie nicht später unschöne Korrekturen der Eintragungen im Sprachenpass vornehmen müssen, könnte man den Lernenden empfehlen, ihre Selbsteinstufung nicht gleich beim ersten Mal ins Passheft einzutragen, sondern ihre Einschätzung der Kenntnisse in verschiedenen Sprachen vielleicht zunächst auf einer Fotokopie zu notieren, um sie später noch einmal überprüfen und abstützen zu können.

Die Checklisten können helfen, die Selbsteinschätzung für den Sprachenpass vorzubereiten und abzusichern. Durch sie wird den Lernenden deutlich, was zum Beispiel für die Gesprächsfähigkeit oder die Verstehensfähigkeit auf einem bestimmten Niveau charakteristisch ist. Wenn man die Lernenden zunächst anhand der Formulierungen im Raster zur Selbstbeurteilung Hypothesen zu ihrem Niveau bilden lässt, dann können sie anschliessend die entsprechende Checkliste durchgehen, um festzustellen, ob die Hypothese bei detaillierter Betrachtung bestätigt werden kann. Aber die Checklisten sollten nicht nur im Zusammenhang mit dem Sprachenpass, also z. B. am Anfang und Ende des Schul-, Studien- oder Kursjahres verwendet werden. Sie können im Unterricht immer wieder herangezogen werden, wenn Einzelziele erreicht sind und wenn neue Lernetappen beginnen sollen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das Fehlen einer Einteilung in feinere Niveaus für die regelmässige Verwendung im Unterricht, wo es wichtig ist, auch kleinere Fortschritte festzustellen, ein Nachteil sein kann. Jede Checkliste deckt ja ein sehr breites Niveau ab. Das bedeutet aber auch, dass die Items einer Checkliste leichtere und schwierigere Aufgaben (innerhalb des entsprechenden Niveaus) beschreiben. Ausserdem wird noch eine weitere Abstufung möglich, wenn die Lernenden, wie vorgeschlagen, unterscheiden, ob sie eine Aufgabe unter "normalen Umständen" erfüllen können - zum Beispiel, wenn sie nicht unter Zeitdruck stehen und sich auf eine Situation einstellen konnten - oder ob sie etwas "gut und leicht" tun können.

Die Lehrerin oder der Lehrer kann den Lernenden dabei helfen, mit den Checklisten zu arbeiten und ihre Fähigkeit zur Selbstbeurteilung (weiter) zu entwickeln:

Checklisten sind nur eines von etlichen Mitteln zur Selbstbeurteilung. Wenn sie regelmässig herangezogen werden, kann dies wesentlich dazu beitragen, die Fähigkeit zu einer plausiblen, Über- und Unterschätzung vermeidenden Selbstbeurteilung zu entwickeln. Selbstbeurteilung ist lernbar. Am besten lernt man sie wohl, wenn man verschiedene Instrumente und Verfahren kennen lernen und kombinieren kann. Das sind auf der einen Seite die verschiedenen Arten von Checklisten: Checklisten wie im Portfolio, aber auch etwa Checklisten zur Kontrolle beim Schreiben oder zur selbständigen Fehlerkorrektur oder Fragebogen zu Lernstrategien und Arbeitstechniken. Hinzukommen sollten auf der anderen Seite möglichst Mittel wie das Führen eines Lerntagebuchs oder das Einüben ins (Selbst-)Beurteilen. Beispielsweise kann das Beurteilen anhand von Video- und Audioaufzeichnungen besonders nützlich und motivierend sein, wenn die Lernenden zwei zeitlich weiter auseinander liegende Produktionen vergleichen können und so feststellen, in welchen Bereichen sie deutliche Fortschritte gemacht haben und wo sie eventuell stagnieren. Analog können die Lernenden auch mit Hilfe von ausgewählten Kriterien ihre früheren schriftlichen Textproduktionen mit ihren neueren Arbeiten vergleichen. Es kann ein gutes Training für die Selbstbeurteilung sein, zunächst andere zu beurteilen und gemeinsam mit anderen zu beurteilen. Die Lernenden können Erfahrung sammeln und Vertrauen in ihre Fähigkeit zu beobachten und zu bewerten gewinnen, indem sie gemeinsam Kriterien besprechen und anwenden, ihre Beurteilungsergebnisse vergleichen und Gründe für unterschiedliche Wertungen diskutieren.

Natürlich braucht das Einüben der Selbstbeurteilung ebenso wie das Ausarbeiten oder Anpassen von Selbstbeurteilungsinstrumenten Zeit. Zeit im Unterricht, die Zeit der Lernenden, Zeit der Lehrenden. Aber es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, diese Zeit zu investieren:


Gute Gründe, Zeit und Phantasie für Instrumente zur Selbstbeurteilung einzusetzen

aus der Sicht der Lernenden

  • sie konkretisieren die Lernziele in einer plausiblen und verständlichen Form;

  • sie helfen, Lernfortschritte laufend selbständig zu kontrollieren;

  • sie regen an, sich eigene und fremde Bewertungskriterien bewusst zu machen;

  • sie erlauben den Beurteilungsbereich zu erweitern und auch solche Aspekte einzubeziehen, die durch Fremdevaluation oder Prüfungen kaum erfasst werden können, z. B. Einstellungen, Gefühle, Lernbereitschaft, Strategien u. Ä.;

  • sie machen Lernfortschritte bewusst und stärken so das Selbstvertrauen und die Lernmotivation;

  • sie ermöglichen es, das Lernen individuell zu planen;

  • sie helfen zu entscheiden, ob man weiterlernen will, was und wie man wiederholen soll;

  • sie können Examensanforderungen transparent machen und so helfen, sich - auch psychologisch - auf Prüfungen vorzubereiten;

  • sie helfen, der Beurteilung durch andere nicht schutzlos ausgeliefert zu sein;

  • sie bereiten auf Gespräche mit Lehrpersonen vor und können Kraft geben und Argumente liefern, um mit ihnen Lernerfolge und Lernprobleme zu besprechen.

aus der Sicht der Lehrpersonen

  • Instrumente zur Selbstbeurteilung zu entwickeln, motiviert und zwingt dazu, die Lernziele transparent zu machen, den Lehrplan in einen verständlichen Lernplan umzuformulieren;

  • regelmäßige Selbstbeurteilungen können die Lehrperson etwas von der Rolle des Kontrollierenden entlasten und so Freiräume für anderes schaffen;

  • alle Vorteile aus der Sicht der Lernenden (siehe oben).

(aus: Schneider 1996, S. 17)

Die Checklisten im Portfolio erfassen die sprachliche Kommunikationsfähigkeit. Unbedingt sollte im Unterricht immer wieder auch die Entwicklung der interkulturellen Kompetenzen thematisiert werden. Das kann in Gesprächen geschehen oder indem interkulturelle Erfahrungen nach dem Beispiel des entsprechenden Modellblatts dargestellt werden oder indem solche Erfahrungen in die Sprachlernbiografie eingearbeitet werden.

Zu beachten ist, dass Selbstbeurteilung von Lernenden und Lehrenden nicht mit Selbstbenotung gleichgesetzt wird. Die Forschung gibt recht deutliche Hinweise darauf, dass plausible Selbsteinschätzungen am ehesten zustande kommen,

Wenig verlässlich dagegen sind Selbstbeurteilungen in der Regel dann,

Aus diesem Grund sollte zumindest beim Einstieg in die Selbstevaluation möglichst die Verknüpfung mit Prüfungssituationen und Notengebung vermieden werden (Schneider 1996).

Natürlich wäre es möglich, die Lernenden Ihre persönliche Sprachlernbiografie ganz alleine und als Hausarbeit zusammenstellen zu lassen. Sieht man aber die Sprachlernbiografie nicht nur als ein spezialisiertes Curriculum Vitae an, das man für eine bestimmte Gelegenheit verfasst, um andere zu informieren, sondern auch als Mittel eines Unterrichts, der auf "Language Awareness", auf die Reflexion über Sprache, Spracherwerb und Kommunikationssituationen zielt, dann macht es Sinn, in der Klasse, ganz besonders in der multikulturellen Klasse, darüber zu sprechen, mit welcher Sprache bzw. mit welchen Sprachen die Schülerinnen und Schüler aufgewachsen sind, welche Sprachen in der Familie gesprochen werden, welche Beziehungen sie zu den verschiedenen Sprachen haben usw. Die Arbeit an der eigenen Sprachlernbiografie und das Kennenlernen oder das Lesen von Sprachbiografien anderer, können den Sinn dafür schärfen, was es heisst mehrsprachig zu leben und wie unterschiedlich die Wege sein können, die zur Mehrsprachigkeit führen. Solche Bewusstmachung hat ihren Platz ebenso im Muttersprachenunterricht wie im Fremdsprachenunterricht. Die Lehrerinnen und Lehrer der Sprachfächer sollten dabei möglichst eng zusammenarbeiten oder sich zumindest absprechen.

Zusätzlich zu einer kurzen Übersicht in Stichworten kann die Sprachlernbiografie auch freier gestaltet werden, z. B. als erzählender und reflektierender Bericht - eventuell illustriert mit Fotos aus verschiedenen Sprachverwendungssituationen. Falls die Lernenden regelmässig ein Lerntagebuch führen, können sie die dort notierten Erfahrungen von Zeit zu Zeit auswerten und in der Sprachlernbiographie des Portfolios zusammenfassen. Es empfiehlt sich, die begonnene Sprachlernbiografie wenigstens einmal pro Schul-, Studien- oder Kursjahr nachführen zu lassen und über Veränderungen, über neue Erfahrungen zu sprechen.

Das Dossier ist der Ort, an dem Ergebnisse selbständiger Arbeit ebenso wie Produkte, die im Unterricht entstehen, ihren Platz finden können. Es ist der Teil des Portfolios, der am meisten Raum für freie Gestaltung lässt. Traditionell werden in Portfolios in erster Linie schriftliche Arbeiten gesammelt. Aber es wäre schade, wenn das Dossier des ESP auf eine Sammlung reduziert würde, welche die Entwicklung der Schreibfertigkeit dokumentiert. Lehrende und Lernende sollten vielmehr den Ehrgeiz haben und die Chance wahrnehmen, eine lebendige, bunte, alle Fertigkeitsbereiche und viele Textsorten umfassende Sammlung von schriftlichen Texten, Audio- und Videobeispielen zusammen zu stellen, die auch über Produkte oder Produktionen berichten sollte, die sich nicht in einem Classeur unterbringen lassen. Das könnten zum Beispiel Theateraufführungen, Ausstellungen, Auftritte im Internet und alle möglichen Projektarbeiten sein.

Das Aufbewahren und Vorzeigen kann einerseits den Produkten Wert geben, andrerseits ermöglicht es, Prozesse - Entstehungsprozesse und Lernprozesse - zu dokumentieren und bei der Leistungsbeurteilung nicht nur auf punktuelle Resultate abzustellen, sondern auch die Entwicklung zu berücksichtigen.

Die Unterrichtenden können den Lernenden helfen,

Bei der Unterrichtsplanung auch ans Dossier des ESP zu denken, könnte hier und da den wünschenswerten Effekt haben, dass öfter projektorientiert gearbeitet wird und dass das Vorzeigen der Ergebnisse von Einzel- oder Gruppenarbeiten zu einer motivierenden Gewohnheit wird.

Lernende und Lehrende sollten nicht übertriebene Erwartungen ans Portfolio knüpfen. Es wird nicht alle Probleme lösen. Viele Probleme werden bleiben. Vielleicht werden neue Probleme bewusst. Auf welche Schwierigkeiten sollten Lernende und Lehrende gefasst sein? Welche Gefahren sollten sie vermeiden? Im Folgenden werden einige Schwierigkeiten und Gefahren, die teilweise in diesem Artikel schon angesprochen wurden, stichwortartig resümiert:

Beispiele für mögliche Schwierigkeiten:

Beispiele für mögliche Gefahren:

 

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© Institut für deutsche Sprache, Universität Freiburg/Schweiz