FONETICKÁ ANALÝZA NĚMECKÉHO TEXTU SOUBOR TEXTŮ Pedagogická fakulta MU Brno 2010 PhDr. Alena Kovářová Soubor textů pro fonetickou analýzu byl pořízen v rámci projektu FRVŠ 1496/2010/F/b. Reihenfolge der Schwerpunkte im Phonetikunterricht Der deutsche Akzent, seine Charakteristik, Position und distinktive Funktion Muttersprache Tschechisch: Zielsprache Deutsch: - silbenzählende Sprache - akzentzählende Sprache - Akzent ist nicht stark - sehr starker Akzent - keine Reduktion unbetonter Silben - unbetonte Silben unterliegen der Reduktion - Akzent immer auf der ersten Silben - den Akzent trägt meistens die Stammsilbe - Akzent ist nie distinktiv - Akzent kann distinktive Funktion haben Das deutsche Vokalsystem: a) 1. lange geschlossene gespannte Vokale (e, o) ↑ Akzent 2. labialisierte Vorderzungenvokale (ü, ö) 3. reduzierte Vokale in unbetonten Silben (Schwa, vokalisiertes r) ↑ Akzent b) Diphthonge ei/ai, eu/äu, au ↑ Akzent System der deutschen Konsonanten: 1. Aussprache p, t, k x b, d, g 2. Velares ng ↑ Akzent 3. Ich-Laut x Ach-Laut 4. l, r 5. h, Vokaleinsatz Assimilation: progressiv Reduktion der unbetonten Silben ↑ Akzent Beim Vorlesen folgender Texte achteten Sie auf mögliche typische Aussprachefehler von tschechischen Muttersprachlern sowie in der segmentalen als auch in der suprasegmentalen Ebene der deutschen Standardaussprache. Was ich von meinen Tanten zum Geburtstag bekam Vera Ferra-Mikura Von Tante Wilhelmine eine . . – . , (Mandarine) von Tante Grete eine . – . , (Trompete) von Tante Adelheid ein – . . , (Sommerkleid) von Tante Beate eine . – . , (Tomate) von Tante Liane eine . – . , (Banane) von Tante Isabel ein weißes . . – , (Bärenfell) von Tante Veronika eine . – . . , (Harmonika) von Tante Emilie eine – . . , (Lilie) von Tante Kunigunde zwei lustige – . (Hunde) zuletzt von Tante Erika eine Karte aus . – . . . (Amerika) Tante Walpurga, auf die sich nichts reimt, hat mein zerbrochenes Holzpferd geleimt. Das Alltagsleben eines normalen Briefes Einmal kam ich nach Hause, sehr, sehr traurig. Ich hatte viele Probleme und hier war niemand, der mir helfen konnte. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich setzte mich hin und begann nachzudenken. Und was hörte ich da auf einmal? ….. Hej, Herr Brief, ich habe Angst. Frau Papier, Sie müssen keine Angst haben. Ein Papier zu sein ist nicht schwer. Hören Sie nur: Zuerst wird der Brief geschrieben. Dann wird er in den Briefumschlag gesteckt, die Adresse wird darauf geschrieben und die Briefmarke wird aufgeklebt. Dann wird er in den Briefkasten eingeworfen. Danach wird der Briefkasten geleert. Auf der Post werden die Briefe gestempelt und sortiert. Dann werden sie ausgetragen und wieder eingeworfen. Dann wird der Brief vom Adressaten erhalten und gelesen. Das ist alles. Manchmal wird er weggeworfen. Aber fürchten Sie sich nicht, die Menschen sind gut. Auf Wiedersehen im Papierkorb! Wo manche Wörter wohnen Das Wort „aus“ wohnt in einem richtigen Haus, doch zugleich in der Jause, in der Maus und in der Laus. Das Wort „und“ wohnt im Hund, im Grund und im Schlüsselbund, in der Stunde, in der Runde und im Namen Rosamunde. Das Wort „ein“ wohnt im Schwein und im Mondenschein, in Steinen, in Beinen und Hundeleinen. Das „um“ wohnt in der Blume, in der Krume, und meine Freundin „Anne“ wohnt in der Wasserkanne, in Tannen, Pfannen und Badewannen. Wo wohnt das Wort „ach“? Im Bach. Im Krach. Im Lachen und in vielen anderen Sachen. Was alles in den Dingen steckt Liedchen Franz Fühmann Franz Fühmann Im Traum ein Raum, In dem Zwergberg im Schmaus eine Maus, sitzt der Bergzwerg, im Messer ein Esser, und er sehnt sich jedes Jahr in der Fahne der Ahne. nach dem Strandsand fern am Sandstrand, Im Gestopften ein Topf, wo er mal auf Urlaub war. im Geflohnen ein Floh, im Gekochten der Koch, im Gebrauten die Braut. Bedingungsformen Jürgen Henningsen Ich sage Ich würde sagen Ich hätte gesagt Aber man hat Frau und Kinder. Ein Märchen In einem fernen Land lebte vor wenigen Jahren ein König, der hatte eine wunderschöne Tochter. Sie war immer fröhlich und bei allen Leuten beliebt. Aber sie hatte einen großen Fehler. Sie war kaufsüchtig. Sie ging nicht nur in ihrem Königreich einkaufen, sondern sie flog auch mit dem königlichen Privatjet in die großen Städte der reichen Nachbarländer. Dort ging sie nur in die teuren Geschäfte der international bekannten Modemacher und kaufte ein. Sie kaufte so viel, dass sie ihre neuen Sachen oft nicht ein einziges Mal anzog. Der König wollte seine Tochter von der Kaufsucht befreien, aber er wusste lange nicht wie. Schließlich hatte er eine Idee! …? Das ABC eines Deutschlernenden Aller Anfang ist schwer. Mensch, Ärgere dich nicht! Ich verstehe nur Bahnhof. Das ist für mich Chinesisch. Keine Rosen ohne Dornen. Ich will nicht ein Ewiger Student bleiben! Früh übt sich, was ein Meister werden will. Guter Rat ist teuer. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Deutsch ist Immer In. Jeder weiß am Besten, wo ihn der Schuh drückt. Kein Meister ist vom Himmel gefallen und durch Schaden wird man Klug. Lerne was, so kannst du was. Man lernt nie aus. Muss ist eine harte Nuss. Ohne Fleiß kein Preis. Wer nicht hÖren will, muss fühlen. Leere Phrasen dreschen. Qualität ist besser als Quantität. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wie der Lehrer, so der Schüler. Ich habe das Sprachzeugnis schon in der Tasche! Unter Blinden ist der Einäugige König. Übung macht den Meister. Was du heute kannst besorgen, das Verschiebe nicht auf morgen. Wiederholung ist die Mutter der Weisheit. Ich lasse mir kein X mehr für ein U vormachen. Yippee! Ich spreche Deutsch! Zuviel Lernen ist nicht Zuträglich. Jana Kovářová Vom Küchenjungen in Dornröschens Schloss Irmela Brender Von Dornröschen weiß fast jedes Kind: wie aus Mangel an passendem Geschirr eine weise Frau zur Feier von Dornröschens Geburt nicht eingeladen werden konnte, wie die Ungebetene dann doch erschien und dem Königskind zum fünfzehnten Geburtstag den Tod wünschte; und wie dann eine andere weise Frau den bösen Wunsch abwandelte: nicht sterben sollte Dorn- röschen, sondern hundert Jahre lang schlafen. Das tat das Königskind dann auch, und mit ihm schliefen alle im Schloss, bis ein Prinz kam und mit einem ganz leisen Kuss alle aus dem Schlaf schreckte. Alle - auch den Küchenjungen, von dessen Geschichte bisher viel zu wenig die Rede war. Denn natürlich haben nicht nur Königskinder, sondern auch Küchenjungen ihre Geschichte. Dieser Küchenjunge hatte eine besonders unerfreuliche: sein Chef, der Koch, ließ ihn immer nur Zwiebeln schneiden. Und nie schnitt der Küchenjunge dem Koch die Zwiebeln fein genug. Der Junge hatte schon einen Triefnase und rote Augen von der vielen Zwiebelnschneiderei, aber der koch kannte kein Erbarmen. „Bevor du die Zwiebeln nicht so fein genug schneidest, dass man sie mit der Zunge zerdrücken kann, bekommst du keine Kartoffel in die Finger“, pflegte er zu sagen, und machte Leute meinen, dass daher der Ausdruck „zwiebeln“ kommt, der soviel wie quälen heißt. Nun an jenem Tag, an dem Dornröschen fünfzehn wurde – der Küchenjunge hatte das Königskind übrigens noch nie gesehen, sein leben spielte sich in der Küche und in seiner Schlafammer ab -, an jenem Dornröschengeburtstag also war der Zeitpunkt gekommen, an dem der Küchenjunge es nicht mehr aushielt. Wenn er die letzten Wochen und Monate überblickte, dann sah er nicht als Zwiebeln, und wenn er sich die Zukunft vorzustellen versuchte, dann war da wieder nur ein Zwiebelberg. Und so tat der Küchenjunge etwas, was zu Dornröschens Zeiten höchst ungewöhnlich war – er protestierte. Als der Koch unmutig die geschnittenen Zwiebeln musterte und gerade den Mund öffnen wollte zu seinem vielgesagten Satz: „Bevor du die Zwiebeln nicht so fein schneidest …“, da hob der Küchenjunge den Kopf von dem Zwiebelbrett. Seine tränenden Augen funkelten, die geschwollene Nase zuckte, und mit verschnupfter Stimme schrie er: „Nicht eine Zwiebel werd’ ich mehr schneiden, und wenn’s mich das Leben kosten sollte“. Es wurde mucksmäuschenstill in der Küche. Die Unterköche standen wie erstarrt – eine solche Unverschämtheit war ihnen noch nie zu Ohren gekommen. der Koch hob die Hand zur einzigen Antwort, die seiner Meinung nach möglich war, nämlich zu einer saftigen Ohrfeige – aber genau in dieser Sekunde stach sich irgendwo in einem Dachzimmer Dornröschen mit der Spindel in den Finger, und alle sanken augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Nun dauert ein hundertjähriger Schlaf wahrhaftig eine lange Zeit und man kann viel träumen unterdessen Schönes und Schlimmes, wie’s gerade kommt. Der Koch muss wahre Alpträume gehabt haben, in denen geschnittene Zwiebeln und protestierende Küchenjungen und bald auch protestierende Zwiebeln und zerschnittene Küchenjungen ihn bedrohten – jedenfalls, als er hundert Jahre später aufwachte und seine Hand immer noch zum Schlag bereit über dem Ohr des Küchenjungen hielt, da machte er aus dem Schlag einen freundlichen Klaps und sprach: „Lass uns gemeinsam Kartoffeln schälen, mein Freund.“ Übrigens waren Koch und Küchenjunge und alle anderen auch inzwischen beträchtlich gealtert, und der ergraute Küchenjunge und der weißhaarige Koch vergaßen das Zwiebel- problem ganz über der Hochzeit, die das hundertfünfzehnjährige Dornröschen bald darauf mit seinem Prinzen feierte. Höchster Luxus im Haushalt Hellmut Holthaus Der Erste sagte: „Ich habe eine automatische Waschmaschine angeschafft. Sie war natürlich teuer, aber wenn auch die Frau verdient, kann man sich das leisten. Meine Ottilie ist Verkäuferin bei Gebrüder Weitersberg. So ein Gerät gehört in eine moderne Familie. Man muss mit der Zeit gehen.“ „Auch meine Frau“, sagte der Zweite, „ist berufstätig. Sie ist Buchhalterin bei Tiefbau-Strack und bringt sogar mehr Geld mehr heim als ich. Wir haben jetzt eine automatische Teilerwaschmaschine gekauft. Hinein mit dem Geschirr und es ist schon alles sauber und trocken. Damit fällt eine der leidigsten Hausarbeiten weg. Eine großartige Erleichterung.“ „Gewiss“, nickte der Dritte. „Aber wenn man schon anfängt mit der Automation des Haushalts, muss man sie auch konsequent zu Ende führen. Das haben wir uns gesagt und die elektrische Traumküche erworben. Darin ist alles enthalten: Teilerwäscher, Waschautomat, Schnellgrill, Mixer, Kaffeemühle, Abfallschlucker und noch verschiedene andere. Wenn Erna aus der Praxis nach Hause kommt, drückt sie nur ein paar Knöpfe.“ „Allerhand. Der reinste Luxus, aber das muss ja fast unerschwinglich sein?“ „Ich habe ein schönes Gehalt“, antwortete der Dritte, „und meine Frau ist Zahnärztin. Auf diese Weise können wir gut nachkommen mit den Raten.“ „All diese Maschinen“, sagte der Vierte, „mögen bescheidenen Ansprüchen genügen, gegen unseren Haushalts-Super sind sie der reinste Murks. Wir, meine Herren, haben die vollautomatische Universalhauswirtschaftsmaschine Prodigo, eine Luxusfabrikation von Fabricator Mundi. Das Komfortabelste und Perfekteste, was es überhaupt geben kann, ein Wunderwerk. Ihr solltet diese Maschine einmal in Tätigkeit sehen! Sie ist unvergleichlich, unübertrefflich, wäscht, plättet, macht sauber, putzt Fenster, räumt auf und kocht.“ „Das ist ja wohl nicht möglich!“ „Oh, sie kann noch mehr: Betten machen, nähen, stopfen, flicken, stricken und sterilisieren.“ „Kaum zu glauben. Es gehört ein Spezialstudium dazu, so eine Maschine zu bedienen?“ „Gar kein Studium. Man schafft sie an und kümmert sich im nichts, sie schaltet sich selbsttätig an und aus, je nach bedarf. Und das Wunderbarste ist, sie stellt ihren Arbeitsplan selber auf und erledigt die verschiedenen Arbeiten in der zweckmäßigsten Reihenfolge und Kombination. Sie hat ein Elektronenhirn. Das ermöglichst es ihr auch den Kindern bei den Schularbeiten zu helfen. Sie leistet überhaupt auch Vorzügliches in der Kindererziehung.“ „Was? Du musst ja der reinste Krösus sein, dass du dir eine solche Maschine leisten kannst. Die müssen wir sehen.“ „Kommt alle mit, ich führe sie euch vor.“ Die Herren tranken aus und gingen zum Hause des Vierten. Da stand die Maschine und wusch gerade Spinat. Sie hatte eine Schürze um, hieß Ursula und war die Hausfrau. Eine Frau, die nicht Geldverdienen ging und den ganzen Tag zu Hause war. „Das“, riefen die drei „ist allerdings der höchste Luxus.“ Die Universalhauswirtschaftsmaschine lächelte. Lächeln konnte sie wahrhaftig auch. (Krökus: Lydischer König um 560 – 548 v. Chr., dessen Reichtum sprichwörtlich war; Fabricator Mundi: Schöpfer der Welt) Wo liegt die Weihnachtsinsel? Nicht etwa im hohen Norden, wo die Rentiere leben, sondern mitten im Indischen Ozean, rund zweieinhalb Flug Stunden von Singapur entfernt. Unterwegs mit seinem Schiff Royal Mary entdeckte Kapitän William Mynors die Insel am Weihnachtstag 1643 und nannte sie Christmas Island. Zwei Drittel der Insel stehen unter Naturschutz. Bei Wassertemperatur von 27 Grad Celsius und optimalen Sichtweiten bieten sich phantastische Einblicke in die Unterwasserwelt. Haie, tropische Fische und Delfine lassen sich beobachten. Die Hauptattraktion ist hier allerdings die große Wanderung der etwa 120 Millionen rötlichen Weihnachtsinsel-Krabben. Heiß und würzig Im Dezember haben Punsch, Glühwein und -most sowie Jägertee Hochsaison. Der Jägertee ist ein heißes Getränk, das aus Schwarztee und Rum besteht und eine typische österreichische Spezialität ist. Österreichisch ist auch der Glühmost, der aus Apfel- oder Birnenmost mit Zutaten wie im Glühwein hergestellt wird. Die Idee, den Wein mit Anis, Nelken Orangen- und Zitronenschalen oder Zimt zu würzen, hatten bereits die alten Griechen. Den Punsch brachten die Engländer im 17. Jahrhundert aus Indien nach Europa. Er wurde rasch zum Modegetränk. Angeblich brachte Wolfgang Amadeus Mozart den Punsch nach Österreich. Er lernte das wärmende Heißgetränk auf einer seiner Englandreisen kennen. Zu Mozarts Zeit wurde Punsch in Kaffeehäusern und Bällen getrunken und galt als äußerst mondän. Warum sagen wir nicht einszehn und zweizehn? Zehn, „einszehn“, „zweizehn“, dreizehn. Falsch! Während ab dreizehn unsere Zahlenfolge einem eindeutigen Muster folgt, haben wir für „einszehn“, „zweizehn“, mit elf und zwölf - auf den ersten Blick nicht ganz logische - eigene Bezeichnung gefunden. Auf den zweiten Blick handelt es sich dabei um eine Mischung zwischen zwei in unserem Alltag weit verbreiteten Zahlensystemen. Während wir uns beim Geld oder bei Maß- und Gewichtseinheiten auf das Zehnersystem konzentrieren, basiert die Gradeinteilung der Erde, der Kalender und die Uhr auf dem Zwölfersystem. Anhänger des Zwölfersystems befürworten eigene Zahlwörter bis zwölf, Befürworter des Zehnersystems setzen sich in allen übrigen Zahlenbezeichnungen durch. Hier gibt es eine Art Kompromisslösung mit elf und zwölf anstelle von „einszehn“ und „zweizehn. Die deutsche Sprache ist kein einfaches Wesen. Sie ist zumindest dreimal so mannigfaltig und mehrstimmig wie manche andere Sprache. Sie wird ja nicht bloß in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz gesprochen. Sie ist auch im italienischen Südtirol, im Fürstentum Liechtenstein und im Großherzogtum Luxemburg zur Amtssprache geworden. Außerdem lebt sie noch in vielen Regionen, z.B. in Teilen von Rumänien, von Belgien, von Dänemark, von Russland und von Polen, weiter. Die Presse 10.12.201, S.5 Denglisch im DUDEN Am 1. August jährte sich zum 100. Mal der Todestag von Konrad Duden. Die Karlsruher Online-Zeitung KA News hat das zum Anlass einer Umfrage unter ihren Lesern genommen, ob der heutige Duden, speziell mit den vielen darin enthaltenen Wörtern aus dem Englischen, noch im Sinne des Erfinders ist. Hier ist das Ergebnis: 17,40 Prozent – Ja, denn die deutsche Sprache entwickelt sich immer weiter. Sprachwandel ist Teil der Sprachentwicklung. 34,07 Prozent – Nein, Konrad Duden würde sich im Grab umdrehen! Englische Wörter gehören einfach nicht in ein Wörterbuch der deutschen Sprache. 44,85 Prozent – Dass gewisse englische Wörter ins Deutsche den Einzug halten, finde ich normal. Doch in den Duden gehören keine Fremdwörter, für die es ein deutsches Wort gibt. 3,68 Prozent – Dazu habe ich keine Meinung. Sprachnachrichten, Nr. 51, September 2011, S.16 Jeden Monat sterben zwei Sprachen Von den 6000 Jahren Sprachen der Welt werden in 100 Jahren die meisten verschwunden sein. Der niederländische Sprachwissenschaftler Frederik Kortlandt dringt auf eine rasche Dokumentation bedrohter Sprachen: Denn mit jeder Sprache verschwindet ein einzigartiger Wissens- und Kulturschatz. Die Bedeutung ausgestorbener Sprachen wie Ägyptisch, Sumerisch oder Phönizisch ist heute nur noch einigen Wissenschaftlern bekannt. Mehr als 1000 Sprachen sind allein in den vergangenen 400 Jahren verschwunden. „Dass Sprachen aussterben, ist eine normale Entwicklung, die an sich nicht besorgniserregend ist“, sagt Frederik Kortlandt, Professor für die vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Leiden. „Aber in 100 Jahren werden rund 90 Prozent der 6000 noch existierenden Sprachen ausgestorben sein. Mit den Sprachen verschwinden nicht nur Worte, sondern auch das Wissen um viele Dinge.“ Als Beispiel nennt er den Regenwald, dessen Pflanzen ohne die einheimischen Indianersprachen nur schwer zu nutzen seien: „Die Kenntnis um die Wirkung von Pflanzen, Früchten und Wurzeln ist oft nur an die Sprache gebunden.“ Kolonialisierung, Landflucht, die modernen Massenmedien, die Benachteiligung, oder Verfolgung von Minderheiten haben in den vergangenen Jahrzehnten das Sprachsterben beschleunigt. Alle 14 Tage verschwindet weltweit eine Sprache. Mehr als Hälfte der Menschen spricht eine der großen elf Sprachen der Erde wie Chinesisch, Hindi, Englisch oder Spanisch. 90 Prozent aller Sprachen werden von weniger als 100 000 Menschen gesprochen. Aufzuhalten ist die Entwicklung nach Ansicht von Kortlandt kaum. Doch der 52jährige mahnt zur Eile, so viel wie möglich der bedrohten Sprachen zumindest zu dokumentieren und zu erforschen, weil die Geschichte der Sprachen und ihre Beziehungen zueinander auch die Entwicklung von Zivilisationen erkläre. Der „Erfolg“ einer Sprache habe immer politische oder ökonomische Ursachen: Sprachen könne man weder fühlen noch sehen, so erklärt der Niederländer das mangelnde öffentliche Interesse an Sprachenschutz: „Überreste von Tieren und Pflanzen kann man sammeln, Akustik hingegen verfliegt. Wenn eine undokumentierte Sprache stirbt, ist sie für immer weg.“ Thomas Roser (Frankfurter Rundschau 9.4.1999) Schaukelspaß Los – stoß! Und nun flieg ich und bieg mich zurück – und vor, und der Wind saust im Ohr, und nun hin – und nun her, ich bin leicht – ich bin schwer! Und jetzt fliege ich, steige ich, steige ich auf! Und falle und falle – und wieder hinauf und mit Schwung! und wieder: Ich steige! O schau! Ich Vogel, ich Adler, ich Lerche im Blau! Und der Himmel ist nun ein Glockendach weit, und ich bin der Klöppel und schlage die Zeit! Und ich schlage die Eins, und ich schlage die Zwei, ich steige und falle und fliege vorbei! Und drei – bam – bom! Und vier – ich komm! Und fünf – dang – ding! Und sechs – ich spring! Ding – dong – dang längelang auf die Nas ins Gras. (Ursula Wölfel) Erfindung einer Sprache Man ruft zehn Nummern durch den Lautsprecher, die zehnte ist seine. Straat fühlt weder Angst noch Hoffnung. Er tritt aus der Reihe, taumelt zwischen Rücken und Gesichtern bis zum Ende seines Blocks, schwenkt nach rechts und geht mit mühsamen Schritten auf den Mann zu, der ihn aufgerufen hat und der auf einem Podium steht, vor sich ein Pult mit Papieren und ein Mikrofon. Es ist April, im Jahr vierundvierzig. Straat, der zehnte in der Reihe, die sich aufstellt, mit dem Gesicht zur Wand, ist zum Sterben müde, obwohl es früh am Tag ist, obgleich er so jung ist. Der Himmel, in den er sieht, wenn er den Blick über das Dach des Wachhauses hebt, ist niedrig und nass. Ein Stück unter den Wolken entlang, ein Stück um die Erde herum, liegt Holland. Von dort hat man Straat hergebracht, mit fünf anderen, vor hundert Tagen, vor langer, langer Zeit. Warum? Damit er schwitzt, damit er friert, damit er Steine trägt, Prügel kriegt, im Dreck liegt, auf Brettern schläft, faules Gemüse frisst und endlich aufhört zu sein. Aber vorher, noch atmend, noch blickend, soll er vergessen, wer er war. Er hat es auch schon fast vergessen. Undenkbar, dass es dort, unter dem Himmel entlang, noch immer den Ort gibt, an dem er geboren wurde, Erde und Wasser, die Eltern, die Abende, den anderen Geruch der Mädchenklasse, die Geräte hinter der gläsernen Schranktür, die Physik. Sechs Semester davon, undenkbar. Denn das Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt ja nicht mehr. Gilt nicht für die, die mit den Steinen über die große Treppe laufen, unter den Knüppeln, vor den Visieren, von Dunkelheit zu Dunkelheit. Sechs Physikstudenten, fünf sind hin. Der letzte, zum Sterben müde, ist Straat. Und er geht an diesem Tag nicht in den Steinbruch, weil seine Nummer aufgerufen wird. Zehn Mann, wohin aber gehen sie? In den Bunker? Ins Revier? Vornweg läuft ein Kapo in weißer Jacke, der führt sie in die Küche. Haus aus Stein, innen gekachelt. Sechs blitzende Kessel, darin wird die stinkende Suppe gekocht. Aber wegen der Suppe holt man sie nicht. Man holt sie wegen der Kartoffeln. Der Kommandant veranstaltet einen Kameradschaftsabend. Die Posten, die Totschläger, die Zahlmeister, die Aufseher, die Materialverwalter, die Folterer, die Schreibstubenkräfte, der Arzt sitzen bei solchem Anlass an langen Tischen gemütlich beisammen. Und der Abend ruht auf drei Säulen: erstens Kameradschaft, zweitens Bier, drittens Schweinebraten mit Kartoffelsalat. Deshalb stehen zehn Schemel in der Lagerküche, zehn Körbe mit Kartoffeln daneben, zehn Schüsseln für Abfall davor, ein Metallkübel in der Mitte, und auf einem der Schemel hockt Straat. Es ist warm und still in der Küche. Der nahe Steinbruch ist weit weg. In einem Verschlag neben der Tür sitzt ein SS‑Mann und liest. Nur der Kapo stellt sich mal zu den Kartoffelschälern und sieht ihnen zu. Keine Bosheit, fachliches Interesse. Dennoch beginnen Straats Finger zu zittern, er ist nicht geübt, die Schalen werden zu dick, es geht zu langsam im Schatten des Kapos, der ihm auf die Hände blickt. Der geht weg und kommt wieder. Straat arbeitet hastiger, aber es hilft nichts, schon hört er die Frage: "Was hast du denn früher gemacht, du?" "Student", sagt Straat und sieht nicht hoch und hört nicht auf, mit flatternden Händen zu schälen. Doch gleich wird er einen Tritt kriegen. Der SS‑Mann hinter der Scheibe wird von seinem Buch aufblicken. Und dann? Der Kapo sagt aber nur: "Aus mit Studieren, was?" Mittags kriegen sie eine Schüssel dampfende Suppe, von oben, wo ein paar Fleischfasern schwimmen. Dann eine zweite Schüssel, voll bis zum Rand. Straat lehnt draußen an der Wand des Küchengebäudes mit all der Suppe im Skelett, ruhig. Plötzlich kein Hunger mehr. Nicht der Steinbruch. Kein Geschrei. Entfernt, unter dem elektrischen Zaun, wo niemand zu laufen hat, entdeckt er einen Schimmer Grün, und er erinnert sich: Man hat April. Der Kapo beobachtet ihn und schlendert heran und fragt: "Was hast du denn studiert, Mann?" "Physik." "Verstehe", sagt der Kapo im Ton eines Eingeweihten. Nachmittags hat Straat weniger Angst, wenn der sich neben ihn stellt. Ein bisschen Sonne fällt schräg in die Küche, die Kartoffeln plumpsen ins Wasser, das Stammkommando, in weißen Schürzen, schneidet Brot für den nächsten Tag, wer kann glauben, dass jetzt hier und da einer stirbt, im Sand, nicht weit ab. Der Kapo steht wieder bei Straat und hat ein Bedürfnis, sich mitzuteilen. "Verflucht, wenn ich hier rauskomme", sagt er, "nach dem Krieg, dann gehe ich nach Persien." Der Kapo hat nämlich, erzählt er Straat, einen Bruder in Persien, der ist gerade noch rechtzeitig weg, neununddreißig, und jetzt sitzt er da und ist ein großer Geschäftsmann, und der Kapo sitzt hier und ist ein Idiot. "Du bist Holländer", sagt der Kapo. "Was meinst du, ist Persien gut?" "Bestimmt gut", sagt Straat. Er schält und schält, nur schält er nicht mehr so schnell. Der Kapo, im weichen Nachmittagslicht, nickt wie jemand, der sich verstanden fühlt, und kommt ins Seufzen. "Schade nur um die Zeit, die schöne Zeit. Wenn man hier wenigstens Persisch lernen könnte." Er blickt bekümmert, redliche Kumpelfalten im Gesicht, ein Mann nahe Vierzig und ausreichend ernährt, verglichen mit den Ruinen, die da im Kreis sitzen, das Schicksal hat ihn geworfen und dann erhoben, aber angeschissen ist er doch. Ja, ja, mein Lieber. Straat hört sich plötzlich sagen: "Ich kann Persisch." Der Kapo sieht ihn aus blassen blauen Augen lange an, erst ungläubig, dann zweifelnd, dann beinahe zärtlich. "Du kannst Persisch?" Straat nickt mit starren Zügen. "Komm mit." Der Kapo rennt vor, Straat folgt ihm stolpernd in den Büroverschlag. "So, jetzt sag mir mal, woher du Persisch kannst." Es gibt schon keinen Rückweg mehr für Straat. Mit einem Kapo macht man keine Witze, schon gar nicht, wenn man nur noch einen Stoß braucht, um zu fallen und nicht mehr aufzustehen. Straat will auch keinen Witz machen, er will nur nicht mehr in den Steinbruch, wo er verrecken wird, er will in der Küche bleiben, wo er wie ein Mensch auf einem Schemel sitzt und Kartoffeln schält und wo er Suppe kriegt. Er hat nur Angst, dass seine Stimme versagt, die verlässt ihn aber nicht, die ist nur sehr leise. Er sagt: "Ich war in Persien, vor dem Krieg." "Mensch, weißt du, was dir passiert, wenn das nicht stimmt?" Straat hat soviel Schreck im Blick, dass der Kapo sicher ist, der weiß, was ihm blüht. "Los, was heißt Guten Tag?" "Dalam", sagt Straat. "Und Scheiße?" Straat überlegt zu lange, der Kapo wird gleich ungeduldig. "Es muss doch ein Wort für Scheiße geben." "Tupa", sagt Straat. "Tupa", wiederholt der Kapo ergriffen. Dann sagt er: "Jetzt schälst du um dein Leben." Soweit, was sie reden. Es bewirkt viel. Zum Beispiel, dass der Küchenkapo Battenbach den Rottenführer Roeder abfängt, der nach ausgedehnter Tischzeit wieder erscheint. Er stellt ihm dar, dass er seit langem einen Mann mehr im Kommando brauche, nie hätte der Richtige sich gefunden, aber jetzt sei ihm jemand aufgefallen durch besondere Anstelligkeit. Der Rottenführer nickt zu dieser Rede. Er hat auch nichts dagegen, sich einen so hervorstechenden Mann einmal anzusehen. Battenbach hinter sich, stelzt er zu den Kartoffelschälern hinüber und betrachtet sich den halbverhungerten Holländer, vormals Physikstudent, sechs Semester lang, aber was interessiert das Roeder. Was den interessiert, das sieht er schon, und zwar sieht er, dass dieser Mann nicht einmal ahnt, wie man Kartoffeln schält, so verzweifelt er sich auch anstrengt. Aber darauf kommt es nicht an, weil der Rottenführer zweimal die Woche ein Stück Wurst mitnimmt, sonntags einen Braten und immer mal einen Würfel Margarine. Das alles kommt von Battenbach. Also nickt Roeder ein zweites Mal und geht wieder in seinen Verschlag zurück und schreibt Namen und Nummer auf einen Zettel. Der gelangt später am Tag zur Arbeitsstatistik. Von dort zum Arbeitsdienstführer. Und am nächsten Morgen, der feucht über den Appellplatz steigt, kehrt Straat als einziger von zehn Kartoffelschälern in die Küche zurück, wo Battenbach ihm freundlich auf die Schulter haut. Denn Straat ist nun Battenbachs Mann. Der soll nicht zu Knochenasche verbrannt werden, der kriegt Suppe und Brot, damit er wieder hochkommt. Um so einen Kopf ist es schade, sagt sich Battenbach und reibt sich die Hände, weil man ihn zwar eingesperrt hat, wegen Zuhälterei, unpolitisch, aber dass er nun Persisch lernt, das verhindern sie nicht. Das kann auch Roeder nicht wissen, der die ersten Tage um Straat herumstreicht und sich etwas zu denken versucht, das kann er nicht wissen, dass den satten Kapo und den hungrigen Holländer eine besondere Sprache verbindet. Aber dass es diese Sprache gar nicht gibt, das kann selbst Battenbach nicht wissen. Das weiß nur Straat. Er allein bestimmt über Regeln und Wörter. Wie viele Wörter wird er brauchen, an wie vielen Tagen? Mittags, sobald der Rottenführer Roeder zum Essen weg ist, ruft Battenbach Straat in die Schreibstube und setzt sich gesammelt hinter den Tisch, vor sich geglättetes Papier und einen Bleistiftstummel, bereit, sich Persisch anzueignen. Am ersten Tag will er auch Allgemeines über Persien hören. Straat lässt es dort heiß sein und lässt die Frauen schön und die Armen arm und die Reichen reich sein. Battenbach ist befriedigt, so hat er es sich vorgestellt. Er selbst kommt aus der Vergnügungsbranche, gibt es das auch? Puffs ? Straat weiß nicht gleich, Battenbach macht sich verständlich. Ja, natürlich, unbedingt, sagt Straat. Und Battenbach nickt, es ist, wie er dachte. Aber jetzt will er ein paar Wörter wissen: Schnaps, Polizei, danke, bitte, Tisch, Stuhl, Bett, Kantine, Kotelett. Straat darf nicht zögern, nicht am ersten Tag. Er nennt alles der Reihe nach: alan, monato, laps, nam, toki, sol, oltok, runidam, kotelett. Das ist ein Leihwort, sagt Straat, das ist international. Mit schwerer Hand schreibt Battenbach sich alles auf. Abends, unter der zerlumpten Decke, an seiner Schulter die Schulter des Nachbarn, der mit ihm die Pritsche teilt, eine lähmende Mattigkeit hinter den Augen, abends sucht Straat nach Wörtern, vor allem aber nach einem System, mit dessen Hilfe er sie sich merken kann. Der schwere Atem der Erschöpften umgibt ihn, der Mann neben ihm stöhnt im Schlaf, Straats Lippen formen Bedeutungen, die nie jemand gehört hat: or, tal, mel, met, meb, das heißt: ich, du, er, sie, es. Battenbach schlägt ihm die Faust zwischen die Augen, tritt ihn vor das Schienbein, stößt ihn gegen die Wand, Battenbach zittert vor Wut und Enttäuschung. Es ist wegen runidam, dem persischen Wort für Kantine. Straat hat es am ersten Tag erfunden und nun, wo Battenbach ihn danach fragt, hat er es vergessen. Und Straat wusste, dass ihm etwas entfallen war, aber Battenbach hat ihn keinen Blick auf seinen Zettel werfen lassen und hat zwei Tage gewartet und hat neue Wörter notiert und hat sie sich buchstabieren lassen, nur damit Straat ihm nicht über die Schulter sieht, und jetzt hat er ihn zwischen den Fäusten und wird dieses holländische Schwein überführen, noch ehe die Mittagspause vorbei ist. Zehn Jahre ist es her, schreit Straat verzweifelt, seit er in Persien war, er war noch ein Kind und runidam ist ein sehr seltenes Wort, es ist ihm nur zufällig eingefallen, Kantine heißt eigentlich mardam, aber wenn er nicht Papier und Bleistift kriegt, kann er seine Erinnerung nach so langer Zeit nicht auffrischen. "Ich lasse dich krepieren", sagt Battenbach. Dann schweigen sie. Straat lehnt an der Wand und sieht den Kapo mit bangen Augen an, und der starrt auf die Stirn des Jungen, über die sich grau die Haut spannt, er sieht die Ader in der Schläfe klopfen, verflucht, wenn er dem in den Kopf blicken könnte. Ein Zweifel schleicht sich in sein Misstrauen, ein Zweifel, dem er nachgeben möchte. Denn schon hat sich in wenigen Tagen die Sprache in sein Gemüt gehakt. An den leeren Abenden, an denen er von seinem Fenster über den Appellplatz sieht, erfüllt von einem stumpfen Hass auf die Welt, heimgesucht von Erinnerungen an Weiber, ist er, mit Hilfe der schwierig zu erlernenden persischen Vokabeln, mit einem Mal ein Mann geworden, der die Stunden nutzt und weiterdenkt und der seine geheimen, weit reichenden Pläne hat. "Junge, wenn du mich betrügst. Wenn du nicht Persisch kannst", sagt Battenbach, und die Ungeheuerlichkeit des Gedankens lässt seine Stimme schwanken. "Ich kann", sagt Straat. "Ich kann Persisch. Es ist nur lange her." Fortan verfügt Straat über Bleistift und Papier, Reichtümer, für die man in den Bunker kommen kann. Wenn sie ihn damit erwischen, weiß Battenbach von nichts. Straat verbirgt den Bleistift im Schuh und das Papier in der Mütze. Über dem Hirn, zwischen dem geschorenen Haar und dem Mützenstoff trägt er die Sprache. Beim Appell muss er aufpassen, vor allem beim Kommando "Mützen ab". Die Sprache kann herausfallen. Sie kann entdeckt und ihm weggenommen werden. Dann ist er, was immer geschieht, verloren, seine Wächter oder sein Schüler werden ihn erschlagen. Allabendlich verbirgt er auch Brot oder ein paar Kartoffeln in seiner Kleidung, er bringt sie einem Pritschengenossen, einem Elektriker aus Groningen, Steinbruchkommando, der wiegt noch neunzig Pfund. An seiner Sprache arbeitet Straat nachts. Er verdreht Buchstaben und Silben, so erfindet er Wörter. Die besonderen deutschen Einrichtungen, die ihn umgeben, gehen in seine Sprache ein. Wenn er ihnen einen Klang gibt, der ihn fort trägt, nicht nach Persien, aber in eine fremde und stille Welt, in solchen Momenten entkommt er ihrer furchtbaren Bedeutung. Rium, rema, matori, muro, kemato, ikre, tame, muir, rotam, kretum, orite, mekor, kumo, emati, katu, meri, tamku, taritora. Das alles gewinnt er aus Krematorium. So geht es mit Arrest und Baracke, mit Steinbruch und Stacheldraht und selbst mit Battenbach, seinem Beschützer, der auf diese Weise aus sich selbst lernt. Aus dem fetten, schwarzen Rauch wird hacur, der Wind. Straat schreibt sich seine Wörter im Dunklen auf sein Papier, so klein wie möglich. Er versteckt das Papier in der Mütze und packt die Mütze unter den Strohsack. Er erfindet nicht mehr als fünf Vokabeln in der Nacht, dreißig die Woche, das reicht auch für Battenbach. Den Sonntag lassen sie aus. Straat ißt zwei Teller Suppe an jedem Tag, er wird kräftiger, er bemerkt, wie es Sommer wird, von entfernten Feldern kommt ein Geruch von blühender Lupine. Ein Holländer aus der Arbeitsstatistik wartet in der Latrine auf ihn. "Was machst du mit dem Kapo in seinem Verschlag jeden Mittag?" "Was geht es dich an", sagt Straat misstrauisch. Der andere sieht ihn nachsichtig an. Er sagt: "Du bist nicht zufällig zum Kartoffelschälen gekommen. Wir haben dich dazugeschrieben, weil du der letzte von den Studenten warst. Damit du dich einen Tag erholen kannst." Er macht eine Pause, er sagt: "Und dann hat Battenbach dich angefordert. Warum?" Stille, bis auf das Gesumm der grün schillernden Fliegen. Und Straat sieht in den Augen des anderen nicht nur Verdacht, sondern Angst und Mitgefühl, aber auch Unnachsichtigkeit und Härte, er ahnt in diesem Augenblick, dass ihn die Sprache, die nur er kennt, nicht nur schützen, sondern auch verderben kann, weil sie ihn über seinen Nächsten erhebt. Aber er fürchtet sich, sein Geheimnis zu verraten, auch dem nicht, der sein Freund sein kann, denn wer ist wirklich sein Freund? Am ehesten vielleicht der Junge aus Groningen, auf der Pritsche neben ihm, dem er Brot, Kartoffeln und Mut mitbringt, doch auch den weiht er nicht ein. Sommer vierundvierzig. Die Silberschnüre der Bomber ziehen sich über den deutschen Himmel. Straat macht ein Wort für Leben, er nennt es: sawal. Und ein Wort für Apfelbaum, zum Spaß, das heißt pollimolli. Nicht Battenbach zuliebe. Der lernt Zahlen und Redewendungen und Gegenstände aus der Vergnügungsbranche, auf eigenen Wunsch. Wenn Battenbach Launen hat, erfindet Straat Rachewörter. Eins heißt: suliduladornatlam. Battenbach will sich weigern, er braucht, sagt er wütend, ein praktisches Persisch für den Alltag. Aber Straat erklärt ihm, dass so die landesübliche Begrüßung lautet, man kommt durch keine Tür in Persien ohne suliduladornatlam. "Tupa", sagt Battenbach wie ein alter Perser. Es sterben übrigens, während Straats an der Physik geschulter Verstand, nicht mehr von Hunger gelähmt, nicht mehr von Angst betäubt, das Gerüst einer Sprache ersinnt, ringsum täglich an die fünfzig Männer, Woche um Woche, ihr Fleisch verbrennt, ihr Hirn verzischt, ihre Seelen fahren in die Himmel ihres Glaubens, vorher hat ihr Mund vielleicht ein letztes Wort gesprochen, das sich auf einen langen Weg macht, durch Menschen, durch Länder, am Ende, mag sein, kommt es zu denen, die darauf warten. Straats Sprache wird keinen anderen erreichen als Battenbach, sie wird keine Botschaft tragen, sie stellt nichts dar als sich selbst, sie rettet den einen, der sie ausdenkt, und einen zweiten, der sie mühsam lernt, einen krummen Hund, keinen Bluthund, macht sie sanfter. Sonst ist sie unnütz. Aber Straat braucht die Phantasie der großen Entdeckungen, den Mut der großen Hypothesen, die Mühe der großen Versuche für seine Sprache. Und Battenbach, Küchenkapo, Zuhälter aus Hamburg, braucht die fleißige Einfalt, mit der er vor langem in einer Schulbank saß. An einem Augustmorgen, sein Gesicht ist fleckig, die Zunge quillt ihm aus dem Mund, trägt man Straat vom Appellplatz, wo er hingestürzt ist, ins Revier. Drei Tage liegt er in Fieberträumen, auf Stroh, auf dem Fußboden, die Pfleger hören ihn ein wirres Holländisch reden, aber er stammelt auch unverständliche Laute, Wortketten ohne Sinn. Dann ist abzusehen, dass er durchkommen wird, er ist kräftiger als andere, aber ist er noch bei Verstand? Der Lagersanitäter geht mit der Spritze durch die Reihen, mit Luft heilt er alle Schmerzen, wer tot ist, ist nicht mehr krank. Wenn er Straat schreien hört, wird er ihn für verrückt erklären, er wird seine Nummer notieren, dann wird er ihm den Ärmel hochschieben und nach der Vene suchen. Der Pfleger zieht Straat an den Füßen in einen Nebenraum, da liegen die Gestorbenen, da hört ihn niemand, da sucht ihn niemand. Da kommt Straat zu sich. In einem warmen Sonnenlicht, das durch zwei Fenster herein scheint, sieht er seines gleichen, erstarrt, in den lächerlichen Verrenkungen des letzten Augenblicks, Pupillen, für immer fixiert, Münder, aufgerissen ohne Schrei. Lebt er denn selbst? Er hat eine Stimme, mit der kann er heulen wie ein Wolf, und er kann Wörter mit ihr aussprechen, über die sich jeder wundert, nur seine schweigenden Gefährten nicht. Gehört er also zu ihnen? Ehe der mit Zinkblech ausgeschlagene Leichenwagen kommt und rückwärts an die Fenster heranfährt, trägt man Straat, der im Fieber um sich schlägt, in ein Bett. Anderntags ist er ruhiger. Der Pfleger, ein Deutscher, betrachtet ihn kopfschüttelnd. "Kumpel, was hast du bloß für ein seltsames Zeug geschrieen. Wir dachten, dich hat es erwischt." Und er tippt sich gegen die Stirn. Straat ist sehr schwach, er vergisst alle Vorsicht. "Es ist Persisch", sagt er. "Aber es ist kein richtiges Persisch. Ich denke es mir aus." "Was denkst du dir aus?" "Eine Sprache", sagt Straat. Also haben sie doch einen mit einer Macke gerettet, so scheint es dem Pfleger, das Schicksal ist blind, große Geister gehen kaputt, dieser Holländer hat Glück. Hat überhaupt Glück, denn der Küchenkapo lässt seine Beziehungen spielen und schickt ihm mehrmals einen Kanten Brot ins Revier. Straat erholt sich, und als ihn der Pfleger noch einmal nach seiner Sprache fragt, gibt er vor, sich an nichts zu erinnern. Und auch den Schreck verbirgt Straat, den Schreck darüber, dass er seine Mütze verloren hat. Er kommt in seinen Block zurück, ein von den Toten Auferstandener, er sieht neue Gesichter, auch auf seiner Pritsche. Er wartet auf den Blockältesten, der drückt ihm die Hand. "Komm mit, ich hab was für dich." In der Blockführerstube ist eine Diele gelockert, darunter holt der Blockälteste einen schmutzigen Fetzen Stoff hervor, nein, keinen Stofffetzen, eine Mütze, Straat dreht sie in den Händen und fühlt das Papier, auf dem seine Sprache steht. "Der neben dir lag, der Elektriker, hat sie vom Appellplatz mitgebracht." "Wo ist er?" fragt Straat. "Er ist nach dir krank geworden", sagt der Blockälteste. "Er kommt nicht wieder." Der Blockälteste hat einen pfeifenden Atem, als wäre etwas in seiner Nase zerbrochen. Er sagt: "Bring auch in Zukunft was aus der Küche mit. Es sind viele da, die es brauchen." So geht alles weiter. Straat tritt wieder im Küchenkommando an, in Battenbachs blassblauen Augen leuchtet Genugtuung, Battenbach lässt keinen umkommen. Mittags, wenn der Rottenführer Roeder gegangen ist, setzt er sich hinter den Tisch, den Bleistiftstummel in der Hand, im Gesicht die Demut des Lernenden, lernen heißt lifu. Und Straat schmuggelt Papier und Bleistift und Brot und Kartoffeln durch das Gebrüll der Appelle, und abends, die Schulter an der Schulter eines neuen Nebenmannes, ersinnt er Redewendungen und Sätze und konstruiert eine Konjugation und eine Deklination. Nicht mehr nur für Battenbach, dem das Pensum reicht. Jetzt ist es die Sprache selbst, die ihn treibt. Noch einmal droht ihm Entdeckung. Battenbach hat erfahren, dass ein Perser eingeliefert worden ist. Ein lebender Perser, Mensch. Zwei Tage lang streift Battenbach durch das Lager, mit Hilfe aller Tricks, die er kennt, und versucht, ihn zu finden. Dann hat er ihn, es ist aber kein Perser, es ist ein Inder. Einen weiteren Tag lang schimpft Battenbach. "Ein Drecklager ist das. Unter dem ganzen Gesocks haben sie nicht mal einen Perser." "Der Führer ist nur nicht so weit gekommen", sagt Straat tröstend. Und er denkt: Armer, verlassener Mann aus Indien. Es wird Herbst, und es wird Winter. Über den Appellplatz weht ein eisiger Wind und wirbelt über die gefrorene Erde den dünnen Schnee. Durch das Tor zieht eine Kolonne in Lumpen, unendlich langsam, Fuß vor Fuß, kommt aus anderen Lagern in dieses Lager, hat den Marsch noch überdauert und zieht nun ein in die Zelte, die von Drahtgittern umgeben sind, um still zu vergehen, nachts, unter hoch stehenden Sternen, tags unter schnell ziehenden Wolken, manchmal scheint die Sonne. Hinter dem Fenster des Küchengebäudes, dort ist es warm, probt Straat mit Battenbach eine erdachte Szene in Persisch. "Ich bin ein Herr aus dem Ausland. Ich bin Geschäftsmann. Darf ich mit der Dame tanzen? Ta muli asa okadir. Ta muli lem basarmelko. Neli ta ramadamda donga?" Ein Maitag wird kommen, an dem die Tore offen sind, an den Straßen blühen die Kastanien, wer lebt, geht, wohin er will. Straat wird nach Holland zurückkehren, er wird seine Physik zu Ende bringen, Lehrer werden. Er wird leicht ermüden sein Leben lang. Niemals mehr wird er etwas so Großes tun, wie er vollbracht hat, er hat eine Sprache erfunden, die er allmählich vergisst. Battenbach wird nach Persien gelangen, in das Kaiserreich Iran, verwundert über das seltsame Persisch, das man dort spricht. (Woflgang Kohlhaase, Silvester mit Balzac, 1977)