Universität Leipzig 21. Juni 2007 Institut für Slavistik Hauptseminar Spracherwerb Dozentin: Prof. Dr. G. Zybatow Referenten: Alexander Hering, Michael Rau Theorien des Zweitspracherwerbs 1 Kontrastivhypothese • wurde von Fries (1947) initiiert und von Lado (1957) weitergeführt • angelehnt an die behavioristische Spracherwerbsforschung • Kontrastiv bedeutet die Gegenüberstellung von zwei Sprachen um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ermitteln • Hauptaussage der starken Version: – identische Elemente und Regeln sind leicht und fehlerfrei zu erlernen (Strukturidentität) – unterschiedliche Elemente verursachen dagegen Lernschwierigkeiten bzw. Fehler (Strukturdi- vergenz) • das Übertragen von Wörtern der Erstsprache auf die Zweitsprache birgt Risiken: – es kommt zu so genannten „Interferenzen“oder „negativen Transfers“, wenn die Übersetzung nicht fehlerfrei möglich ist – das Gegenteil bildet der „positive Transfer“ • die Aussagekraft dieser Theorie ist wegen der Betrachtung der Sprache und nicht des Sprechens auf formale Aspekte begrenzt 2 Identitätshypothese • basiert bei auf Chomsky-Hypothese (jeder Mensch besitzt ein LAD) • deshalb ist jede Sprache zu jedem Zeitpunkt erlernbar • Erst- und Zweitspracherwerb verlaufen im wesentlichen gleichartig • für den Spracherwerb spielt es auch keine Rolle, ob bereits eine Sprache gelernt wurde oder nicht, denn alle natürlichen Sprachen folgen den gleichen universalen Prinzipien • diese Hypothese beruht auf dem Verständnis, dass der Zweitspracherwerb ein kreativer, kognitiver Prozess ist, in dem der Lerner systematisch Hypothesen über die Struktur der zu erwerbenden Sprache bildet, überprüft und revidiert. • Fehler werden als notwendige Entwicklungsstadien innerhalb des Lernprozesses angesehen • sie gelten als Beweis für einen aktiven, kreativen Aneignungsprozess • ihr Entstehen lässt sich u.a. auf Übergeneralisierung, Simplifizierung und Reduktion, also auf intralinguale Prozesse zurückführen 1 3 Interlanguage-Hypothese • erster Vorschlag von Corder 1967 Selinker prägt 1972 den Begriff „interlanguage“ • Grundannahme: – der Lerner bildet bei Zweitspracherwerb zunächst ein spezifisches Sprachsystem heraus (Inter- language) – diese Interlanguage beinhaltet Züge von Erst- und Zweitsprache, aber auch neue, unabhängige sprachliche Merkmale • diese „Zwischensprache“ zeichnet sich durch eine große Flexibilität aus • sie unterliegt nicht willkürlicher Gesetzmäßigkeit, sondern lernerspezifischen Prozessen, Strategien und Regeln. • Interlanguages werden nach Selinker durch 5 psycholing. Prozesse charakterisiert: – Language transfer, d.h einer Übertragung von Erst auf die Zweitsprache – Transfer of training, d.h. der Anwendung bestimmter Strukturmuster, die Aufgrund des benutzten Übungsmaterials erworben worden sind – Strategies of second language learning - Strategien für eigene Interlanguage-Regeln bilden, überprüfen, revidieren – Strategies of second language communication - Strategien als Hilfe in konkreten Kommunika- tionssituationen – Overgeneralization of target language material - korrekt erworbene Regeln werden in Bereiche übertragen, in denen sie nicht gültig sind • ein weiterer untersuchter Aspekt der Interlanguage-Hypothese ist die Fossilisierung • Fossilisierungen sind bei vielen Zweitspracherwerbern festzustellen • ab einem bestimmten Zeitpunkt kommt der Zweitspracherwerber bewusst oder unbewusst zu dem Schluss eine Sprache hinreichend zu beherrschen • er versteht und wird verstanden und vernachlässigt die Verbesserung seiner sprachlichen Fertigkeiten • werden fossilierte Strukturen beibehalten, kann es zu einem back-sliding kommen → früheres Stadium der Interlanguage 4 Monitortheorie • Begründer: Stephen Krashen • besteht aus 5 Hypothesen • Acquisition-Learning Hypothese: unbewusster Spracherwerb = bewusstes Sprachenlernen • Monitor Hypothese: – Monitor ist eine mentale Kontrollinstanz des Lerners – es wird in ihm das Wissen über die Zweitsprache gespeichert – er wird bei der Produktion zweitsprachlicher Äußerungen „aufgerufen“und „befragt“. • Monitor Hypothese: 2 – Es gibt 3 Typen für Monitor-Benutzer: ∗ Monitor-Unterbenutzer: sie überprüfen ihre Aussagen selten und produzieren sprachliche Äußerungen sehr zügig ∗ Monitor-Überbenutzer: sie überprüfen ihre Sprachproduktion sehr oft, was sich in langsamem und durch Pausen gekennzeichnetem Sprechen äußert ∗ Optimale Monitor-Benutzer: sie überprüfen ihre Sprachproduktion nur bei einem geeigneten Anlass, zum Beispiel wenn ihre Zeit es zulässt wie bei der schriftlichen Lösung von Aufgaben • Natural-Order Hypothese: – Lerner erwerben die Zweitsprache in voraussagbaren Sequenzen – natürliche Sequenzen sind unabhängig davon, was und in welcher Reihenfolge im Unterricht gelernt wurde (Morphem-Studien) • Input Hypothese: – Sprache wird über comprehensible input („verstehbarer“Input) erworben – Input sollte immer etwas oberhalb des schon Erworbenen liegen (I + 1) • Affective Filter Hypothese: – affektiver Filter stellt eine Art Barriere für den Lerner dar – affektiver Filter bezieht sich z.B. auf Motive, Bedürfnisse, Emotionen, Ängste, Gewohnheiten – ist dafür verantwortlich, was erworben wird 5 Ergänzungstheorie • eng mit den Namen Nold (1985) und Dimes (1992) verbunden. • in dieser Theorie werden diejenigen Elemente der Identitätshypothese, Interlanguage-Hypothese und Monitor-Theorie aufgegriffen, die als relativ gesichert gelten • weniger gesicherte Elemente werden ausgeblendet • beim Erst- und Zweitspracherwerb ist ein genetisch verankerter Sprachverarbeitungsmechanismus von Bedeutung • bei jedem Individuum bildet sich ein nichtspezifischer, allgemeiner Verarbeitungsmechanismus, der an jedem Spracherwerbsprozess beteiligt ist 6 Second Language Acquisition Support System (SLASS) • effektive Einbettung in soziale Interaktion → Kommunikation • praktische Anwendung theoretisch erworbener Kenntnisse über Zweitsprache • Beobachtung und Nachahmung • Schulung der sprachverarbeitenden Kognition • Experimentierfeld zur Bestätigung/Widerlegung der eigenen Hypothesen über Sprachproduktion • Kommunikation als Support für gesteuerten Spracherwerb (Lernprozess) • Kommunikation ist nicht Voraussetzung für Zweitspracherwerb • soziale Faktoren: Größe, Motivation, Einstellung zu Kultur und Sprache, kognitiver Stil, Intelligenz, soziale Klasse 3 7 Pidginisierungshypothese • Pidgin: reduziertes Abbild einer Fremdsprache, vereinfachtes Register • Reduktion erfasst Syntax, Tempussystem, Morphologie, Phonologie, Stilistik, Lexikon • Verwendung des P.: Handels- und Verkehrssprache bzw. Behelfssprache (ausreichend für kommunikative Bedürfnisse der Sprecher) • keine gesteuerten Lernprozesse (keine Lernmaterialien, kein Unterricht usw.) • Erwerb findet über Kommunikation statt 8 Theory of Social Factors • Mikroebene (Individuum)vs. Makroebene (Großgruppe)→ unterschiedliche Bedingungen für Zweit- spracherwerb • soziale Faktoren als Variablen, für den Erfolg oder Misserfolg in der Zweitsprache • soziale Faktoren auf der Mikroebene: – Social Factors: Dominance, Nondominance, Subordination, Assimilation, Acculturation, Preservation, Enclosure, Cohesiveness, Size, Congruence, Attitude, Intended Lenght of Residence in TLArea – Affective Factors: Language-Shock, Culture-Shock, Motivation, Egopermeabilitiy – Personality Factors: Tolerance for Ambiguity, Sensitivity to Rejection, Introversion/Extroversion, Self-Esteem – Cognitive Factors: Cognitive Development, Cognitive Processes, Imitation, Analogy, Generalization, Rote Memorization, Cognitive Style: Field Dependence, Category Width, Cognitive Interference, Monitoring – Biological Factors: Lateralization, Transfer, Infrasystems – Aptitude Factors: Modern Language Aptitude, IQ, Strephosymbolia – Personal Factors: Nesting Patterns, Transition Anxiety, Reaction to Teaching Methods, Choice of Learning Strategies – Input Factors: Frequency, Salience, Complexity, Type of Interlocutor – Instructional Factors: Goals, Teacher, Method, Text, Duration, Intensity • soziale Faktoren auf der Makroebene: – Ähnlichkeit/Unähnlichkeit von ethnischen Gruppen – makrostrukturelle Charakteristika von ethnischen Gruppen (Dominance, Non-Dominance, Sub- ordination) – Reaktionen von einzelnen Gruppenmitgliedern auf Kontakt mit einer anderen Gruppe (Assimilation, Acculturation, Preservation) – äußere Gruppenmerkmale (Größe) – strukturelle Reaktionen einer ethnischen Gruppe auf die Dominanz einer anderen (Enclosure, Cohesiveness) – Einstellung zur anderen Sprache und Ethnie und zum Verbleib im Einwanderungsland – politische, gesellschaftliche und ökonomische Strukturen • Individuum ist anpassungsfähig (Anpassungsdruck) • Großgruppe weniger anpassungsfähig (Kompensation des Anpassungsdrucks) • Möglichkeit der Isolation einer Großgruppe (ökonomisch, sozial, kulturell) → minimaler Zweitspracherwerb, wenn soziale Bedürfnisse innerhalb der Gruppe befriedigt werden • Theory of Social Factors nah an soziologischen Problemstellungen wie Subkultur, Milieu, Migration 4 9 Interaction-Model • Kommunikation dient der Automatisierung (Übungsmedium) • Kommunikation dient dem Spracherwerb (Lernmedium) • Kommunikation beinhaltet falsches Verstehen (Miscommunication) • Miscommunication macht Spracherwerb effektiv • Struktur: Nicht-Verstehen oder Teilverstehen • Kommunikationspartner eliminieren Fehlerquellen auf allen Sprachebenen • Feedback in Form von Kritik, Möglichkeit zur kritischen Einschätzung der Sprachkenntnis • soziale Variablen: Alter, kognitiver Stil, Affekt, Motivation, Einstellung, Geschlecht 10 Literatur 1. Bauer, A.: Pidgin- und Kreolsprachen, HSK 3, I 1987. 2. Dulay, H.,Burt M., Krashen, S.: Language Two, New York, Oxford 1982. 3. Ellis, Rod: The Study of Second Language Acquisition, Oxford 1994. 4. Gass, Susan M.: Input, Interaction and the Second Language Learner, New Jersey 1997. 5. Highfield (Hrsg.): Theoretical Orientations in Creole Studies, New York 1980. 6. Klein, Wolfgang: Zweitspracherwerb. Eine Einführung, Frankfurt am Main 1987. 7. Kuhs, Katharina: Sozialpsychologische Faktoren im Zweitspracherwerb. Eine Untersuchung bei griechischen Migrantenkindern in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1989. 8. McLaughlin, Barry: Theories of Second-Language Learning, UK 1987. 9. Merten Stephan: Wie man Sprache(n) lernt. Eine Einführung in die Grundlagen der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung mit Beispielen für das Unterrichtsfach Deutsch, Frankfurt am Main 1997. 5