www.sbv-fsa.ch Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband der Weg Sucht & Drogen 6/2010 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 1 Titelbild: Ein weisser Schriftzug auf schwarzem Untergrund inmitten der Seite. Wir verzichten auf ein Bild. Denn Sucht lässt sich nicht fassen. Sie hat zahlreiche Gesichter und keines. Sie ist kalt und hart, wo die Drogen vorher noch bunt und warm waren. Sucht ist abstrakt. Drogen sind konkret. Im Themenschwerpunkt des Heftes wollen wir uns ein Bild von Sucht und Sehbehinderung machen. Deshalb verzichten wir darauf, Sucht in einem Titelbild darzustellen. Editorial Warum ausgerechnet Sucht? 3 Sucht und Drogen Sucht – eine Krankheit unserer Zeit? 4 Eher Alkohol und Tabletten 6 Der Mensch, ein suchtanfälliges Wesen 9 “Kokain hat mir das Leben zur Sau gemacht.” 11 Der Sozialarbeiter 14 Aktuell: Die IV-Revision 6B Wir sind empört und sagen NEIN zur IVG-Revision 6B 16 Die 8 Massnahmen zur IV-Revision 6B 17 6. IV-Revision: das Vernehmlassungsverfahren 18 Schlechtes Beispiel 20 Nachrichten aus der Interessenvertretung 20 Schweiz Unser Zentralsekretär: ein Mann mit Geschichte 21 Der Verband und seine Mitglieder 24 Kurt Manz, ein Pionier in Graubünden 26 Deutschschweiz Veranstaltungen 27 Magazin Ich will Miss Handicap werden 28 Abbild einer Frau – Kandidatin an der Miss Handicap Wahl 29 Nachrichten aus der Welt der Elektronik 30 Gesprochenes Lexikon 31 Solsana-sur-Mer 32 Meinungen Zum Thema Interessenvertretung 34 Zum Leserbrief von Frau Götte 36 Impressum 39 J d W d s T s d j g V w d t d T s S S a 2 Inhalt 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 2 Warum ausgerechnet Sucht? Jean-Marc Meyrat Jahr für Jahr setzen wir uns zusammen und legen die Themen für die nächsten Ausgaben von “der Weg” fest. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns dabei ordentlich den Kopf zerbrechen, um Fragen und Ideen zu finden, die vielleicht nicht völlig neu sind, aber doch ein wenig aus dem üblichen Einerlei herausragen. Eines Tages sassen Naomi Jones und ich auf einer Terrasse in Bern. Nachdem ich mir die dritte Zigarette aus ihrer Schachtel “geborgt” hatte, meinte sie schmunzelnd zu mir: “Wie wäre es denn mit dem Thema Sucht, was meinst du?” Da ich meiner Kollegin aus der Deutschschweiz ja grundsätzlich jeden Wunsch von den Augen ablese, tat ich unverzüglich meine Begeisterung kund, zumal ich genau wusste, dass mir noch acht Monate Zeit zur Vorbereitung blieben. Wie jeder brave Schüler wartete ich bis zum letzten Moment, um mich mit diesem Problemkreis und mit der Frage zu beschäftigen, ob Sehbehinderte möglicherweise stärker durch Süchte gefährdet sind als andere Menschen. Nachdem ich die in dieser Ausgabe versammelten Texte gesichtet habe, komme ich nun jedoch erleichtert zum Schluss, dass dies eindeutig nicht der Fall ist: Zwar kann unsere Behinderung uns grundsätzlich fragiler und anfälliger machen, doch bleibt es in den allermeisten Fällen bei einer vorübergehenden Verwundbarkeit. Das ist doch sehr beruhigend, oder? Und es macht ein für allemal Schluss mit der Vorstellung, Blinde und Sehbehinderte verfielen leichter als andere irgendeiner Sucht, weil sie so manchen Genüssen in ihrem Leben hinterhertrauerten, was durchaus verständlich wäre. In Wahrheit sind wir genau wie alle anderen, nicht besser und nicht schlechter. Das nenne ich Integration! Doch seien Sie beruhigt, liebe Leserinnen und Leser: Über dieses Hauptthema hinaus finden Sie in diesem “Weg” – der letzten Ausgabe für 2010 – noch weitere Sujets, die weniger komplex, aber zum Teil sehr bewegend sind. Und zum Abschluss möchte ich es, zusammen mit meiner Kollegin Naomi Jones, nicht versäumen, Ihnen allen jetzt schon schöne Feiertage und ein gutes neues Jahr zu wünschen. Im Januar 2011 sehen wir uns wieder und freuen uns auf das Jahr des hundertjährigen Bestehens unseres SBV. ̇ 3Editorial Jean-Marc Meyrat, Redaktor “clin d’oeil”. (Foto: SBV) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 3 Sucht und Drogen 4 Sucht – eine Krankheit unserer Zeit? Leila Bahsoun Am Küchentisch genehmige ich mir in aller Ruhe “meinen” Kaffee. Gerade diese kurzen Augenblicke sind für mich ein Hochgenuss, wenn ich mich abseits aller Alltagshetze ganz meinem geliebten Zaubertrank widmen kann. Im Grunde eine banale kleine Stärkung, weit entfernt von der beängstigenden Welt der Drogen. Und dennoch … Was ist das: eine Sucht? Lange Zeit verstand man unter “Sucht” lediglich die Abhängigkeit von gewissen Stoffen. Heute weiss man jedoch, dass dies nicht immer der Fall ist. Nicht selten drückt sie sich eher in einem zwanghaften Verhalten aus, das den Missbrauch einer bestimmten Kategorie von Produkten bedingt, bis eine Abhängigkeit entsteht, etwa beim Glücksspiel mit und ohne Geldeinsatz. Bevor wir im Einzelnen auf die Suchtmittel eingehen, sollten wir uns die Beziehung des Betroffenen zu seiner Droge ansehen. Je nach Häufigkeit des Konsums ergibt sich bereits ein sehr unterschiedliches Bild, etwa ob Herr Jedermann morgens hastig seinen Kaffee herunterstürzt, um wach zu werden, oder etwas durch ständige exzessive Wiederholung irgendwann tatsächlich zur Sucht wird. Sind Zigaretten Drogen? Jeder von uns vollzieht im Laufe des Tages bewusst und unbewusst Rituale. Das können simple Alltagsabläufe sein, oft sind es aber regelrechte Fixpunkte, die der oder dem Betreffenden eine Illusion von Sicherheit geben. Lässt man abends den Tag noch einmal Revue passieren und achtet auf die geringsten Anzeichen einer Sucht, entdeckt und entlarvt man dabei lächerlich viele solcher Riten. Rauschgiftsucht betrifft zwar nur einen winzigen Ausschnitt der Bevölkerung, doch beim Missbrauch von Tabak, Alkohol oder Tranquilizern kehrt sich das Verhältnis um. Das Wesen der diversen Suchtauslöser und die von ihnen ausgehende Gefahr sind überschaubarer, wenn man sie in drei grosse Kategorien einteilt: Die erste umfasst die Beruhigungsmittel, die wegen ihrer sedierenden Wirkung genommen werden. In diese Kategorie fallen mehrere unterschiedlich stark wirkende und schädliche Substanzen von Alkohol über Anxiolytika (Angst mindernde Medikamente) bis zu Heroin. Die zweite Kategorie umfasst Aufputschmittel. Wie der Name sagt, geht es den Benutzern um die anregende Wirkung. Hier sind Zigarette oder Kaffee Geschwister des Kokains, wenn auch, wie ich ohne weiteres einräume, nicht so zerstörerisch. Die dritte Gruppe sind die Unruhestifter, sprich alle die Substanzen vom Typ Marihuana oder LSD, die die Wahrnehmung verändern und Halluzinationen hervorrufen. Auch wenn Zigaretten durch ihre clever konzipierten Packungen für Werte wie Freiheit und Abenteuer stehen, sind sie doch nichts anderes als ein Rauschmittel, das in die Abhängigkeit führt. ̈ 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 4 Sucht und Drogen 5 Sind alle Menschen gleichermassen suchtgefährdet? Die Neurologie stuft Sucht als Krankheit ein und unterscheidet dafür drei Ursachen. In einem Teil der Fälle ist sie genetisch bedingt. Studien zeigen, dass die Kinder alkoholkranker Eltern ein siebenmal so hohes Risiko haben, drogensüchtig zu werden. Auch biologische Faktoren wie die Sensibilität oder Rezeptivität des Gehirns für Drogen üben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Beziehung zwischen dem Individuum und den konsumierten Substanzen aus. Oft geht eine Sucht auch mit anderen psychischen Störungen einher. Bei einer solchen Begleiterkrankung müssen diagnostisch die psychologischen Ursprünge ermittelt werden, um die Grunderkrankung behandeln zu können. Menschen mit Angststörungen, depressiven Verstimmungen oder Schizophrenie reagieren offenbar besonders stark auf die oben genannten Substanzen, von denen sie sich eine Zuflucht vor den quälenden Ängsten versprechen. Studien ergaben einen Zusammenhang zwischen Drogenmissbrauch und erlittenen Traumata: Bei Männern etwa durch körperliche Misshandlungen und bei Frauen durch sexuellen Missbrauch. Der letzte Risikofaktor ist soziokultureller Natur. Die Mitglieder mancher Gesellschaften unterliegen bestimmten Verhaltenserwartungen, im Abendland etwa, was den Konsum von Alkohol angeht. Andere Kulturen verbieten ihn aus religiösen Gründen und dämmen damit die Alkoholsucht zwar zahlenmässig ein, die Betroffenen aber werden gesellschaftlich ausgegrenzt, wodurch sich die Begleiterscheinungen der Sucht stärker auswirken. Hinzu kommen Faktoren wie Alter und Geschlecht, die ein Suchtverhalten ebenfalls beeinflussen. Jugendliche gehen in Bezug auf schädliche Substanzen oft hohe Risiken ein, um zu beweisen, dass sie schon erwachsen sind, oder um ihre physischen und psychischen Grenzen zu testen. Doch während die Widerstandsfähigen lediglich Anekdoten über ihren “Brummschädel” zurückbehalten, bleiben die Empfindlichen nicht selten im Netz der Abhängigkeit hängen. ̇ Cannabiskonsum kann eine Bewusstseinsverschiebung bewirken, die assoziatives, sprunghaftes Denken und eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses mit sich bringt. Dies wird aber nicht immer positiv empfunden und kann zum Horrortrip führen. Am Universitätsspital Zürich erforscht Franz Xaver Vollenweider die Wirkung von Halluzinogenen bei Depressionen. (Foto: flickr.com Roomic Cube) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 5 6 Die Erfahrung der Sehbehindertenhilfe Basel zeigt, dass Blinde und Sehbehinderte trotz grösserem Risiko nicht häufiger als Normalsehende in eine Sucht geraten. Ein Gespräch mit Roland Peterli und Martin Weg- mann. der Weg: Wie würden Sie Sucht definieren? Was ist charakteristisch daran? Martin Wegmann: Sucht ist Abhängigkeit. Sie ist Abhängigkeit von einem Stoff oder einem Verhalten. Alles dreht sich um den Stoff oder das bestimmte Verhalten. Das bringt Struktur in den Alltag. Man ist damit beschäftigt, das Bedürfnis nach dem Stoff oder dem Verhalten zu befriedigen. Die Zeit, die man hat, ist dadurch strukturiert. Das schafft eine Art Lebensinhalt. Der Begriff der Sucht dehnt sich immer weiter aus. Man spricht heute auch von Arbeits- und Computersüchtigen. der Weg: Was lässt sich zum Thema Sucht im Zusammenhang mit Sehbehinderung sagen? Martin Wegmann: Es ist schwierig, Konkretes zu sagen. Zahlen dazu gibt es keine. Von meiner Erfahrung und meinem Gefühl her gibt es unter den Sehbehinderten nicht mehr süchtige Personen als unter Normalsehenden. Allerdings auch nicht weniger. Aus technischen Gründen gibt es bestimmt weniger Sehbehinderte, die von illegalen Stoffen wie Heroin abhängig sind. Es geht eher um die Abhängigkeit von legalen Substanzen wie Alkohol, Nikotin und Tabletten. Je nach Stärke der Sehbehinderung könnte auch eine Computersucht Thema sein. Ein Jugendlicher mit einem Röhrenblick kann sich vielleicht in einer virtuellen Parallelwelt viel besser orientieren als in der Welt draussen. So wird er vielleicht den Grossteil seiner Zeit in dieser Parallelwelt verbringen, wo er auch Freundschaften pflegt und wo seine Sehbehinderung weniger behindernd ist. Allerdings weiss man noch wenig über die Auswirkungen eines solchen Verhaltens. Denn die Generation der möglicherweise Computersüchtigen ist noch jung. Bei der Abhängigkeit von Stoffen, treten irgendwann körperliche und seelische Leiden auf. Wie schon gesagt: Sucht gibt dem Leben Struktur. Das ist eine vermeintliche Sicherheit. Vermeintlich, weil süchtiges Verhalten früher oder später zu Leidensdruck führt. Man glaubt, den Umgang mit den Substanzen im Griff zu haben. Suchtmittel verschaffen zunächst Erleichterung. Vererbte progrediente Augenerkrankungen können zu einer tiefen Lebenskrise führen. Der Verlust des Sehens ist, wie jeder Verlust, mit Trauer verbunden. Unverarbeitete Trauer kann zu Depression führen und dies wiederum zum Konsum z.B. von Alkohol oder Medikamenten. Denn bei einer süchtigen Disposition kann der Konsum von Suchtmitteln vorübergehend als Lösung der Krise erscheinen, führt aber zu süchtigem Verhalten. Das gilt aber für alle Krisen mit oder ohne Sehbehinderung. Dem progredienten Verlauf einer Krankheit steht man oft ohnmächtig gegenüber. Hingegen hat man das Gefühl, den Konsum der Suchtmittel selbst bestim- ̈ Eher Alkohol und Tabletten Naomi Jones Sucht und Drogen 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 6 7 men zu können. In unserer Leistungsgesellschaft ist es schwierig, mit einschränkenden Faktoren, wie etwa einer Behinderung, umzugehen. Für Menschen, die aufgrund einer fortschreitenden Krankheit oder Sehbehinderung in einer Lebenskrise stecken, haben wir alle grosses Verständnis. Auch verschreiben heute Hausärzte relativ leicht beruhigende Medikamente, Tranquilizer oder Schlaftabletten. Die Medikamente machen allerdings rasch körperlich und seelisch abhängig. So gesehen müsste es unter den Sehbehinderten eigentlich eher mehr süchtige Personen geben als im Rest der Gesellschaft. Das ist aber meines Erachtens nicht so. Eine direkte Korrelation zwischen Sehbehinderung und Sucht gibt es von mir aus gesehen nicht. Roland Peterli: Es gibt natürlich die Erblindung in Folge einer Sucht. Etwa durch Alkoholmissbrauch oder eine Methanolvergiftung. Ebenso gibt es Leute, bei denen eine Sehbehinderung auftritt, nachdem sie bereits mitten in einer Sucht stecken. der Weg: Wie gehen Sie auf der Beratungsstelle mit solchen Leuten um? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Roland Peterli: Wenn eine Behinderung auftritt, ist es ein einschneidendes Ereignis. Die Leute finden kaum die Kraft, sich auch noch aus ihrer Sucht zu befreien. Wir müssen die Sucht akzeptieren und versuchen, die Situation zu stabilisieren, etwa die Schulden zu sanieren und die Wohnsituation zu sichern. In der Regel arbeiten wir mit andern Stellen zusammen, wie Drogenfachstellen, Vormundschaftsbehörden und Sozialdiensten. In 28 Jahren habe ich Fälle erlebt, in denen ein Suchtproblem zusätzlich zu einer Sehbehinderung vorhanden war. Es sind jedoch nicht viele. Oft haben diese Leute, die ihre Sucht bereits vor der Behinderung hatten, neue Taktiken im Umgang mit der Sucht entwickelt. Martin Wegmann: Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Sehbehinderten ist viel grösser als die gegenüber Süchtigen. Bei Menschen, die sehbehindert sind und in eine Sucht gleiten, kann es durchaus sein, dass die Sucht von aussen lange nicht bemerkt wird, weil man die Betroffenen primär als Sehbehinderte wahrnimmt. der Weg: Gibt es also ein Tabu, das auf Sucht und Sehbehinderung liegt? ̈ Sucht und Drogen Benzodiazepine, die oft zur Beruhigung verschrieben werden, können schon nach kurzer Zeit und tiefer Dosierung eine körperliche Abhängigkeit auslösen. (Foto: flickr.com Weissstier) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 7 Roland Peterli: Sucht ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich mit einem Tabu belegt. Es ist daher immer schwierig, jemanden auf eine Sucht anzusprechen. Vor allem gegenüber Sehbehinderten pflegt die Umgebung in solchen Fragen tendenziell eine Schonhaltung. Auch für uns auf der Beratungsstelle ist es schwierig, eine vermutete Sucht anzusprechen. Denn die Leute kommen freiwillig zu uns. Wenn wir sie zu sehr bedrängen, dann kommen sie einfach nicht mehr. Ausserdem werden viele Leute erst im AHVAlter sehbehindert. Wenn jemand seit zwanzig Jahren regelmässig zu viel Alkohol getrunken hat, wird er es auch mit seiner Sehbehinderung tun. In ganz seltenen Fällen mussten wir die Rehabilitationsmassnahmen abbrechen. Etwa wenn diese aufgrund von körperlichen Einschränkungen gar nicht mehr möglich waren. Martin Wegmann: Zum Tabu gehört, dass der Alkohol bzw. die Sucht im Zusammenhang mit einer Sehbehinderung als kleineres Problem gehandelt wird. Für die Umwelt steht die Sehbehinderung im Vordergrund. So können Sehbehinderte allenfalls länger einen Stoff regelmässig oder übermässig konsumieren, ohne dass dies vom Umfeld geächtet wird. Auf der andern Seite ist es für Sehbehinderte viel schwieriger als für Normalsehende eine Sucht zu verheimlichen. Für viele ist es durch die Behinderung schwieriger, selbstständig an die Substanzen zu gelangen. Zur Sucht gehört meistens auch etwas Lustvolles und häufig Soziales. Nicht jeder Konsum von Genussmitteln ist sogleich von einer Sucht begleitet. Viele Menschen trinken Alkohol in geselliger Runde, ohne dass ein Suchtproblem da wäre. Ein Problem ist letztlich erst da, wenn für die Betroffenen oder deren Umfeld ein Leidensdruck entsteht. 8 Sucht und Drogen Roland Peterli ist Ressortleiter Beratung und Rehabilitation der Sehbehindertenhilfe Basel. Martin Wegmann bietet dort psychologische Beratung an. Beide sind seit langen Jahren im Bereich tätig. Inserat Blindspot Wintercamp Exklusiv: Reisekosten, Lunch am Anreisetag Anmelden bis: 1. Dezember 2011 per Mail an jonas.staub@blindspot.ch Teilnehmende, deren Finanzen knapp sind, melden sich. Wir suchen eine Lösung. Datum: Sonntag 2.1.2011 bis Samstag, 8.1.2011 Ort: Casa Sur Crest, Sedrun GR Leitung: Jonas Staub Kosten: 560.– für Verdienende, 480.– für Schüler, Studenten, Lehrlinge (mit Ausweis) Inbegriffen: SchneesportlehrerInnen, Kost und Logis (Mehrbettzimmer), Bergbahnabo, Nacht- schlitteln ̇ 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 8 9Sucht und Drogen Der Mensch, ein suchtanfälliges Wesen Jean-Marc Meyrat Nach den Äusserungen von Roland Peterli und Martin Wegmann, die meine Kollegin Naomi Jones zusammengestellt hat, möchte ich hier wiedergeben, was der sehbehinderte Psychologe Vincent Ducommun zu diesem Thema zu sagen hat. Bis zur Eröffnung seiner eigenen Praxis in Lausanne leitete Vincent die Abteilung Weiterbildung des SZB. Vincent teilt völlig unsere Meinung, dass ein Mensch mit einer Sehbehinderung nicht von vornherein anfälliger für Suchtverhalten ist als jeder andere. Vom Stress zur Sucht Stress ist ganz offensichtlich ein Faktor, der die Abhängigkeit von einer Substanz oder ein Suchtverhalten auslösen kann. Aus diesem Grund sollte man den Stress, den eine Behinderung mit sich bringt, möglichst gering halten. Die Möglichkeit dazu hat grundsätzlich jeder. Allerdings verfügen wir nicht alle über die gleichen Ressourcen, um uns an die neue Situation anzupassen. Unterschiede bestehen allein schon in der Fähigkeit, die Veränderung zu bewältigen und Hindernisse in unserer Umgebung zu beseitigen, um unser Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wer bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit in einem stabilen Umfeld solide psychische Strukturen aufbauen konnte, leidet erheblich weniger als jemand, der durch zahlreiche komplizierte Situationen vorgeschädigt wurde. Die Sehbehinderung als Auslöser psychischer Desorganisation und Reorganisation In diesem Sinne bedingt eine Behinderung zunächst eine mit Stress verbundene Identitätskrise. Um sich das Handicap bewusst zu machen und seine Auswirkungen auf das eigene Leben beurteilen zu können, muss man enorm viel Energie mobilisieren und gelangt dabei nicht selten an die eigenen Grenzen. Die Frage lautet deshalb, wie man mit diesen Grenzen umgeht. Der meist kurzzeitige Rückgriff auf potenziell suchterzeugende Substanzen stellt paradoxerweise einen “denkbaren Ausweg” dar, um einer Situation die Spitze zu nehmen, indem man sich betäubt und gegen das psychische Leid abschirmt. Dabei distanziert man sich gefühlsmässig von unangenehmen Gedanken wie einem Gefühl der Ungerechtigkeit, der Schuld oder auch Panik. Ein anderer denkbarer Ausweg sind Krankheiten wie Depressionen oder Phobien, die man oft bei behinderten Menschen antrifft. Allerdings gibt es auch einen dritten, praktikablen Weg: Nämlich um Hilfe zu bitten, um bei der Umschiffung dieser schwierigen Klippe wenigstens die Wellen einigermassen niedrig zu halten. Eine grosse Rolle spielt das Umfeld Wenn auch die Gefahr einer Sucht für einen behinderten Menschen ebenso gross oder klein ist wie für jeden anderen, ist der Behinderte durch bestimmte Bedingungen in seinem sozialen Umfeld und seiner Umgebung gezwungen, mit einer Vielzahl von Reizen oder Informationen umzugehen; das kann ein Suchtverhalten erheblich begünstigen und damit letztlich zur Abhängigkeit von einer Substanz führen. Eine ̈ ̇ 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 9 sehbehinderte Person kann sich beispielsweise in einer Diskothek nur mit Mühe auf ihr Gehör verlassen, um den nicht funktionsfähigen Gesichtssinn auszugleichen. Familienfeste, Hochzeiten, Klassentreffen oder Wiedersehen mit Ex-Kollegen tun weh, weil sie oft mit starken Gefühlsregungen verbunden sind. Man würde gern mit allen Anwesenden gleichermassen kommunizieren, doch wenn die Augen nicht mitspielen, bekommt man viele nonverbale Informationen nicht mit, ist sich nicht sicher, wer gerade bei wem steht, wer mit wem worüber redet – alles Situationen, die Verwechslungen mit sich bringen können und Stress bedeuten. Es kommt vor, dass jemand nicht im engeren Sinn süchtig nach etwas wird, sondern ein Suchtverhalten entwickelt. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Person sich in eine eigene Welt zurückzieht, etwa mit Alkohol für kurze Zeit ihre Ängste betäubt. Die Folge ist entweder, dass sie sich verkriecht, oder aber versucht, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Anderen vermittelt ein 10 solches Verhalten jedoch teils einen negativen Eindruck, teils ein falsches positives Bild, das von Mitleid geprägt ist und daher grossen Schaden anrichtet: Die behinderte Person wird nicht respektiert, denn man entschuldigt ja alles durch das Handicap. Das wiederum führt zur Ausgrenzung, obwohl die Gruppe sich einbildet, die behinderte Person sei integriert. Aber selbst wenn man auf Normalität achtet und bagatellisiert, ist man damit noch nicht im grünen Bereich, sondern immer in Gefahr, im gelben Bereich zu bleiben oder sogar in den roten abzurutschen. Eine wichtige Rolle spielen Haltung und Äusserungen des Umfelds. Denn wenn andere bei einer behinderten Person ein auffälliges Verhalten beobachten, ist es ihre Pflicht, es dem Betreffenden zu sagen, damit er sich dessen bewusst werden kann. Sehbehinderte brauchen pragmatisches Feedback, denn oft können sie aufgrund der Umstände die Anzeichen für eine Sucht selbst nicht erkennen. Gerade Stressfaktoren verhindern, dass man sich darüber im Klaren ist, was in bestimmten Situationen vor sich geht. Dass etwas nicht stimmt, merkt der Betreffende oft erst viel zu spät. Um ihm zu helfen, den Kontakt zur Realität und zu anderen Menschen nicht zu verlieren, braucht man unbedingt Strategien, die es ihm gestatten, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. ̇ Alkohol beruhigt und entspannt. Er beeinträchtigt aber das Erinnerungsvermögen, die motorischen Fähigkeiten und die Reaktionsgeschwindigkeit. (Foto: flickr.com 96dpi) Sucht und Drogen 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 10 11 Sandra (Name geändert) rutschte als blinde Jugendliche in die Drogenszene. Nach langen Jahren schaffte sie den Ausstieg. “Ich wurde im Ausland geboren und als Säugling ausgesetzt. Ich wurde rasch gefunden und kam in ein Waisenhaus. Als ich drei Jahre alt war, schickte mich eine Ärztin in die Schweiz zur Augenoperation. Die Operationen zogen sich über zwei Jahre hin, bis sich nichts mehr machen liess. Nun war klar, dass ich erblinden würde. Die Sozialarbeiterin, die mich begleitete, wollte mich nicht in mein Herkunftsland zurückschicken. Man hätte mich dort vermutlich in ein Altersheim gesteckt. Deshalb suchte sie eine Adoptivfamilie. So wuchs ich in einem mittelgrossen Dorf in der Deutschschweiz zusammen mit einem fast gleichaltrigen Bruder auf. Mit dem Bruder, der nicht sehbehindert ist, besuchte ich den Kindergarten im Dorf. Dann lebte ich fünf Jahre im Internat einer Blindenschule. Ich war sehr gut in der Schule und auch im Sport immer eine der ersten. Ich genoss es, mich mit meinen Kameraden zu messen. Ich bin ein Bewegungsmensch. Aber nach fünf Jahren holten mich meine Eltern ins Dorf zurück, damit ich hier die Sekundarschule besuchen konnte. Integration in Regelklassen war damals ein Trend. Für mich aber war es letztlich eine Tortur. Ich war zwar immer noch sehr gut in der Schule. Aber in der Klasse gab es keinen Zusammenhalt und sportlich konnte ich nicht mit den normal sehenden Kameraden mithalten. Das war für mich mit meinem Bewegungsdrang frustrierend. Dazu kam, dass meine Mutter starke Winterdepressionen hatte. Ich hatte gewissermassen zwei Mütter. Eine Sommermutter, die sehr fröhlich, fürsorglich und liebevoll war, und eine Wintermutter. Die Wintermutter war das Gegenteil und vergass oft, mein Schulmaterial in Braille zu übersetzen. Als Kind konnte ich das nicht verstehen. Ich schämte mich in der Schule für sie und fühlte mich gleichzeitig schuldig. Aber ich habe auch viel Schönes erlebt. Ich liebte Tiere und hatte selbst Hühner, Schildkröten und Hasen. In meinem Zimmer brütete ich Kücken aus. Ein Hasenbock war so zahm wie ein Hund und ̈ “Kokain hat mir das Leben zur Sau gemacht.” Aufgezeichnet von Naomi Jones - Laut Wikipedia wurde Kokain 1884 in der Augenheilkunde eingeführt und ist in Deutschland heute noch für Operationen am Auge zugelassen. (Foto: flickr.com Net Docktor De) Sucht und Drogen 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 11 lernte Kunststücke. Und während meiner ganzen Kindheit hatte ich den Traum, Tierpflegerin zu werden. So brach für mich die Welt zusammen, als mir der Berufsberater klar machte, dass ich als blinde Jugendliche, diesen Beruf nicht lernen könne. Eigentlich hatte der IV-Berufsberater keine Ahnung von blinden Jugendlichen. Er schlug mir drei Berufe vor: Klavierstimmerin, Telefonistin, Masseurin. Ich war unmusikalisch. Also kam das erste nicht in Frage. Beim letzten stellte ich mir die Käsefüsse fremder Leute vor. Es blieb die Telefonistin. Am Abend nach dem Schnuppertag als Telefonistin sagte ich meiner Mutter, dass ich diese Arbeit keine Woche machen möchte. Ich lernte den Beruf. Hier begannen meine Schwierigkeiten. Ich kam mit 17 Jahren in die Stadt und war völlig allein gelassen. Ich wohnte im Blindenheim und machte die Lehre in einer Institution zur Umschulung sehbehinderter Menschen. Ich war mit 30-Jährigen in der Klasse. Ich fuhr zum ersten Mal in der Tram. Mobilitätstraining hatte ich, seit ich in der Blindenschule gewesen war, nicht mehr gehabt. Nachts störte mich der Lärm. Ich konnte nicht schlafen. Und ich lernte einen Beruf, den ich nicht wollte. Nicht eben besser wurde es, als ich im Rahmen der Ausbildung ein Jahr ins Welsche ging. Hier lebte und arbeitete ich in einer Institution für Menschen mit verschiedenen Behinderungen. Es gab auch psychisch Kranke und Leute mit Drogenproblemen. Ich fürchtete mich vor den psychisch Kranken, verstand die Sprache nicht gut und war furchtbar allein. Hier lebte ein einhändiger Mann um die dreissig, der sich mit mir abgab. Er gehörte zu einer Gruppe, die kiffte und harte Drogen konsumierte. Bei diesen Leuten fühlte ich mich angenommen. Sie waren cool und gut drauf. Ich rauchte natürlich auch Joints. Dem Einhändigen machte ich Handreichungen beim Spritzen. Mit der Zeit begann mich die Gruppe als Kurier einzusetzen. Mir war das gar nicht bewusst und ich hinterfragte es nicht. Ich erhielt etwas, das ich am Wochenende beim Umsteigen auf dem Bahnhof einem Mann gab. Der Unbekannte gab mir etwas zurück, das ich der Gruppe brachte. Manchmal erhielt ich von meinen Kollegen sogar etwas Geld. Das fand ich toll. Denn mit meinem Taschengeld kam ich nicht weit. Und irgendwann versuchte ich das Heroin: Es war einfach schön. Es bewirkte eine wunderbare Ruhe und Wärme in mir. Ich brauchte nur ganz kleine Mengen und sniffte es vielleicht alle zwei Wochen. Als Kurier erhielt ich den Stoff gratis. Als ich in die Deutschschweiz zurückkehrte, war ich zwar noch nicht körperlich abhängig, wohl aber psychisch. Die Droge fehlte mir. In der Schule langweilte ich mich zu Tode. Der Beruf interessierte mich noch immer nicht und das Niveau der Klasse in den allgemein bildenden Fächern war tief. Ich war unterfordert. An der Schule in der Deutschschweiz hatte ich einen Freund. Er gehörte zu einer Gruppe, die regelmässig Alkohol trank und kiffte. Man unternahm Dinge zusammen und besuchte Konzerte. In dieser Szene lernte ich einen Mann kennen, der auch harte Drogen nahm. Ich freundete mich mit ihm an und nahm wieder Heroin. Die Schule schwänzte ich immer öfter und als ich ein Praktikum in einer andern Stadt machte, brach ich schliesslich die Lehre ab. Hier reagierte endlich meine Mutter. Da ich noch nicht volljährig war, konnte sie mich zu einer Therapie zwingen. Leider war der Therapieplatz, den ich hatte, völlig ungeeignet. Es war ein ̈ 12 Sucht und Drogen 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 12 Probleme und schaute den Rest gar nicht an. Aber ich bin blind, seit ich ein Kind bin. Und ich habe gelernt, damit umzugehen. Die letzte Therapie war besonders hart. Ich war umgeben von Männern. Die hatten ganz andere Themen als ich. Natürlich war ich die einzige Blinde. Zu Beginn konnte ich in einer Bäckerei arbeiten, was mir sehr gut gefallen hat. Dann wurde die Bäckerei geschlossen und ich hatte wieder nichts mehr zu tun. Aber ich habe die Therapie durchgezogen. Denn es war das erste Mal, dass ich sie freiwillig und aus eigener Entscheidung machte. Ich hatte zuvor einen schweren Absturz mit massiven psychischen Problemen. Alles war mir egal und ich wollte sterben. Aber dann entschied ich mich für das Leben. Nach dieser Therapie verbesserte sich die Beziehung zu meiner Mutter. Wir konnten sehr viel bereden. Ich habe ihre Achtung zurückgewonnen und sie versteht mich heute. Auch mit ihrer eigenen Krankheit kann sie besser umgehen und ist viel ausgeglichener. Heute ist meine Mutter eine der wichtigsten Personen für mich. Seit Jahren habe ich keine Drogen mehr konsumiert. Ich lebe im Nachbardorf meiner Eltern in einer grosszügigen Wohnung. Ich habe einen Partner, Tiere und ein gutes soziales Netz um mich herum. Seit einem Jahr bin ich Mutter. Dies erfüllt mich sehr. Aber eines ist klar: Meine sehende Tochter soll einen Beruf lernen, den sie wirklich lernen will. Sie soll Spass an ihrer Arbeit haben.” ̇ christlicher Betrieb auf dem Land. Die Leute hatten keine Ahnung, was man mit einer Blinden macht. So sass ich den ganzen Tag auf dem Ofen, strickte und langweilte mich. Ich beendete schliesslich doch die Lehre und fand eine Stelle in der Stadt. Aber ich begann auch wieder, Drogen zu nehmen. Damals gab es in den grösseren Städten noch offene Drogenszenen wie den Platzspitz in Zürich. Und so war es ein Leichtes, zu Stoff zu kommen. Irgendwann begann ich mit Spritzen. Ich fand immer jemanden, der mir den Schuss setzte. Ich hatte einen Freund, der Dealer war. So kam ich an guten Stoff. Ausserdem entwickelte ich Strategien, um nicht übers Ohr gehauen zu werden. Von der Polizei hingegen wurde ich weitgehend in Ruhe gelassen. Hier schützte mich die Blindheit vermutlich. Als ich anfing auch Kokain zu spritzen, war ich sogleich massiv davon abhängig und wollte immer mehr. Kokain hat mir das Leben zur Sau gemacht. Ich verlor meine Stelle und es folgten Jahre von Auf und Ab. Von Klinik und Absturz. Das Problem war, dass diese Kliniken überhaupt nicht auf meine Blindheit vorbereitet waren. Einerseits wussten sie nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, andererseits wurde in den Therapien alles auf meine Blindheit abgeschoben. Man erachtete sie sozusagen als Ursache all meiner 13Sucht und Drogen Die Schweizer Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme bietet telefonische Beratung an: 021 321 29 76. (Deutsch und Französisch) Auf der Website der Fachstelle finden sich zahlreiche Informationen zum Thema: www.sucht-info.ch 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 13 14 Der Sozialarbeiter Naomi Jones Seit neun Jahren arbeitet Beat Herren im Haus Felsenau für Menschen mit einem Suchtproblem. Er ist blind. Der Drucker rattert. Beat Herren nimmt das ausgedruckte Blatt und spannt es in die Brailleschreibmaschine. Nur eine kurze Notiz schreibt er. Dann legt er dem braungebrannten und drahtigen Mann am Tisch das Blatt mit der Abrechung zur Unterschrift hin und zählt ihm 240 Franken bar in die Hand. Der Mann quittiert den Betrag und verabschiedet sich. Beat Herren ist Sozialarbeiter im Haus Felsenau in Bern. Die Institution beherbergt rund 28 Personen mit einem Suchtproblem. Sie wohnen hier in einem kleinen Zimmer. Am Vormittag arbeiten sie. Die meisten von ihnen arbeiten an einem der geschützten Arbeitsplätze des Hauses. Herren ist Bezugsperson für etwa zehn Bewohner und Bewohnerinnen. Ausserdem begleitet er Ehemalige zum Teil über lange Zeit. Wie etwa Nina und Rolli (die Namen sind geändert). Als Beat Herren vor neun Jahren seine Stelle im Haus Felsenau antrat, wohnten die beiden noch dort. Heute lebt das Paar in einem Vorort von Bern. Dennoch kommen sie regelmässig zu ihrem Sozialarbeiter. Er verwaltet ihr Geld und berät sie in Alltagsfragen. Rund ums Geld Als die beiden kommen, hört man sie von weitem. Ihre drei bunt gescheckten Mischlingshunde begrüssen Beat Herren freudig. Dieser beugt sich in die Knie und streichelt die Tiere. Dann legen sie sich in die Sonne oder auf die eigens mitgebrachte Decke. Nina hätte die Rechnung für die bevorstehende kleine Reise bezahlen sollen. Herren hatte ihr beim letzten Besuch das Geld dafür gegeben. Sie hat es noch immer nicht gemacht, bietet aber an, das Geld, das sie noch immer bei sich hat, kontrollieren zu lassen: “Willst du das Geld spüren?” Herren vertraut ihr. Er kennt Nina lange genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht anschwindelt. Die Stimmung ist fröhlich. Der Sozialarbeiter erzählt von den Ferien, die er gerade plant. Den Bart hat er heute Morgen schon nicht mehr rasiert. Das Verwalten von Finanzen macht einen grossen Teil der Arbeit Beat Herrens aus. Gerade der Umgang mit Geld sei für Menschen mit einer Sucht, insbesondere einer Sucht nach illegalen Stoffen, schwierig, erklärt er. Das Verlangen nach dem Rauschmittel steuere das Verhalten der Abhängigen. So sei der Lohn oder die Rente oft schon nach sehr kurzer Zeit aufgebraucht. Deshalb bezahlt der Sozialarbeiter die laufenden Rechnungen an Stelle seiner Klienten. Was sie an Bargeld zum Leben brauchen, holen sie wöchentlich bei ihm ab. Dies verhindert nicht, dass die Klienten und Klientinnen weiterhin ̈ Sucht und Drogen Je nach Marktlage kann ein Gramm Heroin 100 bis 150 Franken kosten. (Foto: flickr.com Oliver Beckenhaub) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 14 15 mehr oder weniger starke Rauschmittel konsumieren. Viele von ihnen sind in einem Methadonprogramm. Aber es verhindert, dass ein Schuldenberg anwächst und nur noch das Leben auf der Gasse möglich ist. Vor- und Nachteile durch die Sehbehinderung Beat Herren ist blind. Seine blauen Augen blicken ins Leere. Die langen schwarzen Locken fallen ihm ins Gesicht. Einzelne graue Haare mischen sich hinein. “Klar, die Sehbehinderung beeinflusst meine Arbeit mit süchtigen Personen. Gegenüber meinen normal sehenden Kollegen habe ich Vorteile wie Nachteile.” Ein Vorteil sei es, dass er die Klienten nicht nach ihrem Aussehen beurteile. Er könne sich anders auf das Gespräch mit ihnen einlassen. Andererseits lässt sich an den Augen eines Menschen leicht ablesen, ob er gerade Drogen konsumiert hat. Herren merkt dies erst später. Als Betroffener im weitesten Sinne ist er den randständigen Menschen näher. Denn es gibt immer wieder Situationen, in denen er auch auf ihre Hilfe angewiesen ist. Etwa wenn er mit einer Klientin in die Stadt fährt, um eine Besorgung zu erledigen, muss er sich von ihr führen lassen. Er gibt also nicht nur, sondern nimmt auch Hilfe. Dadurch ist es aber manchmal schwieriger, Grenzen zu setzen. “Ich muss den Leuten immer mal wieder erklären, dass ich ihr Sozialarbeiter und nicht ihr Kumpel bin”, sagt Herren. ̇ lt - n- s el n- r u- - Sucht und Drogen m ) Inserat Schneesport-Camps von Plussport Folgende Camps werden speziell für sehbehinderte und blinde Jugendliche und Erwachsene angeboten: 02.01. – 08.01.11 Sedrun GR: Ski alpin, Snowboard 15.01. – 22.01.11 Bever GR: Ski nordisch 16.01. – 22.01.11 Obergesteln VS: Ski nordisch 22.01. – 29.01.11 Reckingen VS: Ski nordisch, Winterwandern 29.01. – 05.02.11 La Punt GR: Ski nordisch, Schneeschuhlaufen 06.02. – 12.02.11 Jura: Ski nordisch, Schneeschuhlaufen 05.03. – 12.03.11 Reckingen VS: Ski nordisch 27.03. – 02.04.11 Riederalp VS: Ski alpin, Snowboard 22.04. – 25.04.11 Schwarenbach BE: Ski- und Schneeschuhtouren Mehr auf www.plusport.ch/sportcamps oder auf Televox erhältlich. Für Fragen stehen wir Ihnen unter Tel. 044 908 45 30 oder via sportcamps@plusport.ch gerne zur Verfügung. 131070_der_Weg_v 04.11.10 16:29 Seite 15 16 Aktuell: Die IV-Revision 6B Wir sind empört und sagen NEIN zur IVG-Revision 6B Daniel Pulver und Gerd Bingemann Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZB) und der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) sind alarmiert und empört über die Vorschläge des Bundesrats zum zweiten Massnahmenpaket der 6. IVG-Revision (Revision 6B). Einzig durch massive Leistungskürzungen soll die IV saniert und die Schulden gegenüber dem AHVFonds zurück bezahlt werden. Zusätzliche Einnahmen sind keine vorgesehen. Eine solche einseitige Sanierung auf dem Buckel der Betroffenen lehnen der SZB und der SBV ganz entschieden ab. In unserer Vernehmlassungsantwort fordern wir den Bundesrat auf, dem Parlament eine ausgewogene Vorlage zu präsentieren, die nebst massvollen Sparmassnahmen auch zusätzliche Einnahmen vorsieht. Ausserdem zweifeln wir an der Erreichbarkeit des angestrebten Eingliederungsziels von zusätzlichen 17000 Platzierungen, sofern nicht auch die Arbeitgebenden durch griffige Anreizsysteme (z.B. ein Bonus-Malus-System) in die Pflicht genommen werden. Sollten Bundesrat und Parlament an der jetzigen Vorlage nicht substanzielle Verbesserungen vornehmen, kommen die Behindertenorganisationen nicht darum herum, die Vorlage mittels Referendum zu bekämpfen. Angesichts der massiven Bedrohung durch diese Revision sehen sich der SZB und der SBV schon heute gezwungen, zum Schutz der betroffenen Menschen die Öffentlichkeit auf die unzumutbaren Leistungskürzungen hinzuweisen und die eigenen Mitglieder auf den Widerstand vorzubereiten. ̇ Inserat Spenden Sie einen Stuhl PC 85-287430-6 IBAN CH91 0900 0000 8528 7430 6 Verein Hilfe für Weligama/Sri Lanka 7000 Chur Vielen herzlichen Dank im Namen der Schulkinder in Weligama! Die Schule von Weligama im Süden von Sri Lanka wird von ca. 1800 Kindern verschiedenen Alters besucht. Die Schule braucht mehr Stühle, damit die Kinder dem Unterricht ungestört folgen können. Wir sammeln für die Schule in Weligama 500 Stühle bzw. das Geld dazu. Ein Stuhl kostet 20.– Fr., für uns ein kleiner Betrag, in Sri Lanka viel Geld. Ermöglichen Sie den Kindern einen ungestörten Unterricht! 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 16 17Aktuell: Die IV-Revision 6B - - . Die 8 Massnahmen zur IV-Revision 6B Joël Favre 1. Anpassung des Rentensystems als Anreiz zur Wiedereingliederung: Rentenkürzungen von rund 40%. Einsparungen: 400 Mio. 2. Förderung der Wiedereingliederung ins Erwerbsleben bzw. des Verbleibs im Arbeitsmarkt: Aufgeschobene Rentenanspruchsprüfung. Einsparungen: 100 Mio. 3. Neue Situation für Rentenbezüger mit Kindern: Kürzung der Zusatzrenten Behinderter für ihre Kinder um 25%. Einsparungen: 200 Mio. 4. Neues Reisekostensystem: Unterscheidung zwischen Reisekosten direkt im Zusammenhang mit der Behinderung und anderen Reisekosten. Einsparungen: 20 Mio. 5a Reform der beruflichen Eingliederung von Sonderschulabgängern: Verbot für junge Behinderte, eine Lehre zu absolvieren, wenn sie als unproduktiv eingestuft werden. 5b Garantie der bewilligten Subventionen für Behinderten-Hilfsorganisationen: Abschaffung der Anpassung an die Teuerung der Lebenshal- tungskosten. 6. Verschärftes Vorgehen gegen Betrugsfälle: Aussetzung der rechtsstaatlichen Grundlagen und Rückgriff auf Willkür als juristische Norm. 7. Entschuldung der IV: Behinderte werden gegen Altersrentenempfänger ausgespielt, indem Überschüsse aus dem AHV-Fonds in den IV-Fonds überwiesen werden sollen. 8. Interventionsmechanismus zur langfristigen Sicherstellung der finanziellen Liquidität: Genehmigung, eine neue Überschuldung abzuwarten, bevor weitere Massnahmen ergriffen werden. ̇ Inserat Occasion Lesegerät Weitere Informationen erhalten Sie bei Inge Ryser – Tel. 062 874 25 50 oder SBV Beratungsstelle Basel, Peter Brunner – Tel. 061 307 91 00 • Alter 4 Jahre • Modell Optelec Clearview farbig • guter Zustand • Neupreis Fr. 5540.– • Verkaufspreis Fr. 2100.– 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 17 18 Die Invalidenversicherung soll durch zwei neue Massnahmenpakete saniert werden. Das zweite Massnahmenpaket der 6. IV-Revision (6B) war bis am 15. Oktober 2010 in der Vernehmlassung. Wie kommt eine Gesetzesänderung zustande und wie läuft eine Vernehmlassung? Dies ist Thema des vorliegenden Artikels. In der nächsten Ausgabe von “der Weg” beschäftigen wir uns mit der Stellungnahme des SBV zum zweiten Massnahmenpaket der 6. IV-Revision. Wie kommt ein Gesetz zustande? Den Entscheid, ein Gesetz zu schaffen oder ein bestehendes zu ändern, fällt normalerweise die Exekutive. Bei uns ist dies der Bundesrat. Dann erstellt das zuständige Bundesamt einen Vorentwurf für das neue Gesetz. Es handelt sich beim Vorentwurf um einen vorläufigen Gesetzestext, der bereits in Artikel gegliedert ist. Ergänzt wird der vorläufige Gesetzestext durch einen “Erläuternden Bericht”. Dieser erläutert Sinn und Zweck des Gesetzes. Ausserdem erläutert er die Konsequenzen des Gesetzes, falls es angenommen wird. Zum zweiten Massnahmenpaket der 6. IV-Revision ist der erläuternde Bericht ein dicker Wälzer mit rund 130 Seiten in winzig kleiner Schrift. Der Vorentwurf einer Gesetzesänderung und der erläuternde Bericht werden an Kanton, Ämter, Parteien und betroffene Organisationen zur Vernehmlassung geschickt. Ausserdem werden die Unterlagen sowie die Adressatenliste im Internet veröffentlicht. So können auch Einzelpersonen dazu Stellung nehmen. Die Adressaten der Vernehmlassung können ihre Stellungnahme zum Vorentwurf und zum erläuternden Bericht bis zu einem festgesetzten Zeitpunkt einreichen. Für das zweite Massnahmenpaket der 6. IVRevision konnten bis zum 15. Oktober 2010 Stellungnahmen eingereicht werden. Die Adressaten der Vernehmlassung äussern sich zum Gesetzesentwurf allgemein und zur Frage nach der Zweckmässigkeit des Gesetzes. Ausserdem formulieren sie zu jedem Artikel ihre Kritik und schlagen dabei zum Teil andere Formulierungen vor. Das legislative Verfahren im engeren Sinn Das zuständige Bundesamt prüft die Stellungnahmen und Vorschläge von Beteiligten, Städten, Kantonen und konsultierten Verbänden. Die eingereichten Stellungnahmen werden im Internet publiziert. Der Vorentwurf wird entsprechend diesen Vorschlägen abgeändert. Das Ergebnis ist dann der Gesetzesentwurf. Auch dazu gibt es Erläuterungen: die so genannte “Botschaft des Bundesrats”. Der Wortlaut dieser Botschaft ist sehr bedeutsam, denn zusammen mit den Parlamentarischen Beratungen bildet sie die Grundlage für die Auslegung des künftigen Gesetzes, beispielsweise durch die Gerichte. ̈ 6. IV-Revision: das Vernehmlassungsverfahren Joël Favre Aktuell: Die IV-Revision 6B 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 18 19 Der Entwurf wird nun nacheinander in beiden Eidgenössischen Räten beraten. Bleiben nach einigem Hin und Her immer noch Unstimmigkeiten zwischen beiden Kammern, räumt eine Kommission die Diskrepanzen aus. Anschliessend wird der Entwurf nacheinander beiden Räten zur endgültigen Verabschiedung vorgelegt. Erst wenn der Gesetzesentwurf von den Räten verabschiedet ist, haben wir ein neues Bundesgesetz. In so gut wie sämtlichen anderen Ländern weltweit würde dieses Gesetz nun vom Staatschef verkündet und träte an einem bestimmten Datum in Kraft. Das fakultative Referendum In der Schweiz hingegen können alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb von 100 Tagen ab Veröffentlichung des neuen oder abgeänderten Gesetzes im “Bundesblatt” Einwände dagegen geltend machen und das Referendum ergreifen, indem sie Unterschriften sammeln. Kommen 50000 Unterschriften zusammen, muss das Volk entscheiden. Das neue Gesetz tritt erst dann in Kraft, wenn es die Mehrheit des Volkes akzeptiert. Das erste Massnahmenpaket der 6. IV-Revision (6A) wird leider nicht angefochten. Doch ist die Revision 6B dermassen ungerecht, dass die grossen Behindertenorganisationen gar nicht umhin können, das Referendum zu ergreifen, sollte diese Gesetzesänderung vom National- und Ständerat ohne wesentliche Änderungen verabschiedet werden. Vor allem dort, wo die Revision 6B die Auswirkungen der Revision 6A noch verschärft, müssen wir sie bekämpfen. In der nächsten Ausgabe von “der Weg” werde ich deshalb darüber berichten, wie der SBV in der Vernehmlassung zur IV-Revision 6B Stellung genommen hat. ̇ Aktuell: Die IV-Revision 6B Ramstein Optik Sattelgasse 4 · 4001 Basel · Tel. 061 261 58 72 · www.ramstein-optik.ch/lowvision Inserat Reinecker MANO Neuheit! Kleines und handliches Bildschirm-Lesesystem für unterwegs und zuhause. Darstellung von Echtfarben, Schwarz/Weiss und diversen Falschfarben. Speicherung von drei Bildern und das nachträgliche Vergrössern der gespeicherten Bilder möglich. Sehr einfache Bedienung. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 19 20 Wiedereingliederung im Kanton Solothurn Laut der Gratiszeitung 20 Minuten vom 11. Oktober 2010 kritisiert Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Uni Zürich, die IV-Stelle des Kantons Solothurn, weil sie 90 Renten kürzen oder gar streichen will. Allerdings rügt der Professor die IV-Stelle nicht, weil sie grundsätzlich Renten kürzen und streichen will, sondern weil sie absolute Zahlen nennt. Tatsächlich kann es nicht angehen, dass bei der hoch gelobten Wiedereingliederung von IVBezügern die Menge das einzige Ziel ist. Berufliche Integration von Menschen, die aufgrund einer Behinderung aus dem Berufsleben ausgestiegen sind, erfordert eine gute Abklärung und individuell abgestimmte Massnahmen: wie zum Beispiel ressourcenorientierte Berufsberatung, Begleitung von Arbeitgebern und Coaching der zu Integrierenden. Nicht in jedem Fall ist eine berufliche Integration möglich und sinnvoll. Ist es hingegen oberstes Ziel einer IV-Stelle, eine bestimmte Menge von Renten loszuwerden, so wird ihr dies zwar problemlos gelingen. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass sie dabei Menschen mit einer Behinderung tatsächlich nachhaltig auf den Arbeitsmarkt entlässt, ist gering. Viel wahrscheinlicher ist, dass diese Menschen bloss eine weitere Runde im Ämter-Karussell drehen: Regionales Arbeitsvermittlungszentrum (RAV), Fürsorgedienst der Gemeinde, IV-Stelle des Kantons. ̇ Schlechtes Beispiel Daniel Pulver und Susanne Steiner Busreisen im Kanton Zug Sehbehinderte im Kanton Zug sollen künftig den Bus einfacher benützen können. Hierzu werden über 200 Haltestellen mit einem Feld markiert. Das Feld ist ca. ein Quadratmeter gross und hebt sich leicht vom Boden ab, wie etwa die Zebrastreifen oder die weissen Linien. Das Feld markiert die Eingangstür des Busses. So stehen Sehbehinderte in Zug an der richtigen Stelle, wenn der Bus kommt. ̇ Nachrichten aus der Interessenvertretung Daniel Pulver und Susanne Steiner Aktuell: Die IV-Revision 6B Inserat “Karlaohneaugen” von Renate Dehner als Hörbuch ausleihbar In Schwarzschrift ist das Buch im Buchhandel erhältlich. ISBN-Nr. ist 978-3-86991-146-5 Karla ist geburtsblind und erkämpft sich mit Hartnäckigkeit und Fantasie ein Selbstbestimmtes Leben. Zwei Sprecherinnen lesen die Stimmen der Autorin und der Protagonistin. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:18 Seite 20 21Schweiz Unser Zentralsekretär: ein Mann mit Geschichte Jean-Marc Meyrat Kannarath Meystre, der neue Zentralsekretär des SBV, kam am 1. September 1970 unweit der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh zur Welt. Der geschichtliche Hintergrund Von 1959 an waren US-amerikanische Truppen im Nachbarland Vietnam im Einsatz. Bis 1969 gelang es Prinz Sihanouk, Kambodscha aus dem Krieg herauszuhalten, sodass es zunächst verschont blieb. Als jedoch der Vietcong – die kommunistische vietnamesische Guerilla – auch vom kambodschanischen Staatsgebiet aus operiert, wird das Land 1969 zur Zielscheibe amerikanischer Bomben. 1970 stürzt General Lon Nol mit amerikanischer Hilfe Prinz Sihanouk. Von April bis Juni 1970 wird das Land von der US-Armee weiter bombardiert. Die meisten Opfer fordern die Angriffe allerdings nicht beim Vietcong, sondern in der Zivilbevölkerung Kambodschas. Kannarath kommt mit angeborenem Glaukom zur Welt, das die Ärzte nicht diagnostizieren können. Ende 1973 muss seine Familie vor den Bombenangriffen fliehen. Im Flüchtlingslager bemerkt ein Schweizer Augenarzt des IKRK, dass die Pupillen des kleinen Kannarath Kong viel weiter gestellt sind als normalerweise bei kambodschanischen Kindern. Geblendet sucht Kannarath sogar in der Leichenhalle des Camps Zuflucht vor dem gleissenden Licht. Mit Hilfe des IKRK wird er nach Genf ausgeflogen und kann im Februar 1974 operiert werden. “Ohne auf die Starterlaubnis vom Tower zu warten, hob das Flugzeug voller kranker Kinder, in dem auch ich sass, ab. Sekunden später schlug eine Bombe an der Stelle ein, wo die Maschine gestanden hatte”, erzählt Kannarath sichtlich bewegt. “In der Schweiz angekommen, wurde ich von Terre des Hommes betreut. Anlässlich einer Kontrolluntersuchung in der Augenklinik Jules-Gonin in Lausanne lernte ich dann meine späteren Adoptiveltern kennen, Christine und François Meystre, die beide selbst Augenärzte sind.” Das Terrorregime der Roten Khmer 1973 beherrschen die Roten Khmer unter dem Kommando von Saloth Sar alias Pol Pot bereits ̈ Kannarath Meystre (links) mit seinen Eltern in Kambodscha auf dem Weg zu einer buddhistischen Hochzeit. Im Hintergrund (rechts) ist der ältere Bruder Kannara mit seiner Tochter. (Foto: z.V.g.) 131070_der_Weg_v 08.11.10 10:21 Seite 21 22 Schweiz f n z f m k L S t f a s V V n t b f s i b K R 1 s R a 1 L k e V d d w N ü n r g S t K d weite Teile des Bauernlandes in Kambodscha. Die Amerikaner setzen die Bombardements ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung fort und sorgen so dafür, dass ein grosser Teil der Bevölkerung entwurzelt wird und unter die Knute der Guerilla gerät. 1975 tauchen die Partisanen mit angefeilten Schneidezähnen, an den Füssen Sandalen aus Autoreifen, aus dem Urwald auf: Die Roten Khmer erobern Phnom Penh, stürzen die Regierung Lon Nol und vertreiben die Einwohner aus Phnom Penh. Hunderttausende richten sie grausam hin, nur weil sie sie als Parteigänger des alten Regimes verdächtigen. Vor allem Intellektuelle sind in den Augen der Roten Khmer nichtswürdig. Viele ihrer Opfer müssen monatelange Folter erdulden, bis ihre Peiniger sie schliesslich töten. Das Folterzentrum “S 21” in Phnom Penh umgibt bis heute eine finstere Aura. Um Munition zu sparen, erschlug man in den Lagern die zum Tode Verurteilten. Hunderttausende Kambodschaner, die man für Arbeitsbrigaden zwangsrekrutiert hatte, kamen unter den entsetzlichen Lebensbedingungen um und wurden an Ort und Stelle verscharrt, bis die Äcker regelrechte Gräberfelder waren. “Meine Eltern hatten mich dem IKRK nur für eine Operation anvertraut”, fährt Kannarath fort. “Danach sollte ich eigentlich zu ihnen zurück, aber die Lage in Kambodscha war zu diesem Zeitpunkt so chaotisch, dass ich nicht mehr nach Hause konnte. Deshalb wurde ich 1979 adoptiert. Kurz bevor ich 1982 die Schule für sehbehinderte Kinder in Lausanne abschloss und in eine normale Klasse in Blonay oberhalb von Vevey wechselte, erhielten wir über das IKRK einen Brief aus Kambodscha. Damals waren viele Boatpeople auf der Suche nach Angehörigen in westlichen Ländern, um dem Elend in der Heimat zu entfliehen. Nach langwieriger Echtheitsprüfung stand dann fest: Der Brief stammte von meiner leiblichen Familie – sagenhaft!” Ein Wunder “Aus den kambodschanischen Schreiben erfuhr ich, dass mein leiblicher Vater ursprünglich Französischlehrer war, also in den Augen der Roten Khmer ein Klassenfeind, den es zu beseitigen galt. Trotzdem überlebten mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester das Terrorregime, dem ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas zum Opfer fiel. Später studierte mein Vater Medizin, weil er der Meinung war, sein Land brauche nun Ärzte viel dringender als Französischlehrer. Am Ende meiner Schulzeit absolvierte ich 1987 einen Sprachkurs an der Blindenschule Zolliko- ̈ Die Roten Khmer eroberten Phnom Penh, stürzten die Regierung und vertrieben die Einwohner: Chan Chaya Pavillon des Königspalastes in Phnom Penh, Kambodscha. (Foto: flickr.com Allie_Caulfield) 131070_der_Weg_v 08.11.10 10:21 Seite 22 23Schweiz fen und bis 1990 eine kaufmännische Ausbildung am Bildungszentrum der Sehbehindertenhilfe in Basel. Später rundete ich meine Ausbildung mit Abendkursen an der Handelsschule Lausanne ab und trat dann beim SZB eine gerade erst eingerichtete Stelle als Leiter des Empfangs und der Telefonzentrale an. Später kehrte ich nach Lausanne zurück und arbeitete als Verkaufsberater für Hilfsmittel. Von 2005 bis 2010 konnte ich neben meiner Tätigkeit als Leiter der Hilfsmittelabteilung beim SZB Betriebswirtschaft für Non-Profit-Organisationen studieren. Hier arbeitete ich, bis ich die Stelle als Zentralsekretär beim SBV antrat.” Kambodscha hofft auf die Rückkehr zur Normalität 1989 ziehen sich die vietnamesischen Soldaten, die 1979 die Roten Khmer vertrieben haben, aus Kambodscha zurück. In den 1990er-Jahren bemüht sich das Land um eine allmähliche Rückkehr zur Normalität. 1992 wird es der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Kambodscha (UNTAC) unterstellt, nachdem Prinz Sihanouk seit 1991 wieder als Staatschef fungiert. Nach den Wahlen im Mai 1993 üben der Sohn von Prinz Sihanouk und der ehemalige Anführer der Roten Khmer, Hun Sen, gemeinsam die Exekutive aus. Im September 1993 wird die konstitutionelle Monarchie unter König Norodom Sihanouk wieder eingeführt; Norodom Ranariddh und der ehemalige Rote Khmer Hun Sen werden beide Co-Premierminister. “In diesen Jahren hatte ich eine grosse Sehnsucht danach, mein Herkunftsland und meine Eltern kennen zu lernen. 1992 fuhr ich zum ersten Mal nach Kambodscha. An einem uralten Flughafen sah ich dann meine leiblichen Eltern wieder: den Papa, den ich nicht erkannte, und die Mama, die ich kaum sehen konnte, weil mich die Sonne blendete. Die Erinnerung daran ist schmerzlich, und ich muss zugeben, dass ich lange Zeit Mühe hatte, mich mit dieser Familie zu identifizieren. Mit meinem Vater spreche ich Französisch. Meine Mutter versteht es, spricht es aber nicht. Noch heute macht mich das sehr traurig, denn ich bin sicher, wir hätten uns eine Menge zu sagen. Ich habe mich noch nicht durchringen können, Khmer zu lernen. Inzwischen hat sich aber alles in eine erfreuliche Richtung entwickelt.” Für Aussenstehende ist die Einstellung der Kambodschaner zu ihrer Vergangenheit nur schwer verständlich. Jahrelang konnten sich die Verbrecher des Terrorregimes unbehelligt im ganzen Land bewegen. Pol Pot wurde 1997 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, starb jedoch schon im Jahr darauf. Inzwischen hat sich die Lage insgesamt entspannt, aber Kambodscha ist auch heute noch ein bitterarmes Land. 2004 konnten 61% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Die sehr hohe Kindersterblichkeit und die durchschnittliche Lebenserwartung von gerade einmal 57 Jahren sind die Konsequenz der katastrophalen medizinischen Versorgung. Diese tragische Situation und seine tiefe Verbundenheit mit seinem Herkunftsland veranlassten Kannarath, gemeinsam mit Freunden einen Verein zu gründen, der medizinische Projekte in Kambodscha unterstützt. “2002 kamen meine Eltern anlässlich meiner Hochzeit zum zweiten Mal in die Schweiz. Corinne und ich haben mittlerweile zwei Kinder: Cendrine wurde 2004 geboren, Philippe 2006.” ̇ . , - n r l ) 131070_der_Weg_v 04.11.10 16:31 Seite 23 24 Schweiz Der Verband und seine Mitglieder Leila Bahsoun gentlich kann man allerdings zwischen dem angestrebten und dem tatsächlichen Image eines Verbandes oder Unternehmens einen grossen Widerspruch feststellen. Die Imageumfrage des SBV hat einen solchen Widerspruch im angestrebten und tatsächlichen Image des SBV zu Tage gefördert. Verunsicherung Im Streben nach Qualität eines Angebots und dem damit verbundenen Image muss alles immer wieder hinterfragt werden. Dieses Hinterfragen ruft Begleitreaktionen hervor. Es verunsichert. Denn Veränderungen machen uns klar, was wir verlieren werden. Die Gewissheit, was wir gewinnen werden, haben wir noch nicht. Daher werden manche den Nutzen des Vorhabens kritisch beurteilen. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass das Alte immer dem Neuen weichen muss. Sinnvolle Veränderungen beruhen auf dem Grundsatz, dass man das Brauchbare behält und den überflüssigen Ballast abwirft. Die Gefühle der Mitglieder Allerdings kann ich mir ohne Weiteres vorstellen, dass der Marketingjargon, den wir im Rahmen der Positionierungsarbeit benutzen, einigen gegen den Strich geht. Wenn man ̈ Als ich mich für die geplante Neupositionierung des SBV stark machte, hatte ich dafür mehrere Gründe. Zunächst einmal erlebe ich als Mitglied aus nächster Nähe, was eigentlich bei der Positionierung des Angebots und Images auf dem Spiel steht. Immerhin bin auch ich wie im Grunde alle sehbehinderten Menschen Endbegünstigte des Leistungsangebots des Schweizerischen Blindenund Sehbehindertenverbands. Und dieser Verband macht sich über seine Produkte und seine Kommunikation Gedanken. Da mich das Anliegen des Verbandes unmittelbar betrifft, habe ich mich dem Positionierungs-Team angeschlossen. Denn wie Pierre-Yves Graber in der letzten Ausgabe von “der Weg” ausführte, wurde das Team so zusammengesetzt, dass es alle Akteure des Verbands gleichermassen vertritt. Ich habe die Gelegenheit, mich innerhalb des SBV aktiv zu engagieren und mich nicht auf die Rolle als Leistungsbezieherin zu beschränken. Ich leiste also meinen Beitrag als Mitglied in diesem repräsentativ zusammengestellten Team. Zusammen mit den Ehrenamtlichen und Angestellten im Team unterstehe auch ich schliesslich den Entscheidungen der Delegiertenversammlung. Die Idee ist, dass viele Einzelideen aus den unterschiedlichsten Bereichen schliesslich zu einer besseren Positionierung des Angebots und des Verbandsimages führen sollen. Glaubwürdigkeit In einem Unternehmen oder Verband steht alles mit allem in Verbindung. Deshalb müssen auch die Produkte und Dienstleistungen in einem logischen Zusammenhang stehen. Die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Unternehmens ist dadurch bedingt, dass die Wirkung, die ein Angebot erzielen will, mit dem Angebot tatsächlich übereinstimmt. Also dass etwa eine teure Markenuhr tatsächlich die Qualität bietet, die ihr luxuriöses Aussehen verspricht. Gele- 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 24 25Schweiz den und natürlich der Gesamtheit der Faktoren und Akteure, die das Fundament der Wirtschaftslandschaft bilden, ausei- nandersetzen. Aus der beinahe 100-jährigen Geschichte unseres Verbandes ergibt sich seine Verantwortung. Unser Team erarbeitet die Grundlagen zur Neupositionierung des SBV. Diese Grundlagen sind nichts anderes als ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der Verband seine Funktion in klare Worte fasst und bestimmte festgelegte Bedürfnisse mit angemessenen Dienstleistungen befriedigt. Dabei kommen eine Menge Überlegungen und Emotionen zum Tragen. Die Positionierung des Verbandes geht uns alle an und konfrontiert uns nicht nur mit der Frage nach unserem Status als betroffene Personen, sondern auch mit der Frage nach der Rolle, die wir Mitglieder innerhalb unseres Verbands einnehmen können. ̇ nicht Mitglied, sondern Endbegünstigter genannt wird, wenn der Verband sich selbst als Leistungserbringer präsentiert, geht der poetische Gehalt von Werten wie gegenseitigem Beistand und Solidarität verloren. Das Projektteam ist mit eben diesem Problem konfrontiert. Während die Image-Positionierung des SBV sich auf Werte wie Solidarität und gegenseitigen Beistand stützt, sind für die Positionierung des Angebotes handfeste Massnahmen unerlässlich. Jedes Wort, das in der Definition der Image-Positionierung verwendet wird, zieht auf der Ebene der Umsetzung und somit des Leistungsangebots Konsequenzen nach sich. Die Herausforderung des Positionierungs-Teams liegt darin, die Schlüsselwerte des Verbands zu identifizieren. Anschliessend muss es diese Schlüsselwerte ausformulieren und konkrete Massnahmen definieren, wie die Werte umgesetzt werden können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich die Massnahmen zur Umsetzung eines geltenden Werts aus den Grundbedürfnissen aller blinden und sehbehinderten Menschen in der Schweiz ergeben muss. In einem zweiten Schritt geht es darum, welche dieser Bedürfnisse Priorität haben und welche Auswahl an Dienstleistungen diesen Bedürfnissen Rechnung trägt. Ebenso müssen wir uns überlegen, wie eine Zusammenarbeit mit anderen Leistungsanbietern aufgebaut werden kann, um Doppelangebote zu vermeiden. Gleichzeitig muss sich der SBV entscheiden, wie er sich bezüglich Angebot und Image von der Konkurrenz gezielt abhebt. Das Mitglied als Ressource des Verbands Auch wenn Verbandsmarketing sich vom klassischen Unternehmensmarketing unterscheidet, muss es dennoch strategische Entscheidungen innerhalb des Verbands treffen und umsetzen. Auch ein Verband ist mit Marktgesetzen und ihren sehr realen Auswirkungen konfrontiert. Ebenso muss er sich mit Konkurrenten, den wechselnden Bedürfnissen seiner Mitglieder bzw. KunAm 19. November 2010 wird die Positionierung des SBV vom Zentralvorstand zu Händen der Delegiertenversammlung verabschiedet. Am 25./26. Juni 2011 werden die Delegierten darüber befinden. In “der Weg” 1/2011 erfahren Sie mehr über den Inhalt des Positionierungs- papiers. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 25 Schweiz 26 Kurt Manz, ein Pionier in Graubünden Max Bundi In der Freizeit besuchte das Ehepaar Manz kranke und verunfallte Sehbehinderte und Blinde. Dank ihrer grossen Sozialkompetenz waren Kurt und Lilette ein fester Bestandteil des Behindertenwesens. Ihr selbstloser Einsatz ist unvergessen. Am 17. September 2010 verstarb Kurt Manz nach einer langen schweren Krankheit, die er tapfer und ohne zu klagen trug. Uns allen wird Kurt in guter Erinnerung bleiben; denn im Bündner Blindenwesen hat er zusammen mit Esther-Lilette Pionierleistungen vollbracht. Dafür sei herzlich gedankt. ̇ Kurt Manz (1932 bis 2010) hat im Behindertenwesen im Kanton Graubünden viel bewirkt. 1982 war er Gründungsmitglied der SBV-Sektion Graubünden und während zehn Jahren deren erster Sektionspräsident. Von 1989 bis 1993 war er ausserdem Mitglied des SBV-Zentralvorstandes. Daneben war Kurt Manz in den 80er- und 90erJahren im Vorstand des Ostschweizerischen Blindenfürsorgervereins und Mitglied in der Bündnerischen Behindertenkonferenz. Kurt Manz wurde am 20. August 1932 in Winterthur geboren. Er besuchte trotz seiner starken Sehbehinderung in Schaffhausen die Primarschule und in Zürich die Sekundarschule. Anschliessend absolvierte Kurt mit grossem Erfolg die Handelsschule Lausanne. Schon damals zeichnete er sich durch seine Fremdsprachenbegabung aus. Nebst seiner Muttersprache Deutsch sprach und schrieb er fliessend Französisch, Englisch und Italienisch. In Lausanne lernte Kurt die junge ebenfalls sehbehinderte Kinderkrankenschwester Esther-Lilette kennen und heiratete sie1963. Anschliessend zügelte das junge Ehepaar nach Chur, wo Kurt eine Stelle bei der Winterthur Versicherung antrat. Hier bildete er sich zum Versicherungsfachmann weiter und erwarb das Versicherungsdiplom. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Kurt 35 Jahre bei der Winterthur Generalagentur in Chur. Seine Gewissenhaftigkeit, seine hervorragenden Leistungen und Fachkompetenz waren so gefragt, dass er bald zum Experten beim Kaufmännischen Verein befördert wurde. Während Jahren nahm er in Bern Examen im Fach Versicherung ab. Nebst seinem arbeitsintensiven Beruf engagierte sich Kurt zusammen mit seiner Ehefrau EstherLilette unermüdlich im Behindertenwesen. Dank dieses Engagements entstand die Sektion Grau- bünden. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 26 Deutschschweiz 27 06.12. Stamm Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St. Gallen 11.12. Weihnachtsfeier im KVZ St. Gallen, Saalöffnung 11.30 Uhr, Anmeldung bei Dora Boller, Tel. Nr.: 071 244 23 12, weitere Info folgt in Televox und Post 03.01. Stamm Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St.Gallen 08.01. Neujahrsapéro, im Atelier St. Gallen, 14.00 Uhr, ohne Anmeldung Sektion Zürich 27.11. Samstags-Lunch in Uster: Chlaus-Lunch Anmeldung: 044 940 93 10 11.12. Chlauswanderungen aller Wandergruppen: Anmeldung an Walti Ogi. 044 432 28 28 12.03. Mitgliederversammlung Sektion Zürich: Volkshaus Zürich (separate Einladung folgt) Und ausserdem jede Woche Handarbeitsgruppe Aarau Mittwochs von 13.15 Uhr bis 16.15 Uhr in der Klubschule Migros, Bleichmattstr. 42, 5000 Aarau. Information: Margrit Zimmermann, 044 940 63 79 Atelier Zürich: Moosmattstrasse 30, 8953 Dietikon, 044 740 27 40 Weitere Informationen über die Sektionsaktivitäten finden Sie auf Televox 031 390 88 88 und auf www.sbv-fsa.ch ̇ Sektion Aargau-Solothurn 04.12. Chlausenfeier im Hotel Olten in Olten von 12 bis 17 Uhr. Anmeldung: Ruth Häuptli, 062 751 66 14 07.12. Stammtisch/Kaffeetreff von 14.15 bis 16.15 in der Aarauerstube, Bahnhofstrasse 78, in Aarau. Auskunft: Verena Marti, 062 822 01 78 04.01. Stammtisch/Kaffeetreff von 14.15 bis 16.15 in der Aarauerstube, Bahnhofstrasse 78, in Aarau. Auskunft: Verena Marti, 062 822 01 78 19.02. Mitgliederversammlung in der Seniorenresidenz Bornblick in Olten. Auskunft: Verena MüllerBachmann, 062 721 51 67. Sektion Bern 24.11. Stammtisch: ab 17 Uhr im Restaurant “a familia portuguesa”, Zähringerstr. 15, 3012 Bern 25.11. Freizeitgruppe Schwarzenburg, gemeinsames Mittagessen, Restaurant Bahnhof (1. Stock), in Schwarzenburg 02.12. Geführte Besichtigung Bierbrauerei- und Museum Cardinal in Fribourg. (Anmeldeschluss 20.11.) Albert Bänninger: 076 582 38 54 (ab 20.00 Uhr) 07.12. Freizeitgruppe Bern, Blinden- und Behindertenzentrum BBB, Neufeldstr. 95, 3012 Bern, 14.00 bis 15.30 Uhr Sektion Ostschweiz 08.11. Stamm Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St. Gallen Veranstaltungen 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 27 Magazin 28 Vorurteile und Ängste gegenüber Menschen mit einer Behinderung sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Diese Tatsache erschwert nicht nur die soziale Integration, sondern auch das alltägliche Leben der Betroffenen. Ich bin der Überzeugung, dass Begegnungen und Gespräche viel bewirken können und bei den Menschen ohne Behinderung einen Gedankenprozess anstösst. Wenn ich Miss Handicap werde, will ich mich für ein besseres Verständnis zwischen den zwei “Welten” einsetzten. Ich will aufzeigen, dass Menschen mit einer Behinderung ein genauso erfülltes Leben führen können, wie andere auch. Dazu gehören Arbeit, soziale Kontakte, Freizeit und selbstbestimmtes Leben. Auf meinen Reisen im Ausland habe ich erlebt, dass es möglich ist, als Mensch mit einer Behinderung ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft zu sein. Amerika, Schweden und Australien sind nur drei Beispiele von funktionierender Integration. Oder wo gibt es sonst rollstuhlgängige Toiletten mitten in der Wüste? ̇ Wie fühlt man sich wohl, wenn ... ... man in den Zug geschoben wird, obschon man eigentlich auf eine Freundin wartet? ... die Begleitperson Antwort auf die eigens gestellte Frage bekommt? ... hemmungslos getuschelt wird, sobald man mit dem Führhund in ein Restaurant kommt? Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es fühlt sich nicht sonderlich schön an und sollte ich auch nur eine kleine Verbesserung erreichen, es lohnt sich! Miss Handicap 2010 – ich will Botschafterin für die Themen Behinderung und Integration werden! Ich will Miss Handicap werden Anja Reichenbach Wer hautnah bei der Kürung der Miss Handicap 2010 dabei sein möchte, kann sich immer noch Tickets bestellen. Die Wahlnacht findet am 20. November im Kursaal Bern statt. Tickets und Infos auf www.misshandicap.ch Unterstützen Sie die Kandidatin Ihrer Wahl per SMS Die drei Kandidatinnen mit den meisten SMSStimmen haben an der Wahlnacht ein Punktepolster. Jede SMS kostet Fr. 1.50 und unterstützt gleichzeitig die Miss-HandicapOrganisation. Sie können für Ihre Finalistin mehrere SMS schicken oder für mehrere Finalistinnen stimmen. Wählen Sie Anja Reichenbach: Tel-Nr.: 9234, Nachricht: MHC Anja (Foto: Nikkol Rot) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 28 Magazin 29 Mein Sieg bei den Schweizerischen Paralympischen SchwimmMeisterschaften im vergangenen Monat belegt meine Ausdauer und meinen unbeugsamen Willen: Was ich anfange, bringe ich auch zu Ende. Mit eben diesem sportlichen Ehrgeiz, aber auch meinem Zartgefühl als Mutter zweier Söhne werde ich mich für die Sensibilisierung der öffentlichen Meinung durch Informationen über die Anliegen von Menschen mit Behinderungen einsetzen und zudem für eine bessere Integration Behinderter in den Bereichen Ausbildung und Beruf kämpfen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen … ̇ Vor dem Spiegel versuche ich, den Blick über mein Gesicht wandern zu lassen, doch vergeblich: Von meinen Zügen nehme ich nur noch einen Schatten wahr, der getränkt ist von Erinnerungen an meine Mandelaugen und vollen Lippen. Ratlos vor dem ungreifbaren Ebenbild befrage ich wie schon so oft den Spiegel nach meiner Schönheit, deren Widerschein er gefangen hält. Aber er gibt das Geheimnis des Gesichts nicht preis, das unter den Schleiern meiner Blindheit verscharrt ist. Mein Weg Mit meiner Teilnahme an der Wahl zur “Miss Handicap” will ich den Platz behinderter und doch gesellschaftlich erfolgreicher Frauen verteidigen. Natürlich freue ich mich auf die Bekanntschaft mit Schönheitsikonen, die allesamt mit einer Behinderung leben, doch geht es meiner Überzeugung nach bei diesem Wettbewerb um weit mehr als um Schönheit. Es ist die Wahl einer Botschafterin aller behinderten Frauen in der Schweiz, die gewiss attraktiv aussehen sollte, aber darüber hinaus gebildet, weltoffen und vor allem als Behinderte in das soziale und berufliche Umfeld unseres Landes voll und ganz integriert sein muss. Warum gerade ich? Da die Auserwählte alle behinderten Frauen in der Schweiz vertreten wird, wird mir meine Zweisprachigkeit Schweizerdeutsch/Französisch ebenso wie meine Kommunikationsfähigkeit dabei helfen, im ganzen Land eine klare Botschaft zu vermitteln. Mit 31 Jahren besitze ich genügend Reife, um der Verantwortung einer solchen Rolle als Vertreterin vieler anderer gewachsen zu sein. Charakterfestigkeit, eine kämpferische Natur, ein heiteres Gemüt – all das sind Facetten meiner Persönlichkeit und unverzichtbare Requisiten für eine Botschafterin in nobler Sache. Abbild einer Frau – Kandidatin an der Miss-Handicap-Wahl Leila Bahsoun Wählen Sie Leila Bahsoun: Tel-Nr.: 9234, Nachricht: MHC Leila (Foto: Nikkol Rot) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 29 Magazin 30 Sprachausgabe geht auf zwei neuen Handys Es gibt wieder zwei Modelle von Nokia, die für Blinde und Sehbehinderte nutzbar sind und über keinen Touchscreen verfügen. Sie lassen sich mit der Software Talks (oder Mobile Speak) ausrüsten. Das Modell Nokia 6700 Slide ist ein Schiebe-Handy mit einer etwas gewöhnungsbedürftigen Tastatur, das aber trotzdem bereits seine Anhänger gefunden hat. Das Modell Nokia C5-00 ist ein konventionelles Smartphone mit einer gut fühlbaren Tastatur. Es verfügt über einen eingebauten GPS-Empfänger und hat bereits das Programm Ovi Maps vorinstalliert. Damit besitzt es eine Navigationslösung, die kostenlos genutzt werden kann. Lediglich der Startbildschirm von Ovi Maps wird von der Sprachausgabe nicht vorgelesen, aber nach einer kurzen Eingewöhnung kann man die Navigation problemlos nutzen. Der SBB-Fahrplan auf dem iPhone ist jetzt barrierefrei In einem volkstümlichen Schlager aus grauer Vorzeit heisst es “Wir fahren mit der SBB im schönen Schweizerland”. Wann geht denn die Reise los, wo und auf welchem Gleis muss ich umsteigen? Antwort auf diese Fragen gibt das kostenlose Fahrplanprogramm der SBB auf dem iPhone. Doch leider war bis vor Kurzem genau dieses Programm für Blinde nicht nutzbar. Dank Intervention der EDV-Beratungsstelle des SBV konnte Mitte Oktober eine neue, zugängliche Version veröffentlicht werden. Das Eingeben von Start und Ziel der Reise ist nun auch mit der Sprachausgabe komfortabel möglich. Man kann sogar Adressen aus dem Adressbuch als Start oder Ziel verwenden. Das Programm gibt auch Informationen zu Bus und Tram, wenn dies für die Reise nötig ist. Vorgelesen werden die Verbindungen in einer natürlichen Sprechweise. Am tollsten ist aber die “Bring mich heim”-Taste. Hat man erst einmal eingegeben, wo man zu Hause ist, kann man sich von überall mit einem einzigen Tastendruck die nächsten Verbindungen nach Hause anzeigen lassen. Weil nämlich das iPhone dank GPS jederzeit weiss, wo ich gerade bin, sucht es automatisch die nächste Bahn-, Busoder Tramhaltestelle. Es gibt mir sogar die Distanz und Richtung dorthin bekannt. Mit dem iPhone könnte ich ausserdem das Billet für die Reise kaufen. Mein smartes Phone orakelt sogar, ob ich einen Sitzplatz haben werde, um durch das schöne Schweizerland zu fahren. Nur das Problem der chronisch überfüllten Züge kann es noch nicht lösen. ̇ Nachrichten aus der Welt der Elektronik Jürg Cathomas 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 30 Magazin 31 Wussten Sie, dass Beate Uhse die erste Stunt-Pilotin war? Dies können nun auch blinde und sehbehinderte Personen in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia recherchieren. Mehr als 400 Artikel wurden bisher von Freiwilligen auf Wikipedia eingesprochen und können als Audiodatei im Format Ogg-Vorbis heruntergeladen werden. Im Monat Oktober wurde jeden Tag der Artikel des Tages auch in gesprochener Form angeboten. Durchgeführt wurde dieses Projekt von den professionellen Sprechern und Sprecherinnen in den Studios der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde zu Leipzig. Die Idee der gesprochenen Wikipedia gibt es schon länger. Allerdings beruht das Einsprechen der Texte wie auch das Verfassen auf Freiwilligkeit. Auf der deutschen Startseite der Enzyklopädie (www.wikipedia.org) befindet sich ein Link “gesprochene Wikipedia”, der auf die alphabetisch geordnete Sammlung der Audio-Artikel führt. Wer mit Stimmen nicht heikel ist und sich an der Computerstimme nicht stört, der hat auf www.pediaphon.org den Zugang zu sämtlichen Wikipedia-Artikeln. ̇ Gesprochenes Lexikon Daniel Pulver und Susanne Steiner Inserat optisch unauffällig – aber auffällig schönes Design • Vergrösserung 2x bis 40x (auf 19” TFT) • Hochauflösendes, flimmerfreies Bild (HD Qualität) • Excellenter Fotomodus in Echtfarben, diverse Falschfarben im Positiv- und Negativkontrast • Helligkeits- und Kontrast- verstellung • Farbtonwahl im Fotomodus • Autofokus • Zusammenklappbar – Gewicht 1,9 kg • Lieferbar in drei Farben (rot, grau und blau) Informieren Sie sich bei accesstech ag: Luzern, 041 227 41 27 St. Gallen, 071 277 44 11 Neuchâtel, 032 725 32 25 www.accesstech.ch info@accesstech.ch Tagarno IBIS HD 131070_der_Weg_v 08.11.10 10:21 Seite 31 32 Magazin Sie kennen das Hotel Solsana: Das Schwimmbecken, die gemütlichen Zimmer, die Speisekarte in Blindenschrift, die Bar, die freundliche Aufnahme von Blindenhunden. Stellen Sie sich vor, der unverbaubare Blick zeige nicht die Alpen, sondern einen Strand: Wie etwa im Cliffden Hotel im südenglischen Teignmouth. Teignmouth versprüht den typischen Charme eines kleinen englischen Badeorts. Ein Bad im ausgesprochen frischen Meer gehört ebenso dazu wie ein Regenschauer ab und an. Das viktorianische Gebäude, in dem das Cliffden Hotel untergebracht ist, stammt aus dem Jahr 1840. Bevor es Action for the Blind als eines ihrer vier Hotels erwarb, war es eine psychiatrische Klinik. Zum Meer hinunter zieht sich ein sanft abfallender, weitläufiger Park. Völlig gefahrlos kann man hier eine gute halbe Stunde dem Strand entlang spazieren. An Wochentagen bietet das Hotel – meist gratis – zahlreiche Ausflüge an. Mit Voranmeldung können Sie aber auch auf ehrenamtliche Helfer zurückgreifen. Diese begleiten Sie gerne, wohin es Sie zieht. Als kleines Dankeschön kommt eine Einladung zur traditionellen “tea time” immer bestens an. Es empfiehlt sich also, sich der Sprache Shakespeares zu befleissigen. Mit dem Bus gelangen Sie zum Beispiel nach Exeter mit seiner atemberaubenden Kathedrale und vielen hübschen Geschäften. Für alle, die eine Landschaft gern zu Fuss erkunden, bieten sich in der Umgebung herrliche Wanderungen an. Die Speisekarte des Hotels bietet vielseitige, typisch britische Leckereien: Zum Beispiel Scones mit üppiger “clotted cream”, neben der unser Greyerzer Doppelrahm wie Kaffeerahm wirkt. ̈ Solsana-sur-Mer Claudine Damay Very british: Fünfuhrtee auf der Parkterrasse ... ... komfortable Zimmer ... ... und Gastfreundschaft auch für Hunde. Das Cliffden Hotel in Südengland richtet sich nach den Bedürfnissen von sehbehinderten Gästen. (Fotos: z.V.g.) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 32 33Magazin Weitere Informationen finden Sie im Internet unter: www.visionhotels.co.uk telefonisch bei Rosalind Zaugg, 022 755 19 19 oder Claudine Damay, 021 624 66 00. ) 60% der Gäste sind sehbehindert. Auch in diesem Punkt können Sie sich also ganz zu Hause fühlen. ̇ Oder Frühstück “very british” mit geräuchertem Schellfisch, Rührei und Toast – einfach delikat! Die Getränke zum Abendessen und an der Bar sind erschwinglich. Und sogar die Weinkarte ist klein, aber fein. Dabei ist die Bedienung stets sehr zuvorkommend. Die Preise schwanken mit dem Wechselkurs. In der Hochsaison kostet die Halbpension im Einzelzimmer rund 100 Franken. Inserat • Stationäre Bildschirm-Lesegeräte • Mobile Bildschirm-Lesegeräte • Scannerlesegeräte • Braillezeilen • Notizgeräte • Brailledrucker • Sprachausgaben • Vergrösserungssoftware • Bildschirmlesesoftware • u.v.m. Unser umfassender Service von A bis Z: • kompetente Bedarfsabklärung und Beratung für berufliche und private Arbeitsplatz- lösungen • Demoraum, in dem wir Ihnen Hilfsmittel von den führenden Produzenten zeigen können • wir stellen für Sie IV/AHV-Anträge aus • Lieferung, Installation und Schulung vor Ort • Support und Reparaturen Werden Sie unabhängig mit Hilfsmitteln von Accesstech accesstech ag edv für blinde und sehbehinderte www.accesstech.ch info@accesstech.ch luzern: bürgenstrasse 12, 6005 luzern fon: 041 227 41 27 niederlassungen/succursales st. gallen, rosenbergstr. 87, fon: 071 277 44 11 neuchâtel, crêt-taconnet 12a, fon: 032 725 32 25 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 33 Meinungen 34 Die Interessenvertretung, um die es in der September-Ausgabe von “der Weg” ging, gibt Anlass zu einigen Überlegungen: 1. Die überwiegend deskriptiven Texte sollen offensichtlich suggerieren, dass alle Probleme, mit denen SBV-Mitglieder konfrontiert sind, schlicht und einfach der SBV-Abteilung Interessenvertretung vorgelegt werden sollen, worauf diese dann eine Lösung findet. Bei allem Enthusiasmus wäre es zunächst einmal angebracht, zu klären, welche Fragen überhaupt in das Ressort des SBV fallen und welche in dasjenige anderer Institutionen. Dann müsste im Einzelnen geregelt werden, wofür jeweils die Interessenvertretung, die Regionen und nicht zuletzt die Sektionen zuständig sind. Dies ist unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Vertretungen sich nicht verzetteln und die Betroffenen tatsächlich den Eindruck haben, dass etwas für sie getan wird. Aus diesem Blickwinkel dürften schulische und berufliche Probleme Sehbehinderter wohl Sache der Invalidenversicherung sein; obwohl der SBV im Einzelfall berufsbezogene Projekte auf die Beine gestellt hat, ist leider festzustellen, dass die dabei herausgekommenen Schlussfolgerungen nie umgesetzt wurden. Es stimmt zwar, dass der SBV intern blinde und sehbehinderte Mitarbeiter eingestellt und Lehrlinge mit mehr oder weniger ausgeprägter Sehbehinderung ausgebildet hat, doch das ist eine ganz andere Sache, die mit der Interessenvertretung als solcher nichts zu tun hat. Ausserdem gehören bestimmte Themen zwar in die Zuständigkeit der Interessenvertretung auf eidgenössischer Ebene, doch können andere eher auf der regionalen Schiene von den regionalen Kommissionen bearbeitet werden, während rein lokale oder kantonale Angelegenheiten in die Sektionen gehören. Diese Unterteilung mag recht theoretisch erscheinen, hat aber immerhin den Vorzug, dass sie je nach Sachlage eindeutig anwendbar ist. Ich möchte meine Überlegungen mit ein paar Beispielen illustrieren: a) Alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit SBB, Post oder Swisscom sollten vom Zentralsekretariat des SBV geregelt werden. Voraussetzung hierfür sind natürlich ständige Kontakte sowohl zu den anderen grossen Invalidenverbänden der Schweiz als auch zu Vertretern der ehemaligen Regierungsbetriebe des Bundes. Ändern sich beispielsweise die Modalitäten für den Erwerb von Fahrkarten, die etwa durch Zuschläge teurer werden, wenn man die Fahrscheine erst während der Fahrt kauft, muss man schon im Vorfeld dagegen angehen, damit Behinderte von dieser Massnahme ausgenommen werden, anstatt einfach nur Tatsachen festzustellen, ohne sich im Geringsten dagegen zu wehren (wie vor wenigen Monaten in “der Weg Nr 1/2010” zu lesen war). ̈ Zum Thema Interessenvertretung Daniel Baud 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 34 Meinungen 35 b) Die Vorentwürfe für Revisionen der Bundessozialgesetze müssen von der Abteilung Interessenvertretung sehr genau geprüft werden. Es geht dabei um die Sozialpolitik des SBV, einen sehr wichtigen Bereich, der – jedenfalls dem Anschein nach – derzeit allerdings eher im Hintergrund bleibt. c) Die Interessenvertretung darf sich jedoch nicht auf rein zweckgebundene Belange beschränken. Auf kantonaler Ebene müsste vor allem die Barrierefreiheit von Veranstaltungen viel stärker von den Verantwortlichen der SBVSektionen beachtet werden, zumal die Freizeitkultur gerade in der heutigen Zeit einen sehr hohen Stellenwert hat. Ein Beispiel hierfür ist eine Aktion, die vor rund 20 Jahren im Kanton Waadt gestartet wurde, jedoch rasch in Vergessenheit geriet, weil zum einen die Delegierten die Sache offensichtlich nicht mit Nachdruck weiterverfolgten und zum anderen auch die Mitglieder selbst das Interesse verloren: Es ging damals darum, bei den Veranstaltern aller möglichen Events zu erreichen, dass der Eintritt für die Begleitperson eines Sehbehinderten frei war, etwa nach dem gleichen Prinzip wie bei der Begleiterkarte im öffentlichen Verkehr, mit der eine Begleitperson gratis mitfährt. Im Waadtland erinnert man sich teilweise noch an die Umsetzung dieser Aktion, beispielsweise beim Paléo Festival in Nyon. 2. Im Bereich Interessenvertretung sollte man unterscheiden zwischen den Bedürfnissen blinder und sehbehinderter Personen, und je nach den Umständen angemessen vorgehen. Ein typisches Beispiel hierfür sind Einkäufe. Denn während eine blinde Person im Geschäft vollständig auf Hilfe angewiesen ist, ist das bei jemandem, der noch eine gewisse Sehfähigkeit besitzt, oft nicht der Fall. Im Übrigen handelt es sich hier um einen Bereich, um den sich die Abteilung Interessenvertretung gar nicht kümmern sollte, da die Betroffenen erwachsen und autonom genug sind, diese kleinen Alltagsprobleme selbst mit ihrem Umfeld zu regeln. Insofern erscheint die Erstellung eines Merkblatts für das Verkaufspersonal in Einkaufszentren völlig überflüssig, zumal die darin vorgegebenen Standards gar nicht für jeden gelten und die Freiheit des Einzelnen auch bei solchen Aktivitäten in aller Regel respektiert werden sollte. 3. Ganz gleich, wie der neue Ansatz für den Umgang mit Behinderungen auch aussieht, ist die Lösung aller überwiegend praktischen Probleme von Blinden und Sehbehinderten weiterhin Sache der Abteilung Interessenvertretung, soweit sie in ihre Zuständigkeit fallen. Sie sollte sich dabei vor allzu viel Weltfremdheit hüten und entschiedener und kritischer vorgehen, damit die SBV-Mitglieder diese Tätigkeit auch anerkennen. ̇ Diskutieren Sie mit. Schicken Sie uns Ihren Leserbrief: Je kürzer er ist, desto eher wird er veröffentlicht. Diffamierende und anonyme Texte sowie Gedichte werden nicht abgedruckt. Die Redaktion entscheidet über Auswahl und Kürzungen. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 35 36 Liebe Frau Götte Ich bin stark sehbehindert und deshalb immer wieder auf fremde Hilfe angewiesen. Die SBB stellen behinderten Reisenden kostenlos eine Umsteigehilfe zur Verfügung. Diese kann man anfordern, in dem man das Callcenter Handicap in Brig anruft und bekannt gibt, wo, wie und wann man ankommt und wohin man möchte. Für mich bedeutet Autonomie, dass ich mir die Hilfe, die ich benötige, selbst organisiere. So bin ich nicht darauf angewiesen, zu warten, bis jemand mir seine Hilfe anbietet. Ich bin bestrebt, wenn immer möglich meine Autonomie zu bewahren. Ich versuche, selbstständig mein Leben zu organisieren. Oft muss ich feststellen, dass ich eine Situation falsch eingeschätzt habe und doch besser Hilfe angefordert hätte. Ich kann aber dann niemand anderen dafür verantwortlich machen, dass ich an meine Grenzen gestossen bin und nicht weiter weiss. Ich erwarte von Behinderten korrektes Verhalten, wie ich es von Nichtbehinderten erwarte. Denn genau das bedeutet “auf gleicher Augenhöhe” zu sein. Wenn ich nämlich von einem Behinderten kein korrektes Verhalten erwarten würde, so würde ich ihn nicht ernst nehmen, weil ich ihm ein korrektes Verhalten gar nicht zutrauen würde. Monika Koch ̈ Zum Leserbrief von Frau Götte Meinungen Inserat Eye-Pal Solo! Die neuste Generation von Vorlesegeräten: • Sekundenschnelle Texterkennung dank integrierter Digitalkamera • Selbstständige Seitenlageerkennung • Exzellente Sprachsynthese auf Basis menschlicher Stimme • Bedienung entweder über wenige Tasten oder per Handbewegung • Starkes Preis-Leistungs-Verhältnis Die SOLO Vorlesegeräte haben etwa die Masse einer DIN A4 Seite und wiegen nur 2,5 kg. Gerne führen wir Ihnen die neuen SOLO Vorlesegeräte auch zu Hause vor. Einfach anrufen! INVASUPPORT, Ihr Spezialist für Vorlesegeräte Friedackerstr. 8 8050 Zürich Tel.: 044 317 9014 E-Mail: invasupport@blind.ch Betroffene beraten Betroffene 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 36 37 Sehr geehrte Frau Götte Ihre Zeilen beleuchten die Situation, wie sie uns blinden Menschen unterwegs begegnen kann, ausserordentlich treffend. Ich wünsche mir, dass wir Menschen immer besser lernen, dass Helfen und sich Helfenlassen eine ebenbürtige Zusammenarbeit ist! Mit freundlichen Grüssen Karla Kunz ̇ Meinungen Inserat Besinnungswoche der reformierten Blindenseelsorge (RBS) Besinnung, das heisst sich auf biblische Themen einlassen, darüber nachdenken und diskutieren. Bewegen werden wir uns täglich, im Haus (= leichtes Turnen) und auf Spaziergängen und Ausflügen. Entspannt geniessen wir die gemeinsamen Aktivitäten. Wer gerne singt, kommt sicher auf die Rechnung. Kursdauer: 9. bis 16. Juli 2011 Ort: Hotel Scesaplana, Seewis (Prättigau) Kursleitung: Ursula Graf, Blindenseelsorgerin Ruth Tanner, Vorstandsmitglied der RBS Kosten: CHF 990.– im EZ, CHF 840.– pro Pers. Im DZ Anmeldung: Bis 31. Januar 2011 an U. Graf: 044 940 33 23 ORION Webradio Früher hörte man Rundfunkstationen aus fernen Ländern über Kurzwelle, heutzutage aus dem Internet. Mit dem ORION Webradio können blinde Menschen Internetradio hören, ohne dazu einen Computer zu benutzen, denn das Gerät liest Ihnen Ihre Senderliste vor. Alles, was Sie brauchen, ist ein normaler Internetanschluss. Wird das ORION Webradio angeschlossen und eingeschaltet, kann das Surfvergnügen gleich losgehen. Verfügen Sie über ein Drahtlosnetzwerk, so können Sie überall in der Wohnung Internetradio hören. Egal, ob Countrymusic aus Louisiana, heisser ReggaeSound direkt aus der Karibik oder Hiphop aus Europas Grossstädten: Das ORION Webradio bringts. Interessiert? Rufen Sie uns an! Betroffene beraten Betroffene Invasupport Friedackerstr. 8, 8050 Zürich, Tel.: +41 44 317 9014, E-Mail: invasupport@blind.ch Inserat 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 37 38 Inserat Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (www.sbv-fsa.ch) ist die Selbsthilfeorganisation für 4600 blinde und sehbehinderte Mitglieder. Er ergänzt die ehrenamtliche Selbsthilfetätigkeit seiner 16 Sektionen mit einem flächendeckenden, professionellen Dienstleistungsangebot. Das Zentralsekretariat des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (SBV) in Bern sucht per sofort oder nach Vereinbarung eine/n Kommunikationsallrounder/-in mit Schwerpunkt Medienarbeit (100%) Bewerbungen von Personen mit Behinderung sind besonders willkommen. Ihre Aufgaben Sie verfassen Medienmitteilungen und andere Texte, die über das Thema Sehbehinderung und Blindheit informieren. Sie führen selbstständig Projekte der Öffentlichkeitsarbeit durch. Stellvertretung des Bereichsleiters gehört ebenfalls zu den Aufgaben. Ihr Profil Sie haben eine Ausbildung und/oder mehrere Jahre Erfahrung im Bereich Medienarbeit, Öffentlichkeitsarbeit oder einem andern Kom- munikationsberuf. Sie sind kontaktfreudig und haben einen ausgeprägten Sinn für Kommunikation: Sei es mit Medienvertretern, ihren Arbeitskolleg(inn)en oder unseren Verbandsmitgliedern. Sie beherrschen die deutsche Sprache stilsicher und haben gute Kenntnisse in Französisch. Sie sind initiativ, haben eine schnelle Auffassungsgabe und beherrschen die modernen Kommunikationsmittel. Ihre Perspektiven Sie arbeiten in Bern in einem engagierten und qualifizierten Team in einem Verband, der sich permanent entwickelt. Sie tragen Verantwortung und haben eine Stelle mit Entwicklungspotenzial. Sie können sich in die Entwicklung des Bereichs ein- bringen. Interessiert? Dann freuen wir uns, wenn Sie bis am 30. November 2010 Ihr vollständiges Dossier elektronisch an pierre-yves.graber@sbv-fsa.ch schicken. Für Fragen steht Ihnen Herr Pierre-Yves Graber gerne zur Verfügung: 079 541 96 20. 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 38 Impressum 39 Impressum Offizielle Zeitschrift des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (SBV) im 97. Jahrgang. Erscheint sechsmal im Jahr in Grossdruck, in Braille, im DAISY-Format, im Elektronischen Kiosk, teilweise auf www.sbv-fsa.ch sowie auf Bestellung per E-Mail (ohne Fotos) in Deutsch und Französisch (”clin d’oeil”). Herausgeber: SBV Redaktion: Naomi Jones und Jean-Marc Meyrat Umschlaggestaltung: Büro Grotesk.cc Layout: Dietschi AG Druck&Medien, Olten Übersetzungen: USG ÜbersetzungsService AG Druck: Dietschi AG Druck&Medien, Olten Druck auf umweltfreundliches FSC-Papier ISSN (Schwarzschrift): 1422-0490 ISSN (Blindenschrift): 1422-0504 Für Mitglieder des SBV: gratis. Jahresabonnement für Nichtmitglieder: Fr. 28.– (Inland), Fr. 34.– (Ausland). Postkonto: 30-2887-6 Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 10. Dezember 2010 Thema: 100 Jahre SBV Anregungen bitte an: Redaktion ”der Weg/clin d’oeil” Schweizerischer Blinden- und Seh- behindertenverband, Gutenbergstrasse 40b, 3011 Bern, Tel. 031 390 88 00; Fax 031 390 88 50 info@sbv-fsa.ch, www.sbv-fsa.ch Inserat PK 80-890-0 www.sbv-fsa.ch Der SBV setzt alles dran, dass Visionen wirklich werden. Helfen Sie mit! Autonomie und Integration – eine Utopie? Luzern 1125 m 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 39 Am 20. November 2010 finden im Kursaal Bern die zweiten Miss Handicap Wahlen statt. Zwei Kandidatinnen sind sehbehindert. In dieser Ausgabe von „der Weg“ stellen sie sich vor und sagen, warum sie die ideale Miss Handicap wären. (Foto: Fabienne Bühler für Schweizer Illustrierte) 131070_der_Weg_v 04.11.10 15:19 Seite 40