/ 173 11 Literatur zwischen 1945 und 1968 11.1 Die Zelt nach 1945 Die literarischen Strömungen und Entwicklungen nach 1945 lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Zu viele verschiedenartige geistesgeschichtliche Systeme und Weltanschauungen konkurrieren, auch ist der zeitliche Abstand zu dieser Literatur noch nicht groß genug, um leitende, auch langfristig tragfähige Aspekte heute schon bestimmen zu können. Hinzu kommt eine räumliche Differenzierung: Die „deutsche Literatur" nach 1945 entsteht nicht unbedingt in der Bundesrepublik Deutschland selbst: Die deutschsprachige Literatur der Schweiz, Österreichs, dann auch die der DDR muss berücksichtigt werden. Wegen dieser Unsicherheiten wird häufig für die jüngste Zeit auf eine chronologische Literarurgeschichtsschreibung verzichtet; man behilft sich dann entweder damit, Literatur nach den thematischen Schwerpunkten zu gruppieren („Arbeitswelt", „Welt der Technik" usw.) oder man rechnet die jeweilige Literatur übergeordneten geistesgeschichtlichen Strömungen zu („hermeneutischer Historismus", „skeptischer Realismus" usw.). Sinnvoll ist jedoch ein Einschnitt im Jahr 1968. Bis dahin steht die Bundesrepublik im Zeichen des Wiederaufbaus und des Wirtschafts wunder?., die Fortschrittsgläubigkeit ist groß und der Wunsch stark, unter die Nazi-Greuel einen „Schlussstrich" zu ziehen. 11.1.1 Die politische Situation Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland vor der Übermacht der Alliierten und war damit zu einem besetzten Land geworden. In den folgenden Jahren wurde die Welt in eine östliche (von der UdSSR dominierte) und eine westliche (an den USA orientierte) Hemisphäre geteilt - ein Vorgang, den Deutschland mit der Teilung in Bizone (1947) und SBZ (Sowjetische Besatzungszone), später in Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik (1949) im Kleinen widerspiegelt. Die Einbindung der beiden deutschen Staaten in militärische Bündnisse folgte; der Kalte Krieg, der seinen ersten Höhepunkt in der Berlin-Blockade (1948/49) gefunden hatte, bestimmte das politische Leben der 50er-Jahre, die in weiten Teilen der Bevölkerung gewünschte 174 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 / 175 Berlin 1945. Text an der Fassade eines Hauses in der Pfalzburger Strasse. Wiedervereinigung war nicht in Sicht. Die 50ei- und beginnenden 60er~Jahre werden oft mit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers (CDU) gleichgesetzt, der den Nachkriegsjahren seinen politischen Stempel aufgedrückt hat. Ludwig Erhard, der vormalige Wirtschaftsminister und „Vater des Wirtschaftswunders", hatte als Kanzler und „Erbe" Adenauers eine weniger glückliche Hand und trat 1966 zurück. Kurt Georg Kiesinger (CDU) bildete in den ersten Krisenjahren dei jungen Bundesrepublik dann zusammen mit der CSU und der SPD eine große Koalition. Da die FDP als einzige, kleine Partei zu einer wirkungsvollen Opposition nicht in der Lage war, verlagerten sich die politischen (Protest-)Aktionen auf die Straße: die APO, die außerparlamentarische Opposition war geboren. 11.1.2 Kulturelle Voraussetzungen Die Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Regimes, das unvorstellbare Ausmaß der Judenvernichtung, das erst jetzt allgemein bekannt wurde, und die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg waren die das geistige Leben nach 1945 bestimmenden Elemente. Die Philosophen und Literaten reagierten darauf mit Nihilismus und Atheismus oder sie machten sich auf die Suche nach neuen sinnstiftenden Faktoren, wandten sich der Religion oder einem neuen Mystizismus zu. Starken Einfluss auf die gesamte europäische Literatur nach 1945 hatte die Existenzphilosophie Jean Paul Sartres (Das Sein und das Nichts, 1943) und Albert Camus' (Der Mythos vom Sisyphos, 1942). 11.2 Die Literatur nach 1945 11.2.1 Kahlschlag, Stunde Null oder Kontinuität? Viele Autoren empfanden die Situation nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 als „Stunde Null". Sie standen unter dem Eindruck des vollkommenen Zusammenbruchs, der einen neuen Anfang aus dem Nichts möglich und nötig machen würde. Wolfgang Weyrauch (1907-1980) forderte sogar einen „Kahlschlag" im Sinne einer radikalen Sprachkritik, die einem wirklichen Neubeginn vorausgehen müsste. Heute wissen wir, dass sich die literarische Situation nach Kriegsende doch etwas anders gestaltete, als dies die Zeitgenossen wahrnahmen. Von einem absoluten „Nullpunkt" kann keine Rede sein, vielmehr waren manche Traditions-linien abgebrochen, andere aber nur unterbrochen, und an diese konnten die Schriftsteller bald wieder anknüpfen. Autoren, die sich als Erste im Nachkriegs-Deutschland wieder Gehör verschaffen und größere Erfolge erzielen konnten, waren noch aus den Zeiten der Weimarer Republik bekannt: Thomas Mann, Hermann Hesse, Robert Musil - um nur einige zu nennen. Zwölf Jahre war die deutsche Literatur vom Ausland abgeschnitten. Nach 1945 war das Bedürfnis, die in dieser Zeit entstandene ausländische Literatur zu lesen, bei den Deutschen sehr groß. Rezipiert wurden vor allem Autoren aus den Besatzerländern, aus den USA, aus Frankreich und aus Großbritannien: Ernest Hemingway (1899-1961), John Steinbeck (1902-1968), William Faulkner (1897-1962), Thornton Wilder (1897-1975), Tennessee Williams (1914-1983) und Arthur Miller (1915-2005); Jean Paul Sartre (1905-1980), Albert Camus (1913-1960), Paul Claudel (1868-1955), Jean Anouilh (1910-1987), Eugene Ionesco (1912-1994) und Jean Giraudoux (1882-1944); Georg Bernhard Shaw (1856-1950), Christopher Fry (1907-2005), T. S. Eliot (1888-1965) und Samuel Beckett (1906-1989). Auch der Autoren der inneren Emigration erinnerte man sich: Frank 1 fließ (1890-1977), Ricarda Huch (1864-1947), Rudolf Hagelstange (1912-1984), Reinhold Schneider (1903-1958), Ernst Wiechert (1887-1950) und Jochen Klepper (1903-1942). 176 / Literatur zwischen 194S und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1 Langsamer setzte die Auseinandersetzung mit den exilierten Autoren ein; es wurde ihnen oft zum Vorwurf gemacht, Deutschland in Zeiten größter Not verlassen zu haben (wobei die Kritiker nicht sahen oder nicht sehen wollten, dass fast alle Exilautoren im Falle ihres Bleibens unmittelbar an Leib und Leben bedroht gewesen wären). Viele Dichter kamen aus dem Exil nicht nach Westdeutschland zurück - auch dies machte sie in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges für viele Menschen suspekt. Bert Brecht etwa ging nach Ostberlin, was ihn im Westen zur persona non grata werden ließ, auch Anna Seghers (1900-1983), Johannes R. Becher, Arnold Zweig (1887-1968) und Theodor Plievier (1892-1955) ließen sich (vorübergehend) in der sowjetisch besetzten Zone nieder. Lion Feuchtwanger, Hermann Kesten (1900-1996) und Hermann Broch (1886-1951) blieben in den Vereinigten Staaten, Walter Mehring (1896-1981), Carl Zuckmayer (1896-1977), Thomas Mann und Erich Maria Remarque (1898-1970) in der Schweiz. 11.2.2 „Trümmerliteratur" und Gruppe 47 Nach 1945 trat in Deutschland eine neue Dich-tergeneiation auf den Plan; die jungen, um 1920 geborenen Autoren, die den Krieg als Frontsoldaten selbst miterlebt hatten. Sie traten mit einem Programm an, das Heinrich Boll mitprägte: In seinem Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952) spricht er sich für eine Literatur aus, die die Folgen des Kriegs ohne Beschönigung darstellt, für eine rückhaltlose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die nicht hinter einem „schönen Stil" oder einer Beschwörung von neuer Innerlichkeit zurückbleiben dürfe. Dieses Programm erwies sich als der folgenreiche Versuch, zu einem neuen Stil und zu neuen Inhalten der Dichtung zu finden. Entscheidend mitgetragen wurde es von der „Gruppe 47", einer 1947 von den Autoren Alfred Andersch (1914-1980) und Hans Wer-Treffen der Gruppe 47: Martin Walser, Ingeborg , fi,fto • i u - „ o u ju .Lo-nc , ■ ccq ner Richter (1908-1993) ms Leben gerufenen Bachmann und Heinrich Boll, Empfang im SFB ^ ' ° 15./1S. 5.1955 lockeren Vereinigung von jungen Dichtern. Die Gruppe 47 hatte keine festen Statuten, die Autoren trafen sich ein- oder zweimal jährlich zu Lesungen aus ihrem Werk. Für viele junge Schriftsteller bedeuteten diese Treffen den Beginn ihrer Karriere. Dazu gehören Martin Walser (geb. 1927), Günter Grass (1927-2015), Ilse Aichinger (geb. 1921), Heinrich Boll, Günter Eich (1907-1972), Ingeborg Bachmann (1926-1973), Wolfdietrich Schnurre (1920-1989), Peter Handke (geb. 1942), Peter Härtung (geb. 1933), Uwe Johnson (1934-1984), Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) und Siegfried Lenz (1926-2014). 11,2.3 Die moderne deutsche Kurzgeschichte Unmittelbar nach Kriegsende war neben den lebensnotwendigsten Dingen auch das Papier knapp, das die Alliierten rationierten. Damit hatten sie zugleich eine gewisse Kontrolle darüber, was gedruckt wurde; konnte man doch noch nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass die nationalsozialistische Gesinnung der Deutschen völlig aus ihrem Denken verbannt war. Diese äußeren Rahmenbedingungen waren ein Grund für die Autoren, sich einer neuen Gattung zuzuwenden, ja sie eigentlich in und aufgrund dieser Situation erst zu kreieren: Die Rede ist von der modernen deutschen Kurzgeschichte. Vorbild war die amerikanische „sliort Störy", wie man sie z. B. von Hemingway kannte, und die im Gefolge der Massenpresse, Tageszeitungen etwa, entstanden war. Diese Gattung scheint in der damaligen Situation für die deutschen Schriftsteller das richtige Medium gewesen zu sein: Einmal konnte man damit an die so begierig aufgenommene anglo-amerikanische Tradition anknüpfen, zudem löste sich so das Problem der Papierknappheit fast von selbst. Und noch ein Aspekt, vielleicht sogar der wichtigste, kommt hinzu: Die Dichter hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwar den Drang sich mitzuteilen, aber kaum die Kraft, einen langen Roman oder ein streng aufgebautes Drama zu verfassen. Auch wäre es bei der damals unter den Schriftstellern und Intellektuellen herrschenden „geistigen Unbehaustheit", die sich nach dem Zusammenbruch der bis dahin gültigen Werteordnung in der Suche nach neuen ethischen wie ästhetischen Kategorien manifestierte, wohl nicht möglich gewesen, sofort schlüssige Orientierungshilfen und Problemlösungen anzubieten. Mit der Kurzgeschichte bestand jedoch die Möglichkeit, Probleme und Krisensituationen aufzuzeigen und literarisch zu gestalten, die Lösung dabei allerdings den Rezipienten zu überlassen. Bekannte Kurzgeschichten, die meist den Krieg und seine Folgen thematisieren, stammen von Wolfgang Bordiert (1921-1947): Die Hundeblume, Nachts schlafen die Ratten doch, An diesem Dienstag, Schischyphusch, Das Brot, 178 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 196S 0 179 Die drei dunklen Könige (alle 1947). Auch Heinrich Boll (Wanderer, kommst du nach Spa 1950), Elisabeth Langgässer (1899-1950; Saisonbeginn, 1947) und Ilse Aichinger (Das Fenstertheater, 1952) traten mit Kurzgeschichten hervor. 11.2.4 Das Hörspiel Eine bedeutende literarische Nachkriegsform war das Hörspiel: Nach eisten Anfängen vor 1933 (Brecht, Ernst Hardt) wurde es nun wieder entdeckt. Für viele Autoren erwies sich der Rundfunk, der zwölf Jahre lang für nationalsozialistische Propaganda missbraucht worden war, als Medium, mit dessen Hilfe ein relativ großer Kreis von Interessierten angesprochen werden konnte. Als Hörspielautoren traten vor allem Wolfgang Weyrauch, Wolfgang Borchert, Günter Eich (Träume, 1951), Fred von Hoerschelmann (Das Schiff Esperanza, 1953) und Ingeborg Bachmann (Der gute Gottvon Manhattan, 1958) hervor. 11.2.5 Lyrik nach 1945 Die Nationalsozialisten hatten die deutsche Sprache für ihr verbrecherisches Regime in Dienst genommen, sie missbraucht und deformiert. Der Philosoph Theodor W. Adorno formulierte den später oft zitierten Satz: „Nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch," So ist das Anliegen vieler Lyriker verständlich, die Sprache als Ausdrucksmittel neu zu erfinden und mit ihrer Hilfe den Dingen auf den Grund zu gehen. Viel Beachtung fand das Gedicht Inventur (1946) von Günter Eich, das einen sprachlichen Kahlschlag versucht. Die Lyrik entwickelte sich nach 1945 in mehreren großen Linien, die durch gegensätzliche weltanschauliche Tendenzen geprägt sind: - Auf der einen Seite standen die Dichter, denen es nach dem Hitlerregime darum ging, ein neues Verständnis für Sprache zu entwickeln (hermetische Dichtung). Hermetische Gedichte sind in sich abgeschlossen und meist von der Wirklichkeit losgelöst; Während die zerstörten deutscher, Städte wieder- ^ Ausdeumng bleibt deshalb spekulativ aufgebaut wurden, forderten die Dichter auch eine = sprachliche Neubesinnung. und stellt für jede Generation eine neue Herausforderung dar. Bahnbrechend wirkten Gottfried Benns Marburger Rede über Lyrik (1951), in der er das „absolute Gedicht" fordert, das „ohne Glauben", „ohne Hoffnung" und „an niemanden gerichtet" sein solle, sowie sein Gedichtband Statische Gedichte (1948), wo der Autor exotische Landschaften und Aspekte der griechischen Mythologie beschwört, die keinen unmittelbaren Bezug zur Realität der Nachkriegszeit erkennen lassen. Beispiele für hermetische Gedichte sind Todesfuge (1952) von Paul Celan, Anrufung des Großen Bären (1957) von Ingeborg Bachmann, Welt, frage nicht... (1961) von Nelly Sachs und Vermächtnis (1967) von Rose Ausländer. - Andere Autoren orientierten sich am Vorbild Brechts und behandelten die gesellschaftliche Realität in ihren politischen Gedichten. Themen waren z. B. der Zweite Weltkrieg und seine Folgen für das Individuum, die Notstandsgesetze, die außerparlamentarische Opposition und der Vietnam-Krieg. Noch heute bekannte politische Gedichte aus den Jahren nach 1945 sind z.B. Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957) von Hans Magnus Enzensbergerund undVietnam und (1966) von Erich Fried. - Ein wichtiges Genre war die Naturlyrik. Die Natur war politisch unbelastet, weshalb sich Autoren, die Kritik und Selbstkritik scheuten, ihr ebenso zuwandten wie viele Leser, die von Politik nichts mehr hören wollten, sich lieber dem Wiederaufbau widmeten und die Vergangenheit verdrängten. Wichtige Vertreter der Naturlyrik fanden sich in der sogenannten „naturmagischen Schule" zusammen, z. B. Peter Hüchel (Der Garten des Theo-phrast, 1962), Johannes Bobrowski (Schattenland, 1962), Wilhelm Lehmann (Auf sommerlichem Friedhof 1946), Oskar Loerke (Leitspruch, 1958), Werner Bergengruen (Die heile Welt, 1950) und Elisabeth Langgässer (Frühling 1946, 1951). - Die Vertreter der „Konkreten Poesie", z.B. Eugen Gomringer (schweigen, 1960), H. C. Artmann (landschaft 18, 1969), Helmut Heißenbüttel (das Sagbare sagen, 1960) und Ernst Jandl (laut und luise, 1971), versuchten sich in Sprachexperimenten. Dabei nahmen sie das Sprachmaterial ernst und stellten einzelne Worte und Laute in einen neuen Zusammenhang. Dichtung verstanden sie als Politikum und betonten selbst ihre Verantwortung als Dichter. Oft sind die Sprachspiele der Konkreten Poesie visuelle Bilder, oft beziehen sie ihren Wert aus ihrer akustischen Qualität. 180 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 11.2.6 Der zeitkritische Roman Eine herausragende Rolle in der Literatur der 50er- und 60er-Jahre spielt der zeitkritische Romin. Den großen Epikern der Restaurationsjahre der Bundesrepublik ging es um eine kritische Auseinandersetzung mit der neu entstehenden Bundesrepublik, mit der Wohlstandsgesellschaft und mit dem Vergessen und Verdrängen der individuellen und kollektiven Schuld während der nationalsozialistischen Herrschaft. Wichtige Autoren und Werke sind: Wolfgang Koeppen (1906-1996) Koeppen setzte sich schon sehr früh mit der jungen Bundesrepublik und ihren Repräsentanten auseinander. In Tauben im Gras (1951), einem an Döblins Montagetechnik und James Joyce' innerem Monolog geschulten Werk, zeigt er in dreißig Einzelszenen ohne durchgängige Handlung verschiedene Gesinnungen und Lebensschicksale der Nachkriegszeit. In Das Treibhaus (1953) fängt Koeppen die in Bonn herrschende Stimmung zur Zeit der Wiederaufrüstung ein. Die Romanhandlung stellt den Bundestagsabgeordneten Keetenheuve in den Mittelpunkt, der als Gegner der Wiederbewaffnung vor sich selbst bestehen will und - anstatt sich auf einen Botschafterposten abschieben zu lassen - den Freitod wählt. Im dritten Roman mit dem Titel Tod in Rom (1954) macht Wolfgang Koeppen das Weiterleben des nationalsozialistischen Gedankenguts anschaulich. Heinrich Boll (1917-1985) Bolls frühe Romane Wo warst du, Adam? (1951), Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954), Billard um halbzehn (1959) und der erst 1992 veröffentlichte, in den Jahren 1949-1951 entstandene Roman Der Engel schwieg schildern den Krieg und das Leben in der Bundesrepublik aus der Sicht des Kleinbürgers. In Ansichten eines Clowns (1963) zeigt Boll die Wandlung des Industriellensohns Hans Schnier zum Clown, also zum gesellschaftlichen Aussteiger aus Protest gegen den Absolutheitsanspruch von Staat und Kirche. Eine positive Parallelfigur zu Hans Schnier stellt Boll in den Mittelpunkt des Romans Gruppenbild mit Dame (1971): Leni Pfeiffer widersetzt sich dem gängigen Profitdenken und gerät dadurch zur Idealfigur. Weitere Romane und Erzählungen Bolls, mit denen er wie Walser zum (subjektiven) Chronisten der Bundesrepublik wurde, sind Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974), Fürsorgliche Belagerung (1979) und Frauen vor Flußlandschaft (1985). Günter Grass (1927-2015) Grass' Hauptwerk ist der Roman Die Blechtrommel (1959). Darin lässt der 30-jährige Oskar Matzerath, der als Dreijähriger beschlossen hat, das Wachsen aufzugeben und die Welt fortan aus der Perspektive des Gnoms zu betrachten, sein Leben - und in der Retrospektive das seiner Eltern und Großeltern -Revue passieren. Die familiären Ereignisse dienen dabei aber nur als Fixpunkte, vor deren Hintergrund die wechselvolle politische Geschichte der Stadt Dan-zig, Polens und Deutschlands dargestellt wird. Neben Gedichten und Dramen veröffentlichte Grass zahlreiche Romane und Erzählungen, u.a. Hundejahre (1963), Örtlich betäubt (1969), Der Butt (1977), Die Rättin (1986), Katz und Maus (1961), Das Treffen in Telgte (1979), Ein weites Feld (1995) Mein Jahrhundert (1999) und Im Krebsgang (2002). Für sein Gesamtwerk, v. a. aber für Die Blechtrommel, wurde Günter Grass 1999 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Siegfried Lenz (1926-2014) Siegfried Lenz ist mit dem Roman Deutschstunde (1968) schlagartig bekannt geworden. Auch er thematisiert die jüngste deutsche Vergangenheit unter dem Aspekt der eigenen Verantwortlichkeit gegenüber einer übermächtigen Obrigkeit: Siggi Jepsen muss in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche einen Strafaufsatz über „Die Freuden der Pflicht" verfassen. Während des Schreibens reflektiert er seine Kindheitsgeschichte. Er wuchs in Rugbüll auf, einem Dorf in Schleswig, in dem sein Vater Polizist war. Dieser hatte den Auftrag erhalten, die Einhaltung des Malverbots zu überwachen, mit dem der Maler Nansen von Wolfgang Büttner als Max Nansen in der Verfilmung der Deutschstuntte (1971), Regie: Peter Beauvais 182 f Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 / 183 den Nazis belegt worden war. Siggi hilft jedoch Nansen, das Verbot zu umgehen und wird, als er Bilder vor der Zerstörung retten will, als Dieb straffällig. Grundsatzlich ändert Siggis Verhalten an der Lage Nansens nichts. Der alte Jepsen kehrt nach Kriegsende schnell auf seinen früheren Posten zurück und nimmt -autoritätshörig wie eh und je - sein altes Verhalten wieder auf. Alfred Andersen (1914-1980) Durchgängiges Motiv der Dichtungen Alfred Anderschs ist die Freiheit. Schon in seinem ersten Roman Die Kirschen der Freiheit (1952), der von eigenem Erleben in Italien gespeist ist, stellt Andersch einen Deserteur in den Mittelpunkt der Handlung. Die Rote (1960) handelt von einer jungen Frau, die aus der Enge der Wohlstandsgesellschaft ausbricht und mit einem Fischer in Mestre bei Venedig ein neues Leben beginnt. In Sansibar oder der letzte Grund (1957) zeigt der Autor fünf Personen, die sich alle aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht (in die Freiheit) befinden: Zwei Kommunisten sind enttäuscht von der kommunistischen Partei, die Jüdin Judith will vor den Nazis nach Skandinavien fliehen, Pfarrer Heiander möchte eine Plastik, die der „entarteten Kunst" zugerechnet wird, vor den Nazis retten und ein Schiffsjunge möchte aus Abenteuerlust nach Sansibar. Weitere Romane und Erzählungen Alfred Anderschs sind: Efraim (1967), Wmrerspe/t(1974), Vater eines Mörders (1980). Martin Walser (geb. 1927) Walsers Romanfiguren entstammen der bürgerlichen Mittelschicht: Anselm Krisdeinaus Halbzeit (1960), DasEinhorn (1966) und Der Sturz (1973) ist zunächst als Handelsvertreter, dann als Werbetexter und zuletzt als Schriftsteller tätig; Helmut Halm aus der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) ist Lehrer. Walsers Helden entstammen also dem Alltag des durchschnittlichen Bundesbürgers, sie scheitern am Leben, resignieren und passen sich an. 11.2.7 Literatur der Arbeitsweit Die Forderung nach zeitgemäßen Inhalten, verbunden mit einem kritischen Sprachbewusstsem, führte zur Gründung der „Gruppe 61", die die Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt und den sozialen Problemen zum Thema machte. In diesem Umfeld entstanden die Industriereportagen (1966) von Günter Wallraff (geb. 1942), die Bottroper Protokolle (1968) von Erika Runge (geb. 1933) und der Roman Irrlicht und Feuer (1963) von Max von der Grün (1926-2005). Bei den Erstgenannten stand nicht das Dichterische, sondern die Dokumentation konkreter gesellschaftlicher Um- bzw. Missstände im Vordergrund; ihre Intention war eine durch und durch politische. Überhaupt erlangte die Annäherung von Politik und Literatur Ende der 60er-Jahre nicht zuletzt durch die Politik Willy Brandts und seine Offenheit gegenüber Intellektuellen und Schriftstellern ihren Höhepunkt. 11.2.8 Deutschsprachige Literatur der Schweiz Wichtige Anregungen für die deutsche Literatur kamen aus der Schweiz. Vom Zweiten Weltkrieg nicht unmittelbar betroffen, konnte sich in der Schweiz ein unverktampfteres Verhältnis zur Vergangenheit entwickeln. Die Frage nach der Mitverantwortlichkeit des Einzelnen als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen stellten die Schriftsteller Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in ihren Werken auf unterschiedlichste Weise dar. Max Frisch (1911-1991) Frischs schier unerschöpfliches Thema ist das der Identität. Noch in Biographie: Ein Spiel (1967) lässt der Autor einen Menschen sein Leben nach eigenem Gutdünken noch einmal leben, da er mit seiner ursprünglichen Biografie unzufrieden ist. Doch schon die Romane Stiller (1954), Homo faber (1957) und Mein Name sei Gantenbein (1964) sind Variationen zum Thema Identität: Walter Faber lebt an seinem eigenen Wesen vorbei, da er sich von sich selbst ein starres Bildnis gemacht hat, Stiller will seine Identität wechseln und behauptet „Ich bin nicht Stiller", Gantenbein schlupft in immer neue Rollen. Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) Dürrenmatt wählte für die Darstellung seiner Stoffe häufig die Form der Komödie oder der Groteske. In Die Physiker (1963) zieht sich der Physiker Dr. Möbius als scheinbar Geisteskranker in die Irrenanstalt zurück, um zu verhindern, dass seine Entdeckung für die Vernichtung des Menschengeschlechts missbraucht wird. Zwei gegnerische Geheimdienste sind ihm jedoch auf der Spur und schleusen Agenten in die Klinik ein, die Möbius entführen sollen. Am Ende dieser Komödie stellt sich heraus, dass die drei angeblichen Irren einer wahrhaft Irren gegenüberstehen - der Ärztin des Sanatoriums. Sie hat die Papiere, die Möbius verbrannte, längst abgeschrieben und eine Firma gegründet, um seine Entdeckung wirtschaftlich zu nutzen. Es bleibt nur die Erkenntnis: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden". 184 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 ✓ 185 In Besuch der alten Dame (1956) zeigt Dürrenmatt die Bestechlichkeit der Menschen - ohne Anklage, aber als "bissige Groteske: Vor Jahren hatten Alfred Iii und Klara Wäscher ein Verhältnis, aus dem ein Sohn hervorgegangen ist. III bekannte sich jedoch nicht zu seiner Geliebten, im Gegenteil: Er hatte Zeugen gekauft, die seine Unschuld bekunden sollten. Klara musste in Schimpf und Schande die Stadt Güllen verlassen. Die Handlung der Komödie setzt mit Klaras Rückkehr ein. Unter ihrem jetzigen Namen Ciaire Zachanassian kommt sie als Milliardärin zurück mit dem Ziel, sich an Alfred 111 zu rächen. Sie fordert die Bürger von Güllen auf, III für das Kopfgeld von einer Milliarde zu töten. Diese sind zuerst entrüstet, doch die „alte Dame" hatte vorgesoigt: Sie hat langfristig die Wirtschaft der Stadt aufgekauft, die Bürger Gullens sind von ihr abhängig. Als sie kein Geld mehr haben, kaufen sie auf Pump - immer in der Hoffnung, irgend jemand würde das Geld für Güllen verdienen. Und so geschieht es dann auch: Der Mord, der zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit geworden ist, wird verübt. Dürrenmatt ist auch als Autor unkonventioneller Kriminalromane berühmt geworden: Der Richter und sein Henker (1952), Der Verdacht (1953) und Das Versprechen (1958) stammen aus seiner Feder. ^ * >«*• &4 # 4 *■*•* JM$-£«jk4^ . «fr 1-4»^ » IlfHHB' 11,2.9 Literarisches Leben; Verlage und Buchgemeinschaften Das literarische Leben in der Bundesrepublik Deutschland, wie auch in Österreich und der Schweiz, ist sehr vielschichtig geworden. Es wird nicht mehr nur von den Autoren und den literarisch Interessierten geprägt, vielmehr treten immer mehr die wirtschaftlichen Interessen der Verlage in den Vordergrund. Auch Buchgemeinschaften spielen eine große Rolle - ebenso wie der Taschenbuchmarkt -, wenn es darum geht, Bücher aller Couleur in möglichst hohen Auflagen an den Mann bzw. die Frau zu bringen; sie dienen aber auch der allgemeinen Volksbildung. 11.3 Autoren und Werke 11.3.1 Das Heimkehrerdrama: Borcherts „Draußen vor der Tür" Kurzbi 1921 1938 1939 1941 1942 1942 1944 1945 1947 1947 1949 ografie: Wolfgang Bordiert geboren in Hamburg erste Veröffentlichung von Gedichten heimlicher Schauspielunterricht Soldat: Verwundung im Winterkrieg in Russland Diphtherie, Gelbsucht; anschließend wegen Denunziation Oberstellung ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg: Verurteilung zu verschärfter Haft und anschließender „Frontbewährung" Einweisung ins Krankenhaus Smolensk wegen einer Parodie auf Propagandaminister Goebbels erneut in Haft wieder an der Front, Flucht nach Hamburg, Gründung des Theaters „Die Komödie" Draußen vor der Tür entsteht in acht Tagen gestorben in Basel Veröffentlichung des Gesamtwerks (posthum) In seinem Manifest Generation ohne Abschied druckt Wolfgang Borchert aus, was viele Zeitgenossen fühlten: dass sie heimatlos geworden waren, kaum eine Vergangenheit hinter sich und keine Zukunft vor sich hatten. Doch nicht 186 ^ Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 / 187 nur in seinen Prosatexten traf Bordiert den Nerv der Zeit; auch sein Schauspiel Draußen vor der Tür, das den Untertitel Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will trägt, war nach seiner Uraufführung 1947 - einen Tag vor Borcherts Tod - von den deutschen Bühnen nicht mehr wegzudenken. Zum Inhalt: Der Kriegsheimkehrer Beckmann kommt nach Hause, doch seine Frau, die schon nicht mehr an seine Rückkehr geglaubt hat, lebt mit einem anderen zusammen. Beckmann irrt durch die Stadt, er versucht, Selbstmord zu begehen, doch die Elbe - eine Allegorie -nimmt ihn nicht in ihren Fluten auf: Er solle sich an die Menschen halten, die wurden ihm schon helfen. Diese Hoffnung stellt sich als Irrtum heraus: Sein ehemaliger Oberst, der sich auch im Frieden wieder etabliert hat, will von der Verantwortung für seine Soldaten nichts wissen; er wirft Beckmann hinaus. Auch ein Kabarettdirektor, bei dem Beckmann Anstellung sucht, weist ihn ab. Als er schließlich in *_ seinem Elternhaus einkehrt, erfährt er von den *» HHh neuen Bewohnern, dass seine Eltern Selbst- •* fwL jHHJI mord begangen haben. Nun weiß er keinen Rat _£)Jk W mehr: „Gibt denn keiner eine Antwort" sind *"" '" " seine letzten Worte. In folgendem Textauszug versucht Beckmann den Oberst an den gerade zu Ende gegangenen Krieg zu erinnern: Oberst. Was wollen Sie denn von mir? Beckmann. Ich bringe sie Ihnen zurück. Oberst. Wen? Beckmann (beinah naiv). Die Verantwortung. Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück. Haben Sie das ganz vergessen, Herr Oberst? Den 14. Februar? Bei Gorodok. Es waren 42 Grad Kälte. Da kamen Sie doch in unsere Stellung, Herr Oberst, und sagten: Unteroffizier Beckmann. Hier, habe ich geschrieen. Darm sagten Sie, und Ihr Atem blieb an Ihrem Pelzkragen als Reif hängen - das weiß ich noch ganz genau, denn Sie hatten einen sehr schönen Pelzkragen - dann sagten Sie: Unteroffizier Beckmann, ich übergebe Ihnen die Verantwortung für die zwanzig Mann. Sie erkunden den Wald östlich Gorodok und machen nach Möglichkeit ein paar Gefangene, klar? Jawohl, Herr Oberst, habe ich da gesagt. Und dann sind wir Szenenfoto Draußen vor der Tür losgezogen und haben erkundet. Und ich - ich hatte die Verantwortung. i5 Dann haben wir die ganze Nacht erkundet, und dann wurde geschossen, und als wir wieder in der Stellung waren, da fehlten elf Mann. Und ich hatte die Verantwortung. Ja, das ist alles, Herr Oberst. Aber nun ist der Krieg aus, nun will ich pennen, nun gebe ich Ihnen die Verantwortung zurück, Herr Oberst, ich will sie nicht mehr, ich gebe sie Ihnen zurück, Herr Oberst. 2o Oberst. Aber mein lieber Beckmann, Sie erregen sich unnötig. So war das doch gar nicht gemeint. Beckmann (ohne Erregung, aber ungeheuer ernsthaft)-Doch. Doch, Herr Oberst. So muss das gemeint sein. Verantwortung ist doch nicht nur ein Wort, eine chemische Formel, nach der helles Menschenfleisch in dunkle Erde verwan-25 delt wird. Man kann doch Menschen nicht für ein leeres Wort sterben lassen. Irgendwo müssen wir doch bin mit unserer Verantwortung. Die Toten -antworten nicht. Gott - antwortet nicht. Aber die Lebenden, die fragen. Die fragen jede Nacht, Herr Oberst. Wenn ich dann wach liege, dann kommen sie und fragen. Frauen, Herr Oberst, traurige, trauernde Frauen. Alte Frauen mit 30 grauem Haar und harten rissigen Händen - junge Frauen mit einsamen sehnsüchtigen Augen, Kinder, Herr Oberst, Kinder, viele kleine Kinder. Und die flüstern dann aus der Dunkelheit: Unteroffizier Beckmann, wo ist mein Vater, Unteroffizier Beckmann? Unteroffizier Beckmann, wo ist mein Sohn, wo ist mein Bruder, Unteroffizier Beckmann, wo ist mein Verlobter, Unteroffizier 5 Beckmann? Unteroffizier Beckmann, wo? wo? wo? So flüstern sie, bis es hell wird. Es sind nur elf Frauen, Herr Oberst, bei mir sind es nur elf. Wieviel sind es bei Ihnen, Herr Oberst? Tausend? Zweitausend? Schlafen Sie gut, Herr Oberst? Dann macht es Ihnen wohl nichts aus, wenn ich Ihnen zu den zweitausend noch die Verantwortung für meine elf dazugebe. Können Sie : schlafen, Herr Oberst? Mit zweitausend nächtlichen Gespenstern? Können Sie überhaupt leben, Herr Oberst, können Sie eine Minute leben, ohne zu schreien? Herr Oberst, Herr Oberst, schlafen Sie nachts gut? Ja? Dann macht es Ihnen ja nichts aus, dann kann ich wohl nun endlich pennen - wenn Sie so nett sind und sie wieder zurücknehmen, die Verantwortung. Dann kann ich wohl nun endlich in aller Seelenruhe pennen. Seelenruhe, das war es, ja, Seelenruhe, Herr Oberst! Und dann: schlafen! Mein Gott! Oberst (ihm bleibt doch die Luft weg. Aber dann lacht er seine Beklemmung fort, aber nicht gehässig, eher jovial und rauhbeinig, gutmütig, sagt sehr unsicher): Junger Mann, junger Mann! Ich weiß nicht recht, ich weiß nicht recht. Sind Sie nun ein heimlicher Pazifist, wie? So ein bißchen destruktiv, ja? Aus; W. Borchert, Das Gesamtwerk. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1949, S. 25 f. 188 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 / 189 11.3.2 Die moderne deutsche Kurzgeschichte: Bolls „So ein Rummel" ---Kurzbiografte: Heinrich Boll ■n Wll 1963 1970- 1971- 1971 1972 1974 1983 1985 •1972 ■1974 geboren in Köln Besuch des Gymnasiums, dann Lehre als Buchhändler Reichsarbeitsdienst, Infanterist u. a. in Frankreich, Kriegsgefangenschaft Veröffentlichung von etwa 60 Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitungen Wanderer, kommst du nach Spa ... (Erzählungen) Irisches Tagebuch (Erzählung) Billard um halbzehn (Roman) Ansichten eines Clowns (Roman) Präsident des deutschen PEN-Clubs Präsident des internationalen PEN-Clubs Gruppenbild mit Dame (Roman) Nobelpreis für Literatur Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Erzählung) Boll nimmt an der Blockade des Militärdepots Mutlangen teil gestorben in Hürtgenwald (Eifel) 1917 1928-1937 1938-1945 1945-1947 1950 1957 1959 Wie viele Kurzgeschichten, die in den Jahren nach 1945 erschienen sind, handelt auch Bolls So ein Rummel vom Krieg, genauer: von den Auswirkungen des gerade zu Ende gegangenen Krieges. Dabei macht der Autor - der die Handlung in das Umfeld des Jahrmarkts verlegt - deutlich, wie sehr die Kriegsereignisse das Denken der Menschen und vor allem der Kinder prägten, ja dass ein Leben, das nicht an Krieg erinnerte, in dieser Zeit unmöglich zu sein schien. Das Kriegspielen der Kinder, die Namen der Spiele „Bunker", „Totalgeschädigt" und „Flüchtling" zeigen, dass der Krieg in dieser Familie zur Normalität geworden ist - sie zeigen aber auch die Abstumpfung der Menschen, die über die Inhalte ihres Tuns und über ihre Wortwahl nicht mehr nachdenken. So ein Rummel (1950) Die Frau ohne Unterleib erwies sich als eines der charmantesten Frauenzimmer, das ich je gesehen hatte, sie trug einen entzückenden sombreroartigen Strohhut, denn als bescheidene Hausfrau hatte sie sich an die Sonnenseite jener kleinen Terrasse gesetzt, die neben ihrem Wohnwagen angebracht war. Ihre drei Kinder s spielten unter der Terrasse ein sehr originelles Spiel, das nannten sie „Neandertaler". Die beiden jüngeren, Junge und Mädchen, mussten das Neandertalpaar abgeben, und der größere, acht Jahre alt, ein blonder Bengel, der während des Dienstes den Sohn der „dicken Susi" abgeben musste, dieser Bursche spielte den modernen Forscher, der die Neandertaler findet. Er wollte mit aller Gewalt sei-io nen jüngeren Geschwistern die Kinnladen aushängen, um sie in sein Museum zu bringen. Die Frau ohne Unterleib ldopfte mehrmals mit ihren Holzsohlen auf den Boden der Terrasse, denn ein wildes Geschrei drohte unsere beginnende Unterhaltung zu ersticken. ü Der Kopf des Älteren erschien über der niedrigen Balustrade, die mitrot blühenden Geranien geschmückt war, und fragte mürrisch: „Ja?" „Lass die Quälerei", sagte die Mutter, wobei sie in ihren sanften grauen Augen eine Belustigung unterdrückte, „spiel doch Bunker oder Totalgeschädigt." Der Junge murmelte missmutig etwas, das sich fast wie „Quatsch" anhörte, 20 tauchte dann unter, schrie unten: „Es brennt, das ganze Haus brennt." Leider konnte ich nicht verfolgen, wie das Spiel „Totalgeschädigt" weiterging, denn die Frau ohne Unterleib fixierte mich jetzt etwas schärfer; im Schatten ihres breitrandigen Hutes, durch den warm und rot die Sonne leuchtete, sah sie viel zu jung aus, um Mutter dreier Kinder zu sein und täglich bei fünf Vorstellungen 2s die harten Aufgaben der Frau ohne Unterleib zu erfüllen. „Sie sind ...", sagte sie. „Nichts", sagte ich, „absolut nichts. Sehen Sie mich als einen Vertreter des Nichts an ..." „Sie sind", fuhr sie ruhig fort, „vermutlich Schwarzhändler gewesen." 3o „Jawohl", sagte ich. Sie zuckte die Schultern. „Es wird nicht viel zu machen sein. Auf jeden Fall, wo wir Sie auch gebrauchen können, müssen Sie arbeiten, arbeiten, verstehen Sie?" „Meine Dame", entgegnete ich, „vielleicht stellen Sie sich das Leben eines Schwarzhändlers allzu rosig vor. Ich, ich war sozusagen an der Front." 3s „Wie?" Sie klopfte wieder mit dem Holzabsatz auf den Boden der Terrasse, denn die Kinder hatten nun ein ziemlich lang anhaltendes wildes Gemaul angestimmt. Wieder erschien der Kopf des Jungen über der Balustrade. „Nun?", fragte er kurz. „Spielt jetzt Flüchtling", sagte die Frau ruhig, „ihr müsst jetzt abhauen aus der * brennenden Stadt, verstehst du?" Wieder verschwand der Kopf des Jungen, und die Frau fragte mich: „Wie?" Oh, sie hatte den Faden durchaus nicht verloren. „Ganz vorne", sagte ich, „ich war ganz vorne. Glauben Sie, das war ein leichtes Brot?" 4s „An der Ecke?" „Sozusagen am Bahnhof, wissen Sie?" „Gut. Und nun?" 190 f Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 1968 / 191 „Möchte ich irgendeine Beschäftigung haben. Ich bin nicht faul, durchaus nicht faxt), meine Dame." so „Sie verzeihen", sagte sie. Sie wandte mir jetzt ihr zartes Profil zu und rief in den Wagen hinein: „Carlino, kocht das Wasser noch nicht?" „Moment", rief eine gleichgültige Stimme, „ich bin schon beim Aufschütten." „Trinkst du mit?" „Nein." 55 „Dann bring zwei Tassen, bitte. Sie trinken doch eine Tasse mit?" Ich nickte. „Und ich lade Sie zu einer Zigarette ein." Das Geschrei unter der Terrasse wurde nun so wild, dass wir kein Wort mehr hätten verstehen können. Die Frau ohne Unterleib beugte sich über den Geranienkasten und rief: „Jetzt müsst ihr fliehen, schnell, schnell... die Russen ste-6o hen schon vor dem Dorf..." „Mein Mann", sagte sie, sich zurückwendend, „ist nicht da, aber in Personalfragen kann ich..." Wir wurden unterbrochen von Carlino, einem schmalen, stillen, dunklen Burschen mit einem Haarnetz über dem Kopf, der Tassen und Kaffeekanne brachte. 65 Er blickte mich misstrauisch an. „Warum willst du nichts trinken?", fragte ihn die Frau, da er sich ganz kurz wieder abwandte. „Keine Lust", murmelte er, im Wagen verschwindend. „In Personalfragen kann ich ziemlich selbstständig entscheiden, allerdings etwas 7o müssen Sie schon können. Nichts ist nichts." „Meine Dame", sagte ich demütig, „vielleicht kann ich die Räder schmieren oder die Zelte abbrechen, Traktor fahren oder dem Mann mit den Riesenkräften als Prügelknabe dienen ..." „Traktor fahren", sagte sie, „ist nichts, und die Räder schmieren ist eine kleine 75 Kunst." „Oder bremsen", sagte ich. „Schiffschaukel bremsen..." Sie zog hochmütig die Brauen hoch, und zum ersten Male blickte sie mich ein wenig verachdich an. „Bremsen", sagte sie kalt, „ist eine Wissenschaft, ich vermute, Sie würden allen Leuten die Hälse brechen. Carlino ist Bremser." so „Oder...", wollte ich zaghaft wieder vorschlagen, aber ein kleines dunkelhaariges Mädchen mit einer Narbe über der Stirn kam jetzt eifrig jene kleine Treppe herauf, die mich so lebhaft an eine Fallreep erinnerte. Sie stürzte sich in den Schoß der Mutter und schluchzte empört: „Ich soll sterben ..." 85 „Wie?", fragte die Frau ohne Unterleib entsetzt. „Ich soll das Flüchtlingskind sein, das erfriert, und Fredi will meine Schuhe und alles verscheuem..." „Ja", sagte die Mutter, „wenn ihr Flüchtling spielt." „Aber ich", sagte das Kind, „ich soll immer sterben. Immer bin ich es, die ster-9o ben soll. Wenn wir Bomben spielen, Krieg oder Seiltänzer, immer muss ich sterben," „Sag Fredi, er soll sterben, ich hätte gesagt, er sei jetzt an der Reihe mit Sterben." Das Mädchen entlief. „Oder?", fragte mich die Frau ohne Unterleib. Oh, sie verlor den Faden nicht so 95 leicht. „Oder Nägel gerade klopfen, Kartoffeln schälen, Suppe verteilen, was weiß ich", rief ich verzweifelt, „geben Sie mir eine Chance ..." Sie drückte die Zigarette aus, goss uns beiden noch einmal ein und blickte mich an, lange und lächelnd, dann sagte sie: „Ich werde Ihnen eine Chance geben. Sie wo können rechnen, nicht wahr, es gehört sozusagen zu Ihrem bisherigen Beruf und" - sie druckste ein bisschen - „ich werde Ihnen die Kasse geben." Ich konnte nichts sagen, ich war wirklich sprachlos, ich stand nur auf und küsste ihre kleine Hand. Dann schwiegen wir, es war sehr still, und es war nichts zu hören als ein sanftes Singen von Carlino aus dem Wagen, jenes Singen, dem ich ms entnehmen konnte, dass er sich rasierte ... Aus.- H. Söll, Wanderer, kommst du noch Spa ... Kiepenheuer & Witsch: Köln 1950, S. 69 ff Diese Kurzgeschichte Heinrich Bolls zeigt Stilmerkmale, die für die moderne deutsche Kurzgeschichte, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine Blütezeit erfuhr, typisch sind. Da ist zuerst die offene Form zu nennen, es fehlen also Einleitung und Schluss. Die Kurzgeschichte blendet sich in eine Augenblickssituation ein und zeigt diese, ohne das „Warum?" oder „Wie kam es dazu?" zu klären oder sich mit den Folgen des Dargestellten zu beschäftigen. Es war nicht die Intention der jungen Nachkriegsautoren - oftmals selbst Kriegsheimkehrer wie Boll und Borchert - Lösungen für die von ihnen aufgezeigten Probleme anzubieten. Es ging ihnen darum, in der damals für nötig erachteten Kürze KrisensUuationen der menschlichen Existenz darzustellen. Diese literarische Praxis hat zur Folge, dass der Leser selbst im Sinne der Problemlösung tätig werden muss - auch dies ist Teil des literarischen Programms der Autoren der „Trümmerliteratur", die nach dem Verlust der tradierten Werte durch die Herrschaft der Nationalsozialisten über keine neue Werteordnung verfügten. 192 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Literatur zwischen 1945 und 196S / 193 11.3.3 Vom Leben des Mittelstandes: Walsers Roman „Halbzeit" Kurzbioerafie: Martin Waber 1927 1948-1951 ab 1949 1951 1955 1957 ab 1960 1962 geboren in Wasserburg (Bodensee) Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie in Tübingen Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk Promotion über das Werk Kafkas Ein Flugzeug über dem Haus (Erzählungen) Ehen in Philippsburg (Roman) Romantrilogie: Halbzeit, Das Einhorn (1966), Der Sturz (1973) Eiche und Angara (Drama) 1975 Das Sauspiel. Szenen aus dem 16. Jahrhundert (Drama) 1978 Ein fliehendes Pferd (Novelle) 1979 Seelenarbeit (Roman) 1985 Brandung (Roman) 1991 Verteidigung der Kindheit (Roman) Anselm Kristlein, die Hauptperson aus Walsers Romantrilogie, deren erster Band Halbzeit überschrieben ist, ist eine typische Figur Walsers. Selbst ein kleiner „Christus" - Namen haben in Walsers Werk oft sprechende Bedeutung - verkörpert Anselm den bundesdeutschen Durchschnittsbürger: Nach einem abgebrochenen Studium der Philosophie schlägt er sich als Handelsvertreter durchs Leben (und durch die Republik, wo zahlreiche Geliebte auf ihn warten), um seine Familie ernähren zu können. „Mimikry", die bestmögliche Anpassung an die Umwelt, ist sein Lebens- und Überlebensprinzip. Die Leere seines Daseins erkennt Kristlein selbst - und wird (im Roman Das Einhorn) Werbetexter. In den letzten Zeilen von Halbzeit stellt Walser das Erwachen Anselm Kristlems im Kreise seiner Familie dar: Von Haut zu Haut der Schlafzwiebel glitt ich, nicht senkrecht mich durchnagend, sondern kreisend, das Elektron, Schale für Schale tiefer kreisend, angezogen vom Kern, von der Mitte der Schlafzwiebel kosmischen Ausmaßes, beschleunigt von Windung zu Windung glitt ich, auf gut eingefahrenen Traumkufen 5 Fortschritte machend, nahm ich, was sich bot, ließ mich ziehend von irgendeinem Zwiebelfaden ins Überall. Aber im Überall sitzt eine Mieze oder eine Maus oder eine Miezemaus oder Mausemiez, die beißt den Faden ab, dass der Kern nicht mehr zieht, dass ich rückwärts rollte, glitt, sauste, abwärts, dem himmlischen Dienstmädchen, dem Sonnenvieh im Visier, abwärts, Ikarus ohne io Bremse, Traumgesellschaften mordete ich, nach Wanden griff ich, alle sieben Locken ließ ich zurück, der Atzengrundwald brannte, Pilzsprechchöre loderten, Onkel Gallus umarmte die Freiheitsstatue, dass sie schmolz und in Frantzkes Suppenterrine versulzte, Edmund schnitt sich Unter den Linden was ab und aß es, Petri Heil schrie Alissa, nahm die Zappelseele vom Haken und lispelte Paari, 15 Feete donnerte Übelhör durch das Treppenhaus, entschwand im Romanischen, ich fiel hinterher, nicht einmal Bremsen lehrt Not, die Zwiebel riss, die Häute flatterten, Fahnen zwischen pünktlichen Planeten, Tempeltore spuckten Tomaten in den Sand, Susanne nahm sich der Schalentiere an, ich drehte mich auf den Rücken, ließ mir Wimpern entflechten, lieferte Steinpilzchören löschende Re-;o sponsorien, schleppte im Sturz die schwere Muttet durch den harten Horizont, trieb auf Kastanienstämmen, mädchenkniebucldigen, rauchende Ströme hinab, kaufte die Bundesbahn und den Frühling, schleifte Lambert mit dem Auto über spitzen Schotter, bis er keine Eiei-Ellipsen-Oliven-Ovale mehr malte, Dieckow verging sich an der U-Bahn an einem O, ich schoss, aß noch rasch die knusprige 5 Narbe von Suses explodierendem Hals, nahm mit, ließ fallen, fiel, fiel schneller als die ruinierte Zwiebel, Erzengel Tillyvon lenkte mich singend hinab, Josef-Heinrich blies pausbäckig den Wolkenweg frei, der Adantikbauch wölbte sich, wölbte sich bloß noch, sank nicht mehr, ich griff nach Luft, aber überall war bloß Licht, leider bloß Licht, das griff mich, zerrte mich durch den letzten Tunnel o dem grellen Ende Tag zu, griff mir spitzfingrig unter die Lider, meine Lider kippten, die Gardinen kicherten, Sichtbarkeit spielte sich auf, Beschränktheit maßte sich an, Märzmorgenlicht blökte, ich ergab mich, ein Gefangener der Sonne für einen weiteren Tag. Über mir saßen Drea, Lissa und Guido und sangen, weil ich wieder da war, drei . verschiedene Lieder zur gleichen Zeit, und Drea fuhr mit ihrem lünderfinger in meinem Gesicht herum, als sei er der Zeigefinger des Schöpfers selbst, der gerade letzte Hand anlegte bei der Modellierung meiner Nasenflügel, und ich sei ihm nur um eine Sekunde zu früh zum Leben erwacht. Der mattgesetzte Wecker machte - die Sonne machte ihm die Zeiger fett und schwarz - machte fett und schwarz plemplem. Alissas Hand, ein Wesen sondergleichen, stieg drüben auf, ließ sich, des Ziels ganz sicher, auf mir nieder, beteiligte sich, an der Nasenwurzel ansetzend, am familiären Schöpfungswerk, bügelte die Falten von der Nasenwurzel an aufwärts, bis die endlich nachgaben und sich glätten ließen, glättete, ohne herzusehen, die Stirn mir mit sicheren Fingern, glättete sie, bis sie, ganz glatt, genügend glatt war. Aus: M. Walser, Halbzeit Suhrkamp: Frankfurt a. M. i960 194 / Literatur zwischen 1945 und 1968 11.3,4 Die Parabel vom Anderssein: Filschs Drama „Andorra" Kurzbiografie: Max Frisch 1911 geboien in Zürich 1931-1933 Studium der Germanistik in Zürich 1936-1941 Studium der Architektur in Zürich ab 1942 freier Architekt 1950 Tagebuch 1946-1949 1954 Stiller (Roman) 1957 Homo faber (Roman) 1958 Biedermann und die Brandstifter (Drama) 1960-1965 wohnhaft in Rom (zusammen mit Ingeborg Bachmann) Andorra (Drama) Mein Name sei Gantenbein (Roman) wohnhaft in Berzona (Tessin) Reisen nach Israel und in die UdSSR Aufenthalt in den USA Triptychon (Drama) Der Mensch erscheint im Holozän (Roman) Blaubart (Roman) gestorben in Zürich Frisch fühlte sich schon früh zur schriftstellerischen Tätigkeit hingezogen; das Studium der Germanistik musste er aber abbrechen, als sein Vater starb. Frisch brauchte nun einen „Brotberuf" und wurde - ebenfalls aus Neigung -Architekt. In dieser Eigenschaft erbaute er das Zürcher Freibad Letzigraben. Doch auch jetzt kam Frisch vom Schreiben nicht los. Da er als Architekt aber keine Zeit für größere literarische Arbeiten hatte, legte er ein Notizheft an, in dem er seine - auf die Literatur bezogenen - Gedanken notierte: das Tagebuch 1946-1949. In diesem findet sich ein kurzer Prosatext, Der andorranische Jude, in dem Frisch die Fabel des späteren Dramas Andorra niederschrieb. Zum Inhalt: Im Mittelpunkt des Schauspiels steht ein Junge namens Andri. Er ist der uneheliche Sohn des andorranischen Lehrers mit einer Frau aus dem feindlichen Land der „Schwarzen". Damit er sich nicht zu seinem Seitensprung bekennen muss, seinen Sohn aber trotzdem bei sich haben kann, gibt er Andri als jüdisches Kind aus, das von den „Schwarzen" verfolgt werde. Im Laufe der Dramenhandlung stellt sich heraus, dass die Andorraner Andri, den sie folge- Literatur zwischen 1945 um richtig für einen Juden halten, ganz bestimmte Eigenschaften zuweisen, die seine Andersartigkeit festschreiben. Andri nimmt diese Einschätzung seiner Umgebung an und fühlt sich selbst als Fremder in Andorra. Als seine Mutter aus dem Land der „Schwarzen" kommt und den Lehrer auffordert, sich zu seinem Sohn zu bekennen, glaubt ihr niemand - sie wird ermordet. Als daraufhin die „Schwarzen" die Andorraner angreifen und entwaffnen, wird eine „Judenschau" angeordnet: Auch dabei wird Andri als Jude bezeichnet und anschließend erschossen. Der Lehrer, der seine Schuld längst eingesehen hat, nimmt sich das Leben. Szenenfoto Andorra Der nachfolgende Textauszug zeigt, dass Andri die ihm von der Gesellschaft zugewiesene Außenseiterrolle angenommen hat: Andri und Barblin auf der Schwelle vor der Kammer der Barblin. Barblin. Andri, schläfst du? Andri. Nein. Barblin. Warum gibst du mir keinen Kuss? s Andri. Ich bin wach, Barblin, ich denke. Barblin. Die ganze Nacht. Andri. Ob 's wahr ist, was die andern sagen. Barblin hat auf seinen Knien gelegen, jetzt richtet sie sich auf, sitzt und löst ihre Haare. io Andri. Findest du, sie haben recht? 196 / Literatur zwischen 1945 und 1968 Barblin. Fang jetzt nicht wieder an! ANDRI. Vielleicht haben sie recht. Barblin beschäftigt sich mit ihrem Haar Vielleicht haben sie recht... BARBLIN. Du hast mich ganz zerzaust. i5 ANDRI. Meinesgleichen, sagen sie, hat kein Gefühl. Barelin. Wer sagt das? ANDRI. Manche. Barblin. Jetzt schau dir meine Bluse an! ANDRI Alle. 2o Barblin. Soll ich sie ausziehen? Barblin zieht ihre Bluse aus. ANDRI. Meinesgleichen, sagen sie, ist geil, aber ohne Gemüt, weißt du - Barblin. Andri, du denkst zuviel! Barblin legt sich wieder auf seine Knie. Aus: M. Frisch, Andorra. Subrkamp: Frankfurt a. M. 1961 / DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR ZWISCHEN 1945 UND 1968 Sartre Jaspers Literarische Tradition Camus Heidegger Kierkegaard Literatur in der Bundesrepublik Ilse Aichinger Alfred Andersen ingeborg Bachmann Heinrich Boll Wolfgang Borchert Paul Celan H. M. Enzensberger Günter Grass Rolf Hochhuth Uwe Johnson Wolfgang Koeppen Elisabeth Langgä'sser Siegfried Lenz Martin Walser Literatur in Österreich Ingeborg Bach mann Thomas Bernhard Peter Handke Brigitte Schwaiger Literatur in der Schweiz Max Frisch Friedrich Dürrenmatt 12 Literatur in der DDR (1945-1990) 12.1 Die DDR zwischen 1945 und 1990 Anders als im pluralistischen Westen war die Literatur in der DDR von vornherein durch die politischen Rahmenbedmgungen eingeschränkt; sie musste die jeweils aktuelle Linie der SED unterstützen. Diese politische Funktion, die die Literatur im Sozialismus innehatte, wertete sie auf, legte sie aber ideologisch fest. Abweichungen von den offiziellen Vorgaben wurden meist tigoros mit Schikanen, Zensur, Publikations verbot oder Ausbürgerung des Autors geahndet. Die Eckdaten der DDR-Literatur entsprechen der politischen Geschichte und sind deckungsgleich mit der Existenz des deutschen Ost-Staates: Ursprünglich konstituiert als „sowjetisch besetzte Zone" (SBZ), wurde 1949 die DDR als zweiter deutscher Staat gegründet. Dieser existierte bis zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990. 12.1.1 Die politische Situation Nach der Kapitulation vom Mai 1945 und der sich anschließenden Besatzungszeit entstand unter dem Einfluss der KPdSU und der SED parallel zur Bundesrepublik im Westen die DDR im Osten als eigenständiger Staat. Wenige Jahre später beschloss die SED offiziell den „Aufbau des Sozialismus", also die Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion. Oppositionelle wurden von der „Staatssicherheit" (Stasi) bekämpft, Fluchtwege wurden geschlossen. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 bedeutete einen Rückschlag für die Herrschenden, durch den Bau der Berliner Mauer 1961 versuchten sie, die hohen Flüchtlingszahlen zu minimieren. Die neue Verfassung von 1968 definierte den Sozialismus als eigenständige Gesellschaftsform. Erst in der Ära Honecker (ab 1971) entkrampften sich die Beziehungen zwischen BRD und DDR, der „Grundlagenvertrag" (1972) machte den Weg frei für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden deutschen Staaten. Die Reform-Politik des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow schaffte dann den Freiraum für die Oppositionsgruppen, die mit der offiziellen Politik der DDR-Führung unzufrieden waren und sich in den sog. Montagsdemonstrationen artikulierten. Tausenden gelang 1989 die Flucht