Wählen Sie bitte einen Text zur Analyse TEXT 1 FISCHE Christa Reinig: Orion trat aus dem Haus) Ein Fisch biss in einen Angelhaken. „Was flatterst du so hektisch herum?“ fragten ihn die anderen Fische. „Ich flattere nicht hektisch herum,“ sagte der Fisch an der Angel, „ich bin Kosmonaut und trainiere in der Schleuderkammer.“ „Wer’s glaubt,“ sagten die anderen Fische und sahen zu, wie es weitergehen sollte. Der Fisch an der Angel erhob sich und flog in hohem Bogen aus dem Wasser. Die Fische sagten: „Er hat unsere Sphäre verlassen und ist in den Raum hinausgestoßen. Mal hören, was er erzählt, wenn er zurückkommt.“ Der Fisch kam nicht wieder. Die Fische sagten: „Stimmt also, was die Ahnen uns überliefert haben, dass es da oben schöner ist als hier unten.“ Ein Kosmonaut nach dem anderen begab sich zum Training in die Schleuderkammer und flog in den Raum hinaus. Die Kosmonauten standen in Reih und Glied und warteten, bis sie drankamen. Am Ufer saß ein einsamer Angler und weinte. Einer der Kosmonauten sprach ihn an und fragte: „O großer Fisch, was weinst du, hast du auch gedacht, dass es hier oben schöner ist?“ – „Darum weine ich nicht,“ sagte der Angler, „ich weine, weil ich niemandem erzählen kann, was hier und heute geschieht. Achtundvierzig in einer Stunde und kein Zeuge weit und breit.“ TEXT 2 LETTIPARK Judith Hermann (Auszug) Wie schön Elena gewesen ist! Ein mageres schönes Mädchen, schwarzäugig und dunkelbraun, angespannt wie eine Bogensehne und mit einer Röte im Gesicht, als würde sie sich immerzu in die Wangen kneifen. Elena war kräftig, mutig, heiter und gereizt, sie war immer auf der Hut. Sie trug Röcke über Hosen wie eine Zigeunerin, billigen Schmuck und keine Schminke, und ihre Haare waren so verfilzt, als würde sie den ganzen Tag im Bett liegen, rauchen, die Asche auf den Boden schnippen und die Beine breit machen. Abends jedenfalls ging sie arbeiten, in einer Kneipe in einer Straße mit kaputtem Kopfsteinpflaster, verfallenen Häusern, offenen Haustüren, Akazien rechts und links, Birken auf den Höfen. Im Winter roch es nach Kohle und im Sommer nach Ginster und Staub. Elena war eine, die sich am Abend die Haare mit einem Bleistift zum Knoten hochsteckte. Sie zog einen rostroten Rock über eine minzegrüne Hose, schloss die Kneipe auf, kehrte mit dem Besen die Zigarettenstummel raus, nahm sich ein Bier, drehte die Musik auf und die bunte Glühbirnenkette zwischen den Akazienästen an. Später kamen alle vorbei. Elena war das schönste Mädchen der Straße. Elena steht vor Rose an der Kasse in der Markthalle, Rose erkennt sie zu spät, erst, als sie schon Erdbeeren, Zucker und Sahne aufs Band gelegt hat, erkennt sie Elena. Hätte sie Elena früher erkannt, wäre sie noch mal umgekehrt und hätte sich nach irgendwas umgesehen, aber nun geht’s nicht mehr. Paul ist auch schon da, er legt seine Sachen zu ihren Sachen dazu, Fisch in der Büchse, Tabak und eine Flasche Port. Elena sieht nicht hin. Sie ist schwer und alt geworden, phlegmatisch und langsam, sie ist unverkennbar Elena – Mandelaugen und Haare wie Schlangen, eine Haut, der man die Wärme ansieht, und sie ist immer größer als alle anderen –, aber sie scheint da in etwas hineingeraten zu sein. Sie hat jemanden bei sich, einen Inder, stämmig, energisch und kräftig, kann sein mit einer Neigung zur Gewalttätigkeit und ein wenig verwahrlost, er trägt staubige Badelatschen an den Füßen, und sein geblümtes Hemd ist fleckig. Der Inder ordnet die Dinge auf dem Band. Reicht sie der Kassiererin, 45 nimmt sie wieder in Empfang, er packt auch ein, Elena steht nur daneben. Abwesend. Mit hängenden Armen. Tomaten, Basilikum im Topf, Kerzen und Reis. Zigaretten. Zwei Flaschen Whiskey. Elena holt ein Portemonnaie aus der Tasche und klappt es auf wie ein Buch. Sie hebt den Kopf und sieht Rose an. Mit welchem Ausdruck? Rose kann’s nicht erkennen. Elena sieht aus wie eine traurige Riesin. Eine schwermütige, verzauberte Riesin. (…) TEXT 3 DER HILFLOSE KNABE Bertolt Brecht (1898-1956) Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und erzählte folgende Geschichte: Einen vor sich hin weinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines Kummers. „Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen“, sagte der Knabe, „da kam ein Junge und riß mir einen aus der Hand“, und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfer-nung zu sehen war. „Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?“ fragte der Mann. „Doch“, sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. „Hat dich niemand gehört?“ fragte ihn der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. „Nein“, schluchzte der Junge. „Kannst du denn nicht lauter schreien?“ fragte der Mann. „Nein“, sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an. Denn der Mann lächelte. „Dann gib auch den her“, sagte er, nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter. TEXT 4 RUHM Daniel Kehlmann (Auszug) Noch bevor Ebling zu Hause war, läutete sein Mobiltelefon. Jahrelang hatte er sich geweigert, eines zu kaufen, denn er war Techniker und vertraute der Sache nicht. Wieso fand niemand etwas dabei, sich eine Quelle aggressiver Strahlung an den Kopf zu halten? Aber Ebling hatte eine Frau, zwei Kinder und eine Handvoll Arbeitskollegen, und ständig hatte sich jemand über seine Unerreichbarkeit beschwert. So hatte er endlich nachgegeben, ein Gerät erworben und gleich vom Verkäufer aktivieren lassen. Wider Willen war er beeindruckt: Schlechthin perfekt war es, wohlgeformt, glatt und elegant. Und jetzt, unversehens, läutete es. Zögernd hob er ab. Eine Frau verlangte einen gewissen Raff, Ralf oder Rauff, er verstand den Namen nicht. Ein Irrtum, sagte er, verwählt. Sie entschuldigte sich und legte auf. Am Abend dann der nächste Anruf. «Ralf!» rief ein heiserer Mann. «Was ist, wie läuft es, du blöde Sau?» «Verwählt!» Ebling saß aufrecht im Bett. Es war schon zehn Uhr vorbei, und seine Frau betrachtete ihn vorwurfsvoll. Der Mann entschuldigte sich, und Ebling schaltete das Gerät aus. Am nächsten Morgen warteten drei Nachrichten. Er hörte sie in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Eine Frau bat kichernd um Rückruf. Ein Mann brüllte, dass er sofort herüberkommen solle, man werde nicht mehr lange auf ihn warten; im Hintergrund hörte man Gläserklirren und Musik. Und dann wieder die Frau: «Ralf, wo bist du denn?» Ebling seufzte und rief den Kundendienst an. Seltsam, sagte eine Frau mit gelangweilter Stimme. So et was könne überhaupt nicht passieren. Niemand kriege eine Nummer, die schon ein anderer habe. Da gebe es je de Menge Sicherungen. «Es ist aber passiert!» Nein, sagte die Frau. Das sei gar nicht möglich. «Und was tun Sie jetzt?» Wisse sie auch nicht, sagte sie. So etwas sei nämlich gar nicht möglich. Ebling öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wusste, dass jemand anderer sich nun sehr erregt hätte. aber so etwas lag ihm nicht, er war nicht begabt darin. Er drückte die Auflegetaste. Sekunden später läutete es wieder. «Ralf?» fragte ein Mann. « Nein. » « Was ? » «Diese Nummer ist ... Sie wurde aus Versehen ... Sie haben sich verwählt.» «Das ist Ralfs Nummer!» Ebling legte auf und steckte das Telefon in die Jackentasche. Die S-Bahn war wieder überfüllt, auch heute musste er stehen. Von der einen Seite presste sich eine fette Frau an ihn, von der anderen starrte ein schnurrbärtiger Mann ihn an wie einen verschworenen Feind. Es gab viel, das Ebling an seinem Leben nicht mochte. Es störte ihn, dass seine Frau so geistesabwesend war, dass sie so dumme Bücher las und dass sie so erbärmlich schlecht kochte. Es störte ihn, dass er keinen intelligenten Sohn hatte und dass seine Tochter ihm so fremd vorkam. Es störte ihn, dass er durch die zu dünnen Wände immer den Nachbarn schnarchen hörte. Besonders aber störten ihn die Bahnfahrten zur Stoßzeit. Immer so eng, immer voll, und gut gerochen hatte es noch nie. (…)