Winfried R. Garscha Die österreichisch-tschechische Grenze 1918-1945 ie österreichisch-tschechische Grenze I als Abgrenzung zweier souveräner Staaten ist ein Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch vor dem Untergang der Habsburger-Monarchie markierten „Gränzstei-ne" die Grenze zwischen den Kronländern Österreich ober bzw. unter der Enns einerseits und Böhmen und Mähren andererseits, doch seit der Aufhebung der Zollgrenzen (1775) war sie im praktischen Leben der Menschen nur dort bemerkbar, wo diesseits und jenseits der Grenzsteine unterschiedliche Behörden für Bewilligungen und Verbote zuständig waren. Während der Nationalitätenkämpfe des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewann die Grenze zunehmend an Bedeutung: Für die Deutschnationalen war ihr Verlauf ein Relikt des Feudalismus. Da beiderseits der Grenze deutsch gesprochen wurde, wollten sie die staatliche Grenze nach Norden, an die Sprachgrenze, verschieben. Auf ihren Landkarten gab es in Südböhmen und Südmähren daher nur deutsche Ortsnamen -auch für Orte, in denen fast nur tschechisch gesprochen wurde. Die Tschechischnationalen hingegen pochten auf die jahrhundertealte territoriale Einheit der böhmischen Länder. Sie verwiesen darauf, daß es beiderseits der Grenze keinen einheitlichen deutschen Siedlungsraum gab und daß auch südlich der Grenze Tschechen wohnten. Auf ihren Karten gab es bis hinunter zur Donau und darüber hinaus nur wenige deutsche Namen: Neben slawisierten Bezeichnungen wie Cmunt (Gmünd), Imburk (Eggenburg), Kremže (Krems an der Donau) oder Štokrava (Stockerau) fanden sich selbstverständlich die alten slawischen Ortsnamen Vitoraz (Weitra), Ličov (Lit-schau), Křemelice (Schrems), Biteš (Vitis) oder Rakousy (Raabs), daneben Übersetzungen wie Rohy (Horn), Sv. Hippolyt (St. Polten) oder Most (Brück an der Leitha). Fast jede größere niederösterreichische Ortschaft trug eine tschechische Bezeichnung, die in manchen Fällen an die frühmittelalterliche Besiedlungsgeschichte anknüpfte. So wurde Waidhofen an der Ybbs „Bejdov Bavorský" (also Bayrisch-Waidhofen) und Waidhofen an der Thaya „Bejdov Český" (Böhmisch-Waidhofen) genannt (Wagner 1892). Übrigens glaubten Deutschnationale später, den Namen der alten Weinviertier Ortschaft Böhmisch Krůt (Kruty České) nicht ertragen zu können, und verwandelten ihn in das heutige Großkrut. Die nationalistischen Ansprüche auf beiden Seiten machten die Grenze, die durch Jahrhunderte niemanden „gestört" hatte, zum Zankapfel. Nicht nur die Deutschnationalen verlangten eine Änderung des Grenzverlaufs, auch Teile der tschechischen Nationalbewegung wollten sich mit dem Zusammenschluß der historischen Länder der Wenzelskrone (Böhmen, Mähren, Schlesien) mit den nordungarischen Komitaten (der heutigen Slowakei) zur Tschechoslowakischen Republik nicht zufriedengeben. Viele tschechische Nationalisten träumten davon, nach der Zerschlagung der Habsburgermonarchie vom slowakischen Preßburg/Bratislava bis zum sloweni- schen Marburg/Maribor einen „slawischen Korridor" zwischen Österreich und Ungarn zu errichten, der im wesentlichen das Gebiet des heutigen Burgenlandes umfassen hätte sollen und als Hindernis gegen ein neuerliches Zusammengehen der Deutschösterreicher und Ungarn gegen die slawischen Völker Österreichs gedacht war. Was von diesen Träumen letztlich übrigblieb, war die Idee eines „Brückenkopfes" südlich von Preßburg, der bis Brück an der Leitha reichen hätte sollen. Die Friedenskonferenz 1919 stutzte diesen „Brückenkopf auf den heutigen VI. Bezirk von Preßburg - Engerau/Petržalka -zusammen, dessen offizielle ungarische Bezeichnung bis 1918 zwar Pozsonyligetfalu (wörtlich: Audorf bei Preßburg) lautete, das aber nicht mehr zum Komitat Pozsony (Preßburg) gehörte. Im Oktober 1918, als die Niederlage im Weltkrieg nicht mehr zu leugnen war und der nächste Hungerwinter vor der Tür stand, begann der Zerfallsprozeß der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Kaiser Karl versprach am 16. Oktober in seinem „Völkermanifest": „Österreich soll dem Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet" (Neck 1968: 66). Die Nationalräte der slawischen Völker der Monarchie lehnten das Manifest als zu spät und zu wenig weitgehend ab. Sie verlangten die staatliche Unabhängigkeit. Deutschnationale Reichsratsabgeordnete forderten die Ausrufung eines deutschösterreichi- 73 Die Karte zeigt die konkurrierenden Ansichten über die territorialen Grenzen der Republik Deutschösterreich während der Friedensverhandlungen von Saint-Germain. Quelle: ÖNB-KS Wien sehen Staates und seinen Anschluß an das Deutsche Reich. Der Klub der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat hatte schon am 3. Oktober 1918 erklärt: „Wir erkennen das Recht der slawischen Nationen an, ihre eigenen Nationalstaaten zu bilden; wir lehnen aber unbedingt und für immer die Unterwerfung deutscher Gebiete unter diese Nationalstaaten ab. Wir verlangen, daß alle deutschen Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staat vereinigt werden, der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutschen Reiche nach seinen eigenen Bedürfnissen regeln soll" (Bauer 1976: 5860- Damit war nicht nur der Anschluß an die sich abzeichnende demokratische Republik Deutschland vorprogrammiert, sondern vor allem der Konflikt mit der künftigen Tschechoslowakischen Republik. Am 21. Oktober 1918 versammelten sich die Reichsratsabgeordneten aller deutschösterreichischen Wahlbezirke im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtages und erklärten ihre Absicht, „einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden" und die Hoheit „über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländern", zu beanspruchen (Bauer 1976: 591). Am 28. Oktober 1918, zehn Tage, nachdem Thomas G. Masaryk, der Führer der tschechischen Emigration, in Washington die Anerkennung der tschechoslowakischen Unabhängigkeitserklärung erreicht hatte, übernahm der tschechische Nationalausschuß (Národní Výbor) in Prag und Brunn die böhmische und mährische Statthalterei und proklamierte in der Folge die Tschechoslowakische Republik. Am nächsten Tag erklärten sich die deutschösterreichischen Reichsratsabgeordneten aus Böhmen in Wien zur „deutschböhmischen Landesversammlung". Sie beschlossen, die Zugehörigkeit der von ihnen vertretenen Bezirke zur Tschechoslowakischen Republik nicht anerzukennen, und verkündeten ihre Absicht, in Nordböhmen eine deutsche Provinz mit der Hauptstadt Reichenberg/Liberec zu gründen. Am 30. Oktober erklärten die deutschsprachigen Abgeordneten aus Mähren und Schlesien, die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete Nordmährens, Ostböhmens und Schlesiens zur neuen Provinz Sudetenland mit der Hauptstadt Troppau/Opava vereinigen zu wollen. Die südböhmischen Abgeordneten proklamierten einen autonomen „Böhmerwaldgau", der an Oberösterreich angeschlossen werden sollte, die südmährischen Abgeordneten traten für die Anglie-derung des von ihnen als „Kreis Deutsch-Südmähren" für autonom erklärten Bezirkes Znaim/ Znojmo an Niederösterreich ein. Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Die Provisorische Nationalversammlung beschloß am 22. November ein >Gesetz über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschöster-reich<, in dessen Paragraph 1 es hieß: „Die Republik umfaßt: Die Länder Österreich unter der Enns einschließlich des Kreises Deutsch-Südmähren und des deutschen Gebietes um Neu-bistritz, Österreich ob der Enns einschließlich des Kreises Deutsch-Südböhmen, [...] Deutschböhmen und Sudetenland, sowie die deutschen Siedlungsgebiete von Brunn, Iglau und Olmütz" (ADÖ 1993: 1/26). Bis Mitte Dezember übernahm tschechoslowakisches Militär die Macht in Deutschböhmen und im Sudetenland. Bei Znaim und Nikolsburg/ Mikulov wäre es beinahe zu bewaffneten Zusammenstößen gekommen, was von den auf tschechischer Seite anwesenden französischen Offizieren verhindert wurde. Auch in Zlabings/Slavoni-ce ereignete sich Mitte Dezember ein Zwischenfall, der glimpflich verlief. Am 16. Dezember 1918 kapitulierte die „Gegenregierung" des Kreises Deutsch-Südmähren in Znaim vor den aus Brunn anrückenden tschechischen Truppen und floh gemeinsam mit dem in Znaim stationierten Wiener Volkswehrbataillon nach Retz/Retec. Die Friedenskonferenz von Saint-Germain Seit 18. Jänner 1919 tagte in Paris die Friedenskonferenz. Gegen April 1919 wurde deutlich, daß sich Frankreich als Schutzmacht der Tschechoslowakischen Republik mit seiner Forderung nach Erhaltung der territorialen Integrität der böhmischen Länder gegenüber allen Vorstellungen einer Grenzziehung des neuen Staates nach ethnischen Gesichtspunkten durchsetzte. Damit war klar, daß - sollten überhaupt Korrekturen der historischen Grenzen zwischen den ehemaligen Kronländern zugelassen werden - Grenzveränderungen nur in bescheidenem Rahmen und ausschließlich aus verkehrstechnischen und militärischen Gründen erfolgen konnten. Die im Februar 1919 vom Obersten Rat der Entente gebildete Commission des affaires tchécoslova-ques legte im Mai 1919 ein Projekt für Berichtigungen entlang der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze vor, das den tschechoslowakischen Forderungen weitgehend nachkam: Abtretung des Hinterlandes von Gmünd und Wei-tra (des sogenannten Weitraer Gebietes/Vitoraz-sko), ferner von Hardegg und Merkersdorf, weiters der ganzen Nordostecke von Niederösterreich zwischen Laa/Lava und Hohenau/Cahnov sowie der Verlegung der slowakisch-niederösterreichischen Grenze von der Flußmitte an das westliche Ufer der March. Als Gründe wurden verkehrsgeographische Überlegungen genannt. Zunächst handelte es sich um die Sicherung der Bahnknoten von Gmünd bzw. České Velenice und Lundenburg/Břeclav und der von ihnen wegführenden Verbindungen: von Gmünd nach Prag und Budweis/České Budějovice, von Lun-denburg nach Brunn und Preßburg/Bratislava sowie (über das niederösterreichische Feldsberg/ Valtice) nach Znaim. Für die Zukunft wollte sich die tschechoslowakische Seite im Falle der Errichtung des Donau-Oder-Kanals die ausschließlichen Schiffahrtsrechte auf der March sichern. Für die Gegend von Weitra wurde darüber hinaus argumentiert, daß diese seit unvordenklichen Zeiten zu Böhmen gehört habe und erst im 12. und 13. Jahrhundert davon abgetrennt worden sei. Die Vertreter der Entente schlossen sich diesen Argumenten jedoch nicht an und ließen ausschließlich verkehrstechnische Überlegungen gelten. Am 2. Juni 1919 wurde der österreichischen Delegation der Vertragsentwurf vorgelegt. Vor allem der von der Entente vorgeschlagene Grenzverlauf rief auf österreichischer Seite heftige Entrüstung hervor. Ihre Gegenvorschläge wurden im Abschlußdokument vom 10. September 1919 teilweise berücksichtigt. Die March wurde internationalisiert, die abzutretenden Gebiete im Nordosten Niederösterreichs wurden auf einen schmalen Streifen reduziert, und auch im Nordwesten waren weniger Gebiete abzutreten als befürchtet; Litschau blieb niederösterreichisch. Die Bevölkerung in den abgetretenen Gemeinden im Nordosten sprach, nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900 (Gemeindelexikon Niederösterreich 1903:142), teils mehrheitlich deutsch, teils mehrheitlich tschechisch: Feldsberg/Valtice (damals: Valčice) 2.967 deutsch, 34 tschechisch Garschönthal/Uvaly 697 deutsch, 5 tschechisch Oberthemenau/Charvátská Nová Ves 74 deutsch, 1.152 tschechisch Unterthemenau/Poštorná 221 deutsch, 3.118 tschechisch Bischofswarth/Hlohovec 5 deutsch, 990 tschechisch (Zum Vergleich: In Bernhardsthal sprachen 1.123 Bewohnerinnen deutsch und 232 tschechisch, in Rabensburg/Ranspurk sprachen 160 deutsch und 275 tschechisch.) Im Raum Weitra-Gmünd lagen die Verhältnisse ähnlich: Bohmzeil/Česká Cejle 1.727 deutsch, 181 tschechisch Wielands/Velenice 1.661 deutsch, 1.015 tschechisch (aus den abgetrennten Ortsteilen von Böhmzeil und Unter-Wielands wurde die neue Gemeinde České Velenice gebildet, der österreichisch gebliebene Teil der Gemeinde Böhmzeil wurde mit Gmünd vereinigt); Beinhöfen/Nemecke 99 deutsch, 576 tschechisch; Rottenschachen/Rapšach 1.003 deutsch, 1.002 tschechisch Schwarzbach/Tušť 219 deutsch, 512 tschechisch Insgesamt wurden im Raum Weitra-Gmünd folgende Teile des ehemaligen Kronlandes Niederösterreich der Tschechoslowakischen Republik angegliedert: Beinhöfen (heute: Dvory nad Lužnicí), Naglitz/Nakolice, Schwarzbach, Tannen-bruck/Trpnouze (gehört heute zu Hranice), Wei-ßenbach/Vysne, Witschkoberg/Halämky und 75 Triumph der Wehrmacht über die tschechoslowakischen Verteidigungsanlagen, Oktober 1938 Quelle: Privatbesitz Ein abgebauter Grenzbalken als Trophäe am Stadtplatz von Weitra, Oktober 1938 Quelle: Stadtarchiv Weit Gundschachen/Kunšach, Erdweis/Nová Ves zur Gänze, Bohmzeil/Česká Cejle, Wielands/Vele-nice, Zuggers/Krabonoš, Rottenschachen/Rap-šach, Brand und Höhenberg teilweise. Diese Grenzziehung, die auch der heutigen entspricht, wurde im Laufe der nächsten drei Jahre von einer internationalen Kommission, der auch Vertreter der ČSR und Österreichs angehörten, in allen Details festgelegt, wobei auch um kleinste Grenzstreifen gerungen wurde. 76 Da keine verläßlichen Angaben über die Meinung der Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung beiderseits der neuen Grenze überliefert sind, können über die Auswirkungen der Grenzziehung auf das Bewußtsein der Menschen und auf ihre Bereitschaft, die durch Krieg und Friedensschlüsse geschaffenen Tatsachen anzuerkennen, nur Vermutungen angestellt werden. Es scheint jedoch offenkundig, daß ra gerade die Verletzung des Prinzips der historischen Grenzen bei gleichzeitiger Mißachtung des in den berühmten 14 Punkten des vom amerikanischen Präsidenten Wilson niedergelegten Prinzips des nationalen Selbstbestimmungsrechts dazu führte, daß sich unter der deutschsprachigen Grenzbevölkerung das Gefühl breitmachte, tschechoslowakischer „Machtpolitik" ausgeliefert worden zu sein. Es ist daher nicht verwunderlich, daß - wie es in vielen Berichten übereinstimmend heißt - im Oktober 1938 ein Großteil der deutschsprachigen Bevöl- kerung (besonders der bis 1918 zu Niederösterreich gehörigen kleinen Dörfer) die „Heimkehr ins Reich" als „Wiedergutmachung für das Unrecht von. 1918/19" begrüßte. Verkleinerung und Liquidierung der ČSR Als am 30. September 1938 zwischen dem Deutschen Reich, Italien, England und Frankreich das Münchner Abkommen geschlossen wurde, war Österreich bereits Bestandteil Hitler-Deutschlands. Die Tschechoslowakei wurde durch dieses Abkommen gezwungen, einen Großteil der mehrheitlich deutsch bewohnten Grenzgebiete an das Deutsche Reich abzutreten. Dabei wurden dem Reichsgau Niederdonau nicht nur die 1918 abgetrennten Gebiete wieder angegliedert, sondern ganze Bezirke, die jahrhundertelang zu Böhmen und Mähren gehört hatten: Neubistritz/ Nová Bystrice, Mährisch Kromau/Moravský Krumlov, Znaim/Znojmo und Nikolsburg/Mi- Reichs-Menze Sudetendeutsche beim Niederreißen eines Grenzbalkens zwischen Oberösterreich und Südböhmen, Oktober 1938 Quelle: Höller Franz, Von der SdP zur NSDAP (1940) kulov. Vertreter aus Gemeinden im Raum Weitra-Gmünd, deren Abtretung seitens der Münchner Konferenz nicht vorgesehen gewesen war, wandten sich an die NSDAP-Kreisleitung in Gmünd, die ihrerseits bei Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart intervenierte. Als am 13. November 1938 zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem Deutschen Reich die neue Grenze festgelegt wurde, kamen diese Gemeinden (mit Ausnahme von Schwarzbach/ Tušť) zum Reichsgau Niederdonau. Wenige Monate später, am 15. März 1939, standen deutsche Truppen auch jenseits der neuen Grenze. Staatsrechtlich wurden Böhmen und Mähren zum deutschen „Reichsprotektorat", de facto waren sie eine deutsche Kolonie. Die NSDAP-Gauleitungen Oberdonau und Niederdonau dehnten ihre Kompetenzen bis Tabor/ Tábor und Brunn aus, um sich in die „Arisierung" jüdischer Vermögen im „Protektorat" einmischen zu können. Die nationalsozialistischen Machthaber waren in erster Linie an der Nutzung der industriellen Ressourcen der Tschechoslowakei für die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches interessiert. Darüber hinaus wurde jedoch mit der langfristigen Planung einer „ethnischen Säuberung" begonnen. Diese vollzog sich zunächst „wild" — durch die Flucht von Tschechen und Juden aus den Grenzgebieten und durch die „Rückführung" von ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbediensteten in die verkleinerte Tschechoslowakische Republik (Oktober 1938 bis März 1939) bzw. seit März 1939 in das „Protektorat" Böhmen und Mähren. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre aber auch im „Protektorat" selbst kein Platz mehr für jene Teile der tschechischen Bevölkerung gewesen, die die NS-Rassebiologen Nach der Annexion der tschechoslowakischen Grenzgebiete wird die Grenztafel „Reichsgrenze" nach Norden versetzt, Oktober 1938 Quelle: SOA Třeboň für „nicht eindeutschungsfähig" hielten. Auch wenn die tschechische Bevölkerung diese Pläne nicht kannte, so erfuhr sie doch in vielen Demütigungen und Verfolgungen, daß dies nicht mehr ihr Land war. Die früher nur von wenigen radikalen Nationalisten geäußerte Idee einer „Absiedlung" der deutschsprachigen Bevölkerung nach der Wiederherstellung einer unabhängigen Tschechoslowakei wurde nach der Vernichtung des Dorfes Lidice durch die SS zur gemeinsamen Forderung des tschechoslowaki- 77 sehen Widerstandes, an der die Exilrührung unter Beneš nicht mehr rütteln hätte können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Wiederherstellung und Abschließung der Grenze 1945 wurde, trotz mancher Korrekturwünsche auf beiden Seiten, die Grenze von 1919 wiederhergestellt. Durch Flucht und Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung wurde diese Grenze jedoch erstmals auch zu einer ethnischen Grenze, die - nachdem die Aussiedlung beendet war - immer hermetischer abgeschlossen wurde. Nächtliche Übergriffe, Diebstähle und Schießereien, bei denen oft nicht klar war, ob marodierende Banden, Schmuggler oder sowjetische Besatzungssoldaten dahinter standen, erzeugten auch auf der österreichischen Seite der Grenze bei der Bevölkerung den dringenden Wunsch nach Abschließung und Sicherung. Besonders im Weinviertel wurden dazu auch Angehörige jener fünf österreichischen Freiheitsbataillone herangezogen, die 1944/45 in Jugoslawien aufgestellt worden waren, um einen militärischen Beitrag zur Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Herrschaft zu leisten. Im Mai 1945 waren sie in Wien eingezogen und, soweit sie nicht abrüsteten, in den Polizeidienst übernommen worden. Nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei im Februar 1948 wurde die Grenze zusätzlich zur Systemgrenze zwischen „Ost" und „West". Damit erhielt die Grenze im täglichen Leben der Menschen eine Bedeutung wie nie zuvor. Mindestens genauso wichtig wie der politische Gegensatz war jedoch die Tatsache, daß nach der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung auf tschechischer Seite zum Großteil „Neusiedler" wohnten, womit das jahrhundertealte Beziehungsgeflecht über die staatlichen und ethnischen Grenzen hinweg zerstört war. 78 Literatur ADÖ: 1993 Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918-1938. Bd. 1.2: Wien -München Bauer, Otto: 1976 Die österreichische Revolution (Erstausgabe: 1923). In: Werkausgabe, Bd. 2. Wien: 491-866 Gemeindelexikon Niederösterreich: 1903 Gemeindelexikon der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1900. Hg. k.k. Statistische Zentralkommission. I. Niederösterreich. Wien Gemeindelexikon Böhmen: 1904 Gemeindelexikon von Böhmen. Bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1900. Hg. k.k. Statistische Zentralkommission. 1. Teil. 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Innsbruck Štípek, Zdeněk: 1968 Spory Československa s Rakouskem o vedení státních hranic na Jižní Moravě v letech 1918-1923 [Tschechoslowakisch-österreichische Konflikte über den Verlauf der Staatsgrenze in Südmähren 1918-1923]. Mikulov Tůma, Renate: 1989 Das Problem der Territorialen Integrität Österreichs 1945-1947. Unter besonderer Berücksichtigung der Grenzproblematik mit Deutschland, der Tschechoslowakei und Ungarn. Phil. Diss. Wien Wagner, J. E.: 1892 Zemý Koruny České [Die Länder der böhmischen Krone]. Prag (Landkarte) Zeman, Zbyněk A.: 1963 Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914-1918. München - Wien