Interview durch Herrn Mag. Wenzel Müller im Juni 2009 in Wien Vorgesehen zum Abdruck in der „Wiener Zeitung" Interview autorisiert Herr Kaindl, in Ihrem jüngsten Projekt „Reisen im Niemandsland" sind Sie das Gebiet des ehemaligen Eisernen Vorhangs von Lübeck bis Triest abgefahren und haben es fotografisch dokumentiert. War das Arbeit und Urlaub in einem? Kaindl: Arbeit war es schon, ein Auftrag des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten. Aber es stimmt: Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich immer dann, wenn ich fotografisch arbeite, das Gefühl habe, im Urlaub zu sein. Meine fotografischen Projekte nach eigenem Plan und eigenem Konzept sind für mich eine große Befriedigung und Entspannung. Wie sah in diesem Fall das Konzept aus? Kaindl: Ich machte im Vorfeld einige Recherchen, doch es war mir auch wichtig, einen unvoreingenommenen Blick zu bewahren, um vor Ort Spurensuche zu betreiben. Was gibt es heute noch an Resten, und wie werden sie genutzt? Wie leben heute die Menschen am ehemaligen Eisernen Vorhang? Sind das noch die gleichen Leute wie damals oder sind neue hingezogen? Diese Fragen interessierten mich. Wie die Menschen leben, das habe ich versucht in Porträts aufzulösen. Ich kann natürlich keine Geschichten erzählen. Aber ich kann Gesichter zeigen, und zwar mit Hintergrund - ich nenne das für mich „erweitertes Porträt". Mit diesem erweiterten Porträt kann ich Aussagen über die Leute und deren Lebensumstände machen. Ich fotografiere sie ja nicht in zufälligen Umgebungen, sondern dort, wo sie tätig sind. Wie gewinnen Sie das Vertrauen der Menschen? Wie gehen Sie vor, wenn Sie sie fotografieren? Kaindl: Ich arbeite mit relativ großen Kameras und mit Weitwinkelobjektiven. Das bedeutet zweierlei. Erstens: Die Leute bekommen mit, dass ich sie fotografiere. Und zweitens: ich fotografiere sie aus nächster Nähe, aus einer Gesprächsdistanz. Beides ist mir sehr wichtig. Meine Mittelformatkameras - also Kameras mit Negativen in der Größe von 6x6 cm und 6x7 cm - sind Sucherkameras, das heißt, ich blicke beim Fotografieren durch ein kleines Fenster. Und das heißt wiederum: Ich bin als Fotograf komplett sichtbar - und verstecke mich nicht hinter der Kamera, wie das bei Spiegelreflexkameras unweigerlich der Fall ist. Ich dirigiere die Leute nicht. Ich sage nur, dass ich sie gerne in einer Umgebung fotografieren möchte, die aussagekräftig ist. Sehr oft frage ich auch, ob sie einen Ort vorschlagen möchten. Ich halte wenig von unbemerkten Schnappschüssen und schon gar nichts von Aufnahmen wie ein Paparazzi. In den Zufällen, die man da aufschnappt, ist nicht viel Wahrheit. Viel mehr Wahrheit ist in dem, wie sich die Leute darstellen, wennsie vor der Kamera posieren und sich sozusagen „in Schale werfen" oder betont lässig wirken wollen, gerade das finde ich spannend. Wie viele Fotos machen Sie in der Regel, wenn Sie eine Person porträtieren? Kaindl: Zwischen fünf und zehn. Gerade bei Porträts gibt es Unwägbarkeiten, beispielsweise die, dass die Person im Moment der Aufnahme blinzelt. Aus Gründen der Sicherheit mache ich mehrere Aufnahmen, aber nicht sehr viele, schon aus Kostengründen nicht, da ich in meiner künstlerischen Arbeit mit analogem Film fotografiere. Wissen Sie bereits im Moment der Aufnahme, ob das Foto gelungen ist? Kaindl: Nein, das weiß ich nicht. Ich habe nicht wie bei der Digitalkamera die Kontrolle durch den Monitor. Aber gerade das schätze ich. Ich habe den Eindruck, das macht mich als Fotograf wacher und aufmerksamer. Ich bin darauf angewiesen, genau zu schauen. Dieser leichte Adrenalinstoß, den man hat, wenn man erkennt, das ist gerade ein seltener Augenblick und wenn ich den jetzt verpasse, ist die Gelegenheit vorbei und nicht wieder herzustellen - diese Aufregung ist durchaus Teil des Vergnügens. Haben Sie grundsätzliche Vorbehalte gegen die digitale Fotografie? Kaindl: Nein, gar nicht. Ich habe selbst digitale Kameras und verwende sie auch, insbesondere dann, wenn ich Fotos für Zeitungen mache. In meiner künstlerischen Arbeit bevorzuge ich allerdings Schwarzweiß-Bilder. Ich habe ein eigenes Labor mit guten Geräten. Von der Negativentwicklung bis zur Vergrößerung mache ich alles selbst. Der vielstufige Prozess ist mir sehr wichtig. Ich kann stundenlang über den Kontaktkopien sitzen und auf ihnen anzeichnen, welche Negative ich entwickeln möchte, mit welchem Ausschnitt und ob weich oder eher hart. Diese Einflussmöglichkeit schätze ich sehr, aber sie ist nicht mit irgendwelchen Bildmanipulationen zu verwechseln. Gerade Fotoamateure finden es toll, wenn sie Gesichter wegretuschieren können, doch das interessiert mich nicht. Mir geht es vor allem darum, die Stimmung im Bild wiederzugeben, die ich selbst erlebt habe. Als Beispiel: Wir sitzen hier im Garten auf weißen Stühlen vor dunklem Hintergrund. Müsste ich ein Foto machen, würde ich den Hell-dunkel-Kontrast betonen. Für Sie muss es ein sehr aufregender Moment sein, wenn Sie Ihre Negative zum ersten Mal in den Händen halten. Kaindl: Ja, das ist sehr aufregend. Ich fotografiere ja nun schon seit meiner Mittelschulzeit, doch ich muss sagen, die Dunkelkammer hat für mich nichts von ihrem Zauber verloren. Ein kleiner Raum, in dem meist etwas Wasser plätschert und wo es rot leuchtet. Das hat für mich -vielleicht klingt das kitschig - fast etwas von einem Mutterleib. Und in dieser Kammer arbeitet man und fühlt sich ein bisschen wie ein Alchemist. Dann verbringen Sie also viele Stunden in der Dunkelkammer. Kaindl: Für die Ausarbeitung eines Bildes für eine Ausstellung brauche ich etwa eine Stunde - und dabei arbeite ich sehr gut und sehr schnell. Ich habe Kollegen, die für ein Bild zwei oder drei Stunden brauchen. Haben Sie von einer Serie auch immer so etwas wie ein Lieblingsbild? Kaindl: Ja, ich habe oft Lieblingsbilder. Doch die stelle ich nicht unbedingt aus. Ich wähle eher jene Bilder aus, von denen ich annehme, dass auch das Publikum mit ihnen etwas anfangen und in sie eigene Vorstellungen hinein projizieren können. Welche Bedeutung hat die Jahreszeit und das Wetter für Sie, wenn Sie fotografieren? Kaindl: Eine sehr wichtige. Das Licht hat einen großen Einfluss. Eine Aufnahme im Süden bei hellstem Sonnenschein hat eine ganz andere Stimmung als eine Aufnahme, die im Regen gemacht wurde. Den Auftrag zu dem Projekt am ehemaligen Eisernen Vorhang erhielt ich relativ spät, so musste ich vorwiegend im Herbst und Winter fotografieren. Ich habe mich bemüht, dass auf keinem der Fotos Schnee zu sehen ist, denn der verbreitet unvermeidlich eine eher triste Stimmung - und das wollte ich vermeiden. Kennen Sie auch die Spannung während eines Projekts: Hoffentlich bekomme ich auch genügend Material zusammen? Kaindl: Diese Spannung kenne ich sehr gut. Es ist ja nicht so, dass ich losziehe und schaue, was ich fotografieren kann. Ich habe vielmehr genaue Vorstellungen. Und wenn ich an einem Tag schon 30 Aufnahmen von der Landschaft gemacht habe, aber immer noch keines von einem Menschen, da werde ich leicht nervös. Genauso, wenn ich an einem schönen Ort bin, aber das Wetter nicht mitspielt. Dann stehe ich vor der schwierigen Frage: Soll ich nun einen Tag länger bleiben und auf besseres Wetter hoffen oder Weiterreisen? Wie lange arbeiten Sie an einem Projekt? Oder anders gefragt: Gibt es eine ideale Zeitspanne, in der das Interesse und die Spannung hochgehalten werden können? Kaindl: Ich teile nicht die Ansicht vieler Fotografen, die meinen, man müsste mit den Menschen, die man fotografieren möchte, besonders eng zusammenleben und gewissermaßen Teil ihrer Gesellschaft werden. Ich sehe die Gefahr, dass man in diesem Fall blind wird für die Besonderheiten dieser Menschen. Als Fotograf möchte ich gerne draußen bleiben. Dinge fallen mir eher auf, wenn sie in großem Kontrast zu meinem normalen Leben stehen. Ich habe die Erfahrung gemacht: Je länger ich in der Fremde bin, desto weniger erkenne ich mit der Zeit den Kontrast. Deshalb bin ich eher für kleine Zeiteinheiten, sie halten den Blick frisch. Wir kennen das ja alle vom Urlaub: Die ersten zwei Tage in dem fremden Land sind unheimlich aufregend, allmählich kehrt dann aber der Alltag ein. Den ehemaligen Eisernen Vorhang bin ich in mehreren Etappen abgefahren - insgesamt waren das zehn Reisen, jeweils von Salzburg hin und wieder zurück. Auch mit der Absicht, an verschiednen Abschnitten dieser langen Grenze immer wieder von neuem überrascht zu werden. Erhalten Sie für Ihre Projekte Unterstützung durch öffentliche Gelder? Kaindl: Das letzte Projekt war eine Auftragsarbeit, da gab es Geld. Doch das große Projekt davor, „Die unbekannten Europäer", das ich zusammen mit meinem Freund, dem Schriftsteller Karl-Markus Gauß, gemacht habe - über acht Jahre besuchten wir zwölf Völker -, dieses Projekt hatten wir zu hundert Prozent aus eigener Tasche finanziert. Wir machten Bücher und veröffentlichten einzelne Geschichten in Zeitschriften - so kam auch wieder Geld rein. Schließlich kaufte auch das Außenministerium die Fotoserie an, doch das geschah erst, als das Projekt schon abgeschlossen war. Gibt es für solche Projekte keine öffentliche Unterstützung - oder wollten Sie gar nicht ansuchen? Kaindl: Beides. Uns schreckte es auch ein bisschen ab, Leuten umständlich zu erklären, was wir da vorhaben. Keine Unterstützung zu bekommen bedeutet nicht zuletzt auch, ohne Druck arbeiten zu können. Wir stiegen auf unseren Reisen in den billigsten Hotels ab - was, wie wir feststellten, unserer Arbeit zugute kam, denn gerade dort trafen wir jene Menschen, die uns interessierten. Wie gestaltete sich die gemeinsame Arbeit mit Karl-Markus Gauß vor Ort? Kaindl: Zu zweit unterwegs sein und gemeinsam arbeiten heißt: sich viel austauschen zu können. Kamen wir neu in ein Dorf, zog es mich vielleicht als Erstes auf den Marktplatz, da dort viele Menschen waren. Und Karl-Markus Gauß vielleicht auf einen Hügel, damit er sich einen ersten Überblick verschaffen oder einfach seine Gedanken ordnen konnte. Wir kamen in ganz entlegene Gegenden. Ich fiel mit meiner großen Kamera viel weniger auf als Gauß mit seinem kleinen Notizbuch. Dass ein Fremder Fotos macht, das finden die Leute nicht außergewöhnlich. Aber dass einer an der Straße steht und dauernd etwas in sein Büchlein einträgt, das fanden sie höchst suspekt. Sie fragten sich: Ist der etwa vom Finanzamt oder Grundstücksamt? Sie gelten als Chronist des „europäischen Alltags". Wie kommen Sie zu Ihren Themen? Kaindl: Die Themen sind nicht das Problem. Es gibt wahnsinnig viele Dinge, die festgehalten gehören. Fast wichtiger ist der Blick auf die spätere Verwertung. Was kann ich machen, was auch andere sehen möchten? Womit habe ich eine Chance, in der Öffentlichkeit anzukommen? Das ist die eigentliche Frage. Ich leite mit Freunden in Salzburg die Galerie Fotohof und sehe von vielen jungen, aber auch vielen alten Leuten wunderbare Arbeiten, die interessantesten Dinge, für die sie weit weg gefahren und wochenlang intensiv gearbeitet haben - doch sie haben keine Idee, wie sie das verwerten können. Nur etwas Tolles machen, das ist zu wenig in unserer Gesellschaft. Man braucht eigentlich immer einen Rahmen. Einen Rahmen der Verwertung. Ich fange ein Projekt erst an, wenn ich ungefähr eine Vorstellung davon habe, wo ich das unterbringen kann. Sie fotografieren gerne Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Würde es Sie auch reizen, einmal die Reichen und Schönen zu porträtieren? Kaindl: Zunächst: Menschen waren nicht immer mein Thema. Eines meiner ersten Bücher „Wurzmühle" (1994) handelt von einer alten Papiermühle im Waldviertel. In diesem Buch ist nur eine Person abgebildet, der Besitzer der Papiermühle. Ansonsten zeigte ich „schöne" Bilder, Stillleben von alten, aus Holz gebauten Maschinen. Mein Interesse am Menschen ist erst später erwacht. Und heute denke ich: Der Mensch ist ja letztlich das Interessanteste. Man kann wunderbare Landschaftaufnahmen machen und herrliche Stillleben, aber was uns wirklich interessiert, das sind Menschen. Jetzt versuche ich, in jeder Arbeit, die ich mache, den Menschen drinnen zu haben. Es stimmt: Mich interessieren die einfachen Leute mehr als die berühmten und reichen. Warum das so ist, weiß ich jetzt gar nicht zu sagen. Ich könnte mir im Augenblick jedenfalls nicht vorstellen, eine kritische Arbeit über Reiche zu machen. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, eine affirmative über sie zu machen. Ihre Arbeit wird als „künstlerische Dokumentarfotografie" bezeichnet. Was unterscheidet sie von der gewöhnlichen Dokumentarfotografie? Kaindl: Ich mag die Bezeichnung „künstlerische Dokumentarfotografie", weil sie beide Facetten umfasst, die mir wichtig sind. Einerseits fühle ich mich der Reportage verpflichtet, dem Entdecken und der Suche nach der Wahrheit. Ich möchte schauen: Was ist dort vor Ort wirklich los? Und mich nicht mit vorfabrizierten Meinungen und Bildern zufrieden geben. Andererseits ist mir das Postulat der ausgewogenen Darstellung fremd. Und da beginnt meine künstlerische Arbeit. Ich möchte subjektiv fotografieren können, parteiisch, das, was mich persönlich interessiert. Und nicht einer Position auch eine Gegenposition gegenüberstellen müssen. Warum schreiben Sie nicht selbst Ihre Reiseerinnerungen? Sie sind ja promovierter Germanist. 84 84 Kaindl: Ich versuche mich in meiner Antwort kurz zu fassen: Ich wollte schon immer das werden, was ich nun irgendwie auch bin: ein Reisereporter. Nach der Matura stand ich vor der Frage: Wie kann ich Schreiben und Fotografieren lernen? Ich begann mit einer Fotolehre, brach die aber nach drei Wochen wieder ab, da ich an einen schlechten Lehrer geraten war, der mich immer nur das Labor putzen ließ. Dann begann ich ein Germanistik- und Publizistikstudium. Die nächste Enttäuschung: Ich lernte Texte und Bilder zu analysieren, aber nicht zu machen. Nachdem ich nun das Studium schon einmal begonnen hatte, führte ich es auch zu Ende. Durch Zufall bin ich an das „Salzburg College", an eine amerikanischösterreichische Institution geraten, wo ich mit der künstlerischen Fotografie in Berührung gekommen bin. . Hier stand die Frage im Vordergrund: Was macht ein interessantes Bild aus? Die Technik kam erst an zweiter Stelle - in Österreich war das damals gerade umgekehrt, da drehte sich alles im Grunde nur um Blende und Belichtungszeit. Zurück zu ihrer Frage: Das Germanistikstudium hat mir insofern geholfen, als ich heute einen sehr großen Respekt vor der Literatur habe. Einen so großen, dass ich die Zusammenarbeit mit Schriftstellern suche - und denen das Schreiben überlasse. Sie unterrichten heute selbst Fotografie, vor allem an Journalistikschulen. Worauf kommt es Ihnen an? Was wollen Sie Ihren Schülern vermitteln? Kaindl: Ich sage meinen Schülern immer: Es ist egal, welche Kamera ihr mit in den Kurs bringt. Wichtig ist nur, dass ihr wisst, was man mit dieser Kamera machen kann. Eine einfache Digitalkamera taugt nicht zur Sportfotografie, wohl aber, um Stillleben zu fotografieren. Das Hauptaugenmerk lege ich auf die Bildidee, auf die Frage, durch welche Merkmale sich ein gutes Foto auszeichnet. Wenn Sie wie jetzt in Wien sind, nutzen Sie da die Gelegenheit und besuchen auch andere Fotoausstellungen? Kaindl: Nach meinem Studium gründete ich mit Freunden in Salzburg die Galerie Fotohof. Einen Großteil meines bisherigen Berufslebens brachte ich damit zu, Bilder von anderen Leuten anzusehen und zu entscheiden, welche wir ausstellen oder als Bücher herausgeben und welche nicht. Vor zehn, fünfzehn Jahren begann ich wieder intensiv zu fotografieren. Und ich muss sagen: Je mehr ich selbst fotografiere, umso weniger schaue ich mir an, was Kollegen machen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass man irgendwann seinen Weg findet. Früher stellte ich mir oft die Frage, wenn ich die Werke großer Künstler sah: Kann ich das auch machen? Und vor allem: Soll ich das auch machen? Diese Zeit ist vorbei. Ich weiß inzwischen ziemlich genau, was ich machen möchte.