108 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren wurde, bei dem er aus dem Stegreif eine längere Rede hielt, die zweite an diesem Tag. Gegen Mitternacht erhob er sich von der Tafel. Es war höchste Zeit, denn am nächsten Tag, dem Montag, musste der langjährige Europaparlamentarier in Straßburg sein, um nicht den Auftritt von Abgesandten jener zehn Länder zu versäumen, die in Kürze in die EU aufgenommen werden. Am Dienstag bediente er die Medien mit Statements, flog nach Österreich weiter, erreichte Wien in der Nacht und hatte noch ein paar Stunden Zeit zum Schlafen, um einen stressigen Tag durchzustehen. Denn der Mittwoch war sein richtiger Geburtstag, der in Wien wie bei der Generalprobe in München gefeiert wurde, nur ein bis zwei Dimensionen größer mit einem vom Wiener Kardinal gehaltenen Pontifikalamt im Stephansdom am Morgen, einem Festakt und Empfang in der Hofburg, wo Otto von Habsburg wieder einmal eine Rede hielt, wie stets aus dem Stegreif, auf Deutsch und Französisch zu Ehren Valerie Giscard d'Es-taings, von dem er zuvor gerühmt worden war. Dann blieb nur noch Zeit, sich in den Smoking zu werfen, um aus dem sonst im Museum zur Schau gestellten Tafelsilber der Habsburger Kaiser das Geburtstagsmenü im Spiegelsaal von Schloss Schönbrunn mit gekrönten und ungekrönten Häuptern einzunehmen. Am Donnerstagmorgen feierte er in der Großfamilie in Niederösterreich. Jetzt, am Freitag, begibt er sich nach Budapest, wo er in Schloss Gödölö nochmals den Geburtstag begeht, schließlich ist er von Geblüt auch Magyar. Ach ja, noch was: Es ist ein runder Geburtstag. Der Kaisersohn Otto von Habsburg wurde 90.» Die unterhaltende Information 19 Das Feature «Feature», schon auf Englisch vieldeutig, ist ein schillerndes Allerweltswort für interessante, lebendig geschriebene Texte oder munter gestaltete Sendungen. Je nach Redaktion ist «Feature» zugleich ein Oberbegriff für Reportagen und Korrespondentenberichte oder eine Bezeichnung dafür, dass der Stoff vollständig aus Archivmaterial zusammengeschrieben worden ist. Zwar ist das Feature nicht an die Strenge der Nachricht in Sprache und Aufbau gebunden. Doch wäre es völlig falsch, daraus zu folgern, dass der Schreiber neckisch formulieren oder gar fabulieren und kommentieren dürfte. Wie die Nachricht berichtet das Feature ausschließlich über Tatsachen. Ein klassisches Feature - aktuell, interessant, lebendig und aus Archivmaterial geschrieben - brachte die Süddeutsche Zeitung im November 1957, als mit dem sowjetischen Sputnik das Raumfahrtzeitalter begonnen hatte: eine nun plötzlich spannend gewordene Übersicht über die grässliche Beschaffenheit unserer Nachbarplaneten, unter der Überschrift «Vom Umzug auf einen anderen Stern ist abzuraten». Ein klassisches Feature in diesem Sinn machte der Spiegel sogar zur Titelgeschichte, als Bundeskanzler Schröder 100 Tage nach seiner Wiederwahl in den Umfragen abstürzte und sich alle fragten, wie er noch Amt und Einfluss behalten könne: Wie organisiert er das System der Macht? Heute im Berliner Kabinett («Die einzige Konstante im System Schröder ist der Richtungswechsel, und das einzige Ziel heißt: oben bleiben») und früher, in revolutionären 68er-Zeiten, in der Bonner Kneipe «Provinz» («Eines Nachts saßen Gerhard Schröder und Joschka Fischer an einem Tisch in der und entwarfen auf Bierdeckeln das Kabinett der Zukunft. Auf den Bierdeckeln 110 Die unterhaltende Information war Schröder Bundeskanzler, Fischer war Außenminister und Schily war Justizminister») - das Ganze aus dem Archiv, aus Dokumenten und Hintergrundgesprächen geistreich und geschickt zusammengeschrieben. Im Spiegel und in Zeitschriften überhaupt ist das Wort «Feature» gleichwohl nicht gebräuchlich - vermutlich deshalb, weil Zeitschriften niemals trockene Nachrichten, sondern ausschließlich Features (im weitesten Wortsinn) bringen, sodass sich eine Abgrenzung erübrigt. jede Tageszeitung aber hat jeden Tag einen Platz, auf dem sie Features in ihrem Sinn versammelt: die bunte oder vermischte Seite. Einerseits stehen dort auch harte Nachrichten {hard news im Jargon der amerikanischen Agenturen), zumeist tragische oder dramatische Unglücksfälle. Andererseits braucht das Vermischte Stoff, auch wenn nichts Aufregendes passiert ist - und da finden dann die «weichen» Nachrichten ihren Platz, die soft news, die Features im engeren Wortsinn. «Am pelzigen Schneemenschen Yeti lassen sie kein gutes Haar, und wahre Ufo-Gläubige haben ihrer Ansicht nach oft nicht mehr alle Untertassen im Schrank», so der erste Satz einer typischen dpa-Meldung fürs Vermischte, die die Süddeutsche zweispaltig druckte. Danach erfuhr man, dass es sich um eine Tagung der Gesellschaft zur Untersuchung von Parawissenschaften handelte. Aus Rechtsfragen Features zu machen ist besonders schwierig -und besonders dankbar. Süddeutsche Zeitung: «Der eine Gast wurde mit einer Schnecke im Salat, der andere mit einem Pfeifenrauchverbot konfrontiert - beide zahlten nicht und gingen. Die betroffenen Gastwirte zogen vor Gericht und bekamen teils ganz, teils zur Hälfte Recht.» Die Zürcher Zeitschrift Beobachter: «Wanzen, Wespen und Würmer sind juristische Leckerbissen, über die sich trefflich streiten lässt. Schon die rechtliche Zuordnung verursacht Probleme. Züchtet ein Mieter fürs samstägliche Anglervergnügen Maden, so sind diese als Haustiere zu betrachten. Treten die gleichen Lebewesen aber vereinzelt im Putzkämmerli auf, handelt es sich eher um einen Mangel. Das Feature 111 Schwierig wird es beim Hundefloh. Ist er - wie der dazugehörende Dackel - ein Haustier? Oder ein Untermieter? Oder bewegt er sich gar in rechtsfreiem Räume?» Zweimal klassisches Feature, dazu neu und interessant. An ereignisarmen Tagen bieten die Agenturen jedoch auch Features an, an denen nichts neu und oft ziemlich wenig interessant ist; denn die bunte Seite hat gefüllt zu werden, und vermutlich hat es noch nie nach 1945 ein Ereignis gegeben, das eine Zeitung veranlasst hätte, diese Seite zu kippen. Da liest man dann (zweimal dpa/Süddeutsche Zeitung): «Zum Kampf gegen den stehen in Deutschland rund 1,5 Millionen Feuerwehrleute bereit. Sie bewahren in Tausenden von Einsätzen alljährlich Milliardenwerte ...» Oder gar: «Nur etwa 30 Kilometer südlich von Teneriffa liegt die fast runde Kanareninsel La Gomera. Sie ist 378 Quadratkilometer groß ...» Und nach diesem Einstieg, der alles von einem Lexikon-Eintrag und nichts von einer Nachricht an sich hat, kommt als Clou, dass auf La Gomera die uralte «Pfeifspräche» El Silbo noch nicht ganz ausgestorben ist. Features sind leichter Lesestoff abseits der strengen Nachrichtensprache, jedoch wie die Nachricht ausschließlich auf Fakten gestützt und frei von subjektivem Schmus. Sie werden in jeder Redaktion immer gebraucht. Wer entsprechende Themen findet und sie halbwegs elegant bewältigt, ist hochwillkommen. Wenn überhaupt nichts los ist, darf man sogar das Wesen der Feuerwehr definieren. Das dpa-Feature Morgens, wenn die Nachrichten noch tröpfeln, pflegt dpa mehrere Namensartikel unter der Dachzeile «a!/>«-Feature» zu verbreiten, meist 40 bis 70 Zeilen lang; im März 2003 beispielsweise diese: • Eleganz statt Krankenhausatmosphäre: Neue Ideen für Seniorenbäder • Weiße Socken und Kojak-Schlips: Modische Missgriffe unter Männern 112 Die unterhaltende Information • Auf der Suche nach der Schulhofliebe: Das Internet kann helfen • Kampf dem inneren Schweinehund: Arbeitshemmungen erfolgreich angehen • Trauung am Traumstrand: Heiraten auf Mauritius Das c/pa-Nachrichtenfeature So nennt die Agentur einen lebendig geschriebenen Text, der bei größeren Unglücksfällen oder anderen wichtigen vermischten Nachrichten auf die reine Nachricht folgen kann und soll. «Das Nachrichtenfeature beginnt ausdrücklich nicht mit der Nachricht, sondern am leichtesten mit einem szenischen Einstieg», heißt es in einer ai/>«~Dienstanweisung vom März 1995 - zum Beispiel so: Nachricht: «Beim Einsturz eines viergeschossigen Wohnhauses im Kölner Stadtteil Ehrenfeld sind am Montagabend fünf Menschen leicht verletzt worden.» Nachrichtenfeature (drei Stunden später): «Im ersten Stock hängt noch ein Hochzeitsfoto samt Tapetenrest einsam im Freien, zwei Etagen höher versucht sich ein Regal an die nicht mehr vorhandene Wand zu lehnen: In der Venloer Straße 35 im Kölner Stadtteil Ehrenfeld sah es zwölf Stunden nach dem Wbhnhauseinsturz immer noch aus wie nach einem Bombenangriff.» Zur Qualität des Mustertextes: Der erste Satz vermittelt sofort einen starken und unvermuteten Sinneseindruck und ist insoweit gut. Es bleibt jedoch offen, woran ein Hochzeitsfoto hängt, wenn es « einsam im Freien» baumelt; und dem Regal wird in dichterischer Freiheit ein durch nichts bewiesener Anlehnungswille unterstellt. Auf ein unvollständiges Bild folgt also ein gequältes. Zur Begriffsbestimmung: Nachrichtenfeature heißt ein solcher Text nur dpa-mte.xn. Gegenüber den Redaktionen läuft er als Korrespondentenbericht mit Namenszeile. In vielen Redaktionen würde er Reportage heißen. Das Wort Feature bleibt von den Gewohnheiten einer Nachrichtenredaktion her insofern treffend, als sich der Text in Aufbau und Sprache klar von der nüchternen Nachricht absetzt. Das (^«-Handbuch von 1998 sieht den szenischen Einstieg nicht Das Feature 113 mehr zwingend vor und geht sogar vorsichtig auf Distanz zu dem Genre, das für viele eng mit dem Agentur-Journalismus verbandelt ist: Die Erfahrung lehrt, dass das Mittel des Nachrichtenfeatures nur sparsam einzusetzen ist und sich vor allem im vermischten Bereich anbietet. Der lockere Einsteig darf nicht dazu führen, dass die dpa-Fassung für einen Teil der Kunden gar nicht mehr druckbar ist, weil sie zu locker geschrieben erscheint oder nicht zum Einspalter gekürzt werden kann. Kann aus dem neuen Telefonbuch unserer Stadt ein Feature werden? Aber natürlich! Etliche Fragen dazu beantworten sich beim Blättern, andere richtet der Journalist an die Pressestelle der Oberpostdirektion. Nur sollte er, ehe er dort anruft, eine Liste mit möglichst allen Fragen zusammengestellt haben, denn Pressesprecher werden ungern viermal angerufen, zwischen 11.30 Uhr und 15.00 Uhr können sie beim Essen sein, und ob sie nach 16.00 Uhr noch arbeiten, ist ungewiss. Was kann ich selber prüfen? Seitenzahl im Vergleich zum vorigen. Satzspiegel oder Schriftgröße verändert? (Wenn ja, eine Frage auf der Liste.) Art der Eintragungen verändert: mehr Abkürzungen -mehr/weniger Einzelheiten? Erster Name - letzter Name (hat sich da was geändert?). Beispiel für Ärgernisse mit dem Alphabet (Hamburgs Schulen stehen nicht unter ihrem Namen drin, nicht unter Schulen, nicht unter Hamburg, nicht unter Freie und Hansestadt Hamburg, sondern unter B wie Behörden). Gibt es bei uns einen Friedrich Schiller, Richard Wagner, Helmut Schmidt? Gibt es regionaltypische Witznamen wirklich? (Köln: Tünnes und Schäl. München: Hafenbrädl und Käsbatzin-ger.) Fragen an den Pressesprecher: Zahl der Eintragungen erhöht - vermindert - wodurch? Falls mehr Anschlüsse bei selber Seitenzahl: Wie haben Sie das gemacht? Auflage, wie zum Vorjahr? Gewicht, wie zum Vorjahr? Wie viel wiegen alle zusammen, die in der Stadt ausgeliefert werden? (Vergleich suchen!) Wie viele Druckfehler und Beschwerden gab es im Vorjahr? Wie viel Geheimnummern - mehr als im Vorjahr - 114 Die unterhaltende Information warum? Was unterscheidet das Buch von der CD-ROM? Wie lange gibt es das Buch überhaupt noch? Wann erschien bei uns das erste Telefonbuch überhaupt, wann das erste nach Kriegsende, wie viel Eintragungen? Kann ich's einsehen? Fotomotiv: Gabelstapler - erster Abholer -bekommt's der Bürgermeister überreicht? Und nun das Hübscheste oder Verblüffendste in den ersten Satz - und ab geht die Post! 20 Die Reportage Homer erzählte von den Irrfahrten des Odysseus, die Brüder Grimm erzählten von den Träumen und Albträumen des einfachen Volks. Nicht nur die Dichter erzählen, auch die Journalisten: Sie dürfen und sie sollen es tun - etwa so: «Ich erinnere mich an eine aufreibende Busfahrt im mexikanischen Hochland mit einem verkrüppelten Chauffeur, der vor kritischen Stellen das Lenkrad mit dem verstümmelten linken Arm führte und sich mit dem rechten bekreuzigte.» Wer so von seinen schlimmsten Reisen erzählt, der braucht sich nicht zu sorgen, ob seine Erzählung gelesen wird. Erzählen kann jeder Journalist. Er muss nur die Pressemitteilungen in den Papierkorb werfen, das Telefon vergessen und den Schreibtisch verlassen. Wenn über die nächste Gesundheitsreform gestritten wird, macht er sich auf den Weg ins Krankenhaus; wenn die Agentur den Bericht des Wehrbeauftragten vorstellt, besucht er die Kaserne. Wenn Dichter erzählen, werden ihre Texte zu Kurzgeschichten oder Romanen; wenn Journalisten erzählen, schreiben sie eine Reportage. Ihre Themen stecken in nahezu jeder Nachricht. Die in eine anschauliche Erzählung zu verwandeln, das sollte jedem gelingen, der seine Sinne gebraucht; er muss schauen und riechen, hören und schmecken; er muss Sprachklischees beiseite schieben, den kräftigen Bildern vertrauen und den Zitaten. Gelingt dies jedem? Beobachten wir eine Gruppe von Volontären, die ein Zuchthaus Die Reportage 1 besuchen darf, mit der Erlaubnis, selbst in die Zellen der Häftlinge zu schauen. Ein zuvorkommender Beamter führt sie vier Stunden lang herum, er plaudert angenehm und füllt ihre Notizblöcke mit anschaulichen Anekdoten und treffenden Zitaten. So scharen sich alle um den Mann und stellen immer neue Fragen. Als am Ende der Direktor mit drei Vorzeige-Häftlingen zum Gespräch lädt, flitzen die Kugelschreiber noch schneller über das Papier. Nur selten trennt sich ein Volontär von der Gruppe, blickt in eine Zelle hinein oder spricht mit einem Häftling, der auf dem Gang herumschleicht. Als die Volontäre am Nachmittag ihre Reportagen schreiben, besitzen sie Material für mehrere Hintergrund-Artikel. Doch die meisten bringen ein Gesprächsprotokoll zu Papier; die besten Arbeiten bestehen aus einem lesbaren Bericht über ein langes Interview, garniert mit ein paar Impressionen aus einer fremden Welt. Dafür hätte es gereicht, wenn sie im Archiv gekramt und sich mit dem netten Beamten in einer Kneipe getroffen hätten. Hätten sie doch ihre Schreibblöcke auf der Rückbank ihres Autos vergessen! Hätten sie Augen, Ohren und Nasen aufgesperrt in der fremden Welt, zu der nur wenige Zutritt bekommen! Stattdessen hatten sie sich ihre Eindrücke und Beobachtungen vorschreiben lassen von einem Vollzugsbeamten; statt authentischer Reportagen entstanden Berichte mit Nachrichten aus zweiter Hand. Die Augen öffnen und dann schlicht und geradeaus erzählen, genau das, was eine Reportage verlangt - das fällt denen schwer, die auf der Schule und erst recht auf der Hochschule jahrelang das Gegenteil betreiben mussten: abstrakt und kompliziert schreiben. Doch nicht nur Anfängern und akademisch Verbildeten missrät das Erzählen, selbst Könner geraten ins Schwitzen. Gerade die Reportage reizt die jungen Leute - vor allem wegen der Subjektivität, die sie als hervorstechendes Merkmal preisen. Endlich, so glauben sie, können sie alle Fesseln des Handwerks abstreifen. Doch weit gefehlt: Die Reportage ist das Gegenteil von journalistischer Anarchie. Subjektivität - das ist nicht das hemmungslose Auswalzen der