78 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren wichtige Aussage handelt, oder um dem Leser einen Begriff vom Stil des Redners zu geben. Überflüssige Wörter - immer schlecht - sind in der Nachricht unerträglich; die Aufgabe lautet ja umgekehrt, in möglichst wenigen Zeilen möglichst viele Informationen unterzubringen. Also verbieten sich Floskeln wie «in seinem Vortrag» (worin denn sonst?) oder «in diesem Zusammenhang» (da wir doch dem Redner den Kredit geben, dass er im Allgemeinen nicht gänzlich ohne Zusammenhänge spricht). Eine ausführliche Fassung der Stilratschläge, die alle journalistischen Formen erfasst, enthält das Kapitel «Schreiben und Redigieren». Die Nachricht wird so gegliedert, dass das Neue, Wichtige und Interessante im ersten Satz konzentriert ist. Ein Erzählen in der natürlichen Abfolge kann so nicht stattfinden. Die amerikanischen Agenturen halten das Gefälle vom Wichtigen zum weniger Wichtigen bis zum letzten Satz durch; Leser und Hörer aber freuen sich, wenn der Schreiber mit dem zweiten Absatz in die Chronologie gesprungen ist. Im ersten Satz der Nachricht müssen die Fragen WER - WAS -WANN - WO beantwortet werden. Handelt es sich um ein Zitat, so gehört auch der Urheber in den ersten Satz, spätestens in den zweiten (WOHER?). Auch die Fragen WIE und WARUM zu beantworten ist vom zweiten Satz an erwünscht. Der erste Satz ist niemals eine Einleitung, sondern die Hauptsache selbst oder die aufregendste Einzelheit - das Haar in der Suppe, nicht die Suppe. Wenn der Journalist zitiert, muss diese Tatsache im Leser oder Hörer stets wachgehalten werden. Der Konjunktiv der indirekten Rede ist dafür das typische Mittel, aber nicht das einzige. Die Sprache der Nachricht ist knapp und präzise. Aus den schlichtesten möglichen Wörtern werden gut überschaubare Sätze gebaut. Fachjargon ist verpönt; wo es für einzelne Fachwörter in der Alltagssprache keine Entsprechung gibt, werden sie erklärt. Das Interview 79 14 Das Interview Zunächst bedeuten das französische entrevue und das englische interview (davon abgeleitet) nur, dass zwei Personen sich sehen, wahrscheinlich auch miteinander reden wollen. Sprachlich kurios sind demnach das Telefon-Interview, wie es im Radio häufig zu hören ist, und das Interview mit schriftlich gestellten Fragen und geschriebenen Antworten, wie Diktatoren es bevorzugen, weil sie Angst vor peinlichen Fragen oder spontanen Reaktionen haben, und Filmstars, weil ihr Manager die zumeist richtige Einsicht hat, dass sie am besten den Mund halten sollten. Für das Interview im engeren Sinn also ist es erforderlich, dass die Gesprächspartner sich sehen. «Interview» heißt dann erstens ihre Begegnung, zweitens der zur Veröffentlichung bestimmte Teil ihres Gesprächs und drittens das, was davon gedruckt und gesendet worden ist. Wird das Gespräch live vor geöffnetem Mikrophon geführt, so erfahren Radiohörer und Fernsehteilnehmer, was der Interviewte wirklich gesagt hat, Wort für Wort, mit allen Versprechern oder mit einem Halbsatz, den ausgesprochen zu haben der Befragte oft alsbald bereut. Nur das gehörte Live-Interview entspricht der Vorstellung, die die meisten Laien von allen publizierten Interviews besitzen: Genau so hat er's gesagt. Schon das zunächst aufgezeichnete und später ausgestrahlte Interview weicht vom Original fast immer ab: Versprecher werden getilgt, Passagen geschnitten und oft beim Kürzen fahrlässig oder mutwillig um einen Aspekt vermindert, auf den der Interviewte besonderen Wert gelegt hätte - also ein bisschen verfälscht. Sehr wenig verfälscht indessen, verglichen mit dem so genannten Interview, das wir in Zeitungen und Zeitschriften lesen. Das gedruckte Interview ist immer ein Kunstprodukt: Von den Notizen, vom Stenogramm oder vom Tonbandprotokoll des ursprünglich geführten Gesprächs weicht es um mindestens 30 Prozent ab; häufig aber hat es fast nichts mehr mit dem gesprochenen Wort zu tun. Ehe wir erklären, warum die 30 Prozent unvermeidlich sind und 80 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren wie man die Abweichung übertreiben kann, wollen wir einige Punkte klären. 1. In der Vorbereitung haben gedrucktes und gesendetes Interview das Entscheidende gemeinsam: Der Journalist muss sich erstens vorzüglich präpariert haben und zweitens mit einer klaren Ziel-vorstcllung - Was vor allem will ich wissen? - ins Gespräch gehen und sie im Gespräch durchhalten (falls er nicht eine unvermutete Sensation ausgräbt). Auch hier jedoch ist das gesendete Interview die strengere Form - mangelndes Vorwissen und diffuse Gesprächsführung gehen mit über den Sender; der Zeitungsredakteur kann seine Durchhänger rausredigicren und das Gespräch nachträglich auf ein Ziel zuspitzen, das zuvor kaum erkennbar war. 2. Auch in der Gesprächsführung gibt es zwischen Gedruckt und Gesendet Gemeinsamkeiten: • Die Fragen sind kurz und präzise, jedenfalls kürzer als die Antworten. • Der Interviewer ist ein Fragesteller und kein Kommentator, der den Befragten mit seinen Meinungen zu behelligen hätte; nur was als Streitgespräch deklariert ist (wie das «,S/7z'ege/-Gespräch»), darf davon eine Ausnahme machen. • Der Interviewer hat rhetorisch die Gegenposition zu beziehen. Einverständnis macht das Interview langweilig, liebedienerisches Entgegenkommen bringt es um (ein abschreckendes Beispiel dafür im Anhang dieses Kapitels). Natürlich muss sich der Journalist nicht verbiegen: Stimmt er mit der Meinung des Gesprächspartners völlig überein, so kann er die Gegenposition wahren, indem er sagt: «Nun wenden aber viele Leute dagegen ein ...» oder «Dazu hat doch Ihr Parteifreund X gesagt...» 3. In allen anderen Elementen der Gesprächsführung haben das gedruckte Interview und das Live-Interview in Radio und Fernsehen fast nichts miteinander zu tun. Sie sind zwei grundverschiedene Genres, die unter dem Oberbegriff «Interview » zusammenzufassen eine Irreführung aller Laien, insbesondere der Leser ist. Sie unterscheiden sich wie Original und Fälschung und setzen Das Interview 81 beim Journalisten zwei radikal verschiedene Arbeitstechniken voraus. Vor laufender Kamera einen Prominenten zu befragen und dabei binnen eineinhalb, zwei, selten mehr als vier Minuten etwas Interessantes über den Sender zu schicken ist eine der schwierigsten journalistischen Formen überhaupt. Sie setzt neben Sprachtalent auch Wortökonomie und die Fähigkeit zu blitzartigem Reagieren voraus, die, wenn überhaupt, nur in einer Fülle praktischer Übungen trainiert werden kann; eine schriftliche Darstellung ist da fehl am Platz. Im Folgenden wird daher nur noch das gedruckte Interview behandelt. Reisende Interview-Trainer, die Rezepte für beide Genres anzubieten behaupten, müssen im Unrecht sein. So lautet ein nicht umzubringender Ratschlag, das Interview mit einer «Eisbrecherfrage» zu eröffnen, also nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern erst einmal eine harmlose, Sympathie schaffende Frage zu stellen. Was ein ausgemachter Unsinn ist. Denn wenn ich vor dem Mikrophon zwei Minuten Zeit habe, falle ich selbstverständlich mit der Tür ins Haus, und hätte ich ausnahmsweise zehn Minuten, so sollte ich immer noch mit einer Provokation beginnen und nicht mit einem Liebeswerben. Denn mein Publikum soll ja zuhören. Bin ich aber mit einem Prominenten eine Stunde oder länger für ein Interview verabredet, das gedruckt werden soll, so werde ich umgekehrt nicht mit einer Frage das Eis zu brechen versuchen, sondern etliche Minuten Interesse zeigen oder heucheln für die Kinder, die Hunde, den Garten, die Fayencen-Sammlung des Gesprächspartners. Wenn die Provokation erst in der 47. Minute folgt, so ist das kein Problem: Ich kann sie ja beim Redigieren leicht an den Anfang rücken. Damit sind wir bei der Kernfrage. Inwieweit darf ich - inwieweit muss ich sogar - in den originalen Wortlaut eingreifen? Ein Muss liegt in zwei Fällen vor: • Der Befragte erklärt, er wünsche nicht, dass der soeben von ihm gesprochene Satz verwendet wird. Bei einem Austausch von Zu- 82 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren rufen vor der Tür des Fraktionszimmers hat er diese Chance nicht, bei einem verabredeten, förmlichen Interview muss er sie haben. Der Journalist, der sich nicht daran hält, bekommt von diesem Partner nie wieder eine Auskunft, ja der Düpierte wird dafür sorgen, dass der Vertrauensbruch sich herumspricht, also berufsschädigend wirkt. • Der Befragte hat sich mehrfach verhaspelt und seine Sätze nicht zu Ende gebracht. Dies exakt wiederzugeben wäre ein Affront. Selbst Parlamentsstcnographcn, die die Grundlage für Dokumente schaffen sollen, haben einen Kodex, der ihnen solche Ausrutscher des Redners zu zitieren verbietet. Was sollte der Journalist darüber hinaus ändern? Schiere Wiederholungen. Vielleicht ist der Befragte redselig und äußert denselben Gedanken in fast denselben Worten dreimal nacheinander. Oft kommt das Gespräch auf einen schon vorher diskutierten Punkt zurück, ohne dabei eine neue Wendung zu nehmen. Addiert man das, was beim Redigieren geschehen muss, mit dem, was dabei geschehen sollte, so kommt man leicht auf jene 30 Prozent, von denen das gedruckte Interview vom Original mindestens abweicht. Der Journalist darf aber noch viel mehr. Radikal kürzen darf er, ja muss er eigentlich, wenn das Gespräch eine Stunde oder länger dauerte, die Chronologie des Gesprächs darf er zertrümmern, um es dramaturgisch zu gliedern: die Aspekte wohl geordnet, obwohl sie im Gespräch durcheinander gingen, die aufregendsten Feststellungen des Befragten am Anfang und am Schluss. Bis hierher mag das Verständnis des Laien noch reichen. Doch was nun noch alles geschehen kann - in Tageszeitungen weniger, in Wochenblättern wie Spiegel, Focus, Stern umso mehr -, das würde den Leser wahrscheinlich irritieren, ja empören, wenn er es wüsste. Der Journalist darf Formulierungen des Befragten, die ihm als schlaff erscheinen, ein bisschen zuspitzen. Seine eigenen Fragen darf er nachträglich flotter, intelligenter formulieren. Ja, es kommt vor, dass er sich die Freiheit nimmt, dem Befragten Behauptungen in den Mund zu legen, die der gar nicht aufgestellt hatte. Das Interview 83 Wie das? Lässt der Interviewte sich das denn gefallen? Das liegt an ihm, und ein Risiko geht er nicht ein. Denn zum verabredeten Interview gehört automatisch das Recht des Befragten, die redigierte Fassung zu sehen und in sie einzugreifen (das so genannte Autorisieren ist ein Recht, das der Journalist bei jeder anderen journalistischen Form dem Betroffenen keinesfalls einräumen darf). Prominente kennen dieses Recht und machen fast immer von ihm Gebrauch; befragt der Journalist einen unerfahrenen Partner, so ist es fair, ihn auf dieses Recht hinzuweisen. Nur ausnahmsweise ist es möglich, von einer Autorisierung abzusehen. «Unter besonderem Zeitdruck ist es auch korrekt, Äußerungen in unautorisierter Interviewform zu veröffentlichen, wenn den Gesprächspartnern klar ist, dass die Aussagen zur wörtlichen oder sinngemäßen Publikation gedacht sind», so steht es im Pressekodex. Nun kann es vorkommen, dass der Interviewte sich freut, sich so viel farbiger und pfiffiger geäußert zu haben, als er glaubte - dann sind alle Beteiligten zufrieden. Wahrscheinlicher ist, dass er mindestens einen Teil des ihm in den Mund Gelegten mildert oder streicht. Und nicht selten streicht er - und das darf er eben - Sätze, die er unstreitig genau so gesprochen hat. Dann ist der Journalist sauer und versucht, ihm oder seinem Pressesprecher wenigstens einen Teil dieser nachträglichen Aufweichung abzuhandeln. Dabei hat er ein starkes Druckmittel: «Wenn Sie alles Kraftvolle streichen wollen, können wir das Interview leider nicht drucken, oder verstecken es auf Seite 17.» Nur, so stark ist das Mittel auch wieder nicht; denn der Interviewte, um seine Zeit und um seine Chance betrogen, gibt diesem Journalisten und dieser Zeitung nie wieder ein Interview (und wird dafür sorgen, dass sich das herumspricht). So pokern sie denn nicht selten, die Frager und die Befragten, und das Endprodukt ist eine einvernehmlich betriebene Irreführung des Lesers. Ja, hartnäckig hält sich das Gerücht, eine der berühmtesten Interviewerinnen der Welt habe einige ihrer Gespräche gar nicht erst geführt, sondern sich geistreich ausgedacht (wie Shakespeare oder Schiller es schließlich auch konnten), dann dem angeblich Interviewten zugeschickt und um einen Fototermin gebeten; und der li- 84 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren bysche Diktator zum Beispiel sei sehr beeindruckt gewesen, wie glänzend er argumentiere. Selbst wenn das Gerücht nicht stimmt: Es bleibt bemerkenswert, dass sogar ein nie geführtes Interview nach den Sitten der Branche gedruckt werden dürfte, falls der Partner es abgesegnet hat. Die Chance, dass ein Interview eine aufregende Lektüre bietet, nimmt mit zunehmender Ehrlichkeit vermutlich ab. Das reizte den Journalisten Tom Kummer so sehr, dass er völlig auf die Ehrlichkeit verzichtete, Interviews mit Prominenten komplett erdichtete und sogar Chefredakteure fand, die sie im Magazin der Süddeutschen Zeitung abdruckten. Als es ruchbar wurde, war die Süddeutsche entsetzt, dokumentierte den «Fall Kummer» am 29. Mai 2000 auf einer Sonderseite und entließ die verantwortlichen Chefredakteure. Damit war der Fall nicht erledigt. Markus Peichl erregte sich in der Zeit, dies grenze an Hexenjagd, Tom Kummer feierte sich in Talkshows und (echten) Interviews als Erfinder des «Borderline-Journalismus», erklärte, er habe die Wahrheit «choreographiert», und ließ sich in eine Reihe mit großen Dichtern stellen. Nur - wenn der Journalist die Grenze zur Dichtung überschreitet und die Wahrheit hinter sich lässt, täuscht er sein Publikum und wird zum Fälscher. Das Interview ist eine schillernde journalistische Form, die den Vorstellungen des Publikums nur dann entspricht, wenn sie live über den Lautsprecher geht. Beim gedruckten Interview muss und sollte der Journalist eine Menge ändern, ja er darf das Endprodukt dicht an die Verfälschung des Originals herantreiben, falls der Befragte damit einverstanden ist. Doch gibt es zwischen Gedruckt und Gesendet auch Gemeinsamkeiten: Auf alle Interviews sollte der Journalist sich gründlich vorbereitet haben; eine Zielvorstellung muss er mitbringen und durchzusetzen versuchen; Fragen soll er stellen und nicht den Befragten kommentierend zurechtweisen. Die Fragen müssen dabei jenen Widerspruch enthalten, den vermutlich mindestens ein Teil der Leser oder Hörer gern geäußert hätte - und der allein das Gespräch lebendig macht. Das Interview 85 Zwei Tiefpunkte der Interviewtechnik Welt am Sonntag, 19.12. 82 Die IG Metall fordert in einigen Tarifgebieten, die Löhne im nächsten Jahr um bis zu 7,5 Prozent anzuheben. Die Metall-Lohnrunde hat Signalwirkung für die Lohnerhöhung auch in anderen Branchen und im öffentlichen Dienst. WELT am SONNTAG fragte Dieter Kirchner, Hauptgeschäftsführer des Arbeitsgeberverbandes Gesamtmetall: In der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit solche Forderungen aufzutischen, ist doch wohl ein Scherz? Kirchner: Da haben Sie ein mildes Wort gewählt. WELT am SONNTAG: Warum verhandeln Sie überhaupt über solche unsinnigen Forderungen? Kirchner: Wir müssen verhandeln. Dazu sind wir vertraglich verpflichtet. Die Firmen und ihre Belegschaften würden ein anderes Verhalten auch nicht verstehen. Die Zeit, 22. 8. 80 Fritz J. Raddatz, der damalige Feuilletonchef der Zeit, eröffnete ein Interview mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt mit folgender Frage: Raddatz: Herr Bundeskanzler, ich möchte die Frage zu unserem Gespräch über Ihren - und damit der Sozialdemokratie - Kulturbegriff gleich mit einem mißtrauischen Satz beginnen: Ist es nicht so, daß, obwohl die Sozialdemokratie sozusagen aus der Arbeiterbildungsbewegung hervorgegangen ist, heute ganz generell ein sehr konservativer, manchmal gar reaktionärer Kulturbegriff auch bei Ihnen vorherrscht; kann man gar sagen, daß ein Mißtrauen gegen Intellektuelle und Künstler überwiegt, daß man Kunst - welche Genres immer - begreift als Applikation, als das Nette und Schöne, gar für den Feierabend zu Reservierende, nicht als Störfaktor, nicht als das Aufreizende, auch den einzelnen Verstörende? Schmidt: Das war ja nun eine ganze Menge auf einmal, ich bin nicht sicher, ob ich alle diese vielen Urteile und Vorurteile in einem Atemzuge beantworten kann. 86 Wie Journalisten Leser und Hörer informieren Obwohl also vom Interviewten auf die Torheit seiner Einleitungsfrage hingewiesen, sah Raddatz darin keinen Anstoß, diese unsägliche Frage zu redigieren. Daran sieht man, welche Wohltat im Redigieren liegen kann. Ein Höhepunkt «Graf Schönburg, wann wollten Sie sich das letzte Mal umbringen?» Mit dieser Frage eröffnete das SZ-Magazin 1993 in seiner Reihe «Lassen Sic uns über Geld reden» ein Interview mit dem Vater zweier milliar-denschwerer Töchter, Gloria von Thurn und Taxis und Maya Flick. Natürlich muss cine derart provokante Frage durch Fakten gedeckt sein; hier war sie es durch den Hinweis des Interviewers, der Graf habe doch vor vier Jahren in der Presse seinen Selbstmord angekündigt (was Schönburg bestätigte). Weitere Fragen: «Sind denn so viele Adlige Versager?» («Ja», erwidert der Graf.) Und: «Was ist eigentlich an Ihnen adelig?» Antwort: «Nur der Name, sonst nichts.» Schöne Aggressivität in brillanter Kürze! Ob das schon beim Gespräch so war oder erst durchs Redigieren hineinkam, ist dem Leser egal. Goebbels und Gorbatschow 1986, als Helmut Kohl und Michail Gorbatschow noch nicht befreundet waren, druckte das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek in einem Interview mit Kohl die Sätze: «Gorbatschow versteht was von PR. Goebbels, einer der Verantwortlichen der Hitler-Ära, verstand auch was davon.» Diese Äußerung erregte internationales Missfallen, und sogleich dementierte Kohls Pressesprecher Friedhelm Ost, dass der Bundeskanzler sie getan habe. Hatte er nun, oder hatte er nicht? Er hatte. Aber allein bei Friedhelm Ost lag die Schuld für die Panne. Selbstverständlich hatte der Newsweek-Korrespondent ihm den redigierten Text vor dem Abdruck zugeschickt. Hätte nun Ost - wie es seine Pflicht gewesen wäre - erkannt, dass dieser Passus Unheil stiften würde, so hätte er ihn gestrichen, und nie und in keiner Form hätte der amerikanische Journalist ihn zitieren dürfen. Vorsicht, Zahlen! 87 Ost aber hatte den Satz nicht gestrichen, sondern verbreitete unter dem Anprall der Kritik die Lüge, dass er gar nicht gesprochen worden sei. Nun erst berief sich der JVe^swee^-Korrespondent darauf, dass er mit seinem Tonband den Beweis führen könne. Das durfte er - denn der deutsche Regierungssprecher hatte versucht, sein eigenes Versagen mit einem Angriff auf die Berufsehre des amerikanischen Journalisten zu kaschieren. 15 Vorsicht, Zahlen! Nichts lieben Redakteure mehr als Zahlen. Sie wirken exakt und aktuell, sie sind rekordverdächtig, sie passen in jede Überschrift. Die Einübung in den real existierenden Journalismus ist hier rasch vollzogen: Übernehmen Sie alle Zahlen, die Agenturen und Pressestellen Ihnen anbieten; eine kritische Prüfung gilt allenfalls dann als erforderlich, wenn Statistiken oder Meinungsumfragen von krass parteiischer Seite kommen: Zahlen über Lungenkrebs-Tote, die die Tabakindustrie publiziert, werden mit spitzen Fingern angefasst. Das ist in Ordnung. Zahlen jedoch, bei denen der Interessenstandpunkt nicht ganz so offenkundig ist, werden in fast allen Redaktionen gern gedruckt: Wahlprognosen, die von einer Partei in Auftrag gegeben worden sind, oder die Behauptung des Orthopäden-Verbandes, 80 Prozent der Deutschen hätten krumme Füße, oder die Erfolgsmeldung der Polizei, sie habe 44 Prozent aller Straftaten aufgeklärt. (Im Anhang zu diesem Kapitel wird vorgerechnet, dass die Polizei, wenn sie dies mitteilt, in Wahrheit wahrscheinlich nur 11 Prozent« aller» Straftaten aufgeklärt hat und dass vermutlich nur auf 4 Prozent aller begangenen Straftaten ein rechtskräftiges Urteil folgt.) Redakteure, die einen besseren Journalismus als den üblichen anstreben, sollten folglich sämtliche Zahlen, die auf ihren Tisch gelangen, mit spitzen Fingern anfassen - Wahlergebnisse aus demokratischen Staaten ausgenommen. Drei von vier Zahlen (Vorsicht! Auch