114 Die unterhaltende Information ' warum? Was unterscheidet das Buch von der CD-ROM? Wie lange gibt es das Buch überhaupt noch? Wann erschien bei uns das erste Telefonbuch überhaupt, wann das erste nach Kriegsende, wie viel Eintragungen? Kann ich's einsehen? Fotomotiv: Gabelstapler - erster Abholer -bekommt's der Bürgermeister überreicht? i Und nun das Hübscheste oder Verblüffendste in den ersten Satz - und | ab geht die Post! 20 Die Reportage Homer erzählte von den Irrfahrten des Odysseus, die Brüder Grimm erzählten von den Träumen und Albträumen des einfachen Volks. Nicht nur die Dichter erzählen, auch die Journalisten: Sie dürfen und sie sollen es tun - etwa so: «Ich erinnere mich an eine aufreibende Busfahrt im mexikanischen Hochland mit einem verkrüppelten Chauffeur, der vor kritischen Stellen das Lenkrad mit dem verstümmelten linken Arm führte und sich mit dem rechten bekreuzigte.» Wer so von seinen schlimmsten Reisen erzählt, der braucht sich nicht zu sorgen, ob seine Erzählung gelesen wird. Erzählen kann jeder Journalist. Er muss nur die Pressemitteilungen in den Papierkorb werfen, das Telefon vergessen und den Schreibtisch verlassen. Wenn über die nächste Gesundheitsreform gestritten wird, macht er sich auf den Weg ins Krankenhaus; wenn die Agentur den Bericht des Wehrbeauftragten vorstellt, besucht er die Kaserne. Wenn Dichter erzählen, werden ihre Texte zu Kurzgeschichten oder Romanen; wenn Journalisten erzählen, schreiben sie eine Reportage. Ihre Themen stecken in nahezu jeder Nachricht. Die in eine anschauliche Erzählung zu verwandeln, das sollte jedem gelingen, der seine Sinne gebraucht; er muss schauen und riechen, hören und schmecken; er muss Sprachklischees beiseite schieben, den kräftigen Bildern vertrauen und den Zitaten. Gelingt dies jedem? Beobachten wir eine Gruppe von Volontären, die ein Zuchthaus Die Reportage 115 besuchen darf, mit der Erlaubnis, selbst in die Zellen der Häftlinge zu schauen. Ein zuvorkommender Beamter führt sie vier Stunden lang herum, er plaudert angenehm und füllt ihre Notizblöcke mit anschaulichen Anekdoten und treffenden Zitaten. So scharen sich alle um den Mann und stellen immer neue Fragen. Als am Ende der Direktor mit drei Vorzeige-Häftlingen zum Gespräch lädt, flitzen die Kugelschreiber noch schneller über das Papier. Nur selten trennt sich ein Volontär von der Gruppe, blickt in eine Zelle hinein oder spricht mit einem Häftling, der auf dem Gang herumschleicht. Als die Volontäre am Nachmittag ihre Reportagen schreiben, besitzen sie Material für mehrere Hintergrund-Artikel. Doch die meisten bringen ein Gesprächsprotokoll zu Papier; die besten Arbeiten bestehen aus einem lesbaren Bericht über ein langes Interview, garniert mit ein paar Impressionen aus einer fremden Welt. Dafür hätte es gereicht, wenn sie im Archiv gekramt und sich mit dem netten Beamten in einer Kneipe getroffen hätten. Hätten sie doch ihre Schreibblöcke auf der Rückbank ihres Autos vergessen! Hätten sie Augen, Ohren und Nasen aufgesperrt in der fremden Welt, zu der nur wenige Zutritt bekommen! Stattdessen hatten sie sich ihre Eindrücke und Beobachtungen vorschreiben lassen von einem Vollzugsbeamten; statt authentischer Reportagen entstanden Berichte mit Nachrichten aus zweiter Hand. Die Augen öffnen und dann schlicht und geradeaus erzählen, genau das, was eine Reportage verlangt - das fällt denen schwer, die auf der Schule und erst recht auf der Hochschule jahrelang das Gegenteil betreiben mussten: abstrakt und kompliziert schreiben. Doch nicht nur Anfängern und akademisch Verbildeten missrät das Erzählen, selbst Könner geraten ins Schwitzen. Gerade die Reportage reizt die jungen Leute - vor allem wegen der Subjektivität, die sie als hervorstechendes Merkmal preisen. Endlich, so glauben sie, können sie alle Fesseln des Handwerks abstreifen. Doch weit gefehlt: Die Reportage ist das Gegenteil von journalistischer Anarchie. Subjektivität - das ist nicht das hemmungslose Auswalzen der 116 Die unterhaltende Information eigenen Gefühle; die interessieren Leser kaum. Subjektivität meint die Auswahl der Tatsachen durch den Autor, der sie selber erlebt und für seine Reportage nutzt. Selbst das «Ich» wird in den meisten Redaktionen nicht geduldet. Der Reporter soll Distanz halten zu seinem Ich, es sei denn, er gerät in eine extreme Situation oder dringt in verbotene Zonen ein. Dann darf er nicht nur, dann muss er das «Ich » gebrauchen. Wer im Bürgerkrieg überfallen wird und überlebt, oder wer die Hitze eines Großfeuers spürt, der wird zum Ich-Erzähler, wie Egon Erwin Kisch 1933: Am Abend brannte das Reichstagsgebäude, und am Morgen wurde ich verhaftet. Das Zimmer in der Mozartstraße hatte ich genau vier Wochen vorher bezogen, an dem Tage, an dem Herrn Hitler die Macht über Deutschland von Hindenburg übergeben worden war. Doch selbst der «Rasende Reporter», als der Kisch bekannt wurde, schrieb mehr leise als laute Reportagen: Unter den Obdachlosen; Der Flohmarkt; Faschingskostüme; Jiddisches Literaturcafe; Wat koofe ick mir for een Groschen? «Dieser Reporter ist nicht rasend, sondern im Gegenteil besinnlich», schrieb Bruno Frei 1934. «Kisch hat die Exotik der Nähe entdeckt, die weiten und unbekannten Länder in den Nebenräumen des Alltags.» So überschreiten Reporter oft Grenzen, die ihre Leser auch überschreiten könnten, aber nicht zu überschreiten wagen. Nehmt den Leser mit und lasst ihn euch über die Schulter schauen!, rät der Volontärsausbilder Hans-Joachim Schlüter. So geht der Reporter in die Vorstandsetage des Weltunternehmens, ins Gen-Labor oder auf den Fischkutter zum Hochseefang; und er lässt seine Leser erleben, was ganz in ihrer Nähe passiert, aber ihnen fremder erscheint als ein exotisches Land: die Menschen im Asylantenheim und im Obdachlosen-Asyl, in der Türkenkneipe und im Frauenhaus. Je jünger die Schreiber, desto lieber suchen sie Menschen am Rand der Gesellschaft. Juroren von Wettbewerben für junge Journalisten kennen dies: In der Regel bestehen drei Viertel der Bewerbungen aus Die Reportage 117 Sozialreportagen. In denen bekommen diejenigen eine Stimme, die sonst schweigen; und wenn Zeitungen die gesamte Gesellschaft spiegeln sollen, dann eben auch die schweigende Minderheit. So will die Jury eines der angesehenen Journalistenpreise, des Theodor-Wolff-Preises, «den Typus des unbequemen Journalisten ermutigen», der auch an den Rand der Gesellschaft blickt. Doch viele Chefredakteure und Lokalchefs mögen ebensolche Geschichten nicht, sie wittern «Sozialmief». Wer also eine unbändige Lust aufs Erzählen bekommt, und diese Lust ehrt den Journalisten, der sollte die nüchtern geschriebene Sozialreportage anbieten, und nicht nur zur Weihnachtszeit; aber er sollte auch in andere Ecken schauen, die nahezu unentdeckt sind und in die Journalisten nur selten eindringen: die Fließbänder der Fabriken beispielsweise oder die Karriere-Kurse der jungen Aufsteiger. Wer erzählen will, vor allem, wer erzählen kann, der hat gute Chancen in jeder Redaktion. Die Leser wollen Reportagen, das wissen die Leitenden Redakteure. «Unser Problem ist allerdings oft, Kollegen zu finden, die nicht nur motiviert sind, so viel Zeit in ein Thema zu stecken, sondern aus den Beobachtungen ein unterhaltsames Drehbuch und fundierte Aussagen herauszuarbeiten», klagte Irene Jung, als sie das Wochenjournal des Hamburger Abendblatts leitete. Michael Reinhard, Chefredakteur der Main Post in Würzburg, schließt sich an: «Wir liegen an der Kette des Alltagstrotts und wehren uns nicht dagegen, weil sie uns keineswegs unbequem ist. Oder ist es etwa nicht angenehmer, eine Pressekonferenz zu besuchen und anschließend auf sechzig Zeilen den dort druckgerecht servierten Waschzettel zu veredeln, als sich Gedanken über ein Reportagethema zu machen, es vergleichsweise aufwendig zu recherchieren und zu schreiben?» Alle sagen, sie mögen die Reportage, selbst in den Politikredaktionen. «Die reine Nachricht druckt doch keiner mehr!» Das beobachtet Peter M. Gehrig, j4P-Chefredakteur in Deutschland, und schickt die reine Nachricht zwar noch in die Computer seiner Kunden, doch nur als schnelle Meldung, die vor allem von den Radiosendern zur vollen Stunde genutzt wird. 118 Die unterhaltende Information Nach der Eilmeldung folgt, sooft es geht, die Reportage. Die Leser möchten neben dem Kanzler am Kabinettstisch sitzen oder mit dem Polizisten die Bank stürmen, in der die Gangster ihre Geiseln quälen. Wenige Stunden nach dem Ende des Berliner Geiseldramas von 1995, bei dem die Täter durch einen Tunnel flohen, berichtete AP: Im Morgengrauen kracht es neun, zehn Mal vor der Commerzbank in Berlin-Zehlendorf. Tränengasschwaden ziehen über die Kreuzung BreisgauerIMatterhornstraße. Mit schwarzen Stoffkappen vermummte, schwerbewaffnete Beamte des Sondereinsatzkommandos stürmen durch die Tür in die Bank ... Ein Reporter schreibt als Augenzeuge - das ist die einfache Reportage; Puristen lassen sie ungern als Reportage gelten. Die klassische Reportage setzt eine aufwendige Recherche voraus und füllt eine Zeitungsseite oder eine Heftstrecke in den Magazinen. Aber ist sie wirklich klassisch, die große Reportage? Sie beginnt nicht erst im Basislager einer Himalaya-Expedition, sondern gleich um die Ecke: Erzählen muss er, der Reporter, und nicht nur eine nüchterne Nachricht schreiben. Das genügt, und das erfreut den Leser. Wer schlicht, anschaulich und wahr erzählt, der schreibt eine Reportage. Ihr Spektrum reicht von der literarischen Reportage bis zur chronologisch erzählten Kurzreportage, die unmittelbar nach einem spektakulären Ereignis eilig geschrieben wird. Leser schätzen die Reportage mehr als die Nachricht, weil die Reportage ihnen die Chance bietet, ein Geschehen zu verfolgen, als wären sie selber dabei. So lässt der Reporter den Leser über die Schulter schauen. Reportagen für Journalistenschulen Wer journalistische Talente entdecken will, der lässt die jungen Leute eine Reportage schreiben. Nahezu alle bedeutenden Journalistenschulen machen es so: Sie schicken den Bewerber raus, damit er seine Fähigkeit offenbaren kann, zu beobachten und die Beobachtungen einem Dritten Wie man eine Reportage schreibt 119 so mitzuteilen, als wäre er selber dabei gewesen. Die Reportage gilt als untrüglicher Test: Wer sie nicht so schreiben kann, dass sie den Leser erfreut, der taugt nicht zum Beruf. Mehrere tausend Bewerbungen gehen jährlich bei den Journalistenschulen ein; nicht einmal ein Prozent bekommt einen der begehrten Plätze. Um überhaupt in die Vorauswahl zu kommen, muss in der Regel neben einem Kommentar eine Reportage geschrieben werden. Dies sind die Themen, welche die Henri-Nannen-Schulc 2001 vorgegeben hatte: 1. Armenküche: Wo Bedürftige sich satt essen können. 2. Suche nach neuen Gesichtern: Casting-Termine der Werbe- und Unterhaltungsindustrie. 3. Studentenjobs: Was man alles macht, um ein paar Mark zu verdienen. 4. Schönheitsfarmen und Wellness-Hotels: Wo Gestresste sich verwöhnen lassen. 5. Nervenkitzel: Was die moderne Zeit noch an Abenteuern zu bieten hat. 21 Wie man eine Reportage schreibt Wie fange ich an? Wie bekomme ich eine unüberschaubare Stoff-Fülle in den Griff? Mit diesen Problemen beginnt das Schreiben der Reportage. Warum ist gerade der erste Satz jeder Mühe wert? Schauen wir zurück auf die Nachricht (Kapitel 13): Der Einstieg soll den Leser verführen, diese Regel gilt für jeden journalistischen Text - also auch für die Reportage. Und der Unterschied? Die Nachricht formuliert sachlich, kommt sofort zur Hauptsache und lässt niemals die Glocken läuten; die Reportage erzählt gleich im ersten Satz und schlägt den Ton an, auf den der ganze Text gestimmt ist. Doch darf der erste Satz nicht zu laut sein: Wer mit einem Schrei beginnt, der kann nicht mehr steigern; er muss ja gerecht bleiben gegenüber seiner Geschichte, den Tatsachen und den Menschen, von denen er schreibt. 120 Die unterhaltende Information Da bietet sich die Beschreibung einer Szene an, die typisch ist für die Geschichte, die in die Handlung hineinzieht und die gut zu lesen ist. So begannen zwei Sieger-Reportagen des Kisch-Preises: Jetzt beten sie, der Kardinal, die Gemeinde und ganz vorn in der ersten Reihe Wolfgang Schrempp, Chef von DaimlerChrysler Italien und Bruder des Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp. Sanctifi-cet nos, hallt es durch die Kirche, heilige uns. Amen, haucht die Gemeinde. Dann singt der Chor, das Requiem von Mozart, und über allem strahlt der Stern, aber erstmals in einer Kirche nicht der von Bethlehem, sondern der aus Stuttgart. Dies ist eine Premiere, ein Gottesdienst, gesponsert von DaimlerChrysler. Ein Gottesdienst der S-Klasse versteht sich, nicht in einer Dorfkirche, sondern in Rom in der prächtigen, herrlichen Basilika San Paolo, wo alle Päpste seit Petrus im Bild verewigt sind ... (Dietmar Hawranek und Dirk Kurbju-weit in «Die Drei-Welten-AG», 1. Kischpreis 2002) Einen Trucker zu verstehen ist leicht. Trucker sitzen den ganzen Tag vor ihrem Bett und gucken aus dem Fenster. Sie schaffen in 45 Minuten Pause sechs Dosen Bier und eine Nutte. Trucker tragen Stiefel, Jeans und Fransenwesten und fühlen sich wie die letzten Cowboys, denn Trucker sind Typen, die nie gewinnen und deshalb nichts mehr zu verlieren haben. Die Frage ist nur, wer ein Trucker ist ... (Klaus Brinkbäumer in «Ein bizarrer Krieg», 1. Kischpreis 2000) In nahezu allen Magazinen, auf der dritten Seite der Süddeutschen Zeitung, aber auch in den Lokalreportagen scheint der szenische Einstieg zur Regel erhoben. Doch zur Regel taugt er nicht: Meist ist er so beliebig, dass er auch am Beginn einer anderen Reportage stehen könnte, und er schafft das Problem, dass der Autor die Kurve zu seiner Sache oft zu spät oder gar nicht nimmt. Statt des szenischen Einstiegs ist eine verblüffende These denkbar, eine kühne Raffung, ein ausgefallenes Bild - wie es vorbildlich Marie-Luise Scherer 1977 in einer preisgekrönten Reportage im Spiegel tat: Wie man eine Reportage schreibt 121 Abstieg ist zu bedächtig. Sofie Häusler ist nicht sozial abgestiegen, sondern sie machte eine Schussfahrt durch eine zielgenaue Schneise, deren Markierungen ein Saboteur hätte gesteckt haben können. Jemand, der ein Händchen hat für die dramaturgische Beschleunigung vom bösen Ende. Es folgt die Schilderung des Lebenswegs einer Trinkerin. Wer den rechten Einstieg gefunden hat, der schreibt leicht die gesamte Reportage in einem Zug runter: So erzählen es Reporter gern und malen wilde Szenen aus, in denen sie ihre Familie tyrannisieren, vor die Wand laufen oder den Whisky literweise schlürfen. Nach der Mühe des ersten Satzes kommt die Mühe der Gliederung. Wohin mit all den Eindrücken, Notizen und Stimmungen? Wie schlage ich eine Schneise in den Wirrwarr, um den Leser nicht ebenfalls zu verwirren? Erzähle ich ein Ereignis, das in der Zeit abläuft, einen Hergang, so ist dies das zugleich simpelste und dankbarste Rezept: Mit dem Anfang anfangen und mit dem Schluss aufhören; mit dem ersten Absatz als einziger Ausnahme, falls die Geschichte in ihrem natürlichen Ablauf keinen genügend interessanten Anfang hat. (Über den Reiz der Chronologie vgl. Kapitel 13.) Ungleich schwieriger schreibt es sich über Gegenstände, die nicht in der Zeit ablaufen, wie das Porträt einer Stadt oder eines Flughafens, oder bei denen nur ein ziemlich zufälliger Ablauf stattfindet, beim Rundgang des Reporters durchs Gefängnis beispielsweise. Dann ist der journalistische Einfall gefragt: Was lässt sich bewegen, wenn es die Zeit nicht ist? Denn Bewegung muss sein, ich muss den Leser nach B mitnehmen, wenn ich in A begonnen habe. Die nächstliegende Lösung dieses Problems liegt in zwei Methoden: Entweder ich stelle eine überraschende Feststellung an den Anfang («Nirgends wird so viel gelacht wie in Waisenhäusern» -wenn's denn stimmt) und führe den Leser Schritt um Schritt dahin, mir schließlich zu glauben. Oder ich eröffne die Reportage, indem ich mich zu einer populären Meinung bekenne, dies aber sogleich mit dem Hinweis, dass ich 122 Die unterhaltende Information schmerzlich hätte umlernen müssen - und nun mache ich den Leser zum Zeugen meines Lernprozesses. Sogleich ist eine Dramaturgie entstanden, die es mit der Chronologie aufnehmen kann, und die Lulle der Fakten ordnet sich fast von allein der General-Idee unter. So begann eine Reportage im New Yorker mit den Sätzen: «Oft habe ich mich gefragt, woraus ein hot dog eigentlich besteht. Nun weiß ich es, aber lieber wüsste ich es nicht.» Und schon ist die Bewegung da: nämlich die Stationen, auf denen der Reporter Zug um Zug sein Wissen und gleichzeitig seinen Ekel erwarb. Das reicht für den Anfang: ein erster Satz, der verblüfft; die Chronik der Ereignisse oder ein anderer Weg von A nach B; die Lust am Erzählen, verbunden mit dem Willen, auf abstrakte Darstellung zu verzichten, auf verschachtelte Sätze und unverständliche Wörter (dazu das Kapitel Schreiben und Redigieren): Was sonst noch die Reportage veredelt, das sind die höheren Weihen, die man lernen kann, aber nicht gleich beherrschen muss. Eine Auswahl: Den Wechsel der Perspektive preist Hans-Joachim Schlüter als wichtigstes Merkmal der Reportage: «Es muss wie in einem elektrischen Feld Spannung erzeugt werden.» Dieser Wechsel prägt eine Reportage, die Gerhard Krug 1980 schrieb, als Beatrix zur Königin der Niederlande gekrönt wurde. Krug kontrastierte das königliche Protokoll für das Fest mit der brutalen Straßenschlacht in Amsterdam, die der Reporter als Augenzeuge erlebt. Der Hintergrund einer Geschichte ist selten aufregend, aber er ist oft nötig zum Verständnis. Wer zwischen den Fronten eines Bürgerkriegs herumirrt, der sollte auch die Geschichte der streitenden Völker erzählen, aber er sollte es nicht am Anfang tun, sondern geschickt zwischen zwei Episoden - wie ein Atemholen, bevor die Spannung wieder ansteigt. Manche Zeitungen oder Zeitschriften nehmen den Hintergrund aus der Reportage heraus und packen ihn in einen Kasten, den sie neben den Artikel stellen. Vor einem Irrtum sei bei alldem gewarnt: Auch wenn die Reportage einen literarischen Anspruch erheben kann, so steht doch die Wahrheit niemals zur Disposition. Der Anfänger möchte, um den Text attraktiver zu machen, ein bisschen die Fakten biegen. «Der Wie man eine Reportage schreibt 123 Stein der Wahrheit, der nur um einen hohen Preis zu erwerben ist, ist von seiner billigen Imitation nicht zu unterscheiden», sagt Egon Erwin Kisch - als Abschreckung für alle Anfänger, die als Reporter auf die Straße gehen und als Märchenerzähler am Schreibtisch sitzen. Kisch erzählt von seiner ersten Reportage: Er lief zum großen Brand einer Mühle - und sah nichts als Flammen. Der Notizblock blieb leer wie der Kopf, und, seine Blamage vor Augen, kehrte er in die Redaktion zurück. «Gott sei Dank, dass Sie endlich kommen», empfing mich der Nachtredakteur, «ich habe Ihnen anderthalb Spalten reserviert. Schreiben Sie schnell, damit wir recht viel davon noch in die Postauflage bekommen!» ... Anderthalb Spalten - das waren hundertfünfzig Zeilen! Ich hatte nicht einmal eine. Oder doch, eine hatte ich: den Titel «Brand der Schittkauer Mühlen». Der stand fest. Unter ihm klaffte leere Öde ... hundertfünfzig Zeilen tief. Da gab's keine Wahl, ich musste mich hinablassen in die öde Leere. Ich schrieb ... schrieb von den Flammen und wieder von den Flammen ... ich ließ sie lodern, leuchten, züngeln, prasseln, aufflackern ... Das Gebälk ließ ich knistern, krachen, bersten ... Die Mehlsäcke ließ ich glimmen und platzen und qualmen und dampfen und rauchen ... Die Wasserstrahlen ließ ich stechen wie Dolche und niedersausen wie Säbelhiebe ... und all das zusammen ergab erst zwanzig Zeilen. In seiner Not vertraute Kisch nicht mehr seiner Beobachtung, er floh in die Phantasie. Obdachlose ließ er zur Mühle marschieren und sich der Polizei nähern: «Mein Bleistift - weit stärker beobachtend als sein Herr - beobachtete in einem solchen Moment flammender Beleuchtung, wie ein Polizist und ein vierschrötiger Riese einander gegenüberstanden. Wahrscheinlich kennt der Polizist den Mann, vielleicht ist er ein Gewalttäter ...» Auch wenn das Erzählen die Tugend der Reportage ist, so duldet sie doch kein Flunkern und keine noch so schöne Erfindung; sie versammelt nur Tatsachen, die der Autor selber hört oder sieht. Der Journalist soll so anschaulich und präzise erzählen wie der Dichter, 124 Die unterhaltende Information aber er besitzt nicht seine Freiheit, sich Anekdoten auszudenken, um sein Publikum zu vergnügen oder zu entsetzen. « Ein Chronist, der lügt, ist erledigt», meint Kisch, der Vater der modernen Zeitungsreportage. « Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nachspüren. Es war ein sportlicher Entschluss.» Die Reportage lebt von der Erzählung, der Spannung, der Bewegung. Das nächstliegende Gliederungsprinzip ist die Chronologie. Wo der Zeitablauf nichts hergibt, ist die journalistische Idee gefragt, damit Bewegung entsteht. Für offene Augen, konkrete Sprache und die Wahrheit gibt es keinen Ersatz. So macht man's [ 1993 schrieb die 34-jährige 'Zeit-Redakteurin Iris Mainka die Geschichte einer Familie, die Flüchtlinge aus Bosnien bei sich aufnahm. Ihre Reportage, nominiert für den Kisch-Preis, druckte Die Zeit. Es ist nicht die Reportage schlechthin, aber wir haben sie ausgewählt, weil sie in jeder Lokalzeitung erscheinen könnte; die Dauer und Schwierigkeit der Recherche wie auch die Länge des Textes wären für einen Anfänger zu bewältigen; selbst das Thema dürfte kaum altern: Flüchtlinge wird es immer geben. Die Geschichte einer Familie, die Flüchtlinge aus Bosnien bei sich aufnahm «Wer soll helfen, wenn nicht wir?» Kassel. - Jede Geschichte muss nordwestlich von Sarajevo. Nächeinen Anfang haben. Diese hier hat telang saßen sie in ihren Kellern, zwei. Sie beginnt zum einen mit während draußen die Granaten zwei jungen Frauen aus dem klei- serbischer Truppen einschlugen, nen Ort Breza, zwanzig Kilometer Die Frauen hielten aus - und ent- Wie man eine Reportage schreibt 125 entschlossen sich dann doch zu fliehen. Im Mai vergangenen Jahres machten sie sich mit ihren Kindern auf den Weg. Zum anderen beginnt die Geschichte mit den Fernsehbildern aus dem Kriegsgebiet. Viele sahen sie, fühlten sich hilflos und taten nichts. Manche überlegten, was sie tun konnten, und spendeten Geld. Und gar nicht so wenige fanden das nicht genug. Zu ihnen gehörten Karin und Michael, beide Mitte dreißig und damals, im vergangenen Sommer, seit einigen Monaten Besitzer eines Sechziger-Jahre-Reihenhauses in einem gutbürgerlichen Wohnviertel in Kassel. Der Entschluss. Zunächst war es nur ein Gedanke gewesen: Flüchtlinge könnten sie aufnehmen, oben unterm Dach in den beiden Zimmern, eines zehn, das andere fünfzehn Quadratmeter groß, daneben das winzige, blau gekachelte Duschbad - allemal besser als ein Lager. Aber wie viele Personen sollten kommen? Wie lange würden sie bleiben? Und würden sie miteinander auskommen? Karin und Michael versuchten ihr Vorhaben möglichst nüchtern anzugehen. Sie wollten helfen, aber nicht naiv in ein Unternehmen hineinschliddern, das allen Beteiligten über den Kopf wachsen konnte. Auf eine Zeitungsnotiz hin, «Privatquartier gesucht», wendeten sie abendelang die Sachlage hin und her. Platz war da; die Kinder, die siebenjährige Christine, die dreijährige Stefanie und der sechs Monate alte David, hatten im ersten Stock genügend Raum; das Geld war mit einem Verdiener in der Familie eher knapp, doch es hieß, die Flüchtlinge würden Sozialhilfe bekommen. Kochen und essen müsste man in der kleinen Küche sowieso getrennt. Und wen wollten sie aufnehmen? Eine ganze Familie? Womöglich mit einem Pascha, der sich oben auf der Schlafcouch von Frau oder Tochter den Kaffee servieren ließ? Kein Gedanke blieb ungedacht, und sei er noch so falsch oder banal. Am Ende dieser langen Abende reduzierten sich all die ängstlichen Für und Wider auf die Frage, die am Anfang gestanden hatte: Wer soll helfen, wenn nicht wir? An diesem Punkt angelangt, riefen Karin und Michael bei der Caritas an. Kurze Zeit später kam eine Sozialarbeiterin und sah sich