54. Ausspracheübungen 1. Problemaufriss Im Fremdsprachenunterricht wird eine bisher unbekannte, fremde Sprache gelehrt und gelernt, die nicht nur aus neuen Wörtern und grammatischen Regeln besteht, sondern auch einen neuen, besonderen Klang hat. Obwohl der Sprachklang, die Aussprache, für die mündliche Kommunikation von wesentlicher Bedeutung ist, muss Folgendes festgestellt werden: - Es gibt kaum wissenschaftliche Publikationen zum Thema Aussprache im Fremdsprachenunterricht. - In der Lehreraus- und Fortbildung werden die fachlichen (Phonologie/Phonetik) und die didaktisch-methodischen Grundlagen in der Regel nicht ausreichend vermittelt. - Es gibt in Lehrwerken hinsichtlich der Übungsschwerpunkte, der methodischen Abwechslung und des Umfangs von Übungen meist kein zufriedenstellendes Angebot. - Es gibt nicht genügend Zusatzmaterialien, die den speziellen Interessen der unterschiedlichen Zielgruppen (hinsichtlich der Ausgangssprache, des Lernstands, des Alters, des Ausbildungsziels) gerecht werden. - Im Fremdsprachenunterricht wird im Allgemeinen zu wenig an Hör- und Ausspracheproblemen gearbeitet, so dass häufig auch weit Fortgeschrittene nicht nur ihren .fremden Akzent' beibehalten, sondern Probleme in der mündlichen Kommunikation haben. 2. Besonderheiten des Ausspracheerwerbs Um Ausspracheübungen selbst entwickeln bzw. richtig auswählen und einsetzen zu können, sollten die Lehrenden mit den Besonderheiten des Ausspracheerwerbs vertraut sein, die gleichzeitig die Ursachen für die spezifischen Schwierigkeiten darstellen. a) Sprachlich bedingte Schwierigkeiten Viele Lernende haben Probleme, die typischen Klangmerkmale der Fremdsprache zu erkennen, zu unterscheiden und selbst zu produzieren (Hirschfeld 1994). Welche Komponenten betroffen sind, hängt in hohem Maße von der Ausgangssprache ab. Oft zeichnet sich die Zielsprache durch größere Unterschiede in der Prosodie (Melodie, Rhythmus, Betonung), in der Artikulation (Bildung der Vokale und Konsonanten) sowie in den Beziehungen zwischen Schreibung und Aussprache (Phonem-Graphem-Beziehungen) aus. Die Übertragung von Klängen, Strukturen und Regeln aus der Muttersprache oder früher gelernten Fremdsprachen, die Interferenz, ist im Bereich der Aussprache sehr groß, meist größer als in der Grammatik und Lexik. Das hängt damit zusammen, dass das Erlernen neuer Hörmuster und neuer Sprechbewegungen nicht nur vorrangig eine Gedächtnisleistung (wie das Erlernen von Grammatik oder Wortschatz) darstellt, sondern mit psychischen und physischen (motorischen) Problemen verbunden ist (Dieling/Hirschfeld 2000). b) Individuell (psychisch und physisch) bedingte Schwierigkeiten: Auch bei gleichen Ausgangssprachen gibt es große Unterschiede zwischen einzelnen Lernenden, da die psychischen und physischen Probleme auf Grund der individuellen Voraussetzungen verschieden ausgeprägt sind. Das betrifft: - Hörprobleme: Die muttersprachigen Hörgewohnheiten wirken wie Filter, d.h. die Sprachverarbeitung orientiert sich an bestimmten Merkmalen, die es in der Fremdsprache so nicht gibt und die deshalb nicht erkannt und nicht unterschieden werden. - Artikulationsprobleme: Die Sprechbewegungen sind hoch automatisiert und nicht ohne weiteres steuerbar. Die Bildung neuer Laute gelingt selbst dann nicht immer, wenn sie schon per-zeptiv unterschieden werden. 278 Ursula Hirschfeld - Psychische Probleme: Auf die mit der eigenen Identität verbundene gewohnte Sprechweise kann/will der Lernende nicht verzichten. Auch Abneigung gegenüber dem Klang der Fremdsprache ist möglich. - Persönlichkeitsmerkmak: Der Grad an Musikalität, Konzentrationsfähigkeit, an Eigenschaften, die den jeweiligen Lerntyp ausmachen, usw. kann den Ausspracheerweb positiv oder negativ beeinflussen. - Alter: Jugendliche und Erwachsene verfügen oft nur noch über eine eingeschränkte Imitationsfähigkeit. 3. Zur Rolle der Lehrenden In absehbarer Zeit wird es keine Computerprogramme geben, die ein Selbstlemen von Aussprache ermöglichen, die also nicht nur Abweichungen anzeigen und bewerten, sondern Fehlerursachen angeben und konkrete Hilfestellung (linguistischer, motorischer, psychischer Art) leisten. Die Lehrenden als Vorbilder, Linguisten, Psychiater, Logopäden und Unterhaltungskünstler sind also nach wie vor dafür zuständig - den Klang (Standard sowie emotionale, phono-stilistische, regionale Varianten) als ein Grundmerkmal gesprochener Sprache zu vermitteln, - die phonologischen und phonetischen Grundlagen der Fremdsprache und möglichst auch der jeweiligen Ausgangssprache(n) zu kennen, - Regeln und Kenntnisse in dem Umfang zu vermitteln, wie Ausbildungsziele und Gruppensituation es erfordern, - das Ziel, den Inhalt und den Stellenwert der Phonetik im Unterricht in Abhängigkeit von den jeweiligen Gesamtzielen der Ausbildung, von den Ausspracheproblemen der Gruppe und von den Unterrichtsbedingungen zu bestimmen, - das konkrete Vorgehen im Unterricht festzulegen, d.h. die didaktischen Möglichkeiten souverän zu beherrschen und gezielt die in einer konkreten Situation angebrachten Übungsmethoden einzusetzen, - die Ausspracheprobleme der Lernenden zu (er)kennen und entsprechende Verfahren anzuwenden, mit denen fehlerhafte Formen bewusstgemacht und korrigiert werden, - Lehrbuchübungen zur Aussprache nach den Bedürfnissen der Gruppe einzusetzen, sie zu variieren bzw. selbst Übungen zu entwickeln, wenn die vorhandenen nicht ausreichen, - die Lernenden zu motivieren und zu sensibilisieren (Häussermann/Piepho 1996; Wenk 1997). 4. Didaktisch-methodische Empfehlungen Es ist für die Lernenden wichtig, dass gezielt und systematisch an der Entwicklung ihrer Hör- und Aussprachefertigkeiten gearbeitet wird. Spontane Korrekturen reichen meist nicht aus, um stabile Grundlagen zu schaffen. Ein guter Unterricht bietet besonders am Anfang ausreichend Übungen an, die es ermöglichen, Interferenzfehlern wirkungsvoll zu begegnen. Damit Ausspracheübungen zum gewünschten Erfolg führen, sollten folgende didaktisch-methodischen Empfehlungen berücksichtigt werden: a) Systematik und Zielgruppenspezifik Eine Besonderheit des phonetischen Bereichs ist, dass von Anfang an alles gebraucht wird. Vokale und Konsonanten, Akzentstrukturen und Melodieverläufe können nicht portionsweise' eingeführt werden, sie begegnen den Lernenden schon in den ersten Äußerungen. Trotzdem ist zu überlegen, nach welcher Systematik phonetische Schwerpunkte im Unterricht behandelt werden: Es sollte vom Einfachen zum Schwierigen, vom Wichtigen zum weniger Wichtigen gegangen werden, wobei der Lehrende sich an den speziellen Bedürfnissen seiner Zielgruppe orientieren muss. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Berücksichtigung der Ausgangssprache, damit gezielt auf Interferenzprobleme eingegangen werden kann. In sprachlich heterogenen Gruppen ist das nur begrenzt möglich, hier sollte ausgehend von der Zielsprache mit Schwerpunkten begonnen werden, die für die Kommunikation am wichtigsten sind. Für die Festlegung von Art und Umfang von Ausspracheübungen sind außerdem die jeweiligen Ausbildungsziele zu beachten, zukünftige Lehrer sollten z.B. eine sehr gute Aussprache haben. b) Bewusstmachung Aussprachetraining wird sehr unterschiedlich gestaltet, oft wird vor allem auf Imitation gesetzt. Das ist bei Kindern eine mögliche Herangehensweise, bei Jugendlichen und Erwachsenen muss die ,Nachahmungsmethode' durch kognitive Elemente ergänzt, teilweise sogar ersetzt werden. Dazu gehören Kenntnisse über phonetische Merkmale der Fremdsprache (Arnold/Hansen 1995) ebenso 54. Ausspracheübungen 279 wie das bewusste Erkennen eigener Unzulänglichkeiten im Hören und Aussprechen. Der kognitiven Fundierung dienen Erklärungen, Abbildungen, Regeln, Termini (auch Transkriptionszeichen) und Hand- oder Körperbewegungen. Wie umfangreich und tiefgehend deren Einsatz sein soll/kann, hängt vom Lernalter, vom Lernziel und auch von Lerntraditionen ab. c) Hören - Aussprechen Es ist in der Regel nicht einfach, neue Hörmuster aufzubauen und sich Sprechbewegungen bewusstzumachen und zu automatisieren. Da besonders die Stabilisierung der motorischen Abläufe Zeit und Kraft kostet, ist das Verhältnis von Aufwand und Fortschritt im Ausspracheunterricht meist nicht günstig. Die für die Automatisierung erforderliche Motivation bleibt erhalten, wenn verschiedene Lernstrategien angesprochen werden. Es sollten also nicht immer wieder die gleichen Übungen eingesetzt werden, Aufgaben und Übungsbeispiele sollten variieren, der Anforderungsgrad steigen (Hirschfeld/Reinke 1998). Abwechslungsreiche und kreative Übungen gehen von größeren Spracheinheiten (rhythmisch-melodischen Gruppen) aus, sind situativ und kontextgebunden aufgebaut und berücksichtigen kommunikative Aspekte. Das Üben von Einzellauten und aneinander gereihten Einzelwörtern sollte auf die Anbah-nungs- bzw. Korrekturphasen beschränkt bleiben. Da richtiges Hören Voraussetzung für richtiges (Aus-)Sprechen ist, lohnt sich ein spezielles Hörtraining, bei dem phonetische Formen voneinander unterschieden (diskriminiert) bzw. erkannt (identifiziert) werden. Die gängige Unterrichtspraxis, Hörbeispiele zu geben und die Lernenden zu bitten,genau hinzuhören', ohne die Hörergebnisse zu kontrollieren, ist unzureichend. Nicht nur der Lehrende sollte wissen, wo Lernende Schwierigkeiten haben, auch sie selbst sollten ihre Hörprobleme erkennen. Kontrollierbare Hörübungen - Markieren, Ordnen, Transkribieren, Schreiben (Diktat, Lückendiktat), Nachsprechen, (Hand-) Zeichen, Körperbewegungen - können zudem, wenn die Lösung dem Lernenden zugänglich ist, sehr gut als Selbstlernaufgaben eingesetzt werden. d) Integration in den Unterricht Die Arbeit am Hören und Aussprechen dient keinem - ästhetischen - Selbstzweck, sie ist grundlegend für die Entwicklung aller sprachlichen Fer- tigkeiten: für das (verstehende) Hören, das (freie) Sprechen, das Lesen und das Schreiben. Um die engen Zusammenhänge zwischen den Fertigkeiten und zwischen den Sprachebenen deutlich zu machen, um die Motivation der Lernenden sowie den Automatisierungsgrad zu erhöhen, sollte neben eigenständigen phonetischen Phasen Aussprache stets als Unterrichtsprinzip realisiert werden. Dazu gehört die Verbindung mit Grammatik -und Wortschatzübungen (z.B. die phonetischen Veränderungen bei Konjugation, Pluralbildung usw.) sowie der Ausbau einfacher, auf die Phonetik konzentrierter Übungen zu komplexeren Hör-und Sprechfertigkeiten. 5. Typologie von Übungen Hör- und Ausspracheübungen sind stets eng miteinander verbunden, Hörübungen können und sollten also auch zum Nachsprechen (Automatisieren), Variieren und Kombinieren genutzt werden. Die folgende Typologie (Dielmg/Hirschfeld 2000) betrifft also eher die Aufgabenstellungen als das zu übende sprachliche Material. a) Hören - Vorbereitende Hörübungen/Eintauchübungen - Diskriminationsübungen zur Unterscheidung von Lauten und prosodischen Mustern (mit Kontrollmöglichkeiten), als Übungsmaterial dienen vorzugsweise Minimalpaare, die sich nur in einem Merkmal voneinander unterscheiden (bei Anfängern kann man sehr gut mit Familiennamen arbeiten, z.B. Miller - Muller -Moller usw.). - Identifikationsübungen zum Erkennen von Lauten und prosodischen Mustern (mit Kontrollmöglichkeiten) - Angewandte Hörübungen, die phonetisches Hören mit dem verstehenden Hören verbinden b) (Aus-)Sprechübungen - Nachsprechübungen - Produktive (Aus-)Sprechübungen: Verbindung mit Grammatik- und Lexikarbeit (ergänzen, verändern, variieren, antworten,...) - Angewandte (Aus-)Sprechübungen: vorlesen, vortragen, frei sprechen, szenisches Gestalten Ausspracheübungen lassen sich relativ einfach konstruieren. Beinahe alle Texte, Dialoge, Wortlisten und Grammatikübungen enthalten Beispiele, die für das Üben von prosodischen und lautlichen Strukturen und Merkmalen genutzt werden 280 Peter Scherfer können. Im Folgenden sind ausgewählte Schwerpunkte und Aufgaben zusammengestellt, die in ähnlicher Weise erweitert und variiert werden können. c) Wortakzent/Satzakzent: - Hörübung: betonte Silbe / betontes Wort - 1., 2., 3. - angeben (Finger, Markierungen) - Hörübung: Muster zuordnen ••/••/•••/ • • • / • • • «... - Hörübung: Wörter/Namen nach Betonung ordnen: 1. Silbe betont, 2., 3., 4., - Produktive Übung: beim Sprechen der betonten Silbe klatschen, klopfen, stampfen,... - Produktive Übung: Einsetzübung - betontes Wort im Satz austauschen - Produktive Übung: verschiedene Wörter im Satz betonen, auf Bedeutungsänderung achten d) Melodie (speziell Endmelodie) - Hörübung: , gebrummte' Beispiele hören und zuordnen - Hörübung: Melodieverlauf zeigen (Hand): ^ ■» 71 - Hörübung: fehlende Satzzeichen ergänzen - Produktive Übung: gleichen Satz mit anderer Melodie sprechen - 7\) - Produktive Übung: Melodiepfeile in Beispieltext eintragen - vorlesen e) Vokale/Konsonanten - Hörübung: Familiennamen unterscheiden - Hörübung: Lückentext ergänzen - Hörübung: Schüttelkasten ordnen - Hörübung: Wörter/Namen vorgegebenen Kategorien zuordnen - Produktive Übung: beim Sprechen Gesten verwenden (Länge-Kürze, Spannung) beispiels äußerst wichtig für das Heraushören und Einprägen von Klangmerkmalen. Medien tragen zudem zur didaktischen Abwechslung bei. Literatur Arnold, R./Hansen, K. (1995): Englische Phonetik, München. Dieling, H./Hirschfeld, U. (2000), Phonetik lehren und lernen. Fernstudieneinheit 21, München. Häussermann, U./Piepho, H.-E. (1996), Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdsprache, München. Hirschfeld, U. (1994), Untersuchungen zur phonetischen Verständlichkeit Deutschlernender, Frankfurt. Hirschfeld, U./Reinke, K. (199S), Phonetik Simsalabim (Video, Kassette, Begleitbuch), München. Hirschfeld, U./Stock, E. Hrsg. (2000), PHONOTHEK interaktiv (CD-ROM), München. Wenk, R. (1997), Übungsbuch zur praktischen russischen Phonetik, Hamburg. Ursula Hirschfeld 6. Medien Der Einsatz von Medien (Hörkassette, CD, Video, Computer) für Ausspracheübungen ist unerlässlich. Zumindest die Hörkassette sollte regelmäßig eingesetzt werden, um Standards und (situative, emotionale, regionale) Varianten der Aussprache zu demonstrieren, Vergleiche mit dem gehörten Muster zu ermöglichen und Lernfortschritte zu dokumentieren. Auch wenn von diesen Medien (noch) kein Feedback kommt und selbst Computerprogramme mit Spracherkennung nur den Grad der Abweichung oder Übereinstimmung anzeigen, aber keine konkreten Hinweise geben, ist die durch die technischen Hilfsmittel gewährleistete (häufige) Wiederholung ein und desselben Klang-