56. Grammatikübungen 1. Begriff und Funktion Der Begriff grammatischen Übens ist mehrdeutig. Eng gefasst meint er eine bestimmte, wiederholt erfolgende Tätigkeit an vorgegebenem oder hervorzubringendem grammatischem Sprachmaterial (Segermann 1992, 12). Weit gefasst schließt er den Begriff der Aufgabe (task) ein (Skehan 1998). Aufgaben zielen auf das problemlösende Mitdenken der Lernenden, kennen mehrere Lösungswege, sind mitteilungsbezogen und flexibel (Neuner 1994, 10). Oft bedeuten sie einen Übungsvorgang mit komplexeren Zielen. Übungen und Aufgaben bedingen und ergänzen sich: so können Aufgaben Übungen voraussetzen, um leichter lösbar zu sein. Grammatikübungen bilden die Verbindung zwischen anfänglichem Verstehen und freier Produktion fremdsprachlicher Strukturen. Sie sollen zur sicheren und fließenden Verwendung der zielsprachigen Grammatik im kommunikativen Sprachgebrauch führen. Bei aller Formbezogenheit sollten sie daher in inhalts- und mitteilungsbezogene situativ-kommunikative Zusammenhänge eingebettet sein. Wenn Übungen als Herzstück des Fremdsprachenunterrichts gelten, können Grammatikübungen im eben skizzierten Verständnis durchaus als zentral für den Übungsbereich selbst angesehen werden. 284 Horst Raabe 2. Übungsphase Das klassische fremdsprachenunterrichtliche Fünf-Phasenmodell beginnt mit den Phasen der Präsentation und Kognitivierung. Sie dienen der Einführung, Sprachaufnahme und Orientierung bzw. der sprachbezogenen Bewusstmachung. In der Folgephase des Übens wird sodann insbesondere der grammatische Lernstoff in speziell gestuften Übungen möglichst kontrolliert verinnerlicht. Es folgen die Transferphase, in der der neue Lernstoff mit zuvor Gelerntem situativ-kommunikativ verbunden wird, sowie die lektionsabschließende Kontrollphase, Grammatikübungen sind natürlich nicht an die Übungsphase gebunden: so können sie in der Präsentationsphase etwa als advanced Organizer oder bei Kognitivierungen als Ausgangspunkt für Regelinduktionen eingesetzt werden. Das Problem dieses Modells ist, dass unterschwellig nahegelegt wird, in einen Spracherwerb, welcher Sprachaufnahme und Sprachverarbeitung umfasst, und eine Sprachanwendung in der Transferphase zu trennen, anstatt grammatisches Üben und kommunikative Sprachanwendung in einer integrierenden Phase zusammen zu sehen. Da die kommunikative Transferphase häufig dem Zeitmangel zum Opfer fällt, entsteht eine grammatische Übungslastigkeit, die den Spaß am fremdsprachlichen Üben stark beeinträchtigen kann. Gleichwohl wird beklagt, dass ein akkurater und fließender Gebrauch der Fremdsprache schulisch kaum erreichbar ist. Theorie und Empirie besagen, dass eine reflektierte implizite bis explizite grammatische Bewusstmachung fremdsprachiges Kommunizieren fördert (Interface-Position). Das heißt: - Deklaratives grammatisches Wissen lässt sich durch Üben in prozedurales sprachliches Handlungswissen überführen. - Um ausuferndes trial and error-Verhalten zu steuern und effektiven korrektiven Feedback zu leisten, kann beim grammatischen Üben orientierendes implizites bis explizites sprachbezogenes Kognitivieren hilfreich sein. 3. Übungstypologie Typologien sollen durch systematische Beschreibung eine effektive und funktionsgerechte Auswahl grammatischer Übungen ermöglichen. So legten die Sprachlaborbewegung ausgehend von einem imitativ-reaktiven Übungsbegriff (Beile 1979) und die Kommunikative Didaktik mit ihrem auf Mitteilungsfähigkeit zielenden Übungsbegriff (Neuner/Krüger/Grewer 1981) jeweils spezifische Klassifizierungen von Grammatikübungen vor. Eine gute Typologie sollte auf mehreren, untereinander abgrenzbaren Merkmalskategorien basieren, die die zu systematisierenden Grammatikübungen wesentlich ausmachen. Dabei scheint es fast unmöglich, alle bekannten Übungsformen in ein kohärentes, leicht handhabbares Schema zu überführen. So schlägt Segermann (1992, 47ff.) einen Satz allgemeiner Merkmalskategorien vor, der wie folgt auf Grammatikübungen bezogen werden kann: - Zielsetzung: Was wird geübt: das Erkennen grammatischer Bedeutungen oder das korrekte Bilden grammatischer Formen? - Schülertätigkeit: Was tun die Lernenden beim grammatischen Üben? Arbeiten sie, indem sie die grammatische Form erhalten (z.B. wiederholen, zuordnen) oder verändern (z.B. zusammensetzen, erweitern)? Arbeiten sie produktiv oder rezeptiv? Oder arbeiten sie auch mit Bezug zur Muttersprache (z.B. übersetzen)? - Materialgestaltung: Wie wird die Grammatikübung sprachlich dargeboten? In Syntagmen, Einzelsätzen, Mini-Dialogen oder z.B. in ganzen Texten? Wie wird sie medial dargeboten? Schriftlich, visuell oder z.B. auditiv? Wie werden die grammatischen Einheiten dargeboten? Gehäuft, kontrastiert, lückenhaft, zerlegt, ungeordnet oder z.B. in Mehrfach-Antworten? - Steuerung: Welche Angaben, Anweisungen, Verständnishilfen, welche fremd- oder muttersprachlichen Vorlagen steuern das grammatische Üben in welchem Umfang? - Arbeitsweise: An welchem Ort, mit welchen Hilfsmitteln, Sozialformen und Kontrollen ist die Grammatikübung durchführbar? Nimmt man den weiten Übungsbegriff, wäre dieser typologische Ansatz noch für Aufgaben zu überdenken, die den Erwerb etwa von Techniken und Strategien (Art. 69, 71) beim Grammatiklernen betreffen. Die typologische Komplexität möge dabei folgender offene Katalog weiterer, systembezogener kontrastiver Merkmale, wie sie auch für Grammatikübungen wichtig sind, verdeutlichen (Beile 1998, 332; Nunan 1989, 135): authentische - di-daktisierte Sprache; handlungsorientiert - nicht handlungsorientiert; in einer Sequenz stehend -isoliert stehend; eine mögliche Antwort - mehrere Antworten möglich; strukturelle Wiederholung - 56. Grammatikübungen 285 strukturelle Vielfalt; prozessbezogen - produktbezogen; sinnabhängig - mechanisch; der Sinn der Grammatikübung wird genannt - nicht genannt; Erstlernen - Wiederholung usw. Hier wird deutlich, welche Hilfe typologische Systeme und ihre Merkmale bei der kritischen Auswahl von Grammatikübungen bieten können. 4. Aufbau und Vorm Gewöhnlich bestehen grammatische Übungen aus einem Set gleich bis ähnlich auszuführender Einzelaufgaben, in denen, getragen von einer Vorlage, ein verbaler oder auch nonverbaler Stimulus (Impuls) mit einer Lösungskomponente verknüpft ist. Eine Arbeitsanweisung und/oder ein Verarbeitungsmodell präzisieren im Vorfeld die auszuführende Tätigkeit (Knapp-Potthoff 1979, 84ff.). Dies sei am Beispiel der Übungsform Umformen veranschaulicht. Das klassenstiftende Merkmal ist dabei die Operation, die die Lernenden auszuführen haben. Arbeitsanweisung: Variieren Sie bitte den Satzbau. Vorlage; O: erhielt ■ Wim Wenders ■ den goldenen Bären ■ für den besten Film ■ in Berlin # Wim Wenders erhielt in Berlin den goldenen Bären für den besten Film. Stimulus mit Lösungskomponente: ©In Berlin... ©Weißt du, wofür... ©Wussten Sie, dass ... 0 ... (Finden Sie bitte eine weitere Variation.) Dieses Beispiel entspricht im Übrigen dem weiten Übungsbegriff, da es offen ist und mehrere Lösungen kennt. Bei der Frage, wieviele Grammatikübungsformen existieren, ist es der Varianten und Mischungen halber angebracht, von Prototypen auszugehen. Einerseits integrieren sie die bekannten imitativ-reaktiven Übungsformen der Sprachlabordidaktik wie Substitutions-, Ergänzungs- oder Einsetzübungen, andererseits überschreiten sie dieses Spektrum, um auch kommunikative und handlungsorientierte Kontexte einzuschließen. So geht Klippel (1998, 337) neben obigem Umformen von neun weiteren Prototypen aus: 1. Auswählen - Beispiel: Aus einem Text sind Stellen mit der grammatischen Struktur auszuwäh- len. Hier ist fokale Aufmerksamkeit erforderlich. 2. Beantworten/Fragen - Beispiel: Fragespiel zum grammatischen Lernziel. Hier kann Wissen über die Sprache thematisiert werden. 3. Darstellen - Beispiel: In einem Rollenspiel werden die für bestimmte Ausdrucksabsichten nötigen Strukturen eingeübt. Hier kann Üben in freie Anwendung übergehen. 4. Ergänzen/Einsetzen/Entfernen - Beispiel: Lückenfüllen. Diese Übungsformen, in denen sich paradigmatische und syntagmatische Achse verbinden, werden insbesondere dann für gut erachtet, wenn sie weniger mechanisches Denken als Sprachgefühl und Phantasie abverlangen. 5. Gestalten - Beispiel: Ausgehend von visuellen Impulsen wird die zu übende Struktur gebildet. Dieser Prototyp zielt auf eine eher kreative Spracharbeit. 6. Imitieren - Beispiel: Nachsprechspiel. Bei aller Einfachheit zwingt es zur Genauigkeit. 7. Problemlösen - Beispiel: „Welche sieben Dinge nimmst du mit auf eine einsame Insel?" (Inselspiel mit Lernziel, z.B. Kausalsätze). Diese Übungsform impliziert Handlungsorientierung. 8. Sortieren - Beispiel: Vorgegebene Strukturen werden gereiht, geordnet oder gruppiert. Fokale Aufmerksamkeit ist gewährleistet. 9. Vergleichen - Beispiel: Vergleich ähnlicher Bilder (Lernziel z.B. Präpositionen). Derartige Übungsformen können strukturell wie kommunikativ basierte Sprachhandlungen auslösen. 5. Stufung Der von der Erstbegegnung bis zur freien Anwendung reichende Lernprozess grammatischer Strukturen wird durch folgende Prinzipien der Stufung von Grammatikübungen geleitet: vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplexen, vom Geschlossenen zum Offenen, vom weniger zum mehr Kommunikativen (Neu-ner/Krüger/Grewer 1981; Häussermann/Piepho 1996, 133 ff.). Dies kann in mancher Hinsicht den Weg von der Übung zur Aufgabe oder vom engen zum weiten Begriff grammatischen Übens implizieren. Hier nun eine Stufung am Beispiel von wennSätzen, die von kognitivierenden Aufgaben bis zu Übungen bzw. Aufgaben mit zunehmendem kommunikativem Anspruchsniveau reicht (s. Tabelle): 286 Horst Raabe Phase des Übcns Übungs-. Aufgabenlonn Grammatischer Aspekt Analysieren (offene Aufgaben) Markieren, Vergleichen Regeln entdecken, formulieren Wiedererkennen Unterstreichen wem-Sätzc eines Textes unter- (geschlossene Übungen) streichen Zusammenfügen Hauptsätzen passende wenn-Sälze zuordnen Ankreuzen unvollständigen werjrj-Sai7.cn passende Verbform zuweisen Reproduzieren, geläufig machen Einsetzen unvollständige Hvnn-SätBe nach (geschlossene Übungen) Muster vervollständigen Portsetzen wenn-Sätze gleicher Struktur nach gegebenen Wörtern bilden Umformen we««-Sätze ändern (Zeiten-, Personenwechsel) Reproduktiv produzieren Strukturen nachbauen we«M-Sätze frei nach Bildimpulsen (halboffene Übungen und Texterstellen nach Vorgaben formulieren (vom engeren Aufgaben: Inventionen) Üben zum freieren Gestalten) Reflektieren z.B. Rätsel lösen Wissen in schwierigeren Kontexten (Aufgaben zum Nachdenken) funktionell einsetzen Produzieren Antworten „Was würdest du tun, wenn...'?" (Variation und Transfer) Fortsetzen wenn-lext zu Ende führen Beschreiben Inselspiel: „Wenn ich..." 6. Anforderungen an Grammatikübungen und Forschungsperspektiven Grammatik gut üben lassen heißt, das Übungsangebot differenzieren, variieren, ergänzen und durch Wahlmöglichkeiten individuell gestalten. Es heißt weiterhin, Stoff verteilen statt massieren, wiederholen und verweilen, nicht unter- oder überfordern, den Übungszweck verdeutlichen, Sozialformen (Art. 44) wechseln, alle Sinne ansprechen und nicht zuletzt zum Einsatz grammatischer Lernstrategien anregen (Beile 1998). Grammatikübungen müssen effektiv, aber auch motivierend sein. Die Übungshandlungen sollten der Zielhandlung entsprechen. Insbesondere für Selbstlernmaterialien (Art. 67, 88, 90) gilt: Gute Übungen sollten leicht korrigierbar, klar in Idee und Stimulus sowie verständlich in der Anleitung sein. Um selbstständiges Lernen zu stützen, sollten sie bei Schwierigkeiten Hilfe bieten. Allgemein gilt: Bei aller kognitivierenden Strukturbezogen-heit sollten Grammatikübungen auch Affekte und Emotionen, Kreativität und Phantasie ansprechen sowie dem tatsächlichen Sprachgebrauch, der Erfahrungswelt der Lernenden, der Realität und Be-deutungshaltigkeit verpflichtet sein. Dies sind Faktoren, die langfristiges Behalten begünstigen. Man ahnt, Lehrer und Lehrwerkautoren sollten Verpackungskünstler sein. Da wiederholendes Einprägen in normalen Kommunikationssituationen fast unmöglich ist, werden automatisierende strukturbetonte Grammatikübungen selbst im noch so kommunikativen und noch so handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht keineswegs ausgeschlossen. Wenn immer möglich, sollten jedoch den Lernenden bewusste Entscheidungen und Problemlösungen, also Gewahrwerden (noticing) und Tiefenverarbeitung mit differenzierter Konzeptbildung abverlangt werden. Was die Forschung zur Praxis grammatischen Unterrichtens und Übens betrifft, so sind in Deutschland insbesondere die Arbeiten von Zimmermann (1984, 1990) zu erwähnen. Die drei abschließenden perspektivischen Bemerkungen verweisen auf neuere Forschungsfragen, die von großem Interesse sind: - Im Internet (Art. 51) wird das Angebot an komplementären Grammatikübungen nicht nur seitens der Lehrwerkverlage ein Standard werden. Dieses Angebot wie auch sein Nutzen und seine Nutzung sollte Gegenstand der Forschung werden. - Grammatikübungen sind oft in einem stets gleichen, sich reproduzierenden, theoriefernen Spektrum konzipiert. Sie sollten mehr auf aktuell diskutierten modernen, wenn nicht gar alternativen Fremdsprachenlerntheorien (Art. 41) basiert sein. Zu dieser Entwicklung muss die Forschung beitragen. - Einzelne Lernende scheinen den kommunikativen Anteil in Grammatikübungen eher störend als hilfreich zu empfinden. Die sich hier stellenden Fragen sind: Sollen Grammatikübungen nur dann kommunikativ gestaltet werden, wenn formbezogene Lernprozesse unbeeinträchtigt bleiben (Bolte 1994)? Oder ist eher das Verhalten der Lernenden zu verändern (Börner 1999, 228)? Da man noch relativ wenig darüber weiß, wie Lernende individuell mit Grammatikübungen umgehen (Skehan 1998), sollte die Forschung sich verstärkt auch diesem Gegenstand zuwenden. Literatur Beile, W. (1979), Typologie von Übungen im Sprachlabor, Frankfurt a.M./Berlin/München. Beile, W. (1998), „Nachdenken über Übungsformen im FU", in: Jung, U. O.H., Hrsg., 328-334. Börner, W. (1999), „Fremdsprachliche Lernaufgaben", in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 10 (2), 209230. Bolte, H. (1994), Grammatikinstruktion im (kommunikativen) Fremdsprachenunterricht: Vom Lehren zum Lernen, Utrecht. Häussermann, U./Piepho, H.-E. (1996), Aufgaben-Randbuch, Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie, München. Jung, U. O.H., Hrsg. (1998), Praktische Handreichungen für Fremdsprachenlehrer, 2., verb. u. erw. Aufl., Frankfurt a.M. et al. Klippel, F. (1998), „Systematisches Üben", in: Timm, J.-R Hrsg., 328-341. Knapp-Potthoff, A. (1979), Fremdsprachliche Aufgaben. Ein Instrument zur Lernmaterialanalyse, Tübingen. Neuner, G. (1994), „Aufgaben und Übungsgeschehen im Deutschunterricht", in: Fremdsprache Deutsch 10, 6-13. Neuner, G./Krüger, M./Grewer, U. (1981), Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht, Berlin et al. Nunan, D. (1989), Designing tasks for the communicative classroom, Cambridge. Segermann, K. (1992), Typologie des fremdsprachlichen Übens, Bochum. Skehan, P. (1998), A cognitive approach to language learning, Oxford. Timm, J.-R, Hrsg. (1998), Englisch lernen und lehren. Didaktik des Englischunterrichts, Berlin. Zimmermann, G. (1984), Erkundungen zur Praxis des Grammatikunterrichts, Frankfurt a.M. et al. Zimmermann, G. (1990), Grammatik im Fremdsprachenunterricht der Erwachsenenbildung. Ergebnisse empirischer Untersuchungen, Ismaning. Horst Raabe