PdF MU PS 2013 Handout zur Vorlesung 7. říjen 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 Pondělí, 7:30-8:00 1 Verbklassen I Klassifizierung nach morphologischen Kriterien In den vorangegangenen Stunden haben wir uns mit der Klassifizierung der Verbformen beschäftigt, d. h. mit der Klassifizierung der konkreten, in Texten vorkommenden Formen. Dabei haben wir finite und infinite Formen unterschieden. Die konkret vorkommenden Formen fasst man zu Lexemen zusammen (z. B. ordnet man die infiniten Formen schreiben und geschrieben und die finiten Formen schreibst und schrieb demselben Lexem SCHREIBEN zu).1 In den folgenden Stunden beschäftigen wir uns mit der Frage, wie man die Verblexeme als Ganzes klassifizieren kann. 1. Klassifizierungskriterien Verben lassen sich nach verschiedenen Kriterien klassifizieren: - nach morphologischen Kriterien, d. h. nach Gemeinsamkeiten in der Form, die die einzelnen Wortformen der verschiedenen Verblexeme miteinander aufweisen; 1 Ich benutze die Konvention von Matthews (1972), der zufolge Lexeme typographisch durch Kapitälchen gekennzeichnet werden. Dadurch kann man den Infinitiv als konkrete Verbform (schreiben) vom Lexem (SCHREIBEN) unterscheiden. Eine andere Möglichkeit, die auf Eisenberg zurückgeht, ist das Lexem als Repräsentant des gesamten Paradigmas durch ein hochgestelltes P zu kennzeichnen (schreibenP ). - nach syntaktischen Kriterien, d. h. nach der Kombinationsfähigkeit der Formen des jeweiligen Verblexems mit anderen Wortformen im Satz; - nach semantischen Kriterien, d. h. nach Gemeinsamkeiten in der Bedeutung, die die Verblexeme aufweisen. Die Wichtigkeit von morphologischen Kriterien für eine morphologische Analyse der deutschen Verben ist unmittelbar klar; bei den anderen Kriterien müssen – damit die Ergebnisse für die Morphologie brauchbar sind – die Klassen so gebildet werden, dass sich aus den syntaktischen oder semantischen Eigenschaften der jeweiligen Verben morphologische Folgen ergeben. 2. Traditionelle morphologische Verbklassen In der tschechischen Germanistik (z. B. Beneš et al. 2005) ist eine Klassifizierung verbreitet, der zufolge die Verben in zwei große Klassen und eine Zwischenklasse eingeteilt werden (vgl. auch Duden-Grammatik 2009, 433, § 602): (a) starke Verben (z. B. RUFEN); (b) schwache Verben (z. B. LACHEN); (c) gemischte Verben (z. B. BRENNEN);2 Zusätzlich zu (a) – (c) wird eine Sonderklasse für die Modalverben angesetzt. 2 „Smíšená slovesa“ nach Beneš et al. (2005, 101). Beneš et al betrachten diese Gruppe allerdings als Untergruppe der „unregelmäßigen Verben“, zu der sie z. B. auch die Modalverben rechnen. Damit ergibt sich eine Einteilung nach (a) schwachen, (b) starken, (c) unregelmäßigen Verben. PdF MU PS 2013 Handout zur Vorlesung 7. říjen 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 Pondělí, 7:30-8:00 2 Die Klassifizierung wird bereits in der klassischen Grammatik von Hermann Paul (3 1956, urspr.1917) verwendet. Paul (1956, 246) rechnet die „gemischten Verben“ allerdings zu den schwachen Verben. Verben, die sich nicht in die zwei Hauptklassen einordnen lassen (Modalverben, HABEN, TUN, SEIN, sonstige Verben mit Unregelmäßigkeiten in der Formenbildung), behandelt er als „Anomala“. Verschiedene Grammaiken benutzen allerdings verschiedene Bezeichnungen für die Verbklassen oder kommen sogar zu unterschiedlichen Klassifizierungen. So unterscheiden z. B. Helbig/Buscha (1999, 35) regelmäßige und unregelmäßige Verben, wobei die sog. „gemischten Verben“ (c) in die Klasse der regelmäßigen (!) Verben fallen. Die Unterschiede in der Klassifizierung können verschiedene Ursachen haben: - rein terminologische: Verwendung anderer Bezeichnungen für die trad. Klassen (z. B. um die etwas merkwürdig wirkenden Begriffe „stark“ und „schwach“ zu vermeiden); - Verwendung anderer Kriterien; - unterschiedliche Gewichtung derselben Kriterien. → Seminararbeiten: In einer Seminararbeit könnten Sie unterschiedliche Klassifizierungen in verschiedenen Grammatiken vergleichen und versuchen herauszufinden, was die Ursache für die Unterschiede ist. Sie könnten auch versuchen, die Brauchbarkeit einer bestimmten Klassifizierung für den Fremdsprachenunterricht zu beurteilen und Argumente für Ihre Ansicht zu finden. 3. Kriterien Als Kriterien für die Klassifizierung werden gewöhnlich folgende Eigenschaften bestimmter Formen der Verblexeme herangezogen (vgl. z. B. Helbig/Buscha 1999, 35): - Bildung des Präteritums: mit oder ohne Suffix -te-; Nach diesem Kriterium gehören LACHEN → lachte/ BRENNEN → brannte und RUFEN → rief in verschiedene Klassen. - Bildung des Partizips II: mit Suffix -(e)t oder -en; LACHEN → gelacht/ BRENNEN → gebrannt und RUFEN → gerufen gehören in verschiedene Klassen. - Konstanz oder Veränderung des Stammvokals; LACHEN → lachte, gelacht und BRENNEN → brannte, gebrannt/ RUFEN → rief, gerufen gehören in verschiedene Klassen. 4. Bildung der traditionellen Klassen Aus Kap. 3. ist ersichtlich, wie drei verschiedene Klassen entstehen. Nach den Kriterien ordnen sich die Verben nicht einheitlich in zwei Klassen: Das Verb BRENNEN fällt einmal mit LACHEN, einmal mit RUFEN in dieselbe Klasse. Es verhält sich also „gemischt“. Kriterium/Klasse stark gemischt schwach Präteritalsuffix -terief brannte, lachte Partizipialsuffix -(e)t/-en gerufen gebrannt, gelacht Vokalveränderung rief, brannte lachte RUFEN BRENNEN LACHEN 5. Kritik - Es gibt noch weitere Formeigenschaft, die bei den Kriterien in Kap. 3 nicht berücksichtigt werden, z. B. der Vokalwechsel im Präsens (geben/er gibt × heben/sie hebt) oder die Form des Imperativs (hilf / *hilfe× hebe). PdF MU PS 2013 Handout zur Vorlesung 7. říjen 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 Pondělí, 7:30-8:00 3 - Nicht bei allen Verben fallen die Bildung des Präteritums auf -te- und die Bildung des Partizips auf -(e)t zusammen, wie dies in der Tabelle suggeriert wird (vgl. MAHLEN ‚(po)mlét‘): sie mahlte den Kaffee, sie hat den Kaffe gemahlen). - Die Klassen werden als völlig gleichwertig dargestellt; dies entspricht aber nicht der sprachlichen Realität, da (a) nur die schwache Klasse produktiv ist (Neubildungen nur in der schwachen Klasse stattfinden); (b) ein langfristiger Klassenwechsel von starken Verben in die Klasse der schwachen Verben zu beobachten ist, nicht aber ein umgekehrter Wechsel. → In Anlehnung an die Theorie der Natürlichen Morphologie (z. B. Wurzel 1984) stellt Bittner (1996) eine Feinklassifizierung vor, die gleichzeitig die Entwicklung des Systems der Verbalklassen zeigt. 6. Morphologische Verbklassen nach Natürlichkeit (siehe letztes Blatt des Handouts) 7. Zwischenprodukte beim Klassenwechsel Klassenwechsel vollzieht sich so, dass das betreffende Verb zunächst gleichzeitig in verschiedenen Formvarianten gebraucht wird, z. B. flocht/flechtete (FLECHTEN ‚splétat, zaplést‘), sandte/sendete (SENDEN ‚poslat, vysílat‘). Bei der weiteren Entwicklung gibt es verschiedene Möglichkeiten: Eine Variante (und zwar die „natürlichere“, merkmallosere) hat sich durchgesetzt, die andere ist aus der normalen Umgangssprache bereits verschwunden oder höchstens noch als Archaismus bekannt. FRAGEN: † frug/fragte, gefragt; STECKEN (intrns.): † stak/steckte, gesteckt; HAUEN: † hieb/haute, gehaut; SIEDEN: † sott/siedete, † gesotten/gesiedet ‚vřít‘; Manchmal hält sich die verschwundene/archaische Form noch als Derivationsprodukt (z. B. der Hieb ‚úder‘) oder in Redewendungen (z. B. Gesottenes und Gebratenes, vgl. im Tsch. ‚země mléka a strdí‘). Die Konkurrenz der beiden Formen ist noch nicht entschieden: Beide werden gleichzeitig verwendet, evtl. ist die „natürlichere“ noch nicht verbreitet oder noch nicht voll akzeptiert (fehlt z. B. noch in den normativen Werken wie dem Duden). SAUGEN: sog/saugte, gesogen/gesaugt ‚sát‘; MELKEN: melk/melkte, gemolken/gemelkt ‚dojit‘; SCHWÖREN: schwor/schwörte, geschworen/ ? geschwört FLECHTEN: flocht/flechtete, geflochten/geflechtet. Die Formen flechtete und geflechtet fehlen im Rechtschreib-Duden (1996, 283). Dass sie benutzt werden, zeigt die Recherche im Internet (google.de): (1) Wer webte Athenes Gewänder? - Die Arbeit von Frauen im antiken Griechenland. (Rosa Reuthner, Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2006) (2) Meister der Tasten webte Klangteppich (Aachener Nachrichten) Beide Formen halten sich, nehmen aber eine unterschiedliche Bedeutung, Syntax oder stilistische Zuordnung an. SENDEN 1 : sandte, gesandt (‚poslat‘) × PdF MU PS 2013 Handout zur Vorlesung 7. říjen 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 Pondělí, 7:30-8:00 4 SENDEN 2 : sendete, gesendet (‚vysílat‘ aber auch schon ‚poslat‘, z. B. ein E-Mail senden); SCHLEIFEN 1 : schliff, geschliffen (ein Messer schleichen ‚scharf machen‘) × SCHLEIFEN 2 : schleifte, geschleift (einen Sack Kartoffeln zum Auto schleifen ‚über den Boden ziehen‘) Weitere Beispiele: BEWEGEN, HÄNGEN, SCHAFFEN, WENDEN u. a. → Seminararbeit! Bei Verben der letzten zwei Gruppen ergeben sich interessante Möglichkeiten, den tatsächlichen Gebrauch im Internet zu prüfen und mit den Vorgaben der normativen Grammatiken/Wörterbücher zu vergleichen. 8. Präteritopräsentia Eine eigene Klasse von Verben, die sich nicht in das Schema einordnen lässt, bilden die Modalverben und einige morph. ähnliche Verben. Da diese Verben Präsensformen aufweisen, die wie Präteritumsformen von starken Verben gebildet sind, nennt man sie Präteritopräsentia (Paul 1956, 262-268). Beispiele: KÖNNEN: Sie kann-Ø (vgl. NACHSINNEN: Sie sann-Ø darüber nach.) VERMÖGEN: Ich vermag-Ø ‚kann‘ (vgl. LIEGEN: Ich lag-Ø) WISSEN: Ich weiß-Ø Auf diese Verben kommen wir in der Vorlesung zu den Modalverben zurück. Zitierte Literatur: Beneš, Eduard/Jungwirth, Karel/Kouřimská, Milada/Zapletal, Štěpán (2005): Praktická mluvnice němčiny. Přepracované a aktualizované vydání oblíbené mluvnice. Plzeň: Nakladatelství Fraus. Bittner, Andreas (1996): Starke „schwache“ Verben – schwache „starke“ Verben: Deutsche Verbflexion und Natürlichkeit. Tübingen: Stauffenburg. Duden-Grammatik (2009): Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Hrsg. von Kunkel-Razum, Kathrin/Münzberg, Franziska. 8. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1999): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19. Aufl. Leipzig, Berlin etc.: Langenscheidt/Enzyklopädie. Matthews, Peter H. (1972): Inflectional Morphology. A theoretical study based on aspects of Latin verb conjugation. Cambridge: Cambridge University Press. Paul, Hermann (1956): Deutsche Grammatik. Bd. II/Teil III: Flexionslehre. 3. Aufl. Halle: VEB Max Niemeyer. (1. Aufl. 1917). Rechtschreib-Duden (1996): Duden Band 1: Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21. Aufl. Hrsg. von Werner ScholzeStubenrecht, Matthias Wermke und Günther Drosdowski. Mannheim: Bibl. Institut/Brockhaus. Thieroff, Rolf/Vogel, Petra (2008): Flexion. Heidelberg: Winter. Wurzel, Wolfgang Ullrich (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung. Berlin: Akademie Verlag. PdF MU PS 2013 Handout zur Vorlesung 7. říjen 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 Pondělí, 7:30-8:00 5 Morphologische Verbklassen nach Natürlichkeit (adaptiert nach Bittner 1996) Kriterium Starke Verben Übergangsklasse Übergangsklasse Gemischte Verben Schwache Verben Ablaut half hob mahlte rannte sagte Partizip geholfen gehoben gemahlen gerannt gesagt Imperativ hilf! hebe! mahle! renne! sage! Präsens sie hilft sie hebt sie mahlt sie rennt sie sagt Beispiele: helfen, geben, etc. heben, bewegen → weben; hauen →; kommen; bieten, frieren; bitten, binden, sinken; schwören; gleichen, bleiben; schleifen → raten (rätst, rate! × *rät!) als weitere Zwischenklasse? Rufen? mahlen, salzen, spalten brennen, bringen, nennen, kennen, denken;3 senden, wenden → fragen, lachen; telefonieren; lächeln; kündigen; verniedlichen; einscannen; senden, wenden; Die „weniger natürlichen“ Merkmale, die diachron abgebaut werden, sind durch Fettdruck gekennzeichnet: Sie nehmen von links nach rechts ab! → zeigt (ggf. partiellen) Klassenwechsel an 3 Nach den in Kap. 3/4 genannten Kriterien könnte man auch das Verb tun in diese Gruppe einordnen, obwohl die Formen des Präteritums ungewöhnlich sind (in der 1Sg./3Sg. fehlt das Schwa nach dem Präteritum-Suffix): ich tue, du tust, er tut; ich tat, du tatest, er tat; getan.