LERNEN FÖRDERN Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Lernbehinderungen e.V. Beratungs- und Geschäftsstelle • Gerberstr. 17 • 70178 Stuttgart Tel. 0711 6338438 • Fax 0711 6338439 eMail: post@lernen-foerdern.de Lernbehinderung - was ist das eigentlich? Charakteristisch für Lernbehinderungen ist ihre Vielfalt. Es gibt nicht „die eine“ Lernbehinderung – hinter diesem Begriff stehen vielfältige Ursachen mit vielfältigen Komponenten, vielfältige Erscheinungsformen, verschiedene Ausprägungen und Abstufungen mit großen inter- und intra-individuellen Unterschieden. Infolgedessen ist eine Lernbehinderung nicht immer leicht von einer geistigen Behinderung auf der einen und einer (partiellen, zeitlich begrenzten) Lernschwäche auf der anderen Seite abzugrenzen. Die Übergänge sind vielmehr fließend. Lernbehinderung ist ein offenes und komplexes System, eine Behinderung, die allzu oft nicht offensichtlich ist und dadurch erst sehr spät erkannt wird. Zum Beispiel dann, wenn Kinder im Vergleich mit anderen unterliegen oder gar bereits „versagt“ haben. Aus diesem Grund spricht man bei Lernbehinderungen auch von einer nicht offensichtlichen Behinderung oder einer „Behinderung auf den zweiten Blick“. Ursachen von Lernbehinderungen Eine Lernbehinderung kann durch verschiedene Faktoren aus unterschiedlichen Bereichen verursacht werden. Sie betrifft in der Regel mehrere Funktionsebenen (geistig, seelisch und körperlich), die sich in der Lebensentwicklung gegenseitig individuell und nicht kontinuierlich verstärken. Insbesondere spielen bio-psychosoziale Grundlagen eine Rolle. Biologische Faktoren: Die Hauptursachen einer Lernbehinderung liegen meistens im organischen und neurologischen Bereich. Es handelt sich dabei um: • angeborene, genetische Faktoren • oder erworbene hirnorganische Schädigungen Letztere können zu verschiedenen Zeitpunkten in Erscheinung treten: • pränatal: Infektionen, Stoffwechselstörungen, Krankheiten während der Schwangerschaft • perinatal: Sauerstoffmangel oder Krämpfe während der Geburt, Früh- oder Zangengeburt • postnatal: Gehirnhaut- oder Gehirnentzündungen, Krämpfe, Ernährungsstörungen, Vergiftungen oder chronische Krankheiten LERNEN FÖRDERN – Bundesverband Seite 2 Neurologische Grundlagen: Wie lernt der Mensch? Wenn kleine Kinder die Welt erfahren, wenn Erwachsene neue, unbekannte Situationen bewältigen, dann lernen sie. Im Gehirn werden neue Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft, bestehende Verbindungen verstärkt und unnötige Verbindungen aufgelöst. Je intensiver man sich mit etwas beschäftigt, desto stärker wird die Verbindung zwischen den für die Verarbeitung zuständigen Neuronen (Nervenzellen). Die Summe der einzelnen Zellen und Verbindungen kann als weitverknüpftes und engmaschiges Netz beschrieben werden. Ein Netz aus Nervenzellen, vergleichbar mit einer Landschaft mit vielen Wegen: Wege, die oft gegangen werden, sind breit und sicher. Wege, die selten begangen werden, sind schmal und schwer zugänglich. Denn Wege müssen durch Wiederholung und Benutzung „gepflegt“ werden: Ein Kind, das in seiner Kindheit nur wenige Male auf einem Fahrrad saß, kann als Erwachsener nicht Fahrrad fahren. Ein Mensch, der dagegen regelmäßig Fahrrad fährt, muss darüber nicht mehr nachdenken, sondern hat diese Bewegung automatisiert. Der oft begangene Pfad „Fahrrad fahren“ ist zu einem breiten Weg geworden, der nicht beschrittene Pfad dagegen ist zugewachsen und undurchdringbar. Entscheidend für die Effektivität der Lernprozesse sind nicht nur die einzelnen Wege, sondern auch ihr Zusammenspiel. Wie gut sind die einzelnen Nervenzellen miteinander verknüpft? Je besser dieses Netz ausgebaut ist, desto schneller können die Wege auch benutzt werden. Je besser sich das Netz reorganisiert, indem es unnötige Verbindungen löscht und neue Verknüpfungen aufbaut, desto effektiver arbeitet es. Reorganisation und Optimierung sind wichtige biologische Grundlagen für das Lernen und die Lerngeschwindigkeit. Die Effektivität des neuronalen Netzwerkes beeinflusst direkt die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (wie schnell kann ein Mensch Neues lernen?) und die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (wie viel Neues kann ein Mensch lernen?). Jeder Mensch hat Bereiche, in denen er schneller, und Bereiche, in denen er langsamer lernt. Menschen lernen auch in der Summe unterschiedlich schnell und verschieden effektiv. Kinder mit einer Lernbehinderung zeichnen sich diesbezüglich als eher uneffektive, langsame Lerner aus, die häufig über keine, eine falsche oder eine einseitige Lösungsstrategie verfügen. Ihr Lernen kann durch neurologische Schädigungen beeinträchtigt sein. Durch fehlende Verknüpfungen der Nervenzellen können Denkprozesse verlangsamt werden: Die Menge der Information, die auf einmal verarbeitet werden kann, ist begrenzt (geringere Kapazität im Arbeitsgedächtnis) und die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung ist reduziert. Fällt Kindern das Lernen schwer, können sie kaum breite Straßen aufbauen und es wird für sie immer anstrengender, Neues zu erlernen und Altes zu behalten. Psycho-soziale Faktoren: Neben den biologischen Ursachen können psycho-soziale Faktoren eine Lernbehinderung verursachen oder verstärken: • ungünstige soziale Bedingungen und soziale Beeinträchtigungen (Vernachlässigung, Sozialisationsmängel, Anregungsarmut) • individuell-psychologische Beeinträchtigungen LERNEN FÖRDERN – Bundesverband Seite 3 Säuglinge und Kleinkinder, die keine ausreichende Pflege und zu wenig emotionale Zuwendung erhalten, zeigen Entwicklungsverzögerungen und -rückstände. Fehlende Anreize, fehlende Zuwendung und/oder Mangelernährung wirken sich auf das physische Wachstum, die kognitive Entwicklung sowie die Psyche des Kindes aus. Lernbehinderungen können unter anderem durch hirnorganische, neurologische Schädigung während der Schwangerschaft oder bei der Geburt verursacht werden. Oft ist die Ursache jedoch unbekannt oder unklar. Häufig spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die sich gegenseitig verstärken. Nicht immer müssen alle Faktoren auftreten oder eindeutig sein. Deswegen gelten viele Kinder in der Kleinkindzeit lange als entwicklungsverzögert. Oft fallen sie über einen längeren Zeitraum oder sogar dauerhaft nicht besonders auf. Da sie „ja auch Fortschritte machen“, werden sie gerne als „Spätzünder“ angesehen. So kann der Diagnose einer Lernbehinderung auch heute noch ein langer Leidensweg vorausgehen. Denn Eltern sehen ihre Kinder nicht im Vergleich mit anderen Kindern, aber auch die Kinderärzte sehen trotz der Vorsorgeuntersuchungen nicht immer Anlass zur Frühförderung. In der Schule gelten die Kinder als lernbehindert, die in ihrem Lern- und Leistungsvermögen umfassend von der Altersnorm abweichen und zusätzliche sonderpädagogische Förderung benötigen, um den schulischen Anforderungen entsprechen zu können. Dies betrifft nach Meinung der Experten zwischen 2,5% und 3,5% aller Kinder eines jeden Jahrgangs. Diese Umschreibung verweist auf eine Lernbehinderung als eine der möglichen Formen der Beeinträchtigungen des Lernens: Eine Lernbehinderung liegt vor, wenn umfängliche, schwerwiegende und anhaltende Defizite bei der Bewältigung von intellektuellen Leistungsanforderungen festgestellt werden. Dabei ist die gesamte intellektuelle Entwicklung beeinträchtigt. Das Lernen (Erfassen und Anwenden von neuem Wissen, Handlungen etc.) ist in den meisten schulischen, aber auch in den außerschulischen Bereichen deutlich beeinträchtigt. Zu beachten ist, dass sich eine Lernbehinderung nicht auf das schulische Lernen beschränkt, sondern auch auf das lebenslange Lernen: Auf jede Form des Lernens im Alltag und auf die Bewältigung des täglichen Lebens in jeder Altersstufe. Merkmale einer Lernbehinderung zeigen sich bereits in der Kindheit und enden nicht mit der Schulzeit. Deswegen ist die Früherkennung und frühe Förderung elementar. Mai 2009, LERNEN FÖRDERN-Bundesverband Aktivität und Teilhabe Informationsbroschüre für Menschen mit Lernbehinderungen