PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 1 Passivische Konstruktionen im Deutschen 1. Das Passiv aus morphologischer Sicht In der traditionellen Grammatik wird das „Passiv“ als grammatsche Kategorie des Verbs betrachtet. Der Grund dafür ist, dass die Verben in den klassische Sprachen (Latein und Altgriechisch) über spezielle Endungen verfügen, die in passivischen Kontexten angefügt werden. Im Lateinischen wird das passive Verb z. B. mit -r-haltigen Suffixen markiert: laudo, laudas, laudat heißt z. B. ‚ich lobe, du lobst, er lobt‘ (Aktiv), laudor, laudaris, laudatur heißt ‚ich werde gelobt, du wirst gelobt, er wird gelobt‘ (Passiv). Es lässt sich also sagen, dass z. B. die lateinische Verbform einen morphologischen Marker enthält, der die grammatische Bedeutung „Passiv“ kennzeichnet. Diese Bedeutung rechnet man dann der grammatischen Kategorie „genus verbi“1 zu: Kategorie: Genus verbi Werte: Aktiv Passiv Da die traditionelle Grammatik nach dem Vorbild der klassischen Sprachen entwickelt wurde, rechnete man auch im Deutschen das Passiv zur Morphologie. Das Deutsche verfügt aber (genau wie das Tschechische) über keine speziellen Endungen für das Passiv. Das einzige, was am deutschen Passiv aus morphologischer Sicht (im Sinne von „interner Wortstruktur“) auffällig ist, ist die Tatsache, dass das Passiv-Hilfsverb werden das Partizip II ohne Präfix bildet. Damit unterscheidet es sich vom Kopula-Verb werden, das das Partizip regulär mit Präfix bildet. Passiv-Hilfsverb: Der Gehsteig ist gekehrt worden. Kopula-Verb: Ich bin Arzt geworden. Der Grund dafür könnte sein, dass das Partizip des Passiv-Hilfsverb immer direkt hinter dem Partizip des Vollverbs steht, dass – wenn morphologisch möglich – bereits ein ge-Präfix enthält. Alle weiteren Eigenschaften des Passivs (oder genauer: der Passivkonstruktion) betreffen die Syntax, da es sich um die Beziehungen der einzelnen syntaktischen Bausteine (Subjekt, Objekt usw.) zueinander handelt. In moderneren Grammatiken wird die Passiv-Bildung daher der Syntax zugerechnet. Man kann die Konstruktion des Verbs im deutschen Passiv allerdings als analytische Verbform betrachten. Das, was im Lateinischen durch eine morphologische (synthetische) 1 “verbi” ist im Lateinischen der Genitiv von verbum. Die Bezeichnung bedeutet also in tsch. Übersetzung ‘rod slovesa’. Verwechseln Sie das „genus verbi“ nicht mit dem Genus bei Substantiven und Adjektiven (Maskulinum, Neutrum, Femininum)! PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 2 Form ausgedrückt wird, wird im Deutschen durch eine Konstruktion aus Hilfsverb und Partizip des Vollverbs ausgedrückt: werden + PPP Analytische Passiv-Konstruktion Hilfsverb (finit) Vollverb (infinit) WERDEN Partizip II wird gekehrt 2. Syntaktische Analyse des Passivs 2.1. Durch Transformationen Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Passivkonstruktionen syntaktisch zu beschreiben. In den 60er und 70er Jahren war es üblich, die Passivkonstruktion durch eine syntaktische Transformation aus der Aktivkonstruktion abzuleiten. Dieses Verfahren geht auf die „Generative Transformationsgrammatik“ (z. B. Chomsky 1965) zurück. Auch Helbig/Buscha (1999, 165) benutzen syntaktische Transformationen. Bei diesem Verfahren nimmt man an, dass die Aktiv-Konstruktion die grundlegende Satzstruktur ist. Eine Transformation ändert diese Grundstruktur dann so, dass eine PassivKonstruktion entsteht. Beispiel (Helbig/Buscha 1999, 165): Die Mutter schneidet das Brot. → Das Brot wird (von der Mutter) geschnitten. NP1 V NP2 → NP2 HV (PP1 ) Partizip Die Transformation (durch „→“ symbolisiert) verändert die Satzstruktur: a) Die erste Nominalphrase (das Subjekt des Aktiv-Satzes) wird entfernt; sie kann in der Passivkonstruktion eventuell durch eine Präpositionalphrase (von + Dativ / durch + Akkusativ) ersetzt werden. NP1 (Nominativ) → Ø / von+NP1 (Dativ) / durch+NP1 (Akkusativ) b) Die zweite Nominalphrase (das direkte Objekt des Aktiv-Satzes) wird an die Stelle des Subjekts gesetzt. NP2 (Akkusativ) → NP2 (Nominativ) c) Auch das Verb (V) muss verändert werden: Die Transformation fügt ein Hilfsverb (HV) ein und bildet vom finiten Verb des Aktiv-Satzes das Partizip. Kritik an einer transformationellen Darstellung: Wenn man mit Transformationen arbeitet, braucht man zwei verschiedene syntaktische Ebenen: Eine „Tiefenstruktur“ (die Satzstruktur vor Anwendung der PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 3 Transformation) und eine „Oberflächenstruktur“ (die Satzstruktur nach Anwendung der Transformation). Das lehnen manche linguistische Theorien als zu kompliziert oder zu spekulativ ab. Außerdem sagt die Transformation noch nichts zur Interpretation des Satzes (Wie verstehen die Hörer und Sprecher den Satz?). Ferner wird nicht berücksichtigt, dass die Transformation nicht immer möglich ist. Nicht jeder Aktiv-Satz kann durch die Transformation in einen Passiv-Satz umgeformt werden: (1) Er bekam den Brief. → *Der Brief wurde von ihm bekommen. (Helbig/Buscha 1999, 171). Die Transformation ist im Allgemeinen nur dann möglich, wenn das Subjekt des Aktivsatzes ein Agens (eine handelnde Person) bezeichnet. Man kann zwar eine Bedingung formulieren, die die Transformation nur dann erlaubt, wenn ein Agens vorhanden ist; dann könnte man die Regeln aber auch direkt auf die semantischen Rollen (Agens und Patiens) beziehen. Ich stelle daher eine alternative Analyse vor, die auf der „Rollen- und Referenzgrammatik“ von Van Valin und La Polla (1997) beruht. 2.2. Durch Abbildung von semantischen Rollen auf die syntaktischen Positionen Für eine Analyse durch Abbildung semantischer Rollen auf syntaktische Positionen braucht man: a) eine semantische Ebene (Satzbedeutung): Hier wird die Verbhandlung und die „Teilnehmer“ an der Handlung (die Person, die etwas tut; das, was von der Handlung betroffen ist) dargestellt; b) eine syntaktische Ebene, auf der die syntaktischen Positionen dargestellt sind; c) Zuordnungsregeln, die angeben, welcher Teil der semantischen Struktur an welcher Stelle der syntaktischen Struktur ausgedrückt wird. Aktiv: Die „normale“ Zuordnung von Semantik und Syntax Semantische Struktur: Agens – Handlung – Patiens Syntaktische Struktur: Subjekt Verb direktes Objekt In der Aktivkonstruktion findet man eine „normale“ (unmarkierte, kanonische) Zuordnung der semantischen Rollen zu den syntaktischen Positionen: Das Agens wird durch das Subjekt ausgedrückt, das Patiens durch das direkte (Akkusativ-)Objekt. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 4 Passiv: veränderte Zuordnung von Semantik und Syntax Semantische Struktur: Agens – Handlung – Patiens Blockierung Syntaktische Struktur: Subjekt werden + Partizip direktes Objekt In der Passivkonstruktion kommt es zu einer Abänderung der „normalen“ Zuordnung von Syntax und Semantik: Die Konstruktion verhindert die Abbildung des Agens auf eine reguläre syntaktische Position (es kann nur noch mit von+Dativ zusätzlich in die Struktur gebracht werden): Agens-Blockierung. Da die Subjektposition durch die Agens-Blockierung frei wird, kann hier jetzt das Patiens ausgedrückt werden. Sonderfall: Passiv-Konstruktionen ohne Patiens. Im Deutschen genügt es, wenn ein Agens vorhanden ist, um eine Passivkonstruktionen bilden zu können: Ein Patiens muss dafür nicht vorhanden sein. Die Abbildung sieht dann so aus: Semantische Struktur: Agens – Handlung – Ø Blockierung Syntaktische Struktur: Ø werden + Partizip Da kein Patiens vorhanden ist, das in der Subjektposition ausgedrückt werden könnte, entstehen subjektlose Sätze. Beispiel: Die Studenten arbeiten. _____ wird gearbeitet. Nach diesem Schema würde das Passiv-Hilfsverb jetzt in der 1. Satzposition stehen. Das ist im Deutschen allerdings nicht möglich. Im Hauptsatz muss das finite Verb immer auf der 2. Position stehen. Daher muss die 1. Position irgendwie gefüllt werden. Wie die Position gefüllt wird, ist nicht so wichtig: Es können Ortsangaben (2), Zeitangaben (3) oder sonstige adverbiale Satzglieder verwendet werden; nur, wenn sonst kein Füllmaterial vorhanden ist, muss die Position mit einem es (4) besetzt werden. (2) Hier wird gearbeitet. (3) Den ganzen Tag wird schon gearbeitet. (4) Es wird gearbeitet. Das es in (4) lässt sich nicht als Subjekt bezeichnen. Im Unterschied zu dem Subjekt-es in Sätzen wie Es regnet verschwindet es aus der Satzstruktur, wenn die 1. Position durch anderes Material besetzt wird, vgl. (5) und (6): (5) Es regnet. / Den ganzen Tag regnet es. (6) Es wird gearbeitet. / Den ganzen Tag wird gearbeitet × *Den ganzen Tag wird es gearbeitet. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 5 3. Passiv-ähnliche Konstruktionen Das charakteristische Kennzeichen einer Passivkonstruktion ist die Agens-Blockierung: Obwohl die Verbhandlung ein Agens enthält, kann dieses Agens nicht in einer regulären syntaktischen Position (in der Subjekt-Position) ausgedrückt werden. Außer der werden-Konstruktion gibt es im Deutschen noch eine ganze Reihe von weiteren Konstruktionen, die denselben Effekt haben: Das Agens ist blockiert. Im Folgenden nenne ich die wichtigsten: 3.1. Resultativkonstruktionen („Zustandspassiv“) (7) Das Fenster ist geöffnet. Resultativkonstruktionen bezeichnen einen Zustand, der die Folge der durch das Partizip bezeichneten vorausgegangenen Handlung ist (z. B. Nedjalkov/Jachontov 1988). Helbig/Buscha (1999, 175) bezeichnen diesen Konstruktionstyp daher als „Zustandspassiv“. Es gibt allerdings berechtigte Zweifel daran, ob (7) wirklich als Passiv bezeichnet werden kann, vgl. z. B. Maienborn (2007). Einige Gegenargumente sind: Das Partizip ist durch ein primäres Adjektiv ersetzbar; das geht beim Passiv nicht: (8) Das Fenster ist offen. × *Das Fenster wird offen. Im „Zustandspassiv“ ist es meist nicht möglich, das Agens durch eine von-Phrase auszudrücken (so auch Helbig/Buscha 1999, 164):2 (9) *Das Fenster ist von Peter geöffnet. × Das Fenster wird von Peter geöffnet. Das Agens ist also offenbar nicht nur syntaktisch blockiert (wie beim Passiv), sondern sogar semantisch eliminiert. Ohne Agens lässt sich die Konstruktion aber nicht mehr als Passiv bezeichnen. Das Partizip in der Resultativkonstruktion lässt sich häufig mit un- präfigieren; auch das geht in der Passiv-Konstruktion nicht: (10) Der Brief ist ungeöffnet. × *Der Brief wird ungeöffnet. un- ist ein Präfix, das sich nur an Adjektive (oder Substantive) anfügen lässt. Daraus folgt, dass das Partizip in (7) bzw. (10a) als Adjektiv funktioniert, nicht als Teil einer Verbform. Maienborn (2007) kommt daher zu dem Schluss, dass die Verbindung ist + Partizip wie z. B. in (7) keine Verbform (also auch kein „Zustandspassiv“) ist, sondern die Verbindung „Kopula Verb (sein) + (eventuell von Verben abgeleitetes) Adjektiv“. Für tschechische Muttersprachler ist es auf jeden Fall wichtig, diese Formen nicht mit dem tschechischen Passiv (z. B. Pavel je chválen Petrem) zu verwechseln, das regulär mit být + PPP gebildet wird. Dem tschechischen Passiv mit být entspricht das deutsche Passiv mit werden: Pavel wird von Peter gelobt. 2 Es gibt Ausnahmen wie z. B. Das Bild ist von einem echten Künstler gemalt. Über die genauen Bedingungen, die das Anfügen einer von-Phrase ermöglichen, wird immer noch diskutiert. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 6 →Seminararbeiten: Im Artikel von C. Maienborn (2007) (im Internet zugänglich) werden noch andere Tests für die sein+PPP-Konstruktion genannt, die zeigen, dass es sich nicht um eine Verbform handelt. In einer Seminararbeit könnten Sie Material aus dem Korpus sammeln, das zeigt, wie häufig die von Maienborn verwendeten Test-Konstruktionen sind und ob sie sich von vielen Verben im „Zustandspassiv“ bilden lassen. 3.2. sich-lassen-Konstruktion (11) Das Fenster lässt sich öffnen. Auch in dieser Konstruktion drückt das Subjekt das Patiens der Handlung aus, nicht das Agens. Im Tschechischen entspricht dieser Konstruktion eine Konstruktion mit dát (Okno se dá otevřít) oder lze (Okno lze otevřít). Die Konstruktion lässt sich durch eine Passivkonstruktion mit Modalverb (Das Fenster kann geöffnet werden) oder mit „es ist möglich“ (Es ist möglich, das Fenster zu öffnen) paraphrasieren. 3.3. Infinitivkonstruktionen mit zu (12) Das Fenster ist zu öffnen. (13) Die Rechnung ist zu bezahlen. Auch diese Konstruktion, die für Sprecher des Tschechischen vermutlich ein wenig merkwürdig aussieht, lässt sich durch eine Passivkonstruktion mit Modalverb paraphrasieren. Welche Modalität bei der Interpretation der Konstruktion verstanden werden soll, ist allerdings offen: Die Modalität wird nicht direkt in der Konstruktion ausgedrückt, man muss sie sich „dazudenken“. (12) wird normalerweise als „Das Fenster kann geöffnet werden, lässt sich öffnen“ verstanden, (13) eher als „Die Rechnung muss bezahlt werden“. (Sätze wie (13), aus denen ein „muss“ herauszulesen ist, sollten Sie allerdings lieber nicht verwenden: Sie gelten heute als unhöflich.) 3.4. Konstruktionen mit -lich und -bar (14) Zucker ist in Wasser löslich. (15) Die Aufgabe ist unlösbar. Auch in (14) und (15) drückt das Subjekt kein Agens aus. Allerdings verhalten sich die Suffixe -lich und -bar unterschiedlich: -bar scheint ein Agens in der semantischen Struktur vorauszusetzen, zumindest in den frei ableitbaren Fällen (Toman 1983). (15) lässt sich daher als „Die Aufgabe kann nicht gelöst werden“ paraphrasieren. Bei -lich scheint dagegen kein Agens vorhanden zu sein: Die Paraphrase lautet eher: „Zucker löst sich in Wasser auf“. → Seminararbeit: In einer Seminararbeit könnten Sie Beispiele mit -lich und -bar sammeln und prüfen, wie die Basisform (mit Agens? Passiv? Sich-Verben) sein müsste und ob es überhaupt eine verbale Basisform gibt (scheinbar hat z. B. kaum mehr etwas mit scheinen zu tun, wunderbar könnte man auch von Wunder ableiten). Sie könnten auch tschechische Äquivalente in einem parallelen Korpus suchen. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 7 Zitierte Literatur: Chomsky, Noam (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge, MA: MIT Press. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1999): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19. Aufl. Leipzig, Berlin etc.: Langenscheidt/Enzyklopädie. Maienborn, Claudia (2007): Das Zustandspassiv. Grammatische Einordnung, Bildungsbeschränkungen, Interpretationsspielraum, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 35, 83–114. Nedjalkov, Vladimir P./Jachontov, Sergej J. (1988): The typology of resultative constructions, in: Nedjalkov, Vladimir P. (ed.): Typology of resultative constructions. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 3–62. Toman, Jindřich (1983): Wortsyntax. Eine Diskussion ausgewählter Problemen deutscher Wortbildung. Tübingen: Niemeyer. Van Valin, Robert D. / LaPolla, Randy J. (1997): Syntax. Structure, Meaning and Function. Cambridge: Cambridge University Press. Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin, New York: Walter de Gruyter.