PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 15. září 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 1 Einführung: das Verb Finite und infinite Verbformen 1. Definition der Wortart Verb Wortarten lassen sich nach verschiedenen Kriterien (Bedeutung, Syntax, Morphologie) definieren. Für die Morphologie ist verständlicherweise die morphologische Definition maßgeblich, d. h. eine Definition, die sich auf die Form der zu definierenden Wortformen bezieht: Verben sind Lexeme, die konjugiert werden (z.B. Heringer 2009,65). 2. Grammatische Kategorien des deutschen Verbs Um die Definition sinnvoll anwenden zu können, muss man jetzt aber genauer angeben, was „konjugiert“ bedeuten soll. Konjugation ist ein Spezialfall von Flexion, d. h. von Formveränderung. Die Lexeme im Deutschen können in unterschiedlichen Formen erscheinen (sie werden „flektiert“, d. h. ändern je nach Kontext ihre Form). Bei der Flexion unterscheidet man Deklination und Konjugation. Der Unterschied zwischen Deklination und Konjugation besteht darin, welche grammatischen Kategorien die flektierte Wortform ausdrückt. Bei der Konjugation sind dies folgende Kategorien: Traditionelle Kategorien der konjugierten Wortform (hier nach Helbig/Buscha 1998, 34) Kategorie Wert Beispiel 1 Person 1.–3. Prs. schreibst: 2. Prs. 2 Numerus Singular, Plural schreibst: Singular 3 Tempus 6 Tempora schriebst: Präteritum 4 Modus Indikativ, Konjunktiv, Imperativ1 schriebest: Konjunktiv 5 Genus verbi Aktiv, Vorgangspassiv, Zustandspassiv2 Die oben angeführten Kategorien gelten als verbale Kategorien: Wenn man an einer Wortform diese Kategorien erkennen kann, dann ist die Wortform konjugiert und das zugehörige Lexem daher ein Verb. 3. Finite und infinite Verbformen Die Definition der Wortart „Verb“ über Konjugation bzw. die dadurch ausgedrückten grammatischen Kategorien bringt aber ein Problem mit sich. Betrachten wir dazu die unterstrichenen Wortformen in den Beispielsätzen: 1 Der Imperativ wird von manchen Autoren (z. B. Helbig/Buscha) als Kategorie des Modus betrachtet, von anderen (Eisenberg) dagegen nicht. 2 Der Status des „Zustandspassiv“ als eigenständige Kategorie ist umstritten; mit einem „Zustandspassiv“ rechnen v. a. Helbig/Buscha. Es kann allgemein als fraglich gelten, ob die Kategorie „Genus verbi“ eine morphologische Kategorie des deutschen Verbs ist, auch wenn sie traditionell (nach lateinischem Vorbild) als solche betrachtet wird. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 15. září 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 2 (1) Ich schreibe dir eine Mail. (2) Ich habe dir eine Mail geschrieben. (3) Ich habe keine Lust, eine Mail zu schreiben. (4) Die geschriebenen Mails finden Sie im Ordner „Ausgang“. Die Wortform schreibe in (1) ist unproblematisch: Sie drückt alle verbalen Kategorien in der Tabelle aus und ist daher zweifellos eine verbale Wortform. Die Wortformen geschrieben und (zu) schreiben in (1) und (2) sind dagegen problematisch: offenbar drücken sie keine oder zumindest nicht alle verbalen Kategorien aus. An der Form geschrieben in (2) kann man z. B. keine Person erkennen (eventuell könnte man argumentieren, dass die Form die Tempus-Kategorien ausdrückt, obwohl sich bei einer solchen Analyse weitere Probleme ergeben). Die Form schreiben in (3) drückt weder Person noch Numerus, Tempus oder Modus aus (eventuell könnte man Argumentieren, dass sich das „genus verbi“ erkennen lässt, obwohl auch das problematisch ist). Nach der Definition dürfte es sich daher eigentlich nicht um verbale Wortformen handeln. Eine Analyse, die die Wortformen in (2) und (3) nicht als verbale Wortformen betrachtet, gerät aber in Konflikt mit der Vorstellung, dass geschrieben und schreiben zum selben Lexem gehören wie schreibe, nämlich zum Lexem SCHREIBEN. Man ist daher gezwungen, einen neuen Begriff einzuführen, der es erlaubt, auch die Formen in (2) und (3) als Verbformen zu betrachten. Dieser Begriff ist der Begriff „Finitheit“. Definition: Verbformen lassen sich nach finiten und infiniten Verbformen unterscheiden. Infinite Verbformen sind Formen von Verben, die nicht alle grammatischen Kategorien des Verbs ausdrücken. Verbale Wortformen finite infinite schreibst (zu) schreiben schrieb geschrieben schreibt schreibend … Traditionell nimmt man für das Deutsche drei infinite Formen an: Infinitiv: schreiben Partizip I: schreibend Partizip II: geschrieben Das Partizip I wird von manchen Linguisten (z. B. Eisenberg 1998) nicht als verbale Wortform betrachtet. 4. Präzisierung des Begriffes „Finitheit“ An dieser Stelle stellt sich die Frage, welche grammatischen Kategorien eine verbale Wortform zu einer finiten Form machen. Müssen alle verbalen Kategorien ausgedrückt werden? Oder genügen nur einige, und wenn ja: welche? Auf diese Fragen geben die Grammatiken verschiedene Antworten: PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 15. září 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 3 4.1. Mindestens eine Kategorie Glück (1993, 187): Eine Wortform ist finit, wenn mindestens eine verbale Kategorie ausgedrückt wird. Problem: Wenn man das „genus verbi“ als grammatische Kategorie anerkennt, dann müssten die Partizipien in (5) als finite Formen als finite Formen bezeichnet werden, weil (a) eine passive, (b) eine aktive Bedeutung hat. (5) a.das gelesene Buch / b. der lesende Student Manche Grammatiken (z. B. Helbig/Buscha 1998, 105) nehmen auch einen Infinitiv Perfekt an, siehe Bsp. (6). Dann wäre also auch der Infinitiv unter bestimmten Bedingungen eine finite Form. (6) Sie muss gestern hier gewesen sein. 4.2. Alle Kategorien Helbig/Busche (1998, 34 f.) definieren „finite Verbformen“ wie folgt: „Im Unterschied zu den infiniten Verbformen sind die finiten Verbformen personengebunden und konjugiert. […] Die infiniten Verbformen sind nicht personengebunden und nicht konjugiert.“ Damit behaupten sie implizit, dass finite Formen alle Kategorien ausdrücken müssen. Problem: Betrachten wir die Verbform hat in (2). Drückt hat die Kategorie „Tempus“ aus? - Wenn ja: Welches Tempus wird ausgedrückt? Präsens offenbar nicht, da (2) kein gegenwärtiges Ereignis bezeichnet.3 Perfekt aber auch nicht, da dieselbe Wortform in (7) einen gegenwärtigen Zustand ausdrückt und daher keine Perfektform sein kann. (7) Peter hat ein Buch. - Wenn nicht: Laut der Def. von Helbig/Buscha keine finite Form, was der Analyse des Perfekts als zusammengesetztes Tempus (finite Form + infinite Form) widerspricht. 4.3. Person und Numerus Daher ist es vermutlich am besten, sich auf den ältester Standpunkt zu stellen, der zu dieser Frage vertreten wurde: Person und Numerus sind die Finitheitskategorien. Eine Wortform, die weder Person noch Numerus ausdrückt, ist eine infinite Wortform (vgl. Eisenberg 1989, 109; Janakiev 2010; und das Zitat von Blatz 1900 unten). Blatz (1900, 441, § 194): „Bei der Konjugation sind zu unterscheiden; (a) die finiten (bestimmten) Verbalformen, die eine Aussage enthalten, und darum Person und Numerus bezeichnen […], (b) die infiniten (unbestimmten) Verbalformen, welche keine Aussage bewirken können, weil sie Person und Numerus nicht bezeichnen […]“ 3 Um dieses Problem zu lösen, könnte man morphologisches Tempus (ohne Bedeutung) und semantisches Tempus (Bedeutung) unterscheiden und sagen, dass hat morphologisch Präsens ist aber nicht unbedingt eine Gegenwartsbedeutung ausdrücken muss. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 15. září 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 4 Janakiev (2010) gibt auch eine Rechtfertigung aus DaF-Perspektive für diese Entscheidung: Die Kategorien Person und Numerus sind für Deutschlerner besonders wichtig, da sie beim Bilden und Verstehen von Sätzen eine große Rolle spielen. Der lat. Begriff „konjugieren“ bringt die besondere Bedeutung der Kategorien Person und Numerus zum Ausdruck: Konjugieren heißt wörtlich ‚verbinden‘: Die Kategorien Person und Numerus erwirbt das Verb durch die Verbindung mit einem Subjekt. Aufgabe zum Nachdenken: Wie würde Sie die unterstrichene Wortform in Beispiel (4) analysieren, über die in diesem Handout nichts gesagt wurde? Zitierte Literatur: Blatz, Friedrich (1900): Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache. Bd. 1: Einleitung. Lautlehre. Wortlehre. 3. Aufl. Karlsruhe: Peter Lang. http://openlibrary.org/books/OL6933041M/Neuhochdeutsche_Grammatik Eisenberg, Peter (1989): Grundriss der deutschen Grammatik. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler. Eisenberg, Peter (1998): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 2: Das Wort. Stuttgart: Metzler. Glück, H. (1993): Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart: Metzler. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1998): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig, Berlin etc.: Langescheidt/Enzyklopädie. Heringer, Hans Jürgen (2009): Morphologie. Paderborn: Wilhelm Fink UTB. Janakiev, Angrit (2010): Ausgewählte Probleme der Flexion der Wortkategorie Verb in der DaF-Lehrerausbildung, in: Brünner Hefte zu Deutsch als Fremdsprache, 3, 2010 (2), 181 – 195. Radtke, Petra (1998): Die Kategorien des deutschen Verbs: zur Semantik grammatischer Kategorien. Tübingen: Narr.