Flexion 21 ter im Finale, und gegen die Versitzplatzung des Weserstadions mussten wir erst auf die Barrikaden gehen. So geht der Fußball vor die Hunde. Versitzplatzung ist sicher ein Wort, das Leser/innen als neu empfinden. Inwiefern eine Bildung als neu empfunden wird, ist nicht ganz einfach zu sagen. Manchmal unterscheidet man zwischen zwei Arten von Neubildungen, dem Neologismus als einer (relativ) neuen Lexikoneinheit, und einem okkasionellen, nur in einer bestimmten Situation produzierten Wort. Ob nun ein Nomen wie Versitzplatzung zur ersten oder zweiten Kategorie gehört, ist schwer zu beurteilen. Für die Leserin mag es sich um einen Okkasiona-lismus handeln, während es im Wortschatz des Fachmanns den Status eines Neologismus hat. Es kommen hier also soziolinguistische und etymologische Aspekte ins Spiel. Dem Neuheitsempfinden auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite das Gefühl, ein Wort sei bereits veraltet, ungebräuchlich oder ausgestorben. Dies gilt zum Beispiel für Bildungen wie instandbesetzen, Negerkuss und Teppich Stange. ECU, die Bezeichnung für die europäische Währung, wurde schon bald von Euro abgelöst. Solche Beispiele zeigen, dass nicht alle Neubildungen auch die Chance bekommen, Bestandteil des Lexikons zu werden. Neben der Neubildung gibt es noch weitere Prozesse, die der Erweiterung des Lexikons dienen. Hier sind vor allem die Entlehnungen zu nennen, die heute vorwiegend aus dem Englischen, aber auch aus anderen Sprachen kommen. Beispiele für Entlehnungen aus dem Englischen sind die Nomen Kids, Airbag, Card, die Adjektive hip, cool, taff, die Verben zappen, puschen, covern und die Interjektion ups. Aus dem Japanischen kommt Karaoke. Sehr selten kommen Urschöpfungen vor. Unter Urschöpfungen versteht man Wörter, die ohne Vorbild sind, z. B. die Interjektion doing oder manche Produktnamen. Alle diese Verfahren, seien es Neubildungen, Entlehnungen und Urschöpfungen dienen der Erweiterung des Lexikons. Aufgabe 1: Prüfen Sie in einem aktuellen einsprachigen Wörterbuch, ob die folgenden Ausdrücke darin verzeichnet sind: Gabi; Juniorprofessor; Lehrerin; etw. abzangen; super doof; äh; au backe; [ich bin] fix und foxi; eh; Brustumfang; mhm; Azubi; Enter; toi, toi, toi; jdm. geht der Arsch auf Grundeis; bittere Erfahrung; jdn. versagen; [Porsche] tieferlegen; Schweller Begründen Sie möglichst genau, warum die Ausdrücke zu finden oder nicht zu finden waren. 2.2 Flexion 2.2.1 Wort und Wortform Wörter kommen gewöhnlich als Baueinheiten von Sätzen vor. Zum Beispiel kann das Wort Schuh in den folgenden Sätzen vorkommen: 11 a. Deine neuen Schuhe gefallen mir gar nicht. b. Dein linker Schuh sitzt besser als der rechte. c. Die Schnürsenkel des rechten Schuhs sind locker. 22 Lexikon und Morphologie Es handelt sich immer um die gleiche Lexikoneinheit Schuh, aber die Formen des Wortes sind jeweils verschieden. In (la) handelt es sich um den Nominativ Plural, in (lb) um den Nominativ Singular, in (lc) um den Genitiv Singular. In Sätzen kommen also immer Wortformen vor. Eine ganz bestimmte Wortform, und zwar die des Nominativ Singular, ist bei Nomen zugleich die Nennform der Lexikoneinheit. Eine Wortform wie Schuh+e ist komplex. Das Element -e ist ein Flexionselement. Die Bildung der Wortformen eines Worts nennt man Flexion, die Menge der Wortformen eines Worts sein Flexionsparadigma. So umfasst das Flexionsparadigma eines Nomens acht Wortformen, die sich durch den Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) und den Numerus (Singular, Plural) ergeben. Nicht jede Wortform muss dabei durch ein eigenes Flexionselement gekennzeichnet sein, vgl. die Schuhe mit der Schuhe. Wortformen unterscheiden sich in ihren Flexionsmerkmalen oder grammatischen Merkmalen. Diese kann man zu Merkmalklassen zusammenfassen. (2) Merkmalklassen und Merkmale Merkmalklasse Merkmale Numerus Singular, Plural Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum Person 1. Person, 2. Person, 3. Person Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ Tempus Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Futur I, Futur II Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II Genus verbi Aktiv, Passiv Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ Nicht alle Wortarten sind von der Flexion betroffen. Es gibt eine Gruppe von Wortarten, die >Unflektierbaren<, die prinzipiell nicht flektiert werden können. Dazu gehören Konjunktionen (z. B. und, aber), Präpositionen (z. B. auf, zwischen), Gradpartikeln (z. B. sogar, nur), Modalpartikeln (z. B. halt, schon), Adverbien (z. B. sehr, hoffentlich) und Interjektionen (z. B. au, pst). Betroffen von der Flexion sind das Nomen, das Pronomen, der Artikel, das Verb und das Adjektiv. Die folgende Tabelle zeigt für das Nomen, den Artikel, das Pronomen, das Adjektiv und das Verb, welche Merkmalklassen auf sie zutreffen: (3) Wortarten und Merkmalklassen Wortarten Merkmalklassen Nomen, Artikel, Pronomen Kasus, Numerus, Genus Adjektiv Kasus, Numerus, Genus, Komparation Verb Person, Numerus, Modus, Tempus, Genus verbi Die Flexion muss man von der Wortbildung unterscheiden. Wenn man in der Wortbildung von_komplexen Wörtern redet, meint man immer komplexe Wörter in ihrer Nennform.* Sowohl die Wortbildungstheorie als auch die Flexionstheorie befassen sich mit der Struktur von Wörtern. Die Theorie über den Strukturaufbau von Wörtern heißt Morphologie. Flexion 23 (4) Morphologie Flexion Wortbildung Im Weiteren gehen wir zunächst auf die Flexion ein, bevor wir uns mit der Wortbildung beschäftigen. 2.2.2 Zur nominalen Flexion Unter nominaler Flexion (traditionell Deklination genannt) wollen wir hier die Flexion des Nomens, des Adjektivs, des Artikels und des Pronomens verstehen. Artikel, Adjektiv und Nomen kommen oft in einer syntaktischen Baueinheit zusammen vor, die wir Nominalphrase nennen. Pronomen sind Elemente, die typischerweise solche Nominalphrasen ersetzen können. 5) a. Der alte Student hat keine Studiengebühren bezahlt, b. Er hält diese sowieso für überflüssig. In (5b) ersetzen die Pronomen er und diese die Ausdrücke der alte Student und Studiengebühren aus (5a); dies kann man daran sehen, dass sie die gleiche syntaktische Funktion haben, nämlich Subjekt und Objekt. Die Ausdrücke der, alte, Student werden nun durch bestimmte grammatische \ lerkmale zusammengehalten. Man sagt auch, sie stimmen in diesen grammatischen Merkmalen überein. Dieses Phänomen nennt man Kongruenz. Welches sind diese Merkmale? Betrachten wir zunächst die Merkmalklassen, die beim Nomen eine Rolle spielen: Nomen Kasus Numerus Genus '• minativ Genitiv Dativ Akkusativ Singular Plural Maskulinum Femininum Neutrum : - Nomen ist hinsichtlich der drei Merkmalklassen Kasus, Numerus und Genus ■.ziert. Kasus und Numerus werden durch die Flexionselemente -e, -(e)n, -(e)s i - er angezeigt; hinzu kommen Endungslosigkeit und der Umlaut (Wechsel von . u, au zu den Umlautvokalen ä, ö, ü, äu wie in das Buch, die Bücher). Genus ist e n inhärentes Merkmal, das heißt, es kann nur durch den Artikel sichtbar gemacht ■den. Nach der Wahl der jeweiligen Ausdrucksmittel unterscheidet man verschiedene Flexionstypen (vgl. Eisenberg 20063, 159 ff.): Flexionstypen der Nomen Flexionstypen der Nomen Beispiele Typ 1. Maskulina und Neutra, stark der Tisch, das Kind Typ 2. Maskulina, schwach der Bär, der Kunde Typ 3. Maskulina und Neutra, gemischt der Fleck, das Ende Typ 4. Feminina die Burg, die Wand 24 Lexikon und Morphologie Die Verteilung dieser Flexionstypen auf den vorhandenen nominalen Wortschatz ist nicht gleich. So deklinieren 90 % aller einfachen Maskulina und 70 % aller Neutra nach dem angegebenen Muster für starke Maskulina und Neutra. Woran erkennt man, ob ein Maskulinum nun stark oder schwach ist? Vergleichen wir die Flexionsparadigmen für der Tisch mit dem für der Bär. Runde Klammern zeigen an, dass das betreffende Element stehen kann, aber nicht muss: (8) Flexionsparadigmen für Tisch und Bär Singular Plural Singular Plural Nominativ Tisch Tisch+e Bär Bär+en Genitiv Tisch+es Tisch+e Bär+en Bär+en Dativ Tisch+(e) Tisch+en Bär+(en) Bär+en Akkusativ Tisch Tisch+e Bär+(en) Bär+en Man sieht hier deutlich, dass die starke Deklination bei der Tisch mehr Kasus formal unterscheidet als die schwache Deklination für der Bär, die nur ein einziges Flexionselement aufweist, nämlich -en. Nimmt man bei einem solchen Vergleich der Paradigmen noch die anderen Fälle hinzu, dann sieht man, dass besonders wichtig ist, ob der Genitiv Singular und der Nominativ Plural auf -(e)n enden. Wenn nur der Plural auf -(e)n endet, spricht man oft von einer gemischten Deklination. Wozu sind solche Vergleiche gut? Sie dienen dazu, dass man etwas darüber heraus bekommt, ob die bestehenden Paradigmen verborgenen Regeln oder Prinzipien unterworfen sind. Eine linguistische Deutung der Flexionsparadigmen setzt meist bei Beobachtungen über die Markiertheit von Flexionselementen ein (vgl. Wurzel 1988, Nübling 2002). So sind zum Beispiel die Pluralformen im Vergleich zu den Singularformen einheitlich gekennzeichnet, wobei verschiedene Mittel der Kennzeichnung zur Verfügung stehen: ein bestimmtes Flexionselement, seine Abwesenheit wie beim sog. Nullplural (z. B. der Eimer, die Eimer), der Umlaut oder die Kombination eines Flexionselements mit dem Umlaut. In diesem Sinne kann der Plural als gegenüber dem Singular markiert gelten (s. Kap. 8.3.5). Man ist es gewöhnt, bei der Betrachtung der Deklination Kasus und Numerus zusammen zu behandeln. Zwischen diesen Merkmalen gibt es aber einen wichtigen Unterschied: Während der Numerus aus semantischen Gründen gewählt wird, ist der Kasus in der Regel von syntaktischen Bedingungen abhängig. Zum Beispiel verlangen Verben Komplemente in bestimmten Kasus (s. Kap. 4.6). Die Zuweisung des Genus (grammatisches Geschlecht) ist über weite Strecken willkürlich (arbiträr): so heißt es der Tisch, die Lampe, das Bett. Eine Ausnahme bilden die Personenbezeichnungen, bei denen Sexus (natürliches Geschlecht) und Genus meist übereinstimmen. Allerdings sind auch gewisse Regelmäßigkeiten zu beobachten. Diese sind teils morphologischer Art (z. B. sind substantivierte Infinitive stets neutral), teils lexikalisch-konzeptueller Art (z. B. sind Autobezeichnungen männlich, Motorradbezeichnungen weiblich, vgl. der BMW/die BMW), teils phonologi-scher Art (z.B. sind Wörter wie Flirt oder Trumpf, die mit Konsonantenclustern beginnen und enden, maskulin) (vgl. Fries 2001). Kasus, Numerus und Genus sind Merkmalklassen, die auch für die Adjektive gelten. Daher gibt es zwischen Adjektiven und Nomen in der Nominalphrase Kon- Flexion 25 gruenz hinsichtlich dieser Merkmale. Ausschließlich für die Adjektive, aber nicht für Nomen gilt dagegen die Komparation. Bei der Komparation unterscheidet man drei Stufen: Positiv, z. B. klein; Komparativ, z. B. klein+er; Superlativ, z. B. (am) klein+st(en). Auch einige Adverbien können kompariert werden {oft, öfter, am öftesten), aber dies sind Ausnahmeerscheinungen. Adjektive haben mehrere Flexionsmuster. Welches gewählt wird, hängt von der syntaktischen Umgebung ab. Wenn das Adjektiv ohne Artikel beim Nomen steht, flektiert es stark (vgl. 9a). Wenn es nach dem bestimmten Artikel steht (oder einem vergleichbaren Element), flektiert es schwach, vgl. (9b). Und wenn es nach dem unbestimmten Artikel (oder einem vergleichbaren Element, z. B. kein) steht, flektiert es gemischt, vgl. (9c). (9) a. stark: geiler Typ, geile Party, geiles Essen; geile Partys b. schwach: der geile Typ, die geile Party, das geile Essen; die geilen Partys c. gemischt: ein geiler Typ, eine geile Party, ein geiles Essen; keine geilen Partys Die Unterscheidung >stark/schwach< ist analog zu den Verhältnissen beim Nomen zu verstehen. Ein Flexionsmuster ist schwach, wenn das Flexionselement -(e)n darin häufig vorkommt, sonst stark. Aber während ein bestimmtes Nomen entweder stark oder schwach oder gemischt flektiert, können bei jedem Adjektiv - abhängig von dem syntaktischen Kontext - alle diese Formen auftreten. Artikel und Pronomen werden oft als »Begleiter und Stellvertreter des Nomens« zusammengefasst (z. B. Gallmann/Sitta 1998), obgleich sie unterschiedliche svntaktische Funktionen haben. Allerdings gibt es in diesen Bereichen eine interessante Überlappung im Lexembestand, zum Beispiel kann der sowohl Artikel als auch Pronomen (und zwar Demonstrativ- und Relativpronomen) sein, und es handelt sich immer um geschlossene Klassen von Lexemen, d. h. Neubildungen sind nicht ohne weiteres möglich. Unter Artikeln versteht man in der Regel die bestimmten und unbestimmten Artikel [der, die, das; ein, eine, ein). Manchmal werden auch noch der negierte Artikel (kein, keine, kein) und die Possessivartikel (mein, meine, mein; dein, deine, dein; sein, seine, sein) hinzugenommen (Eisenberg 20063, 175). Diese Wörter kommen in Kombination mit dem Nomen vor und stimmen mit diesem hinsichtlich Kasus, Numerus und Genus überein. Die traditionelle Bezeichnung >Geschlechts-wort< verdeutlicht eine wichtige Funktion der Artikel, nämlich das am Nomen selbst nicht markierte, >inhärente< Genus explizit zu machen, z. B. der Typ, die Party, das Essen. Pronomen gibt es als Personalpronomen (z. B. ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie), Reflexivpronomen (z. B. mich, sich), Possessivpronomen (z. B. mein, dein, sein, unser, euer, ihr), Demonstrativpronomen (z. B. der, dieser, jener), Relativpronomen (z. B. der, die, das; welcher, welche, welches; wer, was), Interrogativpronomen (z. B. wer, was; welcher, welche, welches; was (für ein)) und Indefinitpronomen (z. B. jemand, niemand, einer, keiner, alle, nichts). Viele dieser Pronomen können in Sätzen wie die Artikel in Kombination mit einem Nomen vorkommen (z.B. mein Auto, dieses Haus, welches Pferd, alle Blumen) und werden dann bei der syntaktischen Beschreibung nicht als Pronomen, sondern als Artikelwörter oder Determinierer bezeichnet (dazu genauer Dudenredaktion 20057, 255 f.). Generell gilt wiederum, dass Pronomen sich in Kasus und Numerus nach dem ersetzten Nomen richten. Die Flexionsart von Artikeln und Pronomen ist statk. Wir verdeutlichen hier noch einmal ansatzweise das 26 Lexikon und Morphologie typische Vorgehen bei der Analyse eines Flexionsparadigmas am Fall des Demonstrativpronomens dieser (vgl. Eisenberg 20063, 170 ff.). (10) Das Flexionsparadigma von dieser Sg. Mask. Sg. Fem. Sg. Neutr. PI. Mask., Fem., Neutr. Nominativ dies+er dies+e dies+es dies+e Genitiv dies+es dies+er dies+es dies+er Dativ dies+em dies+er dies+em dies+en Akkusativ dies+en dies+e dies+es dies+e Bei dieser Darstellung zu erkennen, ob hier bestimmte Markiertheitsverhältnisse vorliegen, ist nicht einfach. Wir ordnen daher die Merkmale nach Möglichkeit so um, dass gleiche Formen zusammenstehen: (11) Das Flexionsparadigma von dieser mit Synkretismusfeldern Sg. Mask. Sg. Neutr. Sg. Fem. PI. Mask., Fem., Neutr. Nominativ er es e e Akkusativ en es e e Genitiv es es er er Dativ em em er en In dieser Tabelle stehen gleiche Flexionselemente in farblich gegeneinander abgehobenen Feldern zusammen. Solche Felder nennt man Synkretismusfelder;, als Synkretismus (Formenzusammenfall) bezeichnet man den Umstand, dass eine Form verschiedene Merkmale kodiert (s. Dudenredaktion 19957, 439). Nun kann man die Verhältnisse etwas leichter interpretieren. Wir sehen zum Beispiel, dass es einen Block gibt, der aus Sg. Mask. Gen. und Sg. Neutr. Nom., Akk. und Gen. besteht, und einen anderen Block, der Sg. Fem. Nom. und Akk. sowie die zugehörigen Pluralformen umfasst. Von solchen Beobachtungen ausgehend, kann man nun Hypothesen über die Markiertheitsverhältnisse bilden (vgl. Eisenberg 2006J, 172 ff.). Wir haben in diesem Abschnitt gesehen, dass es Kongruenz in der Nominalphrase gibt und dass eine Aufgabe der Flexionselemente ist, diese Kongruenz anzuzeigen. Eine weitere wichtige Kongruenzbeziehung liegt zwischen Nomen und fini-tem Verb vor. Zum Beispiel besteht eine Übereinstimmung hinsichtlich der grammatischen Merkmale Person und Numerus in dem folgenden einfachen Satz, der nur aus Pronomen und finitem Verb besteht: (12) sie schläf+t [3. Ps.j [3. Ps] [Sg.] [Sg.] I_I Flexion 27 2.2.3 Zur Flexion des Verbs Die Flexion des Verbs nennt man auch Konjugation. Die folgenden Merkmalklassen od für das finite Verb relevant: finites Verb 2. 3. Sg. PI. Ind. Konj. Imp. Präs. Prät. Pf. Pqpf. Fut.1 Fut. 2 Aktiv Passiv E n Verb ist finit, wenn es nach Person, Numerus, Modus und hinsichtlich des Tem-p as Präsens oder Präteritum flektiert ist. Nur Präsensformen und Präteritumformen d dämlich als Ganzes flektiert. Zu den infiniten Verbformen rechnet man im All-l mc inen den Infinitiv, das Partizip I (z. B. sehend) und das Partizip II (z. B. gesehen). : ter kann man zwischen Präsens Aktiv (sehen) und Perfekt Aktiv (gesehen haben) i Präsens Passiv (gesehen werden) und Perfekt Passiv (gesehen worden sein) Trrscheiden. Ferner muss man zwischen dem reinen Infinitiv (sehen) und dem zu-tiv (etwa in der Unterschied ist schwer zu sehen) differenzieren. Präsens und Präteritum sind einfache Verbformen, weil sie nur aus einer Wort-■ rm bestehen. Anders das Perfekt (habe gesehen), das Plusquamperfekt (hatte gese-. das Futur (werde sehen) und das Passiv (werde gesehen): Diese Formen beste-mmer aus zwei Elementen und werden deshalb mehrteilige (komplexe) Verbfor-: genannt (Dudenredaktion 19957, 437). Was genau zu den infiniten Formen gerechnet werden soll, ist umstritten. So . inet zum Beispiel Eisenberg (20063,199) das Partizip I nicht zu den infiniten Verb--Der wesentliche Grund dafür ist, dass es - im Gegensatz zum Partizip II -±t in analytischen Verbformen vorkommt. Für ihn ist es daher nichts anderes als ein - :::v, das von einem Verb abgeleitet wurde. Dagegen wird der Imperativ bei Eisen-2 20063, 202) nicht wie sonst üblich als Modus des finiten Verbs betrachtet, son-ds infinite Form. Eisenberg nimmt nur zwei Formen des Imperativs an, nämlich : die man gewöhnlich als 2. Ps. Sg. (nimm!) und 2. Ps. PI. (nehmü) bezeichnet. Da es : - an Imperativformen nicht gebe, könne man gar nicht davon ausgehen, dass der : rativ nach Person markiert sei; er habe nur Adressatenbezug und sei daher infinit. . bt in diesem Ansatz aber nicht nur offen, wie die Reflexivierung in Fällen wie 1 michIdichI* sich! erklärt werden soll, auch die Einordnung des sog. Adhorta-Ďn Gehen wir'.) und des Sie-Imperativs (Gehen Sie!) bleibt unklar (vgl. Donhauser ?86). Daher rechnen wir den Imperativmodus zu den Modi des finiten Verbs. Während der Imperativmodus einen bestimmten Satztyp, nämlich den Impe-satz, eindeutig markiert, ist dies bei den verbalen Modi Indikativ und Konjunk-rucht der Fall. Ihre Aufgabe ist es, die Faktizität oder Irrealität von Sachverhalten markieren (vgl. Zifonun et al. 1997, 1722 ff., Eisenberg 1999, 114 ff.). Im Bereich der Tempusformen muss man zwischen den Formen des Präsens und Präteritums und den verbalen Konstruktionen des Perfekts, des Plusquamperfekts sowie des Futurs I und II unterscheiden. Es gibt hier einerseits die Formen, die ■ dem Hilfsverb werden + Infinitiv gebildet werden (ich werde schlafen, ich werde . ilafen haben) und anderseits diejenigen, die mit einer Form des Präsens oder 28 Lexikon und Morphologie Präteritums von haben oder sein + Partizip II gebildet werden. Ferner ist zwischen starken und schwachen Verben zu unterscheiden (vgl. Zifonun et al. 1997, 1684 ff., Eisenberg 1999, 103 ff.). Starke Verben sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Präteritum oder Perfekt einen anderen Vokal (Ablaut) aufweisen als im Präsens. Zum Beispiel heißt es sie trifft, sie traf, sie hat getroffen. Die schwachen Verben weisen oft keinen Vokalwechsel auf und bilden ihre Formen immer mit dem Element -t wie in sie spielt, sie spielte, sie hat gespielt. Man kann die schwachen Verben heute als den unmarkierten Fall betrachten. Dies sieht man vielleicht am deutlichsten an solchen Verben, die aus anderen Sprachen entlehnt werden: diese flektieren immer schwach {sie zappt, sie zappte, sie hat gezappt). Außerdem bilden die starken Verben einen tradierten, kaum mehr erweiterbaren Bestand. Das Passiv wird mit einer Form des Hilfsverbs werden und dem Partizip II gebildet. Es ist syntaktisch und semantisch auf das Aktiv bezogen. Vergleicht man den aktivischen Satz Die Handwerker renovieren das Haus mit dem passivischen Das Haus wird (von den Handwerkern) renoviert, so fällt auf, dass das Subjekt des Aktivsatzes im Passivsatz zu einer (weglassbaren) Präpositionalphrase wird, während das Akkusativobjekt des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes wird (vgl. Zifonun et al. 1997, 1788 ff., Eisenberg 20063, 124 ff.). Die verbalen Merkmalklassen haben verschiedene Aufgaben. Numerus und Person dienen der Markierung von Kongruenz mit dem Subjekt. Modus und Tempus sind dagegen Merkmalklassen, die spezifisch für das Verb sind und bestimmte semantische Eigenschaften ausdrücken. Das Genus verbi betrifft zwei mögliche Perspektiven auf einen Sachverhalt. Man sieht daran, dass die Merkmalklassen komplexe syntaktische und semantische Eigenschaften haben. Dies sieht man auch bei dem Versuch, Markiertheitsverhältnisse aufzudecken. So erläutert Eisenberg (20063, 154 f.) das Präteritum von rufen unter Bezugnahme auf Größen wie >Adressierung< und >Schwere<: (14) Das Präteritum von rufen Singular Plural 1. Person rief rief+en 2. Person rief+st rief+t 3. Person rief rief+en Führt man nun die Unterscheidung zwischen Adressat und Nicht-Adressat ein, ergibt sich die folgende Gliederung, in der keine Synkretismen mehr vorliegen: (15) Das Präteritum von rufen (Darstellung ohne Synkretismen) Singular Plural Nicht-Adressat en Adressat st t Man kann daraus zum Beispiel schließen, dass die Adressatformen der 2. Person gegenüber dem Rest besonders markiert sind. Umgekehrt kann man argumentieren, dass die Form für Nicht-Adressat und Singular, nämlich rief, insofern >leicht< ist, als sie über keine zusätzliche flexivische Markierung verfügt. Grundlagen der Wortbildung 29 Aufgabe 2: Wie vollständig ist das Imperativparadigma? Konsultieren Sie mehrere deutsche Grammatiken und vergleichen Sie die dort vertretenen Auffassungen. Sammeln Sie die Argumente pro und contra Vollständigkeit und ermitteln Sie die Synkretismen mit dem Indikativ und Konjunktiv des Präsens. 2.3 Grundlagen der Wortbildung 2.3.1 Morphologische Grundbegriffe Der wichtigste morphologische Grundbegriff ist der des Morphems. Unter einem Morphem versteht man im Allgemeinen ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden Kann. In diesem Sinne sind Wörter wie Haus, rot, auf Morpheme. Morpheme darf man nicht mit Silben verwechseln. Silben haben keine eigene Bedeutung. Teilt man das Wort Lehrer in Morpheme ein, also Lehr+er, so haben beide Bestandteile eine eigene Bedeutung. Teilt man das Wort in Silben ein, also Leh+rer, so ist dies nicht der Fall. Silben werden in der Phonologie (s. Kap. 3) untersucht. Allerdings gibt es einige Elemente, die man gerne als Morpheme klassifizieren würde, obgleich sie keine eigene Bedeutung haben. Dies gilt für das Infinitivmor-rhem -en, aber auch für die Wörter es und zu in bestimmten syntaktischen Konstruktionen, wie zum Beispiel Es ritten drei Reiter zum Tor hinaus oder Lisa ist schwer zu besiegen. Man könnte die Definition aber prinzipiell so erweitern, dass sie auch diese Fälle abdeckt: etwa indem man sagt, dass Morpheme diejenigen einfachen sprachlichen Zeichen sind, die eine bestimmte Lautung und mindestens eine iußerphonologische (d. h. semantische, syntaktische ...) Eigenschaft aufweisen. Wir haben bisher einfache Wörter wie Haus, rot, auf als Morpheme bezeich-oet. Diese Elemente nennt man auch Wurzeln. Wurzeln sind die unverzichtbaren lexikalischen Kerne von Wörtern. Wörter müssen mindestens ein Wurzelmorphem enthalten. In der Regel kommen Wurzeln frei vor. Dagegen kommen Flexionsele-ente, die ja ebenfalls Morpheme im Sinne unserer Definition sind, niemals frei vor, sie sind gebunden. Gebundene Morpheme werden Affixe genannt. Affixe gibt es in zweierlei Form: Als Präfixe, dann stehen sie vor der Wurzel, oder als Suffixe, dann stehen sie hinter der Wurzel. Da sich im Deutschen die Flexionselemente immer hinten im Wort befinden, handelt es sich also um Suffixe. Flexionspräfixe gibt es im Deutschen nicht. Ein Element wie -er in Lehrer ist nun keine Wurzel, weil es in dieser Bedeutung nicht frei vorkommt. Es handelt sich auch nicht um ein Flexionselement, tritt aber -inten an die verbale Wurzel lehr an, ist also ein Suffix. Solche Elemente wie -er in Lehrer nennen wir Derivationssuffixe. Die Derivation ist neben der Komposition wie in den Fällen wie Haus+tür und Elch+test) ein wichtiger Wortbildungsprozess. Außer Derivationssuffixen gibt es auch Derivationspräfixe, z. B. das Präfix un- im Wort unschön. 30 Lexikon und Morphologie Wir können die erläuterten Begriffsunterscheidungen übersichtlich in der folgenden Abbildung festhalten: i 16) Morphem Derivationsaffix Flexionsaffix Die folgende Tabelle gibt die heimischen (nativen) und fremdsprachigen (nicht-nati-ven) Derivationsptäfixe und -suffixe nach Fleischer/Barz (1995, 36 f.) wieder. In jeder Rubrik wird jeweils ein typisches Affix fett hervorgehoben, das man sich als Beispiel für die Rubrik merken kann: (17) Affixe im Deutschen (Fleischer/Barz 1995) Präfixe Suffixe Nativ Nicht-nativ Nativ Nicht-nativ Nomen erz-, ge-, haupt-, miss-, un-, ur- a-/an-, anti-, de-/ des-, dis-, ex-, hyper-, in-, inter-, ko-/kon-/kol-, kom-, non-, prä-, pro-, re-, super-, trans-, ultra- -bold, -chen, -de, -e, -(er/el)ei, -el, -er, -heit/ -keit/-igkeit, -icht, -ian/jan, -i, -in, -lein, -1er, -ling, -ner, -nis, -rich, -s, -sal, -schaff, -sei, -t, -tel, -tum, -ung, -werk, -wesen -ament/-ement, -ant/-ent, -anz/-enz, -age, -ar/-är, -arium, -at, -aille, -ade, -asmus/-ismus, -ee, -esse, -eile, -ette, -(er)ie, -eur, -iere, -ier, -ik, -iker, -ine, -(at/t/x)ion, -ist, -(i)tät, -(at/it)or, -ose, -ur Adjektiv erz-, miss-, un-, ur- a-/an-, anti-, de-/ des-/dis-, ex-, hyper-, in-/il-/ im-/ir-, inter-, ko-/kon-/kor-, non-, para-, post-, prä-, pro-, super-, trans-, ultra- -bar, -e(r)n, -er, -fach, -haft, -icht, -ig, -isch, -lieh, -los, -mäßig, -sam -abel/-ibel, -al/-ell, -ant/ -ent, -ar/-är, -esk, -iv, -oid, -os/-ös Verb ab-, an-, auf-, aus-, be-, bei-, dar-, ein-, ent-, er-, ge-, los-, miss-, nach-, ob-, über-, um-, unter-, ver-, vor-, wider-, zer-, zu- de-/des-/dis-, in-, inter-, ko-/kom7 kon-/kor-/kol-, prä-, re-, trans- -ig, -(is/ifiz)ier, -(e)l, -(e)r Adverb -dings, -ens, -halben/ -halber, -hin, -lei, -lings, -mals, -maßen, -s, -wärts, -weg, -weise Grundlagen der Wortbildung 31 Die Klassifikation einzelner Elemente ist durchaus umstritten: Zum Beispiel ist un-klar, ob die Elemente -wesen und -werk wirklich Suffixe sind, oder ob -(isfifiz)ier nicht als nicht-natives Suffix gelten muss. Man sieht anhand dieser Tabelle schon einen wichtigen Unterschied zwischen I räftxen und Suffixen. Während Präfixe oft >polygam< sind hinsichtlich der Wortart der Wurzel, vor die sie treten (vgl. erz- (N, A), miss- (N, A, V), un- (N, A)), sind - jffixe tendenziell >monogam<, d. h. sie sind auf genau eine Wortart der Wurzel spe- siert (vgl. -ung (V), -bar (V)). Außerdem ist es so, dass Präfixe die Wortart der Wurzel intakt lassen; so ist :: ein Adjektiv und unschön auch. Suffixe dagegen verändern sehr oft die Wortart ihrer Wurzel; zum Beispiel wird aus dem Verb leit- durch die Hinzufügung des es -ung das Nomen Leitung und aus dem Verb wasch- durch Hinzufügung des - uffixes -bar das Adjektiv waschbar. Neben dem Begriff der Wurzel verwendet man noch den Begriff des Stamms, einem Stamm versteht man ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion, : - bzw. an die Flexionsmorpheme treten können (Fleischer/Barz 1995, 25). In . -Tin Sinne sind die Morpheme und Morphemkonstruktionen in (18) Stämme: a. schön: Stamm = Wurzel b. un+schön: Stamm mit der Wurzel schön c. schön+geist+ig: Stamm mit den Wurzeln schön und geist * 3 fallen Wurzel und Stamm zusammen, denn schön ist ein flektierbares Ele-—.er.t. In (18b) ist unschön das flektierbare Element. Es enthält als Wurzel schön. In ic ist schöngeistig das flektierbare Element; es enthält die beiden Wurzeln schön ist. Wenn es nicht darauf ankommt, ob etwas ein Stamm oder eine Wurzel ist, : it man auch einfach von der Basis einer Affigierung. Darüber hinaus benötigen wir noch den Begriff des Konfixes. a. Fanat+iker, Fanat+ismus, fanat+isch, fanat+isier+en; a'Fanat >. bio-, geo-, stief-, schwieger-... -nom, -löge, -thek, ... . diese Elemente sind zweifellos Bestandteile von Wortbildungen. Sie kommen . ::erseits nicht frei vor, sind also keine typischen Wurzeln, anderseits sind sie : - rfixe. Dagegen spricht vor allem, dass sich Affixe nie miteinander zu einem - -.-rindigen Wort kombinieren lassen, während wir Kombinationen von Konfi-iurchaus vorfinden, z.B. Mikro+phon, Sozio+loge, homo+gen. Auch haben ■ \e meist eine noch stärker zutage tretende lexikalische Grundbedeutung als : Außerdem sind Affixe entweder Präfixe oder Suftixe, während einige Konfi-_ phil durchaus in erster oder zweiter Position eines Wortes auftreten können - lellene, homo+phil), also nicht so starken Positionsbeschränkungen unterlie- - s. Kap. 2.5.3). Von unikalen Morphemen wie Him(+beere), Brom(+beere), Schorn(+stein), sassa sind die Konfixe darin unterschieden, dass unikale Morpheme ganz :hren Wortkontext gebunden sind, während Konfixe auch in mehreren Um-gen auftreten können (z. B. Schwiegermutter, Schwiegersohn ...). -: lließlich wollen wir noch die Morphemvarianten nennen (vgl. Fleischer/Barz BWS, 30): 32 Lexikon und Morphologie (20) a. Schule, schul+isch; Auge, Äug+lein, Aug+apfel b. Dorf, dörf+lich; Band, bind+en c. il+legitim, im+potent, in+kompetent, ir+regulär Schule und schul sind Morphemvarianten, wobei die Variante schul durch Phonemtilgung zustande kommt. Entsprechend sind auge, aug, äug Morphemvarianten, wobei in auglauge vs. äug noch zusätzlich eine Vokalalternation vorliegt. Eine Vokalalternation liegt auch in (20b) vor. In (20c) haben wir ein Beispiel für Präfixvarianten. Morphemvariation ist nicht auf die Wortbildung beschränkt. So werden die Flexionselemente -e, -er -en, -n, -s, die alle den Nominativ Plural kodieren, als Varianten eines abstrakten Pluralmorphems betrachtet. In Analogie zur Allophon-Phonem-Unterschei-dung in der Phonologie spricht man hier auch von Allomorphie (s. Kap. 3.3.2). Fugenelemente sind vor allem bei Nominalkomposita auftretende Verbindungselemente, die keine Bedeutung tragen (s. Kap. 2.5.3): (21) Kind+er+garten, Staat+s+feind, Pferd+e+wagen, Herz+ens+wunsch, Fleisch+es+lust, Blume+n+vase, Held+en+mut Als Zirkumfixe bezeichnet man die diskontinuierlichen Morphemkombinationenge...t bei schwachen Verben und ge...en bei starken Verben (z. B. gespielt, gelaufen). Diese dienen der Bildung von Partizipien. Hinzu kommt das Zirkumfix Ge...e in Bildungen wie Gerenne. Aufgabe 3: Zerlegen Sie die im folgenden Text unterstrichenen Wörter in Morpheme. Klassifizieren Sie alle Morpheme nach ihrem Status als Wurzel oder Affix und bestimmen Sie die Wortart der Wurzel. Fassen Sie Ihre Analyse in einer Tabelle zusammen. Mir vergeht bisweilen die Freude am Spiel; ständig wird man gegängelt. In Bremen sind die Promi-Logen direkt hinter dem Fanblock. Von Vereinsseite wurden wir jetzt aufgefordert, nicht mehr mit den Groß-Fahnen und Schals zu schwenken, damit die Logenbesucher besser sehen können. In Frankfurt wurden uns vor dem Stadion Fahnen verkauft, die uns drinnen wieder abgenommen wurden. Im UEFA-Cup spielt der SV Werder wegen des Fernsehens manchmal schon um 16 Uhr. In der Champions League standen mit Bayern und Manchester zwei Landes-Vizemeister im Finale, und gegen die Versitzplatzung des Weserstadions mussten wir erst auf die Barrikaden gehen. So geht der Fußball vor die Hunde. 2.3.2 Typen der Wortbildung Die wichtigsten Typen der Wortbildung im Deutschen sind die Komposition und die (explizite) Derivation. Unter einer Komposition versteht man die Bildung eines Wortes aus zwei (oder mehreren) vorhandenen Wörtern (s. Kap. 2.5): (22) a. Spiel+automat, tief+blau, schwing+schleif+en b. Donau+dampf+schiff+fahrts+kapitäns+dienst+handy, Steuer+erhöhungs+beschluss+vorlagen+sitzungs+protokoll Komposita können im Deutschen recht komplex sein, wie (22b) veranschaulicht. Unter der (expliziten) Derivation versteht man die Bildung eines Wortes aus einem vorhandenen Wort und einem Derivationsaffix (s. Kap. 2.6): Grundlagen der Wortbildung 33 A •:-phff, wtt+gut, foe+wirk+en - I am+er, lieb+lich, marscfi+;er+en ■ ann es sich um Präfigierungen oder Suffigierungen handeln, vgl. (23a) mit Ein dritter wichtiger Wortbildungstyp ist die Konversion (s. Kap. 2.7): i V-*N schau+en -» Schau, lauf+en -» Lauf 3 N-»V Fisch -» fisch+en, Nerv -» nerv+en :. A—»V blau -» bläu+en, link -» link+en :..r der Konversion, bei denen Vokalwechsel vorliegt (>Stammalternation<), wie z. B. -» YT;///oder entziehen -* Entzug, werden bei Fleischer/Barz (1995, 51 ff.) - riizite Derivation bezeichnet. Komposition, Derivation und Konversion gelten als die Haupttypen der deut-Wortbildung. Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer Typen, nämlich _ z Kontamination (Wortkreuzung, Kofferwort)(25), die Kürzung (26), die Abkür-2~ und das Akronym (Initialwort)(28). Bürotel (Büro+Hotel), Ossimilierung (Ossi+Assimilierung), mainzigartig Mainz+einzigartig), verschlimmbessern (verschlimmern+verbessern), jein (ja+nein) 1- Uni (Universität), Bus (Omnibus), [ich bekomme drei] Mohn (Mohnbrötchen) '_' VW iVolkswagen(werk)), AKW (Atomkraftwerk), OB (Oberbürgermeister, ohne Befund...), Spvgg (Spielvereinigung) DIN (Deutsche Industrienorm), AIDS (acquired immunity deficiency Syndrom), Gröschaz Größter Schuldenmacher aller Zeiten), Bafög (Bundesausbildungsförderungsgesetz) ; der Kontamination werden zwei Wörter so verschmolzen, dass Wortmaterial aus den Originalwörtern gelöscht wird. Bei der Kürzung wird Wortmaterial am Ende der am Anfang der Originalwörter getilgt. Hier kommt der Fall vor, dass aus einem .< :mplexen Wort ein einfaches Wort (mit der gleichen Bedeutung) wird. Der Unter- : iied zwischen der Abkürzung und dem Akronym besteht darin, dass Abkürzungen wie eine Folge von Lauten, die den Buchstabennamen entsprechen, ausgesprochen vrrden (z. B. [eide'fau] für EDV), während sich bei den Akronymen ein neues phonetisches Wort ergibt (z. B. [!ba:fcek] für Bafög). Möglicherweise muss über diese Wortbildungstypen hinaus noch ein weiterer Typ angenommen werden, nämlich die Rückbildung. Auch hier handelt es sich um einen Prozess der Verkürzung: 29 uraufführen (verkettende< (konka-tenative) Wortbildung) sinnvoll. Bei der Konversion scheint es sich dagegen um ei- 34 Lexikon und Morphologie nen bloßen Kategorienwechsel oder eine Umkategorisierung zu handeln; der Komplexitätsgrad wird nicht erhöht. Bei der Kürzung tritt sogar eine Komplexitätsreduktion ein. Was aber bei der Wortbildung auf jeden Fall passieren muss, ist eine Veränderung eines schon vorhandenen Wortes, sei es durch Hinzufügung eines anderen Wortes, eines Affixes, durch Kategorienwechsel oder durch Kürzung. Ist diese Veränderung erfolgt, liegt ein sekundäres Wort vor (ob dieses nun einfach oder komplex ist). Wir können also festhalten: Gegenstand der Wortbildungstheorie sind sekundäre Wörter, seien diese nun usuelle Bildungen oder Neubildungen. Aufgabe 4: Um welchen Wortbildungstyp handelt es sich bei den im folgenden Text unterstrichenen Wörtern? Mir vergeht bisweilen die Freude am Spiel: ständig wird man gegängelt. In Bremen sind die Promi-Logen direkt hinter dem Fanblock. Von Vereinsseite wurden wir jetzt aufgefordert, nicht mehr mit den Groß-Fahnen und Schals zu schwenken, damit die Logenbesucher besser sehen können. In Frankfurt wurden uns vor dem Stadion Fahnen verkauft, die uns drinnen wieder abgenommen wurden. Im UEFA-Cup spielt der SV Werder wegen des Fernsehens manchmal schon um 16 Uhr. In der Champions League standen mit Bayern und Manchester zwei Landes-Vizemeister im Finale, und gegen die Versitzplatzung des Weserstadions mussten wir erst auf die Barrikaden gehen. So geht der Fußball vor die Hunde. 2.3.3 Wortstruktur Komplexe Wörter haben eine Struktur. Betrachten wir als Beispiel die Derivation Kindlichkeit. Wir können dieses komplexe Wort in die Morpheme kind, lieh und keit zerlegen. (30) kind+lich+keit Dabei ist kind eine Wurzel mit der Wortart Nomen, -lieh ist ein Suffix und -keit ist auch ein Suffix. (31) kindNomen, lichSufflx, keitSufflx Erstens kann man beobachten, dass diese Elemente nur in dieser Reihenfolge auftreten können. Das sieht man sehr deutlich, wenn man die anderen möglichen Reihenfolgen ausprobiert: (32) *kind+keit+lich; *keit+kind+lich; *lich+kind+keit; *keit+lich+kind; *lich+keit+kind (Der Stern steht als Zeichen für nicht wohlgeformte Strukturen.) Zweitens sehen wir, dass bestimmte Elemente enger zusammengehören als andere. So gehören kind und -lieh zusammen, weil sie ein Adjektiv ergeben, während -lieh und -keit gar nichts ergeben. Wir können Zusammengehörigkeit durch Klammerung ausdrücken: (33) [kind+lich]+keit; *kind+[Iich+keit] Nun haben wir die Möglichkeit, die Struktur des Wortes Kindlichkeit, die sich in der Abfolge und Zusammengehörigkeit von morphologischen Baueinheiten zeigt, in einem Baumdiagramm wiederzugeben. Grundlagen der Wortbildung 35 N A Sx N Sx kind lieh keit t haben in diesem Strukturdiagramm Folgendes ausgedrückt: Das Nomen (N) d rrgibt zusammen mit dem Suffix -lieh (Sx) das Adjektiv (A) kindlich. Durch Hinzufügung des Suffixes -keit (Sx) entsteht das Nomen (N) Kindlichkeit. Mithilfe von Strukturdiagrammen kann man die Doppeldeutigkeit (Ambigui-von Wortbildungen erfassen. Ein typischer Fall ist das Kompositum Mädchen - : iels+schule. Man kann darunter einerseits eine >Schule für Mädchenhandels i e rseits eine Handelsschule für Mädchen< verstehen. Dieser Bedeutungsunterschied i in den passenden Strukturdiagrammen wiedergegeben (man beachte dazu auch .irr. Betonungsunterschied, vgl. Kap. 3.4.3.2): Mädchen handels schule Mädchen handels schule E - ist üblich, über Strukturdiagramme in folgender Weise zu reden. In einer Konfiguration C A B sind die Knoten A und B Schwestern voneinander und Knoten C ist ihre Mutter. C dominiert über A und B (Dominanz), während Knoten A dem Knoten B vorausgeht Präzedenz). Die strukturellen Baueinheiten A und B nennt man auch Konstituenten von C. Würde A sich in weitere Bestandteile D und E zergliedern, dann würde man D und E mittelbare Konstituenten von C nennen, und A eine unmittelbare Konstituente von C. In den Strukturdiagrammen (35) und (36) haben wir keinen Knoten für das Fugenelement s angegeben. Es ist sinnvoll, es an die jeweils vorausgehende Konstituente zu hängen. Dies ist in (35) die unmittelbare Konstituente Mädchenhandel und in (36) die mittelbare Konstituente handel. In (38) wird das Strukturdiagramm für Handelsschule wiedergegeben: 36 Lexikon und Morphologie (38) N N N N Fu Handel s schule Legitimiert wird diese Vorgehensweise durch die Annahme, dass die Wahl des Fugenelements durch die vorangehende Konstituente bestimmt wird. Es hat keinen Sinn, in einer Konfiguration wie (38) eine Konstituente s+schule anzunehmen (s. Kap. 2.5.2). Wenn man von Komposition oder Derivation spricht, meint man immer den Wortbildungstyp, der sich bei der Zerlegung in unmittelbare Konstituenten ergibt. Zum Beispiel ist [Lehr+er]+[mangel] ein Kompositum, das die Derivation Lehr+er enthält. Und be+weib+räuch(+ern) ist eine Präfigierung, die das Kompositum Weih+rauch enthält. In einer Struktur wie in (38) haben wir eine binäre Verzweigung. Obwohl einiges dafür spricht, dass Wortbildungen binär sind, ist z. B. eine ternäre Verzweigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Manchmal gibt es sogar gute Gründe dafür, eine ternäre Verzweigung anzunehmen, z. B. in Fällen wie Ge+renn+e (vgl. Olsen 1990c). Es ist klar, dass nicht verkettende Wortbildungstypen wie etwa die Konversion mit einem Baumdiagramm nicht gut darstellbar sind. Konversionen scheinen nicht strukturell komplex zu sein. Man kann sich zwar damit behelfen, die Darstellungsform unter (39) zu wählen, aber diese besagt nur, dass sich ein Verb in ein Nomen verwandelt und ein Nomen in ein Verb. (39) N V Über die Natur dieses Wortbildungsvorgangs erfahren wir dabei nichts, allenfalls erfahren wir etwas über die Richtung der Konversion. In Kapitel 2.7 kommen wir auf das Problem zurück. Aufgabe 5: Fertigen Sie Baumdiagramme für die folgenden Wortbildungen an. Informieren Sie sich über die vorkommenden Affixe und Bildungstypen in Flei-scher/Barz (1995). Frauenkrimipreis, Wissenschaftlerfernverschickung, Versitzplatzung, Eiercreme-schnittchen, Uneinheitlichkeit, Eierschalensollbruchstellenverursacher V N Schau nerv- Grundlagen der Wortbildung 37 2.3.4 Wortbildungsregeln An Strukturdiagrammen kann man Regeln der Wortbildung ablesen. Solche Regeln sind z. B. 40) N -> N+N Handels+schule Der Pfeil in dieser Regel ist als >besteht aus< oder >expandiert zu< zu lesen. Nach dem Muster solcher Regeln können viele weitere Bildungen erzeugt werden. In Bezug auf die Regel N -» N+N wären das zum Beispiel Kampf+hund, Wesens+test, Elch+test, Ozon+loch, Steuer+reform, usw. Für N muss man also immer ein Nomen einsetzen. Kann man mit dieser Regel auch komplexe Nomen wie z. B. Kampfhundwesenstest bilden? Das kann man in der Tat. Man muss dazu nur die Regel auf sich selbst anwenden. Dann hat man eine rekursive Struktur. 41l Kampf hund wesen(s) fest In diesem Fall wird die Regel auf beide unmittelbare Konstituenten angewendet. Es ist iber auch möglich, sie nur auf eine der beiden unmittelbaren Konstituenten anzuwenden, wie wir im Fall von Mädchen+handelsschule (rechte unmittelbare Konstituente) und Mädchenhandels+scbule (linke unmittelbare Konstituente) bereits gesehen haben. Für die Anwendbarkeit einer rekursiven Regel wie in (40) gibt es nur eine psychische, mit unserem Fassungsvermögen zusammenhängende Grenze. Im Deutschen gibt es ja auch sehr komplexe mögliche N+N-Komposita wie unter (42): -2 Krankenkassenkostendämpfungsgesetzbeschlussvorlagenberatungsprotokollüberprü-fungsausschussvorsitzende Diese Bildung ist vollkommen korrekt und in einem sehr speziellen Kontext auch durchaus sinnvoll. Dass man sie nicht verwenden würde, liegt daran, dass sie nur sehr schwer zu verarbeiten ist. Die Regel (40) beschreibt einen Spezialfall der Nominalkomposition, nämlich die N+N-Komposition. Wir können nun ausprobieren, welche anderen Nominalkomposita es gibt. Dazu ersetzen wir das erste N nach dem Pfeil durch eine andere Wortart: -3 NT -» N+N (Computer+tisch) N -» A+N (Rot+licht) N -» V+N (Dreh+griff) N -» P+N (Auf+wind) Dies funktioniert für die Hauptwortarten ganz gut. Für Konjunktionen oder Modalpartikeln funktioniert es aber zum Beispiel nicht, weil es keine Komposita gibt, die z. B. aus Konjunktion oder Modalpartikel plus Nomen bestehen. 38 Lexikon und Morphologie Die Voraussetzung dafür, dass die gesamte Bildung ein N ist, ist, dass das rechte Element ein N ist. Wäre das linke Element ein N und nur das rechte ein A, wie in metallblau, hätten wir ein Adjektiv, kein Nomen. Man nennt daher das rechte Element den Kopf der Wortbildung. Der Kopf bestimmt die Wortart (Kategorie) der Gesamtbildung. Damit ist auch eine wichtige semantische Eigenschaft verbunden, die traditionell in dem Begriff Determinativkompositum zum Ausdruck kommt. Ein Computertisch ist eine Art von Tisch, ein Tischcomputer eine Art von Computer. Die Bedeutung des rechten Elements wird also durch die Bedeutung des linken Elements determiniert (oder modifiziert, wie man auch sagen könnte). Nicht alle Komposita sind Determinativkomposita, wie man an den Kopulativkomposita wie Spieler-Trainer oder süßsauer sieht: hier sind Erstglied und Zweitglied semantisch nebengeordnet (vgl. Olsen 2001). 2.3.5 Der Kopfbegriff in der Wortbildung Vom semantischen Kopfbegriff ist der morphologische Kopfbegriff zu unterscheiden. Eine wichtige Eigenschaft des Kopfs haben wir am Beispiel der Nominalkomposition schon kennen gelernt: Der Kopf bestimmt die Kategorie einer Wortbildung. Wir können nun fragen, was der Kopf einer Derivation ist. Da viele Suffixe die Kategorie der Wurzel, an die sie treten, verändern, liegt es nahe, in diesen Fällen das Suffix als Kopf zu betrachten. (44) a. Zieh+ung, Eitel+keit, mach+bar b. Lehr+er, Fleisch+er c. Wissenschaft+ler, Brief+chen, Lehr+er+in Das -ung-Suiiix macht aus einem Verb ein Nomen, das -keit-Suffix macht aus einem Adjektiv ein Nomen, das -bar-Suiiix macht aus einem Verb ein Adjektiv, vgl. (44a). Manche Suffixe verhalten sich aber nicht der Erwartung entsprechend: Das -er-Suf-fix macht zwar in einem Fall wie Lebr+er aus einem Verb ein Nomen, aber in Fleisch+er kann man ihm solch eine Wirkung nicht zusprechen, weil Fleisch schon ein Nomen ist, vgl. (44b). Genauso verhält es sich mit dem -/er-Suffix, dem -cben-Suffix und dem -/«-Suffix in (44c). Müssen wir also den Kopfbegriff aufgeben? Das müssen wir nicht. Die Suffixe bewirken noch etwas anderes, nämlich die Veränderung des Genus: (45) das Fleisch der Fleischer die Wissenschaft der Wissenschaftler der Brief das Briefchen der Lehrer die Lehrerin Wenn also nicht die Kategorie der Wurzel verändert wird, dann wird doch mindestens ihr Genus verändert. Darüber hinaus bestimmt der Kopf auch die Flexionseigenschaften: (46) der Brief die Brief+e der Liebesbrief die Liebesbrief+e das Briefchen die Briefchen Der Plural des Kompositums Liebesbrieffolgt dem Plural des Wortes Brief, der auf -e lautet. Grundlagen der Wortbildung 39 Beim Plural der Derivation Briefchen wird jedoch kein -e angehängt, sondern gar nichts. Es handelt sich um einen Nullplural. Wir können also festhalten, dass der Kopf die Flexionsklasse einer Wortbildung bestimmt. Präfixe können im Allgemeinen nicht als Köpfe von Wortbildungen betrachtet werden. Sie verändern nicht die Kategorie der Wurzel und bestimmen nicht das Genus und die Flexionsklasse. Zum Beispiel wird in Ur+wald die Kategorie, das Genus und die Flexionsklasse durch das rechte Element wald bestimmt. Es sieht daher so aus, als liege der Kopf immer rechts. Tatsächlich hat man diese Verallgemeinerung als Kopf-rechts-Prinzip formuliert: In komplexen Wortbildungen ist das rechte Element der Kopf. Es scheint im Deutschen nur zwei wirkliche Problem-rälle für das Kopf-rechts-Prinzip zu geben (zu Pseudo-Problemfällen vgl. Olsen 1990a). Dies sind einerseits Fälle wie Ge+renn+e, Ge+heul+(e), Ge+zank+e, bei denen der Träger der Wortartfixierung nur das Präfix Ge- bzw. das Zirkumfix Ge...e sein kann (vgl. dazu Olsen 1990c). Anderseits sind es Fälle wie ver+holz+en, ver+jüng+en, be+freund+en, be+ruhig+en, bei denen es auf den ersten Blick die verbalen Präfixe ver-und be- sein müssen, die der Kopf sind, da ja die Nomen Holz und Freund sowie die Adjektive jung und ruhig dafür nicht in Frage kommen (vgl. Olsen 1990b). Wir können zusammenfassen: Der Kopf ist das rechte Element einer Wortbildung. Er bestimmt die Kategorie, das Genus und die Flexionsklasse der Wortbildung. 2.3.6 Analogiebildung Wortbildungsregeln haben einen analytischen Aspekt und einen synthetischen As-r\?kt. Einerseits kann man mit ihnen schon vorhandene Wörter analysieren, anderseits i enen sie der Erzeugung neuer (sekundärer) Wörter. Allerdings kann man beobach-ten, dass nicht alle neuen Wörter nur aufgrund der Anwendung einer Regel zustande kommen: 47 Hausmann (Hausfrau), Braunzone (Grauzone), Fußwerker (Handwerker), Diplomkauffrau (Diplomkaufmann) Reißbretttäter (Schreibtischtäter), entmieten (vermieten), Fle-xibelchen (Sensibelchen) diesen Fällen scheint die neue Bildung nicht aufgrund einer Regel zustande zu nen, sondern durch Bezug auf eine schon existierende Wortbildung (in (47) in nmern gesetzt). Diese muss man kennen, um die Bedeutung der Neubildung zu erstehen. Analysiert man also Hausmann in der Bedeutung >Mann, der vorwiegend .:rr Führung eines Haushalts beschäftigt ist< bloß als [[HausN][mannN]]N, wie es i e m Regelansatz entsprechen würde, kann man diesen Bezug auf Hausfrau gar nicht i_>drücken. Ein weiterer Fall ist das Verb aufdecken in der Bedeutung >zudecken rückgängig : m<. Dessen Semantik erschließt sich nicht durch die Analyse als [[aufPART] [deckv]]v, ::ian so nur die widersinnige Paraphrase >durch Decken offnem wie bei aufbre-aurch Brechen offnem erhalten würde. Bei aufdecken muss man das Wort zude-: rennen, um die Bedeutung >Zudecken rückgängig machen< erschließen zu können. Es handelt sich also um eine Analogiebildung (vgl. Becker 1993a, 184 ff.). Es ist umstritten, welchen Status die Analogie in der Wortbildung hat. Für Becker 1 993a) ist sie so zentral für die Wortbildung, dass er für eine eigene >paradigma-. ■. Morphologie< plädiert, deren Aufgabe es sei, Beziehungen zwischen Wortstruk- 40 Lexikon und Morphologie turen zu erforschen. Becker rechnet Analogiebildungen wie Hausmann oder aufbrechen zu den Ersetzungsbildungen. Dies sind Bildungen, bei denen nicht der Basis etwas hinzugefügt wird, wie bei der Komposition oder der Derivation, sondern ein Element der Basis ersetzt wird. Zum Beispiel wird in Hausfrau das Zweitglied Frau durch Mann ersetzt. Andere Autoren bemängeln, dass es kaum Restriktionen für die Anwendung dieses Erklärungsmusters gebe (vgl. Altmann/Kemmerling 2000, 20). Wir halten daran fest, dass Wortbildungsregeln die Struktur von Bildungen wie Hausmann, aufbrechen und Nähzeug korrekt wiedergeben. Analogie scheint in erster Linie ein psycholinguistisches Phänomen zu sein, weil bei der Produktion und der Interpretation einer entsprechenden Bildung die Kenntnis eines Musters vorausgesetzt wird. Das tangiert aber nicht den Umstand, dass das Resultat einer Wortbildungsregel des Deutschen entspricht. 2.4 Wortbildung im Lexikon 2.4.1 Zum Lexikonbegriff Im Folgenden betrachten wir einige Grundannahmen einer lexikalistischen Wortbildungstheorie. Wir können davon ausgehen, dass das Lexikon eine Liste von Lexikoneinheiten enthält. Jede Lexikoneinheit erhält einen Lexikoneintrag. Lexikoneinheiten sind einerseits die freien Morpheme wie Haus, rot, spiel-, nur, anderseits usuelle Morphemkonstruktionen wie zum Beispiel Wahl+kampf, Un+sitte oder Lehr+er. Hinzu kommen Lexikoneinträge für gebundene Morpheme (Affixe). Diese Annahme ist keineswegs selbstverständlich und muss begründet werden. Das wesentliche Argument dafür ist, dass das Lexikon diejenigen Mittel bereit stellen muss, die potenzielle Wörter erzeugen. Potenzielle Wörter sind solche Wörter, die jederzeit nach Wortbildungsregeln bildbar sind, aber de facto noch nicht gebildet (oder schon einmal gebildet, dann wieder vergessen) wurden. Es ist klar, dass dann auch Wortbildungsregeln ein Teil des Lexikons sind, denn diese definieren ja die Menge der potenziellen Wörter. Umstritten ist vor allem, ob man als Lexikoneinheiten usuelle Morphemkonstruktionen zusätzlich zu freien Morphemen und Affixen annehmen soll. Man könnte sich nämlich vorstellen, dass Wortbildungsregeln nicht nur bei neuen Wörtern benutzt werden, sondern auch bei usuellen, sofern diese regelmäßig gebildet werden. So findet sich die Auffassung, dass nur die Wörter ins Lexikon gehören, die mindestens eine Eigenschaft haben, die als Ausnahme betrachtet werden muss (vgl. Aronoff 1976). Zum Beispiel stehen dann im englischen Lexikon die Wörter heigh+t und trans+ mission, weil das Suffix -t bzw. die Bedeutung >gearbox of a car< nicht voraussagbar sind, aber low+ness und e+mission findet man nicht im Lexikon, weil es vollkommen reguläre Bildungen sind. Diese Auffassung wird heute meist aus psycholinguistischen Gründen als unplausibel abgelehnt, weil man offenbar usuelle reguläre Bildungen nicht in der Sprachproduktion jedesmal neu bildet, sondern schon fertig abruft. Auf der anderen Seite würde natürlich die Speicherkapazität des mentalen Lexikons nicht so sehr belastet,