1 Prof.in Maria Petek Kirchliche Pädagogische Hochschule der Stiftung der Diözese Graz- Seckau Lange Gasse 2 8010 Graz Österreich Lese-Rechtschreibstörungen in Bezug zum Zweitspracherwerb Theoretische Aspekte und praktische Überlegungen Gastvorträge an der Masaryk Universität in Brünn November 2015 im Rahmen des EU-Projekts Erasmus + 2015/2016 2 1. Spracherwerbstheorien 1.1 Nativismus (Chomsky, Lenneberg, Pinker): Sprache entwickelt sich aus angeborenen Kategorien, aus einem angeborenen Wissen um ihre Grundstruktur, eine Art Universal- grammatik. 1.2 Behaviorismus (Skinner): Erste sprachliche Strukturen sind eine Folge der Imitation der Sprache Erwachsener, sind also durch Anregungen aus der Umwelt in Gang gesetzte Lernprozesse. 1.3 Kognitivismus (Piaget): Die Sprachentwicklung ist ein Teil der kognitiven Entwicklung des Kindes („Sprache strukturiert Denken und Denken die Sprache.“ / Günther & Günther, 2007, S. 90). 1.4 Konstruktivismus (Tomasello): Kinder lernen sprachliche Muster anfangs imitativ; aufgrund der Entwicklung allgemeiner kognitiver und sozialer Kompetenzen können sie schließlich generalisieren, schematisieren und kreativ kombinieren, sodass sich die sprachlichen Kompetenzen erweitern (vgl. Höhle, 2010, S. 148). 1.5 Interaktionismus (Bruner, 2008): Erste sprachliche Strukturen entwickeln sich aus gemeinsamen Handlungsmustern zwischen Mutter und Kind.  Überlegungen von Noam Chomsky: Das Kind hat ein angeborenes Wissen über eine universelle Grammatik. Ein Spracherwerbsmechanismus – LAD (Language Acquisition Device) – ermögliche es dem Kind, auf der Basis von sprachlichen Universalien Hypothesen über die zu lernende Sprache aufzustellen und zu bewerten. Darauf aufbauend leite das Kind aus der gehörten Erwachsenensprache die Regeln der Grammatik ab. Vor- und nichtsprachliche Fähigkeiten des Kindes seien nicht notwendig.  Überlegungen von Jerome Bruner: Wesentlich ist ein Zusammenspiel folgender drei Aspekte: formaler (Erfassen der Regeln der Grammatik  Syntax), instrumenteller (Erfassen von Bedeutung  Semantik) und kommunikativer Aspekt (Wirksamkeit und Effektivität von Sprache  Pragmatik). In ständiger Wechselwirkung entwickeln sich diese Fähigkeiten in einem Interaktionsrahmen, der eine kommunikative Transaktion zwischen Kind und Kommunikationspartnern ermöglicht. Ausgehend von den einzigartigen Sprachlernfähigkeiten (LAD) wird dies durch eine Art Hilfssystem zum Spracherwerb (LASS = Language Acquisition Support System) in der Sprachgemeinschaft vorangetrieben (vgl. Günther & Günther, 2007, S. 88ff).  Überlegungen von Barbara Zollinger (2010): Spracherwerb ist ein komplexes Geschehen von Entwicklung, Wahrnehmung, Integration, Interaktion und Kommunikation. Dabei spielen neurolinguistische, kognitive, kommunikativ-interaktive Prozesse (tonischer Dialog, Triangulierung, Ich-Entwicklung) sowie das Sprachverständnis eine entscheidende Rolle.  Modell der Sprachganzheit nach Günther & Günther (2007): In diesem Modell werden die Schwerpunkte neben den linguistischen Kategorien (Laute, Wörter, Sätze, Text) und Kommunikationsstilen (Monolog, Dialog, Gespräche etc.) vor allem auf die kognitive Sprachverarbeitung (Sprachverständnis, Denken, semantischer Aspekt), die soziale Beachtung (Beziehungen, Sympathie/Antipathie etc.) und das Selbstkonzept (Selbstbewusstsein, Identität etc.) gelegt (vgl. S. 52). Inwieweit sich solche Modelle auf den Zweitspracherwerb übertragen lassen, wird unterschiedlich gesehen, da es vor allem vom Alter des Kindes abhängt, mit dem es mit einer Zweitsprache in Kontakt kommt. Neben dem simultanen Zweitspracherwerb unterscheidet man den frühen sukzessiven (im Alter von 3 bis 5 Jahren) und den späten sukzessiven Zweitspracherwerb (im Alter von 6 bis 10 Jahren). L1, 2L1 und L2 werden grundsätzlich positiv gesehen; Code-Switching, Code-Mixing und Borrowing stellen normale Prozessaspekte dar. Am wichtigsten ist laut Tracy (2007) ein kontinuierliches, intensives und vielfältiges Sprachangebot (S. 87). 3 2. Hypothesen zum Zweitspracherwerb  Interferenz-Hypothese (Transfer-Hypothese): Der Zweitspracherwerb verläuft anders als der Erstspracherwerb. Die Erstsprache beeinflusst den Erwerb der Zweitsprache; identische Elemente und Regeln sind leicht und fehlerfrei zu erlernen, aber unterschiedliche Elemente und Regeln führen zu Schwierigkeiten und Fehlern.  Identitäts-Hypothese: Der Erwerb von Erst- und Zweitsprache erfolgt im Wesentlichen gleich; Strukturen und Elemente der Zweitsprache werden in gleicher Abfolge wie in der Erstsprache erlernt.  Interlanguage-Hypothese: Beim Erwerb der Zweitsprache entsteht ein lernerspezifisches Sprachsystem („Interimssprache“), welches sowohl Aspekte der Erst- und der Zweitsprache als auch eigenständige Merkmale aufweist. Die Annäherung an die Zielsprache hat eine Systematik und einen vorübergehenden Charakter.  Interdependenz-Hypothese: Der Erwerb der Zweitsprache ist von den Kompetenzen der Erstsprache abhängig; ein niedriges Niveau in der Erstsprache führt zu Schwierigkeiten beim Zweitspracherwerb und kann negative Einflüsse auf die Gesamtentwicklung eines Kindes haben.  Monitor-Hypothese: Die Zweitsprache wird anhand konkreter Handlungen und Situationen systematisch erlernt und faktisch über einen „inneren Bildschirm“ (Monitor) des Kindes als Regelsystem erfasst.  Pidgin-Hypothese: Die Zweitsprache wird als „Handelssprache“ erworben; als Mischform aus Elementen beider Sprachen dient sie der eingeschränkten Kommunikation in Handel, Wirtschaft und Industrie (vgl. Günther & Günther, 2007, S. 146ff). 3. Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf Lehrende und Lernende Für die Lehrenden bedeutet ein Arbeiten mit dem Pluri- oder Multilingualismus vor allem ein Bedenken verschiedener Aspekte und ein Erarbeiten von zusätzlichen Kompeten- zen: 3.1 Kenntnisse über Erst- und Zweitspracherwerbsprozesse, linguistische Basiskenntnisse, didaktische Kenntnisse im Bereich des Erst- und Zweisprachunterrichts; 3.2 inkludierende und differenzierende Unterrichtspraxis, ein Aufbauen auf den sprachlichen Erfahrungen und Fertigkeiten der Lernenden. Für die Lernenden stehen ebenfalls besondere Schwerpunkte im Fokus: 3.3 Entwickeln eines Bewusstseins für die unterschiedlichen Sprachen und deren Funktionen (zB auch Dialekt), Erfassen von linguistischen Aspekten (Metalinguistik und Metakognition, je nach Alter), Verstehen von unterschiedlichen Zugängen (zB über Literatur), soziales und kulturelles Verständnis; 3.4 Entwickeln von strategischen Fähigkeiten im Zusammenhang mit Sprachbetrachtung und Sprachverwendung sowie von Interpretationsfertigkeiten; selbstgesteuertes Lernen und Interagieren, Sich-Vernetzen und Diskutieren (vgl. Gierlinger, CarréKarlinger, Fuchs & Lechner, 2010). 4. Was ist in der Kommunikation grundsätzlich wichtig?  Anbieten von Sprache  Zuhören und Anschauen  Ausreden-Lassen  Ermutigen  Sich-Zurücknehmen  Loben  gemeinsames Handeln  Modellieren (Anbieten von Verbesserungsvorschlägen)  Fragen (entweder – oder / W-Fragen) (vgl. Montanari, 2010, S. 89ff). 4 Schader (2004) spricht von der Notwendigkeit, sich mit der Kultur und der Sprache im eigenen Land vertraut zu machen, ganz im Sinne von „cultural awareness“ und „language awareness“ (S. 51), um im Bewusstsein der eigenen Identität mit Menschen aus anderen Ländern in einen echten Dialog treten und den persönlichen Horizont erweitern zu können (vgl. ebda, S. 52). Wir leben in einer vielfältigen, multikulturellen und multilinguistischen Gesellschaft. Den Weg dorthin müssen wir noch besser gestalten, damit er von Neugier, Respekt, Freude und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Das sind Grundhaltungen für eine effiziente Unterrichtsarbeit, die sinnvollerweise von der Lautsprache zur Schriftsprache führt, um die Kommunikationskompetenz zu erweitern und zu vertiefen. 5. Basisüberlegungen zum Schriftspracherwerb Aufbauend auf den Modellen von Frith (1986) und Günther (1986), die von präliteral-symbolischen, logografischen, alphabetischen und orthografischen Phasen beim Lese- wie beim Rechtschreiberwerb sprechen, beschreibt Costard (2007) die zusammenhängenden Teilaspekte des Lese- und Schreiblernprozesses folgendermaßen: Am Beginn steht eine alphabetische Leseweise, die von einer stark fragmentarischen (zB /A/ für Apfel) zu einer sehr genauen Aussprache einzelner Buchstaben (zB /A/-/p/-/f/-/e/-/l/) voranschreitet. Über eine orthografisch beeinflusste Leseweise (zB /A/-pfel/) wird die orthografische Leseweise, bei der alle Buchstaben in die entsprechenden Laute umgesetzt werden, erfasst (vgl. S. 40). Somit wird die Graphem-Phonem-Korrespondenz erreicht, die sich in der Phonem-Graphem-Korrespondenz ebenso zeigen muss, wenn der Schreiblernprozess erfolgreich sein soll. An dessen Beginn steht ein meist eher kurzes Verweilen auf der logographemischen Stufe, wobei vorrangig visuell erfasst wird (zB Firmenlogos, der eigene Name) und besondere Merkmale festgehalten werden (vgl. Mayer, 2010, S. 26f). Über die alphabetische Schreibung wird danach die anfangs stark fragmentarische Wortschreibung („Skelettschreibung“) exakter; die orthografisch-beeinflusste Schreibung (zB Apfl), die oftmals der Umgangssprache entspricht, orientiert sich mehr und mehr an der korrekten orthografischen Schreibung, wozu Kinder in der 3. und/oder 4. Schulstufe normalerweise fähig sind (vgl. Costard, S. 41). 5.1 Schriftarten Am Beispiel des deutschen und des tschechischen Alphabets soll veranschaulicht werden, vor welchen Schwierigkeiten Kinder beim Zweitspracherwerb allein schon beim Anblick der Buchstaben stehen können – ehe sie noch die unterschiedliche Aussprache erfassen können. Das Deutsche kennt keine diakritischen (unterscheidenden) Zeichen wie das Tschechische, zB [š]. Das tschechische Alphabet verwendet die Buchstaben: Aa, Áá, Bb, Cc, Čč, Dd, Ďď, Ee, Éé, Ěě, Ff, Gg, Hh, Ch, Ii, Íí, Jj, Kk, Ll, Mm, Nn, Ňň, Oo, Óó, Pp, Rr, Řř, Ss, Šš, Tt, Ťť, Uu, Úú, ů, Vv, Zz, Žž. Das deutsche Alphabet verwendet die Buchstaben: Aa, Bb, Cc, Dd, Ee, Ff, Gg, Hh, Ii, Jj, Kk, Ll, Mm, Nn, Oo, Pp, Qq, Rr, Ss, Tt, Uu, Vv, Ww, Xx, Yy, Zz. Zum Vergleich das arabische Alphabet (mit anderer Schreibrichtung): 5 5.2 Phonem-Graphem-Korrespondenz Das exakte Benennen der Buchstaben als Laute (Graphem-Phonem-Korrespondenz) soll in die automatisierte motorische Umsetzung jedes einzelnen Buchstaben in Schriftzeichen erfolgen, dann ist die Phonem-Graphem-Korrespondenz erreicht. Die deutsche Sprache beinhaltet jedoch eine „größere[n] Komplexität und Uneindeutigkeit der Phonem-Graphem- im Vergleich zur Graphem-Phonem-Korrespondenz“ (Mayer, 2010, S. 121), sodass das Rekodieren von Lauten in die richtige Schreibweise längere Zeit problematisch bleiben kann. 5.3 Prinzipien der deutschen Rechtschreibung Das phonografische (phonologische) Prinzip, das Prinzip der Kennzeichnung von Lauten durch Buchstaben, ist das beherrschende Prinzip der deutschen Sprache. Das System der Laute (die 40 Phoneme der deutschen Hochlautung) wird durch ein System von Buchstaben (Grapheme) wiedergegeben. Das rein phonografische Prinzip kennzeichnet Einzellaute. Der Einzellaut (Phonem) wird durch Einzelbuchstaben repräsentiert. Beispiel: Die Lautfolge [b] [u] [n] [t] erscheint als Buchstabenfolge im Wort . Das kombinatorische Prinzip wird als Prinzip der Kennzeichnung von Lauten durch Buchstabenkombinationen bzw. das der Kennzeichnung von Lautverbindungen durch Buchstaben oder Buchstabenkombinationen verstanden. Da Laut- und Buchstabensystem zahlenmäßig nicht übereinstimmen (den 40 Phonemen stehen nur 30 Buchstaben gegenüber), müssen viele Laute durch Buchstabenkombinationen wiedergegeben werden. Beispiel: /∫/ durch , /ks/ durch . Nach kurzvokalischem Phonem bzw. nach kurzem und betontem Stammvokal folgen entweder zwei gleiche bzw. zwei oder mehrere verschiedene Buchstaben, die Konsonanten abbilden (z.B. Herr-herb-Herbst; stumm-Stumpen-stumpf). Wesentlich weniger regelmäßig ist die Abbildung langvokalischer Phoneme. Der lange Vokal wird in der deutschen Orthografie auf verschiedene Weise gekennzeich- net: durch Doppelvokale (zB Saal), durch das Dehnungs-h (zB drehen), durch das Anfügen eines an das (zB riesig) oder durch den entsprechenden Buchstaben ohne zusätzliches Merkmal (zB Wal). Das morphologische (morphematische) Prinzip bezieht sich auf die Gleichschreibung von Wortstämmen. Unabhängig von der Aussprache bleibt die Schreibung der Wortstämme gleich (damit Bedeutungsgleiches rasch als Gleiches erkannt werden kann). Beispiele: die Schreibung der Umlaute (Rad – Räder, bauen – Gebäude) sowie die Schreibung der Auslaute (Auslautverhärtung bei der Aussprache von /b/, /d/, /g/; die Mehrzahlbildung hilft: Kalb – Kälber, Kind – Kinder, Weg – Wege). Das silbische Prinzip verweist auf die Besonderheit von /s/ vor /p/ oder /t/ am Beginn der ersten Silbe eines Wortes. Obwohl als bzw. geschrieben wird das als /sch/ ausgesprochen (Beispiele: spielen, Stall). Das historische (etymologische) Prinzip wird meist noch bei Fremdwörtern sichtbar (zB charmant, Tourist) oder bei Fachbegriffen aus dem Griechischen (Phonetik). Das grammatikalische (syntaktische) Prinzip fasst als Prinzip der Kennzeichnung von Wort- und Satzformalien alle Rechtschreibfälle zusammen, die sich aus dem Satzbau ergeben. Beispiele: Groß- oder Kleinschreibung (Angst haben, Angst machen), Getrennt- oder Zusammenschreibung (sitzenbleiben, sitzen bleiben), Großschreibung von Satzanfängen und bei Substantivierung, Zeichensetzung. Es werden somit enge Querverbindung zum Lernbereich Sprachbetrachtung erkennbar. Das semantische Prinzip deutet als Prinzip der Kennzeichnung von Bedeutungsunterschieden auf gleichklingende (homophone), aber bedeutungsverschiedene Wörter 6 hin, indem diese verschieden geschrieben werden. Beispiele: Wal – Wahl, Seite – Saite, Lied – Lid. Es ist zu beachten, dass hier keine Gegenüberstellungen vorgenommen werden, da sonst Interferenzen (= Störungen der Informationsaufnahme durch andere Wahrnehmungen, besonders durch solche, die zur aufgenommenen Information in Widerspruch stehen oder eine Variation zu ihr enthalten) möglich sind. Wörter wie beispielsweise entscheidend oder entlegen werden leichter und nachhaltiger gespeichert, wenn sie zunächst für sich und nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ähnlich geschriebenen Wörtern wie endgültig oder endlos vermittelt werden (vgl. BMUKK, 2009, S. 865ff). Das ökonomische Prinzip beinhaltet die Sparschreibung bei Wörtern wie im, am, um, man, hat. Das graphisch-formale Prinzip ließ bis vor kurzem eine Verdreifachung eines Buchstaben nicht zu; die letzte Rechtschreibreform (2006) ermöglicht es, sodass Wörter wie Seeelefant und Schlusssignal korrekt sind (vgl. Schründer-Lenzen, 2013, S. 27ff). Das pragmatische Prinzip als Prinzip der Kennzeichnung von Adressaten-/Adressatinnenbezügen verweist auf die Großschreibung aller Anredepronomen in Briefen im Sinne der Höflichkeitsform (Beispiel: Vergessen Sie bitte nicht auf Ihren Schirm!). In offiziellen Schreiben an Eltern, Vorgesetzte oder Institutionen ist dieses Prinzip sinnvollerweise anzuwenden. 5.4 Konzept der phonologischen Informationsverarbeitung Nach Mayer (2015) stellt die ausdifferenzierte phonologische Informationsverarbeitung die Basis der korrekten Schreibung dar (vgl. S. 34ff). Dazu führt er die bereits erwähnte Phonem-Graphem-Korrespondenz sowie die nun zu erläuternden Begriffe der phonologischen Bewusstheit, der Benennungsgeschwindigkeit sowie des phonologischen Arbeitsgedächtnisses an. 5.4.1 Phonologische Bewusstheit Als „metalinguistische Bewusstheit“ (Mayer, 2010, S. 44) wird die Fähigkeit der phonologischen Bewusstheit bezeichnet, die ein Nachdenken über Sprache ermöglicht. Die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn beinhaltet ein Reim- und Silbenverständnis (Reimerkennung, Reimfindung, Silbensynthese, Silbensegmentation, Silbenelision), während die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn die lautliche Struktur im Fokus hat (Anlaut- und Auslautkategorisierung, Anlaut-/Auslaut-/Inlautidentifizierung, Phonemsegmentation, Phonemsynthese, Lautersetzung, Phonemreversion) (vgl. ebda, S. 44ff). 5.4.2 Benennungsgeschwindigkeit „Die Benennungsgeschwindigkeit wird als Fähigkeit definiert, visuell präsentierte Reize möglichst schnell zu identifizieren, die entsprechenden phonologischen Codes im mentalen Lexikon zu aktivieren, einen artikulatorisch-motorischen Plan zu entwerfen und das entsprechende Wort (oder den entsprechenden Laut) schließlich zu artikulieren.“ (Mayer, 2010, S. 57) Sowohl einzelne Buchstaben als auch Wörter sollen möglichst rasch korrekt erkannt werden, um den Leseprozess zu optimieren. 5.4.3 Phonologisches Arbeitsgedächtnis Im Bereich des phonologischen Arbeitsgedächtnisses finden jene Speicherprozesse statt, die beim Lesen ein Zwischenspeichern der bereits gelesenen Buchstaben ermöglichen und ebenso ein Verarbeiten der noch zu lesenden. Beim Schreiben geht der Vorgang ähnlich vor sich, wenn die schon geschriebenen Buchstaben gespeichert werden und die noch ausstehenden erst umgewandelt werden müssen. Es geht dabei also um das Speichern und das Weiterverarbeiten sprachlicher Information. Dazu be- 7 darf es der phonologischen Schleife, die in einen passiven Kurzzeitspeicher („phonological buffer“) und einen aktiven Prozess des subvokalischen Wiederholens („phonological rehearsal“) unterteilt wird (vgl. Mayer, 2010, S. 35ff). 5.5 Die Ziele des Schriftsprachunterrichts sind unbestritten folgende:  eine hohe Lesegenauigkeit,  eine angemessene Lesegeschwindigkeit,  ein altersadäquates Leseverständnis,  ausreichende motorische Fähigkeiten für die Handschrift (sowie am Compu- ter),  eine leserliche Schrift,  eine angemessene Schreibgeschwindigkeit sowie  eine sinnvolle und adäquate Textgestaltung (vgl. Costard, 2007, S. 57). 6. Lese-Rechtschreibstörungen Mayer (2010) definiert LRS folgendermaßen: „Unter der Lese- und Rechtschreib-Störung wird eine Lernstörung verstanden, die sich durch Defizite im synthetisierenden Lesen und/oder den automatisierten Leseprozessen sowie beeinträchtigter[sic] Rechtschreibung charakterisieren lässt. Sie kann aus Defiziten der phonologischen Informationsverarbeitung resultieren und geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher. Die Lernstörung tritt unabhängig von kognitiven Fähigkeiten auf und kann sich negativ auf das Leseverständnis, die kognitive sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken“ (S. 9). Die Bezeichnungen Entwicklungsdyslexie und Entwicklungsdysgraphie verweisen auf mögliche Probleme im Verlauf des altersadäquaten Erlernens von Lesen und Schreiben. Lesestörungen, Rechtschreibstörungen sowie kombinierte Lese-Rechtschreibstörungen können auch erworben werden (zB durch neurologische Störungen). Costard (2007) nennt eine fehlende Lesegenauigkeit, eine niedrige Lesegeschwindigkeit sowie ein stockendes und fehlerhaftes Lesen als im deutschen Sprachraum häufig vorkommende Auffälligkeiten (vgl. S. 68ff). Zudem sind eine geringere Speicherfähigkeit, ein fehlendes ganzheitliches Erfassen von Häufigkeitswörtern, ein langsamer Aufbau des Grund- bzw. Sichtwortschatzes sowie das Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen ebenso festzustellen wie ein verringertes Sinnverständnis. Grundfähigkeiten wie die Graphem-Phonem-Korrespondenz können nicht ausreichend entwickelt sein. Somit kann es weitere Schwierigkeiten beim Schreiben geben, was sowohl das Abschreiben als auch das freie Schreiben betrifft. Hier ist die Phonem-Graphem-Korrespondenz mehr als bedeutsam, wenn es um die Übertragung von Lautsprache in Schriftsprache geht (vgl. Mayer, 2010). Auslassungen, Ersetzungen sowie Einfügungen von Buchstaben und/oder Silben können mit Problemen der phonologischen Bewusstheit zusammenhängen, was wiederum die bereits erwähnte Informationsverarbeitung als wesentlichen Prozess erkennen lässt (vgl. Costard, 2007, S. 68ff). Zusammenfassend lassen sich Ursachen im Bereich der phonologischen Bewusstheit, des phonologischen Arbeitsspeichers, der phonologischen Repräsentation, der orthografischen Repräsentation sowie des entsprechenden Wissens und unzureichende Vernetzungen in diesen Bereichen nennen. Die Diskussion um die ursächliche Bedeutung der einzelnen Wahrnehmungsbereiche (vor allem visuell, auditiv, motorisch) sowie die Verarbeitungsfähigkeiten (zB intermodal, serial) wird in der Fachliteratur derzeit nicht geführt. Sehr wohl verweist jedoch Mayer (2010) auf Zusammenhänge zwischen der Lautsprache und einer Lese-Rechtschreibstörung, wenn die einzelnen linguistischen Ebenen (phonetisch-phonologische, semantisch-lexikalische, morphologisch-syntaktische, pragmatisch-kommunikative Ebene) im Kleinkindalter unzureichend gefördert wurden (vgl. S. 15f). 8 Was die Feststellung von Lese-Rechtschreibstörungen betrifft, so liegen mehrere anerkannte Materialien zur Diagnostik vor:  Hamburger Lesetest für 3. und 4. Klassen (HAMLET 3-4) (Lehmann, Peek & Poerschke, 1997)  Würzburger Leise Leseprobe (Küspert & Scheider, 1998)  Bielefelder Screening (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 2002)  Hamburger Schreibprobe (HSP) (May, 2002)  Rundgang durch Hörhausen (Frank, Kirschhock & Martschinke, 2014)  Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) (Müller, 2004)  ELFE 1-6. Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (Lenhard & Schneider, 2006)  Diagnostik von Rechtschreibleistungen und -kompetenz (Tests und Trends) (Schneider, Marx & Hasselhorn, 2008)  SLRT-II Lese- und Rechtschreibtest (Moll & Landerl, 2010)  BLIWO. Blitzschnelle Worterkennung (Mayer, 2012, 2. Aufl.)  TEPHOBE. Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit (Mayer, 2013, 2. Aufl.) Inwieweit durch die „Unterrichtsbegleitende Sprachstandsbeobachtung Deutsch als Zweitsprache“ (Fröhlich, Döll & Dirim, 2014) auch die Problematik von LRS erfasst werden kann, ist noch nicht näher untersucht. 7. Exemplarische Förderaspekte 7.1 „Sprachwissen und Sprachkönnen sind die Grundlagen zum Umgang mit Sprache für Kinder im Vorschulalter und somit auch Grundlagen für den Schriftspracherwerb.“ (Grammel, 2010, S. 56)  Training der phonologischen Bewusstheit (PGK, GPK, RAN [rapid automatized na- ming])  Silbenorientiertes Arbeiten (offene und geschlossene Silben)  Verbessern der ganzheitlichen Worterkennung (zB „Flash Cards“)  Erhöhen der Speicherfähigkeit (Merkspiele, Gedächtnisübungen)  Orthografisches Regeltraining 7.2 „Der mangelnde Erfolg der Sprachförderung kann im Zusammenhang mit dem späten Beginn und den Modalitäten der Maßnahmen liegen. Wenn intensive Deutschkurse losgelöst vom Kindergartenalltag von unbekannten Personen durchgeführt werden, können allein aus sozial-emotionalen Gründen auch wohldurchdachte Programme nicht die gewünschte Wirkung entfalten.“ (Zellerhof, 2010, S. 20) Die Bedeutung der Beziehung im pädagogischen Arbeitsfeld kommt in dieser Aussage deutlich zum Vorschein und sollte daher auch in der Sprachförderung besonders bedacht werden. 7.3 Der Aufbau eines Wortschatzes basiert auf der semantisch-lexikalischen Ebene auf der Arbeit mit Wortfeldern und Wortfamilien. Dabei sind nach Schmidt (2012) folgende Ziele bei der Vermittlung zu beachten:  Aufbau eines umfangreichen und variationsreichen Wortschatzes (neue Begriffe, auch als verschiedene Wortarten)  Herstellen von Verknüpfungen mit sinnverwandten Wörtern  Erarbeiten von Lernstrategien (zB Nützen des Kontexts für den Erwerb von neuen Begriffen) (vgl. S. 86ff). 9 7.4 „Es geht also, wenn die Herkunfts- und Familiensprachen in Österreich aufgewertet werden sollen, wenn die Forderung nach Förderangeboten für Kinder und Erwachsene und insbesondere nach Lernmöglichkeiten auch für die Deutschsprachigen erhoben wird, um mehr als „nur“ Mehrsprachigkeit – es geht dabei um die Bereitschaft unserer Gesellschaft, Abschied von ethnozentrischen Sichtweisen und von geschlossenen Grenzen zu nehmen – das schließt auch und gerade für die Angehörigen der deutschsprachigen Mehrheit nicht nur die Chance auf mehr Sprachen, sondern auf eine Weiterentwicklung der eigenen Welt- und Selbstvorstellungen ein.“ (Krumm, 2010, S. 43) Wie bedeutsam die je persönliche Sichtweise zum Thema ist, kommt in dieser Aussage zum Ausdruck; gleichzeitig wird dezidiert auf den möglichen – ebenfalls persönlichen, aber auch gesellschaftlichen – Gewinn hingewiesen. 7.5 Beispiele aus Rösch, Schader, Reber & Schönauer-Schneider Rechtschreibspiele Schlussgedanke „Erst wenn sich Lernende aktiv, neugierig und mit Interesse einer Sprache zuwenden, kann es zu Lernerfolgen kommen.“ (Rösch, 2015, S. 9) In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Sprachunterricht in allen Fächern stattfindet, sodass ein sprachsensibler Fachunterricht die optimale Basis des Erlernens von Sprache(n) bildet. Literatur Anstatt, T. (Hrsg.) (2007). Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Tübingen: Attempto. BMBF, Abteilung I / 5a, Referat für Migration und Schule (2014). Gesetzliche Grundlagen schulischer Maßnahmen für SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch, Gesetze und Verordnungen, Nr. 1/2014-15. Wien: BMBF. BMBF, Abteilung I / 5a, Referat für Migration und Schule, de Cillia, R. (2014). Spracherwerb in der Migration, Nr. 3/2014-15. Wien: BMBF. BMUKK (2009). Österreichisches Wörterbuch (41. Aufl.). Wien: öbv. Braun, W. G. & Zuber, M. (2013). Sprechen und Handeln, 5-10 Jahre. Förder- und Therapiematerial für Kinder mit Migrationserfahrung. Schaffhausen: SCHUBI. Bruner, J. (2008). Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Costard, S. (2007). Störungen der Schriftsprache; erschienen in der Reihe Forum Logopädie, herausgegeben von Springer, L. & D. Schrey-Dern. Stuttgart: Thieme. Frank, A., Kirschhock, E.-M. & Martschinke, S. (2014). Rundgang durch Hörhausen (8. Aufl.) Donauwörth: Auer. Fröhlich, L., Döll, M. & Dirim, I. (2014). Unterrichtsbegleitende Sprachstandsbeobachtung Deutsch als Zweitsprache, Teil 1: Beobachtungsbogen für Volksschulen und Sekundarstufe I. Wien: BMBF. Fröhlich, L., Döll, M. & Dirim, I. (2014). Unterrichtsbegleitende Sprachstandsbeobachtung Deutsch als Zweitsprache, Teil 2: Ergebnisdokumentationsbogen. Wien: BMBF. Gierlinger, E., Carré-Karlinger, C., Fuchs, E. & Lechner, Ch. (2010). Die CLIL-Matrix in der Unterrichtspraxis. Innovative Impulse aus dem Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates, Praxisreihe 13. Graz: ÖSZ. Grammel, E. (2010). Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb im Spannungsfeld zwischen Erstsprache und Zweitspracherwerb. mitSPRACHE, Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik, 2/2010, 49-61. Günther, B. & Günther, H. (2007). Erstsprache Zweitsprache Fremdsprache (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Helmchen, S. (2012). Fit für die Schule. Richtig schreiben, 3. Klasse. Nürnberg: Tessloff. 10 Höhle, B. (Hg.) (2010). Psycholinguistik. Berlin: Akademie Verlag. Jansen, H., Mannhaupt, G., Marx, H. & Skowronek, H. (2002). Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC). Göttingen: Hogrefe. Kleinmann, K. (2006). Lese-Rechtschreib-Schwäche? (4. Aufl.). Horneburg: Persen. Krumm, H.-J. (2010). Die Förderung der Muttersprachen von MigrantInnen als Bestandteil einer glaubwürdigen Mehrsprachigkeitspolitik in Österreich. mitSPRACHE, Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik, 3/2010, 37-44. Küspert, P. & Schneider, W. (1998). Würzburger Leise Leseprobe (WLLP). Göttingen: Hogrefe. Lehmann, R. H., Peek, R. & Poerschke, J. (1997). HAMLET 3-4. Hamburger Lesetest für 3. und 4. Klassen. Weinheim: Beltz. Lenhard, W. & Schneider, W. (2006). ELFE 1-6. Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler. Göttingen: Hogrefe May. P. (2002). Hamburger Schreibprobe (HSP). Diagnose orthografischer Kompetenz zur Erfassung der grundlegenden Rechtschreibstrategien. Hamburg: verlag für pädagogische medien. Mayer, A. (2010). Gezielte Förderung bei Lese- und Rechtschreibstörungen. München: Ernst Reinhardt. Mayer, A. (2012). BLIWO. Blitzschnelle Worterkennung (2. Aufl.). Dortmund: Borgmann Media. Mayer, A. (2013). Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit TEPHOBE (2. Aufl.). München: Ernst Reinhardt. Mayer, A. (2015). Früherkennung und Prävention von Schriftspracherwerbsstörungen im inklusiven Unterricht. In Paier, A. (Hg.), Sprache – ein Kinderspiel? Aktuelle Beiträge der Sprachheilpädagogik in einer inklusiven Bildungslandschaft, Band 6 der Reihe Sprachheilpädagogik: Wissenschaft und Praxis (S. 123-143). Wien: ÖGS. Moll, K. & Landerl, K. (2010). SLRT-II. Lese- und Rechtschreibtest. Bern: Huber. Montanari, E. (2006). Spiel mit Deutsch. Freiburg i. B.: Herder. Müller, R. (2004). Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) (2. Aufl.). Göttingen: Beltz. Reber, K. & Schönauer-Schneider, W. (2009). Bausteine sprachheilpädagogischen Unterrichts. München: Ernst Reinhardt. Rösch, H. (Hg.) (2015). Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung: Grundlagen – Übungs