PdF MU PS 2014 24. 11.2014 NJ_AA10 Úvod do studia němčiny 12. 12. 2014 Roland Wagner wagner@ped.muni.cz 1 Handout Sprachwissenschaftliche Schulen und Richtungen Ziele der sprachwissenschaftlichen Forschung 1. Uneinheitlichkeit der modernen Sprachwissenschaft Die moderne Sprachwissenschaft zerfällt in viele verschiedene Schulen und Richtungen, die von jeweils anderen Voraussetzungen ausgehen, unterschiedliche Theorien formulieren und teilweise auch andere Ziele haben. → „Zersplitterung“ (Fragmentierung) der heutigen Sprachwissenschaft (Mortéza 2013). Teilweise lässt sich dieser Zustand historisch erklären: Die verschiedenen Schulen berufen sich auf unterschiedliche Traditionen. → historischer Überblick zum besseren Verständnis der heutigen Situation (Abschnitt 2) Teilweise hängt die Schulenbildung auch mit unterschiedlichen Zielen bei der Erforschung der Sprache zusammen. → Es gibt drei grundlegende Ziele der Linguistik (Abschnitt 3). 2. Sprachwissenschaftliche Schulen und die Tradition Es ist völlig unmöglich, in einer Vorlesung alle sprachwissenschaftlichen Schulen und Richtungen in Gegenwart und Geschichte darzustellen. Die Vorlesung und die folgende Graphik geben nur eine erste Orientierungshilfe. Im Laufe des Studiums sollten Sie die einzelnen Richtungen durch eigene Lektüre wichtiger Werke näher kennen lernen. Zur Erleichterung der Orientierung sollten Sie sich aber wenigsten einige wichtige Namen mit den zugehörigen Schulen merken. Jacob Grimm (1785 – 1863): Deutsche Grammatik auf sprachvergleichender Grundlage (historisch-vergleichende Sprachwissenschaft) Hermann Paul (1846 – 1921): „Junggrammatiker“: Wichtige deutsche Grammatik Ferdinand de Saussure (1857 – 1913): Identifikationsfigur des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus in Europa Roman Jakobson (1896 – 1982): Strukturalismus; international bedeutendster Vertreter des Prager Zirkels; in der 1. Republik Professor an der MasarykUniversität in Brünn, nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA. Leonard Bloomfield (1887 – 1949): Begründer des amerikanischen Strukturalismus Noam Chomsky (1928 – heute): Begründer der generativen Grammatik (USA) Ulrich Engel (1928 – heute): Deutsche Rezeption der Dependenzgrammatik von Lucien Tesnière, Autor einer der wichtigsten modernen Grammatiken des Deutschen. PdF MU PS 2014 24. 11.2014 NJ_AA10 Úvod do studia němčiny 12. 12. 2014 Roland Wagner wagner@ped.muni.cz 2 Schema: Sprachwissenschaftliche Schulen und Traditionslinien Literaturempfehlungen zum Einstieg: Eine Geschichte der Linguistik auf Tschechisch, die die wichtigsten Schulen und Richtungen kurz charakterisiert, ist Černý (1996). Seuren (1998) gibt eine anspruchsvollere historische Einführung auf Englisch, in der die einzelnen Richtungen in Hinblick auf ihren Beitrag zur aktuellen Forschung dargestellt werden. Das Buch enthält auch einen sehr schwierigen Teil zur Logik, ist aber in anderen Teilen (zum Beispiel zum Prager Strukturalismus) gut lesbar. Für den Prager Zirkel empfiehlt sich als Einführung Toman (2011), in tschechischer Übersetzung von Petkevič. Auch das grundlegende Werk von Ferdinand de Saussure (1916) liegt auf Tschechisch (1989, Übers. F. Čermák) vor. Zur Einführung in die aktuelle germanistische Sprachwissenschaft eignen sich die einzelnen Kapitel in Meibauer et al. (2007). Das Buch ist nach den einzelnen Sprachebenen (Phonologie, Morphologie usw.) und nach speziellen Forschungsbereichen (Spracherwerb, Pragmatik usw.) gegliedert; man kann die einzelnen Kapitel daher gut zu entsprechenden Seminaren und Vorlesungen in verschiedenen Semestern lesen. PdF MU PS 2014 24. 11.2014 NJ_AA10 Úvod do studia němčiny 12. 12. 2014 Roland Wagner wagner@ped.muni.cz 3 3. Ziele der linguistischen Forschung Man kann mindestens drei verschiedene Ziele unterscheiden, die die linguistische Forschung haben kann. Unausgesprochen verfolgen diese Ziele verschiedene Traditionen seit Anbeginn der Beschäftigung mit Sprache. Besonders das dritte Ziel ist aber erst in neuerster Zeit durch die generative Grammatik hinzugekommen. Manche dieser Ziele sind eng mit bestimmten Schulen verbunden (z. B. das zweite Ziel, das häufig mit dem amerikanischen Strukturalismus, den man auch „Deskriptivismus“ nennt, in Verbindung gebracht wird), andere Ziele verteilen sich über mehrere Schulen. Die Unterscheidung der letzten beiden Ziele findet sich besonders deutlich bei N. Chomsky (1965). Normative Grammatik Die normative Grammatik stellt Regeln auf, welche sprachlichen Formen und Konstruktionen als „richtig“ zu gelten haben, und welche als „falsch“. Der normative Ansatz ist vor allem in historischen Perioden verbreitet, in denen eine verbindliche Standardform für eine Sprache gefunden werden muss. Er produziert Wörterbücher (z. B. Rechtschreib-Duden) und Referenzgrammatiken, die den Sprachbenutzern in Zweifelsfällen helfen, die „richtige“ Form zu finden. Der normative Ansatz ist auch im Fremdsprachenunterricht verbreitet, wo der Lerner (und auch der Fremdsprachenlehrer) wissen möchten, was in der Fremdsprache „richtig“ ist, und was als „Fehler“ zu betrachten ist. Deskriptive Grammatik Die deskriptive Grammatik hat den Anspruch, eine Wissenschaft zu sein. Wie in den Naturwissenschaften geht es in der deskriptiven Grammatik nicht darum, den Sprechern Vorschriften hinsichtlich des „richtigen“ Gebrauchs zu machen, sondern die sprachlichen Fakten (=die Realität, wie die Sprecher einer Sprache wirklich schreiben und sprechen) möglichst exakt zu beschreiben. Das lat. Wort „deskriptiv“ bedeutet nichts anderes als „beschreiben“. Welche Sprachfakten als legitime „Daten“ zu gelten haben, ist umstritten. Die traditionelle Methode des Deskriptivismus besteht darin, ein Korpus zusammenzutragen und zu analysieren. Ein Korpus ist eine Sammlung von Äußerungen von Muttersprachlern. Früher wurden solche Korpora aus gedruckten Texten oder Tonbandaufnahmen zusammengestellt. Heute gibt es für viele Sprachen große elektronische Korpora, die viele Millionen Wörter umfassen und die automatisierte Suche nach bestimmten Formen und Konstruktionstypen ermöglichen. Am Lehrstuhl für dt. Sprache der PdF MU begann z. B. die Entwicklung eines parallelen Korpus (Tschechisch – Deutsch), das heute als InterCorp am Institut für das Nationalkorpus in Prag weiterentwickelt wird. Manche Deskriptivisten akzeptieren auch Grammatikalitätsurteile von Muttersprachlern (z. B. auch des jeweiligen Linguisten selbst) als legitime Daten, andere lehnen diese als „nicht objektiv genug“ ab. Explanative (erklärende) Grammatik Nach dem Ansatz der explanativen Grammatik muss eine Sprachbeschreibung die Sprache nicht nur richtig beschreiben (= deskriptiv adäquat sein), sondern gleichzeitig eine Erklärung dafür liefern, warum die Formen und Konstruktionen genau so (und nicht anders) sind, wie sie von den Sprechern verwendet und beurteilt werden. Das Ziel der explanativen Adäquatheit findet sich das erste Mal bei Noam Chomsky, dem Begründer der generativen Grammatik, explizit formuliert (Chomsky 1965). Als Erklärung wird auf den Spracherwerb Bezug genommen: Eine Grammatik ist explanativ, wenn die Beschreibung der Sprachformen so PdF MU PS 2014 24. 11.2014 NJ_AA10 Úvod do studia němčiny 12. 12. 2014 Roland Wagner wagner@ped.muni.cz 4 einfach ist, dass die Formen von Kindern erworben werden können. Außerhalb der generativen Grammatik (z. B. in der funktionalen Grammatik) werden andere Erklärungsansätze verwendet: Die Sprachformen werden durch die Funktion dieser Formen in der Kommunikation und den Besonderheiten des akustischen Mediums erklärt. Als Daten werden vor allem die Grammatikalitätsurteile kompetenter Sprecher (auch der Linguisten selbst) verwendet. Die Sprecher beurteilen, ob ein Satz oder eine Konstruktion grammatisch ist oder nicht. Ungrammatische Sätze werden mit „*“ gekennzeichnet, z. B. *Gestern ich habe ein Auto gekauft. Die Grammatik hat auch die Aufgabe zu erklären, warum ein bestimmtes Beispiel ungrammatisch ist. Praxis an der Universität: Während eines Fremdsprachenstudiums sind Sie natürlich häufig mit normativen Grammatiken konfrontiert. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass die Linguistik als Wissenschaft deskriptiv vorgehen sollte. Wenn Sie selbst kleine „wissenschaftliche“ Arbeiten verfassen müssen (z. B. Seminararbeiten, die Bachelor-Arbeit), dürfen Sie nicht vom normativen Standpunkt, sondern nur vom deskriptiven Standpunkt ausgehen: Sie müssen die tatsächlichen Fakten (z. B. in einem elektronischen Korpus) sammeln und dann möglichst objektiv präsentieren. Urteile wie „diese Form ist falsch“ gehören nicht in eine akademische Arbeit! Literaturverzeichnis: Černý, Jiří (1996): Dějiny lingvistiky. Olomouc: Votobia. Chomsky, Noam (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge, MA: MIT Press. Mahmoudian, Mortéza (2013): Linguistique et sciences du langage, in: La Linguistique 49 (1), S. 67– 96. Meibauer, Jörg et al. (2007): Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler. Saussure, Ferdinand de (1916; 1989): Kurs obecné lingvistiky. Překlad: František Čermák. Praha: Academia. Seuren, Pieter (1998): Western linguistics. An historical introduction. Oxford, Malden: Blackwell. Toman, Jindřich (2011): Příběh jednoho moderního projektu. Pražský lingvistický kroužek 1926–1948. Překlad: Vladimír Petkevič. Praha: Karolinum.