PdF Masaryk-Universität Frühjahrsemester 2015 Handout zur Vorlesung 16. 2. 2015 NJ_G200 Morfologie němčiny 1 Drei Konzeptionen des Faches Morphologie Es herrscht keine Einigkeit darüber, was „Morphologie“ eigentlich ist. Die Unterschiede hängen zusammen mit den historischen Entwicklungsphasen der Linguistik, Unterschieden in den theoretischen Positionen verschiedener linguistischer Schulen, Unterschieden in der Struktur der jeweils untersuchten Sprache. In der Vorlesung unterscheide ich drei verschiedene Sichtweisen, die ich mit verschiedenen Entwicklungsphasen der Linguistik in Zusammenhang bringe (nach Matthews 1972). Alle drei Sichtweisen werden aber heute noch von verschiedenen Linguisten vertreten. Häufig findet man Mischformen der drei Grundkozeptionen. 1. Die klassische Tradition Seit der Antike an den klassischen Sprachen Griechisch und Latein entwickelt; Grundlage ist die Beobachtung, dass in diesen Sprachen ein und dasselbe Wort (das Lexem) in konkreten Sätzen in verschiedenen Formen (den Wortformen) erscheint. Die klassischen Grammatiker ordnen diese Wortformen zu Paradigmen und geben Anleitungen, wie man die verschiedenen Formen von bestimmten Grund- oder Leitformen ableiten kann. Definition 1: Morphologie ist die Wissenschaft von den verschiedenen Wortformen und ihrer Anordnung im Paradigma (=„Formenlehre“). Beispiel: das Paradigma von JUNGE Junge Jungen Jungen Jungen Jungen Jungen Jungen Jungen Die Formen sind nach Kasus (von oben nach unten: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv) und Numerus (links: Singular, rechts: Plural) angeordnet. Nachteil: Bei diesem Ansatz wird nicht berücksichtigt, dass sich die Wortform in kleinere Bausteine zerlegen lässt, z. B. Jung-e-n. Die Wortform wird nur als Ganzes ins Paradigma eingeordnet. Ergänzende Bemerkungen: Die klassische Sichtweise wurde im 19. Jahrhundert von dem Ansatz unter Punkt 2. abgelöst; trotzdem sind auch heute noch viele Lehrbüchern (z. B. auch Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache) nach dem klassischen System verfasst. Seit den späten 70er Jahren ist auch in der wissenschaftlichen Literatur ein neu erwachtes Interesse an Modellen festzustellen, die mit Paradigmen arbeiten (vgl. z. B. Matthews 1972; Anderson 1992; Stump 1991; für das Deutsche: Wurzel 1984). In der internationalen englischsprachigen Literatur spricht man von einem Wort und Paradigma- (Word-and-Paradigm)-Ansatz (Matthews 1972). PdF Masaryk-Universität Frühjahrsemester 2015 Handout zur Vorlesung 16. 2. 2015 NJ_G200 Morfologie němčiny 2 2. Die moderne westliche Sprachwissenschaft Im Zusammenhang mit dem vergleichenden Studium der indogermanischen Sprachen im 19. Jh. setzt sich ein neuer Blickwinkel auf die Morphologie durch. Dafür gibt es mehrere Gründe: - Im 19. Jh. wird der Zusammenhang zwischen dem Sanskrit und den klassischen Sprachen erkannt. Das Studium des Sanskrits setzt auch in Europa ein. Damit werden die altindischen Grammatiken bekannt, die ihre Sprache nach anderen Prinzipien untersucht haben als die Grammatiken im Westen. - Das Hauptinteresse der Sprachwissenschaft verschiebt sich auf den Sprachvergleich mit dem Ziel, aus den belegten Sprachen die gemeinsame Ursprungssprache zu rekonstruieren. Dafür muss man die Wörter in ihre kleinsten Bestandteile zerlegen. Definition 2: Morphologie ist die Wissenschaft von der inneren Struktur der Wörter (=„Lehre vom Bau der Wortform“). Kern der Wortform ist die Wurzel. Wurzeln sind unabhängig vom Wort und der Wortart: Sie können sich in verschiedenen Wörtern und verschiedenen Wortarten wiederholen. An die Wurzel können grammatische Elemente angefügt sein, die man allgemein Affixe nennt. Vor der Wurzel stehen Präfixe, hinter der Wurzel Suffixe. Affixe können die Bedeutung beeinflussen und die Wortart festlegen. Die Verbindung aus Wurzel und Affixen wird Stamm genannt. Der Stamm repräsentiert ein fertiges Wort aber noch ohne Endungen und andere formenbildende Zusätze (wie z.B. den Um- und Ablaut im Deutschen). Anmerkung: Im Deutschen lassen sich Stamm und Wurzel häufig nicht unterscheiden. Zum Beispiel ist bei singen das Segment sing- gleichzeitig Stamm und Wurzel. Stamm ist es, weil es den Kern des Wortes (Lexems) SINGEN ausmacht: Es stellt – nach Abzug aller Elemente, die die grammatischen Kategorien Person, Numerus und Tempus markieren (sing-e, sing-st, sang, ge-sung-en) – die Basis des Wortes dar. Gleichzeitig ist es aber auch eine Wurzel, da es den gemeinsamen Kern von verschiedenen Wörtern darstellt (sing-en, Ge-sang, Säng-er). Bei anderen Wörtern lassen sich Wurzel und Stamm unterscheiden, z. B. bei streicheln: Stamm ist steich-el-, Wurzel streich-). Sie das Beispiel unten. Eine vollständige Wortform entsteht dadurch, dass zum Stamm weitere Elemente hinzugefügt werden, die die grammatische Kategorie der Wortform im jeweiligen Kontext (z. B. Kasus, Numerus, Tempus, Person, vgl. unten) markieren. Diese (heute allgemein Marker1 genannten) Elemente können sein: - Suffixe / Endungen (z. B. -st als Marker der 2. Pers. Sing. in der Wortform sing-st); - Veränderungen in der phonologischen Form (z. B. die Vokalveränderung – Ablaut genannt – in der Wortform sang als Marker für das Präteritum); - Entfernung von phonologischen Bestandteilen aus der Wortform (z. B. im Französischen gris /grī/ × grise /grīz/ ‚grau‘ zur Markierung des Genus); dieser Fall kommt im Deutschen allerdings nicht vor. Durch die Verbindung des Stamms mit den grammatischen Markern entsteht die komplette Wortform. Umgekehrt kann man sich den Aufbau der Wortform folgendermaßen vorstellen: 1 Zu den „Markern“ vgl. Wurzel (2000). PdF Masaryk-Universität Frühjahrsemester 2015 Handout zur Vorlesung 16. 2. 2015 NJ_G200 Morfologie němčiny 3 Wortform – Marker für grammatische Kategorien = Stamm Stamm – Affixe = Wurzel Wurzeln sind keine Wörter mehr, sondern rekonstruierte Elemente, die in verschiedenen Wörtern vorkommen können, vgl. z. B. √schwimm-: schwimmen, Schwimmer; verschwommen; anschwemmen; Schwamm. Dem Sprecher einer Sprache muss nicht immer klar sein, dass verschiedene Wörter ein und dieselbe Wurzel enthalten (vgl. wir schwimmen × der Schwamm). Beispiel: √strich(1) Die Zeit verstreicht. (2) Die Tage verstrichen. (3) Sie will die Katze streicheln. (4) Die Striche sind krumm. (5) Das Wort ist durchgestrichen. (6) Siehst du die gestrichelte Linie? verstreicht ver- streich -t verstrichen ver- strich -en streicheln streich -el -n Striche Strich -e durchgestrichen durch- ge- strich -en gestrichelte ge- strich -el -t -e Präfix Wurzel Suffix Suffix Suffix (Flexiv) Stamm ? Wortform Saussure (1916) weist darauf hin, dass bei der synchronen Analyse nicht jedes aus diachroner Sicht feststellbare Suffix als Element des heutigen Sprachbaus gelten kann (z. B. Arbeit-er × Schwester; zwei – zwölf; ent-fliehen × empfehlen). Sprachbausteine sind nach de Saussure nur solche Elemente, die eine Formseite und eine Inhaltsseite haben. Im amerikanischen Strukturalismus (z. B. Hockett 1947; Nida 1948) wird diese Vorstellung durch die Einführung der Begriffe Morphem, Morph und Allomorph systematisiert. Die kleinste bedeutungstragende Einheiten wird „Morphem“ genannt; Allomorphe realisieren das Morphem in konkreten Kontexten. Beispiel: Häusern = {Haus}+{Plural}+{Dat} (Morpheme) = /hojs/+/ər/+/n/ (Allomorphe) In der englischsprachigen Literatur spricht man hierbei von einem Item-and-ArrangementModell (Modell von den Elementen und ihrer Anordnung), vgl. Hockett (1954). 3. Die funktional ausgerichtete Grammatik Die funktional ausgerichtete Grammatik stellt den Zusammenhang zwischen den Formen und ihren Funktionen in den Vordergrund. Die verschiedenen Formen haben nach dieser Auffassung die Funktion, die grammatischen Kategorien der jeweiligen Sprache (z. B. Kasus, Tempus, Aspekt oder Definitheit) auszudrücke (vgl. z. B. ŠČerba 1957; Dokulil 1967; Bondarko 1971). Die Hauptaufgabe der Morphologie ist daher „[d]ie Erforschung des Systems morphologischer Oppositionen und des Systems grammatischer Kategorien […]“ (Lewandowski 1990: 729). Definition 3: Morphologie ist die Wissenschaft von den grammatischen (morphologischen) Kategorien (=„grammatische Bedeutungslehre“). PdF Masaryk-Universität Frühjahrsemester 2015 Handout zur Vorlesung 16. 2. 2015 NJ_G200 Morfologie němčiny 4 Eine „grammatische Kategorie“ wird gewöhnlich als eine Menge von sehr abstrakten Bedeutungen definiert, die sich (a) gegenseitig ausschließen und (b) obligatorisch an einer bestimmten Wortklasse (Wortart) ausgedrückt werden müssen (vgl. Zaliznjak 1967: 25 f.; Meľčuk 2006: 21). Bsp.: Männ-er × Männ-lein (morph. Kategorie × Wortbildung); Für das Deutsche werden gewöhnlich folgende Grammatische Kategorien (oder Merkmalklassen) und die ihnen zugeordneten Merkmale (oder Grammeme, vgl. Meľčuk 2006) angesetzt: Kategorie (Merkmalklasse) Merkmale (Teilkategorien, Grammeme) Numerus Singular, Plural Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum Person 1. Pers., 2. Pers., 3. Pers. Kasus Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv Tempus Präsens, Präteritum (Imperfekt), Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I, Futur II Modus Indikativ, Konjunktiv, Imperativ Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ Determination Definitheit, Indefinitheit (ergänzt von R. Wagner) Grammatische Kategorien des Deutschen nach Meibauer (2007: 22) Schlussfolgerungen für das Fach Morphologie Welche Definition ist für das Fach Morphologie im Rahmen der Ausbildung von Lehrkräften für den DaF-Unterricht am besten geeignet? Das ist eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss. Zitierte Literatur: Anderson, Stephen R. (1992): A-Morphous Morphology. Cambridge, Cambridge University Press. Bondarko, Aleksandr Vladimirovič (1971): Grammatičeskaja kategorija u kontekst. Leningrad: Hauka. Dokulil, Miloš (1967): K pojetí morfologické kategorie. Na příkladě morfologické kategorie slovesného způsobu v češtině, in: Jazykovedný časopis, 18, 1967 (1), 13–36. Hockett, Charles F. (1947): Problems of morphemic analysis, in: Language, 23, 1947 (4), 321–43. Hockett, Charles F. (1954): Two models of grammatical description, in: Word, 10, 210–234. Nida, Eugene A. (1948): The Identification of Morphemes, in: Language, 24, 1948 (4), 414–448. Lewandowski, Theodor (1990): Linguistisches Wörterbuch 2. 5. Aufl. Heidelberg, Wiesbaden: Quelle und Meyer. Matthews, Peter H. (1972): Inflectional Morphology. A Theoretical Study Based on Aspects of Latin Verb Conjugation. Cambridge/Großbritannien, Cambridge University Press. Meibauer, Jörg (2007): Lexikon und Morphologie, in: Meibauer, Jörg, Demske, Ulrike u. a. (Hrsg.): Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 15–69. Meľčuk, Igor (2006): Aspects of the Theory of Morphology. Berlin, New York: Mouton de Gruyter. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique générale. Publ.von Charles Bally und Albert Sechehaye. 2. Aufl. 1931. Paris: Payot. ŠČerba, L. V. (1957): O služebnom i samostojateľnom značenii grammatiki kak učebnou predmeta, in: Izbrannye raboty po russkom jazyku. Moskva: Hauka, S. 12. Stump, Gregory T. (1991): A paradigm-based theory of morphosemantic mismatches, in: Language, 67, 1991 (4), 675–725. Wurzel, Wolfgang Ullrich (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit: Berlin: Akademie Verlag. Wurzel, Wolfgang Ullrich (2000): Der Gegenstand der Morphologie. In: Morphologie. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung. Halbband 1. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 17). Berlin und New York: de Gruyter, 1–15. Zaliznjak, Andrej Anatoľevič (1967): Russkoe imennoe slovoizmenenie. Moskva: Nauka.