ERNST SOMMER: REVOLTE DER HEILIGEN Varšavské ghetto ERSTES KAPITEL Die Gasse, durch die Sebastian Wolf von Jonas, dem Judenrat geführt wurde, wies alle Merkmale des in der Judenstadt zu L. herrschenden Verfalles auf. Die Fenster waren mit Holz verschalt, die Türen waren kaum verschließbar. Die vom Feind abgenommenen Türgriffe hatte man durch Stricke ersetzt. Den Treppen fehlten die Geländer. Aus den breiten Mauerlücken sickerte Wasser. Wolf betrachtete neugierig seinen Führer, dessen Haut von Sonne und Regen braungebeizt war. Ein dünner, weißer Bart umrahmte das kleine, eulenartige Gesicht. Dies also war der Judenrat, die über die Judenstadt gesetzte Obrigkeit. „Wohin führst du mich?" fragte Wolf. „Hab ich es dir nicht gesagt? Du wirst in meiner Stube schlafen. Ein anderer macht dir morgen Platz." Wolf neigte sein Haupt und schwieg. Während sie weitergingen, blickte der Neuankömmling um sich. Der hier zutage tretende Verfall schien künstlich übertrieben. Nie hatte Wolf eine so umfassende Verwüstung gesehen. Selbst die Luft schien in den Bereich der Zerstörung einbezogen. Sie schien mit Scharfem und Giftigem versetzt. Und jetzt fiel es Wolf auf, dass er nirgendwo Kindern begegnet war. Außer für seine eigene Tochter hatte er niemals für Kinder Sympathien empfunden. Hier aber hatte er das heftige Verlangen, einem Kinde zu begegnen. Er hatte die Empfindung, das Elend würde weniger aufdringlich sein, wenn man spielenden Kindern begegnete. Ihr Fehlen machte die Stille unerträglich. Die vorher von ihren letzten Bewohnern verlassene Judenstadt hatte vor vier Monaten ihre gegenwärtigen Bewohner empfangen. Es waren nebst den Vertretern einiger nützlicher Berufe hauptsächlich die Arbeiter und Arbeiterinnen der Autoreparaturwerkstätte, die in dem großen, überdeckten Schlosshof eingerichtet worden war. Das Schloss überragte mit seinen Turmspitzen die gesamte Landschaft. Wo immer man stand, erblickte man das die höhere Turmspitze zierende Kreuz. Man konnte seinem strengen Zeichen nirgends entgehen. Sogar hier in der Tiefe, zwischen den Trümmern und Baumkronen, war ein Stück des Kreuzes erkennbar. Es blitzte am Rande des Himmels wie ein verfrühter Abendstern. Jonas richtete seine Augen langsam auf den Fremden. „Woher kommst du?" Wolf gab in wenigen Sätzen Bescheid. Er war Chefkonstrukteur einer nordböhmischen Maschinenfabrik gewesen. Von dort bis nach L. hatte er einen langen Weg zurückgelegt, einen oftmals gewundenen Weg mit vielen und absonderlichen Stationen. Jonas nickte unfreundlich. „Wir alle haben viele Stationen zurückgelegt. Und das Schlimmste ist: manche von uns haben sie zweimal durchlaufen, auf dem Hin- und dem Rückweg.“ Er selber war in einem uralten Hause in der Judengasse zu Lwow geboren und hatte dortselbst die erste und glücklichere Hälfte seines Lebens verbracht. Die schmalen, vergitterten Fenster lagen tief, denn die Straße war wiederholt aufgeschüttet worden. Unter den Fußböden wölbten sich kühle und trockene Keller, in denen es sich im Winter wohlig schlief. Die Wände trugen ehrwürdige Inschriften in der heiligen Sprache. Sie hatten das vorbildliche Leben mancher Gerechter gesehen. Der Herbst des Jahre 1915 hatte viele jüdische Einwohner aus Lwow vertrieben. Auf der Flucht vor den Russen geriet Jonas bis nach Wien. Hier, in der Judengasse der Inneren Stadt, begann Jonas, neben der Thora, Polnisch und Ukrainisch zu unterrichten. Umgeben von Schülern und Söhnen hoffte er, seine Tage in der Wiener Judengasse zu beschließen. Aber nach Österreichs Eingliederung ins Reich hatte man die aus Galizien eingewanderten Juden nach Polen zurückgeschickt. Plötzlich fand sich Jonas wieder in seiner Heimat. Lwow war kaum mehr zu erkennen. Das uralte Haus mit seinen weitläufigen Kellern hatte einem Warenhause Platz gemacht. Eines Tages wurde Jonas von seiner Familie getrennt und dem im äußersten Osten gelegenen Ghetto von L. zugeteilt. Dort wurde er seiner Sprachkenntnisse wegen zum Judenrat ernannt. Judenräte waren die Obrigkeit der Juden. ln Wahrheit ihr waren sie nichts als Werkzeuge des Judenkommissars. Sie halten dessen Befehle mit größter Genauigkeit in Vollzug zu setzen. War ein Zugehöriger ihres Sprengels mit der Erfüllung säumig, so strafte man neben ihm auch den für ihn verantwortlichen Judenrat. Zu den übrigen Geschäften des Judenrats gehörte die Unterbringung der jüdischen Arbeitskräfte und die Auswahl der Überzähligen, deren Schicksal dunkel und kläglich war. In dem Ghetto von L. war Jonas bisher mehr mit der Versorgung der Ankömmlinge als mit der Kontrolle der zu Entlassenden befasst gewesen. Noch niemand hatte ihm die unerfüllbare Aufgabe zugeteilt, entbehrliche Arbeitskräfte auszulesen und zur Ablösung vorzuschlagen. Aber mehr als einmal hatte er Menschen auf ihrem schmerzhaften Weg zum Bahnhof begleitet, der eine halbe Wegstunde von L. entfernt in der Stadt R. lag. Jetzt blieb er stehen. Seine Augen richteten sich neuerlich auf Wolf. Sie blickten verdrossen und trübe. „Eile nicht so!" sagte er vorwurfsvoll. „Ich kann dir nicht folgen. Du kommst noch immer zur rechten Zeit. Ich aber bin noch nicht so weit, um es meinem Nachbarn beizubringen." Wolf nickte. Ohne zu fragen, wusste er, warum Jonas noch nicht so weit war. Er wusste auch, was jenem bevorstand, dem Jonas es sagen musste. Leichter Schweiß trat auf seinen Schläfen aus. Jonas kämpfte mit sich. Seine Lippen murmelten unverständliche Worte. Offenbar bereitete er sich auf seine Mitteilung vor. Indes waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt, der Ruine eines Turms, der weit älter sein musste als die ersten Anfänge der Judenstadt. Die Zinnen waren mit steinernem Maßwerk geschmückt. Hoch über dem Eingang, geräumig und tief, befand sich eine prunkvolle Nische, offenbar gemacht, um die Statue des Erbauers des Turms aufzunehmen. Jonas kehrte dem Neuankömmling den Rücken. Sein Kopf, leicht gesenkt, presste sich einen Augenblick lang gegen einen der riesigen rohbehauenen Steine. Seine Finger berührten die vom Alter und der Witterung ausgewaschene gotische Verzierung. Die Lippen des Judenrats bewegten sich. Aber man hörte keine Stimme. Wahrscheinlich probte Jonas, was er drinnen seinem Nachbarn sagen musste. Wolf betrachtete unterdessen den Turm. In der Schwedenzeit hatte man eine eiserne Mörserkugel zwischen die Steine eingebettet. Weiter oben grinste ein rohbehauener Kopf aus Porphyr, mit langem, geteiltem tatarischem Bart und wild nach unten starrenden Augen. Dieser Kopf musste zumindest ein halbes Tausend Jahre alt sein. Aber sein Gesichtsausdruck. erinnerte an die heutigen Henker. Die lukenartigen Turmfenster waren mit Brettern verschalt. Es gab ein Fenster zur ebenen Erde, ein zweites in der Höhe des ersten Stockes. Vor der höher gelegenen Luke war Wäsche zum. Trocknen aufgehängt. Sie schaukelte heftig an ihrem Strick, vielfarbig, beinahe heiter. Ihre Lebendigkeit milderte ein wenig die barbarische Strenge des Turms. Jonas stand in sich verkrochen. Sein weiter Mantel stand ihm überall ab. Trotz der warmen Jahreszeit hatte er ein blaues Tuch um den Hals gebunden, ein glühendes Blau, das Wolf an südliche Himmel gemahnte. Die Schuhe des Judenrats waren kunstlos geflickt. Er stand in ihnen, als wären sie eine Art Folterinstrument. Jonas blickte Wolf böse an. Er schien sich über das unbeteiligte Aussehen des Fremden zu wundern. Wie kam es, dass sein Gesicht nichts als kühle Neugier auszudrücken schien? Plötzlich schien der Judenrat zu einem Entschluss gekommen zu sein. Er stieß Wolf an, zeigte auf die halbvermorschte Tür und stieß sie mit seinen schmalen, hageren Händen auf. „Komm!" sagte er befehlend. „In Gottes Namen!"