Rudolf de Cillia Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache Im folgenden Beitrag soll – soweit es auf wenigen Seiten möglich ist, ein derart komplexes Phänomen zu behandeln – die Frage des Spracherwerbs in der Migration von Seiten der Spracherwerbsforschung, der Soziolinguistik und der Sprachenpolitik diskutiert werden, wobei der (meist ungesteuerte) Spracherwerb von Erwachsenen ausgeschlossen wird – das würde den Rahmen des Beitrags sprengen. Die Rolle der Sprache(n) im Spracherwerb Zunächst sei vorausgeschickt, dass für die am Sozialisationsprozess beteiligten Sprachen unterschiedliche Bezeichnungen verwendet werden, mit denen wiederum unterschiedliche Konnotationen verbunden sind: Muttersprache, Erstsprache, L1, Primärsprache, manchmal auch Familiensprache, Herkunftssprache für die Sprachen, die in der Primärsozialisation erworben werden, wobei auch Bedeutungsunterschiede damit verbunden sind.1 Zweitsprache, L2 wird für eine Umgebungssprache verwendet, die erst später, hauptsächlich in der Form des ungesteuerten Spracherwerbs, erworben wird und die sich durch die Erwerbsform von einer eventuellen Fremdsprache unterscheidet, wobei es sich im konkreten Fall im Migrationskontext bei Deutsch auch um die Dritt- oder Viertsprache handeln kann. In unserem Kontext haben wir es mit zweierlei Formen des Spracherwerbs von Schülerinnen und Schülern mit anderen Erstsprachen zu tun: Entweder wandern sie während der Schulpflicht zu (Seiteneinsteiger/innen), die Literalisierung in der Muttersprache ist mehr oder weniger weit fortgeschritten, wenn sie ins Aufnahmeland kommen, und sie lernen die Bildungssprache des Aufnahmelands relativ spät. Oder die Kinder sind bereits im Einwanderungsland geboren, und ihre Primärsozialisation findet in der Familiensprache, die schulische Sozialisation größtenteils in der Zweitsprache statt, wobei es hier die unterschiedlichsten Kombinationen von Familien- und Umgebungssprache geben kann: Die Bandbreite möglicher unterschiedlicher Sozialisationsverläufe ist also sehr groß, je nach familiärer Situation, Einreisealter, Sprachwechselbereitschaft der Elterngeneration usw. Kinder, die im Gastland geboren werden oder die vor der Einschulung einreisen, haben häufig Defizite in der Erstsprache. Seiteneinsteiger/innen, die während der Schulpflicht einreisen, haben, wenn sie relativ spät ins Einwanderungsland kommen, meist eine solide erstsprachliche Grundlage, müssen die Zweitsprache häufig unter sehr schwierigen Bedingungen erwerben. Dabei ist die Funktionsverteilung der beteiligten Sprachen bei der Kindergeneration sehr komplex, von Individuum zu Individuum verschieden und wir haben es mit unterschiedlichsten Formen von individueller Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit zu tun. Hans-Jürgen Krumm hat Kinder Sprachenporträts zeichnen lassen, die zeigen, dass bereits in der Volksschule diejenigen Kinder, die ein monolinguales Selbstbild haben, eine klare Minderheit darstellen (Krumm, 2001). 1 Dass der Begriff Herkunftssprache problematisch und missverständlich ist, darauf weisen z. B. Dirim & Mecheril, 2010a, S. 19, mit Recht hin. Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 2 Formen des Spracherwerbs In der Analyse der hier diskutierten Phänomene sind drei unterschiedliche Formen des Spracherwerbs von Interesse, Erstspracherwerb (ESE), ungesteuerter Zweitspracherwerb (ZSE) und, in der Schule, gesteuerter Zweitspracherwerb oder Fremdsprachenunterricht. Der Erstspracherwerb, der mit der Geburt, wenn nicht schon in der pränatalen Phase, beginnt, ist der scheinbar mühelos und automatisch vor sich gehende, nach den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Spracherwerbsfähigkeit verlaufende Erwerb einer Sprache, der einen selbstverständlichen Teil der Entwicklung eines Kindes darstellt. Die Kerngrammatik ist in etwa bis zum Schuleintrittsalter erworben, aber der L1-Erwerb muss selbstverständlich durch schulische Sozialisation vervollständigt und weiterentwickelt werden. Dieser Erwerb einer Sprache verläuft nicht linear, sondern diskontinuierlich, in U-förmigen Entwicklungsstadien. Detaillierte Beschreibungen des Erwerbsverlaufs in unterschiedlichen sprachlichen Dimensionen finden sich etwa bei Tracy (2008) und Ehlich, Bredel & Reich (2008). Im Fall eines simultanen oder doppelten Erstspracherwerbs werden zwei Sprachen gleichzeitig erworben, z. B. dann, wenn die beiden Elternteile unterschiedliche Erstsprachen sprechen. Zweitspracherwerb meint den Erwerb einer zweiten Sprache, der nicht synchron mit dem Erwerb der Erstsprache erfolgt, sondern zeitversetzt, häufig nachdem in der Erstsprache schon die Kerngrammatik erworben wurde. Das Kind verfügt hier schon über Sprachkenntnisse in der L1 und hat andere kognitive Voraussetzungen als ein Neugeborenes. Dieser Erwerb wird von den Beteiligten oft als bewusster Prozess erfahren, wird zunächst nicht durch formale Lernverfahren gesteuert, sondern findet durch den Kontakt mit der Umgebung, mit den Medien oder mit Gleichaltrigen statt. In der Schule wird dieser Zweitspracherwerb dann in der Regel durch formale Lehr- und Lernverfahren unterstützt. Von frühem Zweitspracherwerb, auch sukzessivem ZSE spricht man, wenn eine zweite Sprache ab dem 3./4. Lebensjahr dazukommt, wobei in diesem Fall zum Teil noch die Gesetzmäßigkeiten des ESE wirksam sind. Die Erforschung des Zweitspracherwerbs ist eine relativ junge Disziplin und hat sich erst seit den 1970erJahren richtig entwickelt, im letzten Jahrzehnt ist die Mehrsprachigkeitsforschung dazugekommen, die den Erwerb weiterer Sprachen untersucht bzw. theoretische Modelle und empirische Befunde für den Erwerb von mehr als zwei Sprachen entwickelt (vgl. z. B. Angelis, 2007). Dabei bezeichnet man mit dem Terminus Zweisprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeit heute – im Unterschied zu früher – unterschiedlichste Formen und Grade der Beherrschung von zwei oder mehr Sprachen – von der simultanen Zweisprachigkeit im engeren Sinn (siehe oben) bis hin zur durch schulischen Fremdsprachenunterricht erworbenen Mehrsprachigkeit. Jede dieser Formen von Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf individueller Ebene wird heute von der Spracherwerbsforschung als positiv beurteilt – bis in die 60er Jahre hingegen wurde früher Bilinguismus eher negativ beurteilt, wie das folgende Zitat des angesehenen Germanisten Leo Weisgerber zeigt: „Für die große Menge behält es Geltung, daß der Mensch im Grunde einsprachig ist [...] vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des moeurs Hand in Hand [...].“ (Weisgerber, 1966, S. 273) Gesteuerter Zweitspracherwerb oder FU meint im Übrigen den Erwerb oder das bewusste Erlernen einer Sprache im schulischen Kontext, die nicht Umgebungssprache ist, also z. B. Englisch oder Französisch an österreichischen Schulen. Bei den oben getroffenen Unterscheidungen handelt es sich um Idealisierungen. In der Praxis kommt es häufig zu komplexen Konstellationen von Erst-, Zweit-, Drittsprache und zu einer Dynamik auch im Verlauf einer Biographie, in der sich die Bedeutung der einzelnen Sprachen für das Individuum ändert. Die individuelle Ausprägung von Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit kann also – abhängig von sprachenpolitischen und sozioökonomischen Faktoren – sehr unterschiedlich sein. Wird der Spracherwerb nicht Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 3 gefördert und entwickelt, kommt es zu einem Phänomen, das man früher mit einem unpassenden Terminus Semilingualismus oder Halbsprachigkeit bezeichnet hat (Skutnabb-Kangas, 1981). Gemeint ist damit eine Zweisprachigkeit, bei der sich aufgrund eines ungünstigen Verlaufs der sprachlichen Sozialisation weder die eine Sprache noch die andere voll entwickeln kann/konnte, z. B. weil die Alphabetisierung und die schulische Sozialisation in der Zweitsprache erfolgen und nicht in der Sprache der Primärsozialisation und der Familie, also sozusagen ein Bruch in der sprachlichen Entwicklung eintritt.2 Er besteht in unzulänglicher Kenntnis der Muttersprache und der Zweitsprache und zeigt sich nicht unbedingt im alltäglichen, sondern häufig erst in der Mittel-/Oberstufe im „akademischen“ Sprachgebrauch – ein Lehrerinnen und Lehrern bekanntes Phänomen. Der kanadische Sprachlehrforscher Jim Cummins (1991) hat die Unterscheidung zwischen Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS) und kognitiv-akademischen Sprachfähigkeiten (Cognitive Academic Language Proficiency, CALP) in die Diskussion eingeführt – gemeint sind mündliche Alltagssprache versus konzeptionell schriftlicher „Bildungssprache“ (Lange & Gogolin, 2010, S. 15–16). Die Forschung geht heute davon aus, dass der Mensch über eine ungeteilte Spracherwerbsfähigkeit verfügt, die sich beim Erwerben von weiteren Sprachen ausdifferenziert. Unter ungünstigen Bedingungen kommt es zu „eingeschränkter“ Zweisprachigkeit, unter günstigen zu „balancierter“ oder „kompetenter“ Zweisprachigkeit (Boeckmann, 2008, S. 5). Das führt uns zur Bedeutung der Erstsprache für den Spracherwerb Dass die Erstsprache eine wichtige Rolle für die sprachliche Entwicklung eines Individuums und für den Schulerfolg spielt, ist seit der Sprachbarrierendiskussion in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt (vgl. Bernstein, 1970; Oevermann, 1972). Die Aktualisierung und Förderung der für den Menschen spezifischen Spracherwerbsfähigkeit im Erstspracherwerb und das gleichzeitige Hineinwachsen in eine bestimmte sprachliche und kulturelle Welt legen den Grundstein für den Erwerb von weiteren Zweit-/Fremdsprachen. Dabei ist der Erwerb der Erstsprache natürlich mit dem Schuleintritt noch nicht abgeschlossen, sondern wesentliche Bereiche der Grammatik, des Lexikons, der Pragmatik und natürlich die Orthographie müssen in der schulischen Sozialisation erworben werden. Das ist für Kinder der Mehrheitssprachen selbstverständlich. Man stelle sich vor, deutschsprachige Kinder würden keinen schulischen Deutschunterricht bekommen: Die Beherrschung der Präterita der starken Verben oder die Unterscheidung zwischen 3. und 4. Fall wäre für viele ein unlösbares Problem. Bei Kindern mit anderen Erstsprachen wird die Erstsprache oder Familiensprache jedoch oft nicht weiterentwickelt, nicht literalisiert. Dadurch kommt es nicht nur zu keiner ausbalancierten Zweisprachigkeit, sondern viele Befunde sprechen dafür, dass auch der Erwerb der Zweitsprache dadurch beeinträchtigt wird, weil aufgrund der unteilbaren Sprachfähigkeit ein Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitsprachentwicklung angenommen werden muss (Cummins, 1979, nannte das „Interdependenzhypothese“). Und auch wenn dieser Zusammenhang empirisch noch nicht restlos geklärt ist, gilt in der Forschung als gesichert, dass zweisprachige Kinder nicht nur von einer möglichst früh einsetzenden Förderung in der L2 profitieren, sondern auch von einer Literalisierung in der Erstsprache und einem langfristigen L1-Unterricht. Bei Angehörigen von Migrationsminderheiten ist häufig das Gegenteil der Fall: Die Entwicklung der L1 wird mit dem Schuleintritt mehr oder minder abrupt abgeschnitten, sie werden in einer Zweitsprache alphabetisiert, der weitere Erwerb der L1 wird kaum oder gar nicht in der Schule unterstützt. Der Effekt dieser Entwicklung: Keine der beiden Sprachen wird wirklich erworben. Das Resultat: eine steckengebliebene, unvollständige sprachliche Sozialisation, eine Zweisprachigkeit, bei der sich aufgrund eines un- 2 Brizic (2007) spricht von „sprachlicher Ausnahmesituation“. Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 4 günstigen Verlaufs weder die eine noch die andere Sprache, daher auch die Spracherwerbsfähigkeit nicht voll entfalten konnte. Viele Befunde aus der empirischen Bilinguismusforschung bestätigen diese Annahmen (z. B. schon die bei Fthenakis, Sonner, Thrul et al., 1985, sehr ausführlich dokumentierten Arbeiten). Wird die Sprachfähigkeit nicht dementsprechend gefördert, entsteht ein Zirkel: Die anfänglich eingeschränkte kognitiv-akademische Sprachfähigkeit durch mangelhafte Beherrschung der Bildungssprache führt zu deren fortlaufender Einschränkung, indem sie die Bedingungen ihrer eigenen Förderung begrenzt. Das Resultat sind eingeschränkte Lese-, Schreib- und sonstige Schulleistungen. Das wird umso sichtbarer, je stärker die Schule die kognitiv-akademischen Fähigkeiten verlangt, also zum Teil erst sehr spät im Curriculum. Auf der anderen Seite spricht einiges für positive Auswirkungen eines balancierten Bilinguismus. Angeführt werden in der Literatur z. B. die Verbesserung analytischer Fähigkeiten (Fähigkeit der Trennung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung, zwischen Form und Inhalt der Sprache) und Verbesserungen im kreativen Bereich. Daneben gibt es Befunde zur sozialen Intelligenz (differenziertes Eingehen auf Zuhörer/innen, Empathie). Die in der BRD durchgeführte DESI-Studie weist nach, dass nicht nur früh bilinguale Kinder, sondern auch mehrsprachige, die Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, einen Vorteil beim Erwerb der Fremdsprache Englisch haben und besser abschneiden als die monolingual deutschsprachigen (das gilt allerdings nicht für die Deutsch-Leistungen, DESI = Deutsch-Englisch Schülerleistungen International; Hesse & Göbel, 2009). Die Förderung der Erstsprache von bilingualen Kindern in Minderheitensituationen wirkt sich letztlich auch affektiv aus: Es entwickelt sich ein positives Selbstbild der eigenen Gruppe, eine positive Einstellung zur eigenen Sprache; und auch bei schulrelevanten affektiven Variablen wie Motivation, Ermöglichung des Kontaktes zwischen Schule und Elternhaus etc. ergeben sich positive Effekte. So zeigten sich bei einer Studie in Wien, bei der mit einer Gruppe von türkischsprachigen Kindern durch eine Psychagogin bewusst in deren Muttersprache und an der Entwicklung ihres sprachlichen Selbstbewusstseins gearbeitet wurde, innerhalb kurzer Zeit positive Effekte nicht nur in der Beherrschung der Muttersprache, sondern auch in den Leistungen in Deutsch und in anderen Fächern (Akkus, Brizic & Cillia, 2005). Dass der Spracherwerb in der Migration allerdings nicht nur von individuellen und schulischen Faktoren abhängig ist, zeigen Untersuchungen, die die externen Variablen des Spracherwerbs untersuchen. Anlass dafür war z. B. die Feststellung, dass aus der Türkei oder aus Marokko stammende Kinder systematisch schlechtere Ergebnisse bei Sprachstandserhebungen erzielten als z. B. Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Letzteres stellte sich etwa bei einer aufwendig durchgeführten Longitudinalstudie zum Spracherwerb von 106 Kindern unterschiedlicher Muttersprachen an Wiener Schulen heraus, die von einer Grazer/Wiener Forschungsgruppe von 1999 bis 2003 durchgeführt wurde (Peltzer-Karpf, Wurnig, Schwab et al., 2003). Da die Gruppen in allen anderen Einflussfaktoren im Prinzip vergleichbar waren, stellte sich die Frage, was der Grund für diese Unterschiede sein konnte. Brizic (2007) fand in einer mit sehr aufwendigen Datenerhebungsmethoden durchgeführten soziolinguistischen Begleituntersuchung heraus, dass es sich bei den als „türkischsprachig“ eingeordneten Kindern letztlich um viele unterschiedliche Sprachen und Sprachvarietäten handelte: vom Türkisch der urbanen Eliten über das sich davon deutlich unterscheidende Türkisch der Landbevölkerung und Kurdisch bis zu anderen Minderheitensprachen. Vor allem aber stellte sich heraus, dass sich unter türkischsprachigen Familien auch solche befanden, in denen durch Zwangsassimilation 3 eine nur rudimentäre Varietät des Türkischen von den Eltern an die Kindergeneration weitergegeben wurde. Der Bruch in der sprachlichen Entwicklung fand also durch 3 In der Türkei war Kurdisch bis 2001 verboten. Es wurde, obwohl typologisch völlig anders als Türkisch, als Bergtürkisch bezeichnet. Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 5 Sprachverlust der Erstsprache und Sprachwechsel in die Mehrheitssprache schon in den Generationen davor statt, und das sprachliche Kapital, das an die Kindergeneration weitergegeben wurde, war sozusagen nicht gleichwertig mit dem der Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien und schon gar nicht mir dem der deutschsprachigen Kinder. Angesichts dieser sprachenpolitischen und historischen Rahmenbedingungen stößt die pädagogische Intervention eindeutig an ihre Grenzen. Deutsch als Zweitsprache Im konkreten Fall des österreichischen Bildungswesens haben wir es bei der L2 mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) zu tun.4 Bei dessen Erforschung handelt es sich um eine relativ junge Disziplin. In Österreich gibt es erst seit 2010 einen eigenen Lehrstuhl für DaZ an der Universität Wien, der gleichzeitig einen Arbeitsschwerpunkt „Entwicklung individualdiagnostischer Verfahren zur Feststellung sprachlicher Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen“ hat. Der Erwerb von Deutsch als Zweitsprache verläuft, ähnlich wie der Erstspracherwerb des Deutschen, nicht linear, sondern dynamisch und in u-förmigen Kurven, und es kommt auch zu scheinbaren Rückschritten, wenn die Lernenden bestimmte Regeln „entdecken“. So werden, wenn die Regeln für das schwache Präteritum erworben werden, dann auch eine zeitlang Analogiebildungen für starke Verben wie „gehte“, singte“ verwendet. In der SEF geht man davon aus, dass solche nichtzielsprachenkonformen Formen in bestimmten Phasen auch korrekturresistent sind und dass der pädagogischen Intervention von den Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs, den Spracherwerbsstadien, bestimmte Grenzen gesetzt sind. Der DaZ-Erwerb von Kindern unterscheidet sich deutlich von dem Erwachsener, wobei man häufig noch weiter differenziert: von 0 bis 3 hat man es de facto mit simultaner ZSK zu tun, dann werden noch Phasen von 3 bis 0, 6 bis 8 und 8 bis 12 unterschieden, wobei der sukzessive ZSE vor allem bis zum Schulbeginn stark dem monolingualen Erwerb ähnelt (Ehlich, Bredel & Reich, 2008a, S. 27). Was die konkrete Entwicklung einzelner sprachlicher Dimensionen betrifft, liegt etwa mit der zweibändigen Publikation „Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung“ (Ehlich, Bredel & Reich, 2008b, 2008c) eine gut zugängliche Darstellung vor – die Entwicklung hier näher auszuführen, würde den Rahmen sprengen. Um ein Beispiel anzuführen: In der Morphologie des deutschen Nomens bereiten die Genusmarkierung durch den Artikel und die Kasusmorphologie lange Schwierigkeiten. Festzuhalten ist auch, dass es im ZSE wie im ESE zu Beginn eine stille Phase gibt – was sich etwa bei mehrsprachigen Kindern im Kindergarten deutlich zeigt; weiters, dass es bei zweisprachigen Kindern zu Phänomenen der „Sprachalternation“ kommt (code switching, code mixing), bei denen Elemente beider Sprachsysteme miteinander gemischt werden. Das sind in derartigen Situationen normale Phänomene, die keinerlei Anlass zur Sorge geben müssen, sondern die kreative Nutzung der zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen darstellen (Dirim & Mecheril, 2010b). Spracherwerb braucht vor allem aber auch Zeit – man geht davon aus, dass der Erwerb der Zweitsprache, vor allem wenn er spät beginnt, auch unter Bedingungen schulischer Förderung fünf bis sieben Jahre bis zur muttersprachenähnlichen Beherrschung dauern kann (Sevinç, 2011). Einflussfaktoren wie Alter bei Erwerbsbeginn, Lernmotivation, Umfang und Qualität/Authentizität des Inputs usw. beeinflussen den Prozess. 4 Im deutschsprachigen Raum sind mehr als neun Millionen Menschen vom Gebrauch und Erwerb des Deutschen als Zweitsprache betroffen (Barkowski, 2003). Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 6 Pädagogische Konsequenzen Eine zeitgemäße Schule sollte davon ausgehen, dass individuelle Mehrsprachigkeit die Regel ist und eine zentrale gesellschaftliche Ressource darstellt. Sie sollte dafür differenzierte pädagogische Konzepte entwickeln. Wir haben es im schulischen Kontext mit einem sehr komplexen Gefüge von Sprachen zu tun: Unterschiedliche Sprachen haben unterschiedliche Funktionen für je unterschiedliche Beteiligte im Bildungsprozess. Deutsch ist zunächst Erstsprache, Muttersprache eines Teils der Schüler/innen, aber auch Zweit-, Dritt-, etc.-Sprache, Standardsprache, Staatssprache, Schulsprache, Unterrichtssprache, Bildungssprache, Mehrheits-/Nationalsprache, Amtssprache. Auf der anderen Seite haben wir es zu tun mit den Erstsprachen, Herkunftssprachen, Familiensprachen derjenigen Kinder, für die nicht Deutsch die Sprache der Primärsozialisation ist. Schließlich noch mit den „Fremd“sprachen, wobei bei der lingua franca Englisch aufgrund ihrer Omnipräsenz in unserer Kultur die Grenze zur Zweitsprache fließend ist. Um ideale Bedingungen migrationsbedingter MS zu schaffen, müssten in einem integrativen „Gesamtkonzept sprachlicher Bildung“ oder Gesamtsprachencurriculum die Funktionen der einzelnen Sprachen, die im schulischen Bereich verwendet werden, definiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ein derartiges Curriculum wird für Österreich im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) gerade erstellt und liegt in einer Diskussionsfassung vor. Die meisten Befunde zum Spracherwerb in der Migration sprechen jedenfalls für eine Berücksichtigung der Erstsprache als Unterrichtsmedium in der schulischen Sozialisation und für balancierte Zweisprachigkeit als Erziehungsziel. Konkret sollten die Migrationssprachen durch Alphabetisierung in der Erstsprache oder durch zweisprachige Alphabetisierung gefördert werden, muttersprachlicher Unterricht zumindest in den ersten drei, vier Jahren angeboten und dadurch die vorhandene Mehrsprachigkeit weiterentwickelt und gefördert werden, anstatt sie verkümmern zu lassen und damit vorhandene sprachliche Ressourcen nicht zu nutzen. Ein paar Argumente dafür seien noch einmal angeführt: Eine stabile Erstsprache fördert und erleichtert den Erwerb der Zweitsprache und aller anderen Sprachen; die Fähigkeit zur sprachlichen Analyse und die Qualität und Quantität von Spracherwerbsstrategien ist bei bilingualen Kindern höher als bei monolingualen; die sprachliche Kreativität wird gefördert; positive Einflüsse auf die verbalen und nonverbalen Intelligenzleistungen werden festgestellt; schließlich wird die größere Empathiefähigkeit bilingualer Menschen und ihre geringere Anfälligkeit gegenüber Ethnozentrismus ins Treffen geführt. Diese Berücksichtigung der L1 ist bei den autochthonen österreichischen Minderheiten in Kärnten und im Burgenland übrigens selbstverständlich. Die Tatsache, dass die Bildungssprache Deutsch nicht auch Erstsprache aller Schüler/innen ist, müsste sich auch in einer Differenzierung des Unterrichtsgeschehens, aber auch der Leistungsbeurteilung niederschlagen. Und das müsste auch Folgen für die Unterrichtsgestaltung und für die Leistungsbeurteilung in allen anderen Fächern, auch in den Sachfächern, haben. Denn Sprach(en)unterricht ist nicht nur Angelegenheit der Deutschlehrer/innen, sondern aller Lehrer/innen. Schließlich ist jeder Unterricht auch Sprach- unterricht. Rudolf de Cillia: Spracherwerb in der Migration – Deutsch als Zweitsprache 7 Literatur Ahrenholz, B. (2010). Erstsprache – Zweitsprache – Fremdsprache. In Ahrenholz, B. & Oomen-Welke, I. (Hrsg.). Deutsch als Zweitsprache. 2. Auflage. Deutschunterricht in Theorie und Praxis 9. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 3–16. Akkus, R., Brizic, K. & Cillia, R. de (2005). Bilingualer Spracherwerb in der Migration. Psychagogischer und soziolinguistischer Teil des Schlussberichts (2004/2005). Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK). Angelis, G. de (2007). Third or Additional Language Acquisition. Clevedon: Multilingual Matters. Barkowski, H. 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