Johann Heinrich Jung-Stilling Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte In Westphalen liegt ein Kirchsprengel in einem sehr bergichten Landstriche, auf dessen Höhen man viele kleine Grafschaften und Fürstenthümer überse- hen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Ein- wohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob sie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben müßen, vor den Nachbarn, die bloße Bauren sind, immer einen Vorzug zu behaupten gesucht, die ihnen aber auch dagegen nachsagten, daß sie vor und nach den Namen Florendorf verdrängt und an dessen Statt Florenburg eingeführet hätten. Dem sey aber wie ihm wolle, es ist wirklich ein Magistrat daselbst, dessen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeschlachte, unwissende Leute nannten ihn außer dem Rathhause Meister Hanns, hübsche Bürger pflegten doch auch wohl Meister Schulde zu sagen. Eine Stunde von diesem Orte süd-ostwärts liegt ein kleines Dörfchen Tiefenbach, von seiner Lage zwi- schen Bergen so genannt, an deren Fuße die Häuser zu beiden Seiten des Wassers hängen, das sich aus den Thälern von Süd und Nord her just in die Enge und Tiefe zum Fluß hinsammelt. Der östliche Berg heißt der Giller, geht steil auf, und seine Fläche nach Westen gekehrt, ist mit Maibuchen dicht bewachsen. Von ihm ist eine Aussicht über Felder und Wiesen, die auf beyden Seiten durch hohe verwandte Berge ge- sperrt wird. Sie sind ganz mit Buchen und Eichen be- pflanzt, und man sieht keine Lücke, außer wo manch- mal ein Knabe einen Ochsen hinauf treibt und Brenn- holz auf halbgebahntem Wege zusammenschleppt. Unten am nördlichen Berge, der Geissenberg ge- nannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken steigt, und auf dessen Spitze Ruinen eines alten Schlosses liegen, steht ein Haus, worinnen Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben. Vor ohngefähr dreißig Jahren lebte noch darinn ein ehrwürdiger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Kohlenbrenner. Er hielt sich den ganzen Sommer durch im Walde auf, und brannte Kohlen; kam aber wöchentlich einmal nach Hause, um nach seinen Leu- ten zu sehen, und sich wieder auf eine Woche mit Speisen zu versehen. Er kam gemeiniglich Sonn- abends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu können, allwo er ein Mitglied des Kirchenraths war. Hierinnen bestunden auch die meh- resten Geschäfte seines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween ältesten Söhne, die vier jüngsten aber Töchter waren. Einsmals als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigsten Gemüthe die untergehende Sonne betrachtete, die Melodie des Liedes, Der lieben Son- nen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollführet, auf einem Blatt pfif, und dabey das Lied durchdachte, kam sein Nachbar Stähler hinter ihm her, der ein wenig geschwinder gegangen war, und sich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekümmert haben mochte. Nachdem er eine Weile schon nahe hinter ihm gewesen, auch ein paarmal fruchtlos gehustet hatte; fieng er ein Gespräch an, das ich hier wörtlich beifügen muß. <> Dank hab, Stähler! (indem er fortfuhr auf dem Blatt zu pfeifen.) <> Es kann seyn. (Nun pfif er wieder fort.) <> Das soll wohl seyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen über die Güte und Liebe Gottes. Ich war so eben in Gedan- ken drüber; es ist auch Abend mit uns, Nachbar Stäh- ler! der Schatten des Todes steigt uns täglich näher, er wird uns erwischen, ehe wirs uns versehen. Ich muß der ewigen Güte danken, die mich nicht nur heute sondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Bei- stand getragen, erhalten und versorgt hat. <> Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichti- gen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreyt werden soll, um mit den See- len meiner Voreltern, und anderer heiligen Männer, in einer ewigen Ruhe umgehen zu können. Da werd' ich finden: Doktor Luther, Calvinus, Oecolampadius, Bu- cerus, und andere mehr, die mir unser seeliger Pastor, Herr Winterberg, so oft gerühmt, und gesagt hatte, daß sie nächst den Aposteln, die frömmsten Männer gewesen. <> Wie schwazest du? die sind über zweihundert Jahr todt. <> Dabei sind alle meine Kinder groß, sie haben schreiben und lesen gelernt, sie können ihr Brod ver- dienen, und haben mich und meine Margrethe bald nicht mehr nöthig. <> Vor dem allen ist mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht nöthig ist. Ich hab' meinen Kindern durch meine Unterweisung und Leben einen so großen Abscheu gegen das Böse eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fürchten brauche. Stähler lachte herzlich! eben wie ein Fuchs lachen würde, wenn er könnte, der dem wachsamen Hahn ein Hühnchen entführt hat, und fuhr fort: <> Stilling drehte sich um, stund, und stützte sich auf seine Holzaxt, lächelte mit dem zufriedensten und zu- versichtlichsten Gesichte, und sagte: Was weißest du denn, Stähler, das mir so weh in der Seele thun soll? <> Nein, davon weis ich noch nichts. <> Daß er sich mit ihr versprochen hat, ist nicht wahr; daß er sie aber haben will, das kann seyn. Nun giengen sie wieder. <> Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann sie's hätten? - Aber welche Tochter mag es seyn? Moriz hat zwo Töchter. <> Mit Dortchen will ich mein Leben beschließen. Nie will ich es vergessen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, grüßte mich und Margre- the von ihrem Vater, setzte sich und schwieg. Ich sah ihr an den Augen an, daß sie was wollte, auf den Backen aber daß sie's nicht sagen konnte. Ich fragte sie, braucht ihr was? Sie schwieg und seufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! sagte ich, die will ich euch leihen, biß ihr mir sie wieder geben könnt. <> Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld schenken wollte. Hätt' ich es ihr aber gesagt, das Mädchen hätte sich noch mehr geschämt. Ach, sagte sie, bester liebster Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thränen) wenn ich seh', wie mein alter Papa sein trocken Brod im Munde herumschlägt, und kann es nicht kauen, so blutet mir das Herz. - Meine Margrethe lief, holte einen großen Topf süße Milch, und seitdem hat sie alle Woche ein paarmal süße Milch dahin geschickt. <> Wenn er's haben will, von Herzen gern. Gesunde Leute können was verdienen, reiche Leute können das Ihrige verlieren. <> Das weis ich! - Er fragt mich gewiß vorher. <> Stähler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab' mei- nen Kindern immer gesagt, sie könnten so arm und so reich heurathen als sie wollten und könnten, sie soll- ten nur auf Fleiß und Frömmigkeit sehen. Meine Mar- grethe hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schul- den. Gott hat mich gesegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben. <> Ein jeder macht die Schuh nach seinem Leisten, sagte Stilling. Nun war er nah vor seiner Hausthür. * * * Indem man so da saß und mit Vergnügen speiste, klopfte eine arme Frau an die Thüre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Rücken in einem Tuch hängen, und bat um ein Stücklein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten besudelten Kleidern, die aber doch die Form hatten, als wenn sie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer zugehört hätten. Vater Stilling befahl, man sollte sie an die Stuben- thüre sitzen lassen, und ihr von allem etwas zu essen geben. Dem Kinde kannst du etwas Reisbrei zu essen darreichen, Mariechen, sagte er ferner. Sie aß und es schmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun sie und ihr Kind satt waren, dankte sie mit Thränen und wollte gehen. Nein! sagte der alte Stilling, sitzet und erzählet uns, wo ihr her seyd, und warum ihr so gehen müßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie setzte sich und erzählte. Ach lieber Gott! sprach sie. Leider ja! muß ich so gehen (Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas von ihr abgesetzt, sie horchte mit größter Auf- merksamkeit, auch waren ihre Augen schon feucht). Ich bin ja leider ein armes Mensch. Vor zehn Jahren möchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre draus gemacht haben, wann ich mit euch gespeist hätte. Wilhelm Stilling. Das wäre! Johann Stilling. Es sey denn, daß ihr eine Stollbei- nische Natur gehabt hättet. Vater Stilling. Seyd still, Kinder! Lasset die Frau reden! <> Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Pastor? (sie rückt näher.) <> Vater Stilling. Wo ist er Pastor? <> Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land- charte suchen. Das muß nicht weit vom Mühlersee seyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu. <> Mariechen. Unser Johann sagte nicht Schlendrian. Wie sagtest du? Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder! <> (Mariechen besah sie vom Haupt bis zum Fuß.) <> Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute die nicht in die Kirche gehen? Johann Stilling. St! Mädchen! Separatisten. <> Mariechen. Was ist das, ein Barbiergesell? Wilhelm Stilling. Schwesterchen, frag hernach um alles. Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche die den Leuten den Bart abmachen. <> Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Meilen herauf, wo die Milder hineinfließt. <> Mariechen. Waret ihr schon kopulirt? <> (Mariechen rückte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frauen ab) <> Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief was sie laufen konnte. Vater Stilling, seine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzäh- lung abbrach und davon lief. Es gehörte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Ursachen einzusehen. Ein jeder gab seine Stimme, doch waren alle Ursachen zweifelhaft. Das vernünftigste Urtheil, und zugleich auch das wahrscheinlichste, war wohl, daß der Frauen von dem vielen und ungewohnten Essen etwas übel geworden, und man beruhigte sich auch dabei. Vater Stilling zog aber, seiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieser Erzählung, daß es am besten sey, seinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzuprägen, und dann im gehörigen Alter ihnen die freie Wahl im Heurathen zu vergönnen, wenn sie nur so wählten, daß die Familie nicht wirklich dadurch geschimpft würde. Ermahnen, sagte er, müssen freilich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr, wenn der Mensch sein männliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdenn alles so gut zu verstehen als seine Eltern. Während dieser weisen Rede, wobei alle Anwesen- den höchst aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen ge- legt, und sahe starr gerade vor sich hin. Hum! sagte er, alles, was die Frau erzählt hat, scheint mir ver- dächtig. Im Anfang sagte sie, ihr Vater wäre Pastor zu... zu... Mariechen. Zu Holdingen im Barchinger Land. Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sey ein Schuhflicker gewesen. Alle Anwesende schlugen die Hände zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, warum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an jeder Thüre und Oefnung im Hause vorsichtige Klinken und Klammern zu machen, und das wird auch niemand der Stillingschen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusammenhang der Dinge einzusehen gelernt hat. Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht sagen. Sie säugte ihren Henrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch hübsch dick und fett. Die erfahrenste Nachbarinnen konnten schon gleich nach der Geburt in dem Gesichte des Kindes eine völ- lige Aehnlichkeit mit seinem Vater entdecken. Beson- ders aber wollte man auch schon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer künftigen Warze spüren, als welche der Vater daselbst hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Partheilichkeit alle Nach- barinnen zu diesem falschen Zeugnis bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Gesichts- züge und ihr sanftes gefühliges Herz gänzlich. Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermuth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnü- gen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thränen zu verwan- deln, in Thränen ohne Harm und Kummer. Gieng die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß der seyn, der sie gemacht hat! Gieng sie unter, so weinte sie. Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was un- aussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast immer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen. Beinahe anderthalb Jahr war Henrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spazieren. Noch niemalen hatte ihr Wil- helm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. So bald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Bäume, und dem vielfältigen Zwitschern der Vögel den Berg hinauf. Dortchen fing an: <> O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja, von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abra- hams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; daher glaub ich gewiß, wir wer- den uns in jener Ewigkeit kennen. <> Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen. <> Der würde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und endlich zu uns kommen. <> Höre, Dortchen! du bist schon lange her, so beson- ders schwermüthig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betrübt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb. <> Du weinst oft, als wenn du mißmuthig wärest; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du etwas auf dem Herzen, liebes Kind - das dich quält? Sag es mir. Ich werde dir Ruhe schaffen, es koste auch was es wolle. <> Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht. Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlosses auf die Seite des Berges, und empfanden die kühle Luft vom Rhein her, und sahen wie sie mit den langen dürren Grashalmen und Epheublättern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. Hier ist recht mein Ort, sagte Dortchen, hier müßt ich woh- nen. Erzähle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Hübner, der hier auf dem Schlosse ge- wohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauren über sitzen. Ich dürfte um die Welt nicht zwi- schen den Mauern seyn, wenn du das erzählest, denn ich graue immer, wenn ich's höre. Wilhelm erzählte: * * * Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Weh- muth gefühlt. Wie sie den Wald hinab gingen, durch- drang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es ward ihr sauer Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bey ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwölf Uhr zu Wilhelmen: Komm, lege dich zu Bette. Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend! Mariechen! Marie- chen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wil- helm und empfieng Dortchens letzten Athemzug in seinen Mund. Sie war nun todt. Wilhelm war betäubt, und seine Seele wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margrethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt aus, wie die beiden alten Grauköpfe naß von Thränen zärtlich auf den verblichenen Engel blickten. Auch die Mädchen weinten laut, und erzählten sich untereinander alle die letzten Worte und Liebkosungen die ihnen ihre see- lige Schwägerin gesagt hatte. Wilhelm Stilling hatte mit seinem Dortchen in der stark bevölkerten Landschaft allein gelebt; nun war sie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Seine Eltern und Ge- schwister waren um ihn, ohne daß er sie bemerkte. In dem Gesichte seines verwaiseten Kindes, sahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends schlafen ging, so fand er sein Zimmer still und öde. Oft glaubte er den rauschenden Fuß Dortchens zu hören, wie sie ins Bette stieg. Er fuhr dann in einan- der, Dortchen zu sehen, und sah sie nicht. Er durch- dachte alle Tage die sie mit einander gelebet hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte sich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzt hatte. Dann nahm er seinen Henrichen in die Arme, weinte ihn naß, drückte ihn an seine Brust, und schlief mit ihm. Dann träumte er oft, wie er mit Dortchen im Gei- senberger Wald spaziere, wie er so froh sey, daß er sie wieder habe. Im Traum fürchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: seine Thränen wur- den dann neu und sein Zustand war trostlos. Vater Stilling sah das alles, und doch tröstete er seinen Wil- helmen niemals. Margarethe und die Mädchen ver- suchten es oft, aber sie machten nur übel ärger; denn, alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte ihn aus seiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen wie es doch möglich seyn könnte, daß ihr Vater gar keine Mühe anwendete Wilhelmen auf- zumuntern. Sie vereinigten sich daher ihren Vater dazu zu ermahnen, so bald Wilhelm einmal im Gei- senberger Wald herumirren, und seines Dortchens Gänge und Fußtritte aufsuchen und beweinen würde. Das that er oft, und daher währete es nicht lange, bis sie Gelegenheit fanden ihr Vorhaben auszuführen. Margarethe nahm es auf sich, so bald der Tisch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an seinen Zähnen stocherte, und grade vor sich hin auf einen Fleck sah. Ebert, sagte sie, warum lässest du den Jungen so herum gehen? du nimmst dich seiner gar nicht an, redest ihm nicht ein wenig zu, sondern thust als wenn er dich gar nichts angienge. Der arme Mensch sollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margret, antwortete der Alte lächelnd, was meinst du wohl, daß ich ihm sagen könnte, ihn zu trösten? Sag ich ihm, er sollte sich zufrieden geben, sein Dortchen sey im Himmel, sie sey selig: so kommt das eben heraus, als wenn dir jemand alles, was du auf der Welt am liebsten hast, abnähme, und ich käme dann her und sagte: Gieb dich zufrieden! deine Sa- chen sind ja wohl verwahrt, über sechzig Jahr be- kommst du sie ja wieder, es ist ein braver Mann der sie hat u. s. w. Würdest du nicht recht bös auf mich werden und sagen: Wo leb ich aber die sechzig Jahr von? Soll ich Dortchens Fehler all aufzählen, und su- chen, ihn zu überreden, er habe nichts so gar kostba- res verlohren: so würde ich ihre Seele beleidigen, ein Lügner oder Lästerer seyn, weiter aber nichts ausrich- ten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde ma- chen; Er würde alle ihre Tugenden dagegen aufzählen, und ich würde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen aufsuchen? Das müste just ein Dortchen seyn, und doch würd es ihm vor ihr eckeln. Ach! es giebt kein Dortchen mehr! - Ihm zit- terten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun weinten sie wieder alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte. * * * Als er einsmal im Frühling auf einen Montag Mor- gen nach dem Walde zu seiner Handthierung ging, er- suchte er Wilhelmen ihm seinen Enkel mitzugeben. Dieser gab es zu, und Henrich freute sich zum höch- sten. Wie sie den Giller hinauf gingen, sagte der Alte: Henrich, erzähl uns einmal die Historie von der schö- nen Melusine; ich höre so gern alte Historien; so wird uns die Zeit nicht lang. Henrich erzählte sie ganz um- ständlich mit der größten Freude. Vater Stilling stellte sich, als wenn er über die Geschichte ganz erstaunt wäre, und als wenn er sie in allen Umständen wahr zu seyn glaubte. Dies muste aber auch geschehen, wenn man Henrichen nicht ärgern wollte; denn er glaubte alle diese Historien so fest als die Bibel. Der Ort, wo Stilling Kohlen brannte, war drei Stunden von Tiefen- bach; man ging beständig bis dahin im Wald. Hen- rich, der alles idealisirte, fand auf diesem ganzen Wege lauter Paradies; alles war ihm schön und ohne Fehler. Eine recht düstere Maybuche, die er in einiger Entfernung vor sich sah, mit ihrem schönen grünen Licht und Schatten, machte einen Eindruck auf ihn; alsofort war die ganze Gegend ein Ideal und himm- lisch schön in seinen Augen. Sie gelangten dann end- lich auf einem sehr hohen Berg zum Arbeitsplatz. Die mit Rasen bedeckte Köhlershütte fiel dem jungen Stil- ling sogleich in die Augen; er kroch hinein, sah das Lager von Moos und die Feuerstätten zwischen zween rauhen Steinen, freute sich und jauchzte. Während der Zeit, daß der Großvater arbeitete, ging er im Wald herum, und betrachtete alle Schönheiten der Gegend und der Natur; alles war ihm neu und unaussprechlich reizend. An einem Abend, wie sie des andern Tages wieder nach Hause wollten, saßen sie vor der Hütte, da eben die Sonne untergegangen war. Großvater! sagte Henrich, wann ich in den Büchern lese, daß die Helden so weit zurück haben rechnen können, wer ihre Voreltern gewesen, so wünsch ich daß ich auch wüste, wer meine Voreltern gewesen sind. Wer weis, ob wir nicht auch von einem Fürsten oder großen Herrn herkommen. Meiner Mutter Vorfahren sind alle Prediger gewesen, aber die eurigen weis ich noch nicht; ich will sie mir alle aufschreiben, wenn ihr sie mir sagt. Vater Stilling lächelte, und antwortete: wir kommen wohl schwerlich von einem Fürsten her; das ist mir aber auch ganz einerlei; du must das auch nicht wünschen. Deine Vorfahren sind alle ehrbare fromme Leute gewesen; es giebt wenig Fürsten die das sagen können. Laß' dir das die größte Ehre in der Welt seyn, daß dein Großvater, Urgroßvater und ihre Väter alle Männer waren, die zwar ausser ihrem Hause nichts zu befehlen hatten, doch aber von allen Menschen geliebt und geehrt wurden. Keiner von ihnen hat sich auf unehrliche Art verheurathet, oder sich mit einer Frauensperson vergangen; keiner hat jemahls begehrt, das nicht sein war; und alle sind großmüthig gestorben in ihrem höchsten Alter. Hen- rich freute sich und sagte: ich werde also alle meine Voreltern im Himmel finden? Ja, erwiederte der Großvater, das wirst du; unser Geschlecht wird da- selbst grünen und blühen. Henrich! erinnre dich an diesen Abend so lang du lebst. In jener Welt sind wir von großem Adel; verlier diesen Vorzug nicht! Unser Segen wird auf dir ruhen, so lange du fromm bist; wirst du gottlos werden und deine Eltern verachten, so werden wir dich in der Ewigkeit nicht kennen. Hen- rich fing an zu weinen, und sagte: Seyd dafür nicht bang, Großvater! ich werde fromm und froh seyn, daß ich Stilling heisse. Erzählet mir aber, was ihr von un- sern Voreltern wisset. Vater Stilling erzählte: Meines Urgroßvaters Vater hieß Ulli Stilling. Er war ohnge- fähr Anno 1500 gebohren. Ich weiß aus alten Briefen, daß er nach Tiefenbach gekommen, wo er im Jahr 1530 Hans Stählers Tochter geheurathet. Er ist aus der Schweiz hergekommen, und mit Zwinglius be- kannt gewesen. Er war ein sehr frommer Mann, auch so stark, daß er einsmalen fünf Räubern seine vier Kühe wieder abgenommen, die sie ihm gestohlen hat- ten. Anno 1536 bekam er einen Sohn, der hieß Rein- hard Stilling; dieser war mein Urgroßvater. Er war ein stiller eingezogener Mann, der jedermann Gutes that; er heurathete im 50sten Jahr eine ganz junge Frau, mit der er viele Kinder hatte; in seinem 60sten Jahr ge- bahr ihm seine Frau einen Sohn, den Henrich Stilling, der mein Großvater gewesen. Er war 1596 gebohren, er wurde 101 Jahr alt, daher hab ich ihn noch eben gekannt. Dieser Henrich war ein sehr lebhafter Mann, kaufte sich in seiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunschweig, Brabant und Sachsen. Er war ein Schirrmeister, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei sich. Zu der Zeit waren die Räubereyen noch sehr im Gange, und noch wenig Wirthshäuser an den Strassen; daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit sich. Des Abends stellten sie die Karren in einen Kreis herum, so daß einer an den andern stieß, die Pferde stellten sie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten waren bei ihnen. Wann sie dann gefüttert hatten, so rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen sie alle, und Henrich Stil- ling betete sehr ernstlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die anderen krochen unter ihre Karren an's Trockne, und schliefen. Sie führten aber immer scharf geladen Gewehr und gute Säbel bey sich. Nun trug es sich einmal zu, daß mein Großvater selbst die Wache hatte; sie lagen im Hessenland auf einer Wiesen, ihrer waren sechs und zwanzig starke Männer. Gegen eilf Uhr des Abends hörte er einige Pferde auf der Wiese reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und stund hinter seinem Karren. Hen- rich Stilling aber lag auf seinen Knien, und betete bei sich selbst ernstlich. Endlich stieg er auf seinen Kar- ren, und sah umher. Es war genug Licht, so, daß der Mond eben untergehen wollte. Da sah er ungefähr zwanzig Männer zu Pferd, wie sie abstiegen und leise auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter die Karre, damit sie ihn nicht sähen; gab aber wohl Acht was sie anfingen. Die Räuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als sie keinen Eingang fanden, fingen sie an, an einem Karren zu ziehen. Stil- ling, sobald er das sah, rief: im Namen Gottes schießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah- nen aufgezogen und schossen unter den Karren her- aus, so daß der Räuber sofort sechse niedersunken; die andern Räuber erschracken, zogen sich ein wenig zurück und redeten zusammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten; nun sagte Stilling, gebt Acht, wenn sie wieder näher kommen, denn schießt! sie kamen aber nicht, sondern ritten fort. Die Fuhrleute spannten mit Tages Anbruch wieder an, und fuhren weiter; ein jeder trug seine geladne Flinte und seinen Degen, denn sie waren nicht sicher. Des Vormittags sahen sie aus einem Wald wieder einige Reuter auf sie zureiten. Stilling fuhr zuförderst, und die andern alle hinter ihm her. Da rief er: Ein jeder hinter seinen Kar- ren, und den Hahnen gespannt! Die Reuter hielten stille; der vornehmste unter ihnen ritt allein auf sie zu, ohne Gewehr, und rief: Schirrmeister, hervor! Mein Großvater trat hervor, die Flinte in der Hand und den Degen unterm Arm. Wir kommen als Freunde, rief der Reuter. Henrich traute nicht und stund da. Der Reuter stieg ab, bot ihm die Hand und sagte: Seyd ihr verwi- chene Nacht von Räubern angegriffen worden? Ja, antwortete mein Großvater, nicht weit von Hirschfeld auf einer Wiese. Recht so, antwortete der Reuter, wir haben sie verfolgt, und kamen eben bei der Wiese an, wie sie fortjagten und ihr einigen das Licht ausgebla- sen hattet; ihr seyd wackre Leute. Stilling fragte, wer er wäre? der Reuter antwortete: Ich bin der Graf von Wittgenstein, ich will euch zehn Reuter zum Geleit mitgeben, denn ich habe doch Mannschaft genug dort hinten im Walde bei mir. Stilling nahms an, und ac- cordirte mit dem Grafen, wie viel er ihm jährlich geben sollte, wenn er ihn immer durchs Heßische ge- leitete. Der Graf gelobts ihm, und die Fuhrleute fuh- ren nach Hause. Dieser mein Großvater hatte im zwei und zwanzigsten Jahr geheurathet, und im 24sten, nemlich 1620 bekam er einen Sohn, Hanns Stilling, dieser war mein Vater. Er lebte ruhig, wartete seines Ackerbaues und diente Gott. Er hatte den ganzen dreyßigjährigen Krieg erlebt, und war öfters in die äu- sserste Armuth gerathen. Er hat zehn Kinder gezeugt, unter welchen ich der jüngste bin. Ich wurde 1680 gebohren, eben da mein Vater 60 Jahr alt war. Ich habe, Gott sey Dank! Ruhe genossen und mein Gut wiederum von allen Schulden befreyet. Mein Vater starb 1704, im 104ten Jahr seines Alters; ich hab ihn wie ein Kind verpflegen müssen, und liegt zu Floren- burg bei seinen Voreltern begraben. Henrich Stilling hatte mit größter Aufmerksamkeit zugehöret. Nun sprach er: Gott sey Dank, daß ich sol- che Eltern gehabt habe! Ich will sie alle nett auf- schreiben, damit ichs nicht vergesse. Die Ritter nen- nen ihre Voreltern Ahnen, ich will sie auch meine Ahnen heissen. Der Großvater lächelte und schwieg. Des andern Tages gingen sie wieder nach Hause, und Henrich schrieb alle die Erzählung in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebene Blätter mit seinen Ahnen vollpfropfte. Mir werden die Thränen los, da ich dieses schreibe. Wo seyd ihr doch hingeflohen, ihr selge Stunden? Warum bleibt nur euer Andenken dem Menschen übrig! Welche Freude überirrdischer Fülle schmeckt der gefühlige Geist der Jugend! Es giebt keine Nied- rigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt ist. Ihr meine Thränen, die mein durchbrechender Geist her- auspreßt, sagts jedem guten Herzen, sagts ohne Worte, was ein Mensch sey, der mit Gott seinem Vater bekannt ist, und all seine Gaben in ihrer Größe schmeckt! Henrich Stilling war die Freude und Hoffnung sei- nes Hauses; denn ob gleich Johann Stilling einen äl- tern Sohn hatte, so war doch niemand auf denselben sonderlich aufmerksam. Er kam oft, besuchte seine Großeltern, aber wie er kam, so ging er auch wieder. Eine seltsame Sache! - Eberhard Stilling war doch warlich nicht partheyisch. Doch was halt ich mich hierbei auf? Wer kann davor, wenn man einen Men- schen vor dem andern mehr oder weniger lieben muß? Pastor Stollbein sah wohl, daß unser Knabe etwas werden würde, wenn man nur was aus ihm machte; daher kam es bei einer Gelegenheit, da er in Stillings Hause war, daß er mit dem Vater und Großvater von dem Jungen redete, und ihnen vorschlug, Wilhelm sollte ihn Latein lernen lassen. Wir haben ja zu Flo- renburg einen guten lateinischen Schulmeister; schickt ihn hin, es wird wenig kosten. Der alte Stilling saß am Tisch, kaute an einem Spänchen; so pflegte er wohl zu thun wenn er Sachen von Wichtigkeit über- legte. Wilhelm legte den eisernen Fingerhut auf den Tisch, schlug die Arme vor der Brust über einander und überlegte auch. Margrethe hatte die Hände auf dem Schooß gefalten, knickelte mit den Daumen gegen einander, blinzte gegen über auf die Stuben- thüre und überlegte auch. Henrich aber saß, mit seiner wollenen Lappmütze in der Hand, auf einem kleinen Stuhl, und überlegte nicht, sondern wünschte nur. Stollbein saß auf einem Lehnstuhl, eine Hand auf dem Knopf des Rohrstabes und die andere in der Seiten, und wartete der Sachen Ausschlag. Lange schwiegen sie, endlich sagte der Alte: Nu, Wilhelm, es ist dein Kind; was meinst du? <> Ist das deine schwerste Sorge, Wilhelm? Wird dir dein lateinischer Junge auch noch Freude machen? da sorg nur! <> Wie seine Eltern, sagte der alte Stilling. <> Nein, Gott bewahr uns! erwiederte Eberhard, nehmt mir nicht übel; denn euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch sag- ten die Leute, er wäre ein braver Mann gewesen, wie- wohl ich nie Tuch bei ihm gekauft habe. Hört, lieber Herr Pastor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Nächsten, er thut recht und scheut niemand, er ist flei- ßig, sorgt für sich und die Seinigen, damit sie Brod haben mögen. Warum thut er doch das alles? - <> Zürnet nicht daß ich euch widerspreche; er thuts darum, damit er hier und dort Freude haben möge. <> Mit der Liebe Gottes und des Nächsten? <> Das versteht sich nun endlich von selber, daß man Gott und den Nächsten nicht lieben kann, wann man an Gott und sein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm! Was dünkt dich? Mich dünkt, wenn ich wüste, woher ich die Kosten nehmen sollte, so würde ich den Jungen wohl hüten, daß er nicht zu lateinisch würde. Er soll immer die müßigen Tage Cameelhaar-Knöpfe machen und mir nähen helfen, bis man sieht was Gott aus ihm machen will. Das gefällt mir nicht übel, Wilhelm, sagte Vater Stilling; so rath ich auch. Der Junge hat einen uner- hörten Kopf etwas zu lernen; Gott hat diesen Kopf nicht umsonst gemacht; laß ihn lernen was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zuviel, sonst kommt er dirs an's Müßiggehen, und liest auch nicht so fleißig; wenn er aber brav auf dem Handwerk geschaft hat und er wird auf die Bü- cher recht hungrig, denn laß ihn eine Stunde lesen, das ist genug. Nur mach daß er ein Handwerk recht- schaffen lernt, so hat er Brod bis er sein Latein brau- chen kann und ein Herr wird. <> Dem alten Stilling heiterten sich seine grossen hel- len Augen auf; er stund da wie ein kleiner Riese (denn er war ein langer ansehnlicher Mann) schüttelte sein weißgraues Haupt, lächelte und sprach: Was ist Ehr- geitz? Herr Pastor! Stollbein sprang auf und rief: Schon wieder eine Frage, ich bin euch nicht schuldig zu antworten, son- dern ihr mir. Gebt Acht in der Predigt, da werdet ihr hören was Ehrgeitz ist. Ich weis nicht, ihr werdet so stolz, Kirchenältester! ihr wart sonst ein sittsamer Mann. Wie Ihrs aufnehmt, stolz oder nicht stolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, je- dermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Sünden vergiebt mir Gott, das weis ich; nun bin ich alt, mein Ende ist nah; ob ich wohl recht gesund bin, so muß ich doch sterben; da freu ich mich nun drauf, wie ich bald werde von hin- nen reisen. Laßt mich stolz drauf seyn, wie ein ehrli- cher Mann mitten unter meinen großgezogenen from- men Kindern zu sterben. Wenn ichs so recht bedenk', bin ich munterer als wie ich mit Margrethen Hochzeit machte. <> sagte der Pastor. Die wird mein Großvater auch ausziehen, eh er stirbt, sagte der kleine Henrich. Ein jeder lachte, selbst Stollbein muste lachen. * * * Indessen sassen Mariechen und Henrich beysam- men und waren vertraulich. Erzähle mir doch, Baase! sagte Henrich, die Historie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzählte: <> Henrich saß wie versteinert, seine Augen starrten grad aus, und der Mund war halb offen. Baase! sagte er endlich, das könnt einem des Nachts bang machen. Ja, sagte sie, ich erzähls auch des Nachts nicht, sonst werd ich selber bang. Indem sie so sassen, pfif Vater Stilling. Mariechen und Henrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er; er sah munter und fröhlich aus, als wenn er etwas gefunden hätte; lächelte wohl zuweilen, stand, schüttelte den Kopf, sah auf eine Stelle, faltete die Hände, lächelte wieder. Mariechen und Henrich sahen ihn mit Ver- wunderung an; doch durften sie ihn nicht fragen; denn er thäts wohl oft so, daß er vor sich allein lachte. Doch Stillingen war das Herz zu voll; er setzte sich zu ihnen nieder und erzählte; wie er anfing so stunden ihm die Augen voll Wasser. Mariechen und Henrich sahen es, und schon liefen ihnen auch die Augen über. Wie ich von euch in Wald hinein ging, sah ich weit vor mir ein Licht, eben so als wenn Morgens früh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich sehr. Ei! dacht ich, dort steht ja die Sonne am Himmel; ist das denn eine neue Sonne? Das muß ja was wunderlichs seyn, das muß ich sehen. Ich ging drauf an; wie ich vorn hin kam, siehe da war vor mir eine Ebne, die ich mit mei- nen Augen nicht übersehen konnte. Ich hab mein leb- tag so herrlichs nicht gesehen; so ein schöner Geruch, so eine kühle Luft kam da'rüber her, ich kanns euch nicht sagen. Es war so weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne ist Nacht dagegen. Da standen viel tausend prächtige Schlösser, eins nah beym andern. Schlösser! - ich kanns euch nicht be- schreiben! als wenn sie von lauter Silber wären. Da waren Gärten, Büsche, Bäche. O Gott wie schön! - Nicht weit von mir stand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thränen häufig die Wangen herunter, Mariechen und Henri- chen auch.) Aus der Thür dieses Schlosses kam je- mand heraus, auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! - Wie sie nah bei mir war, ach Gott! da war es unser seliges Dortchen! (Nun schluchsten sie alle drei, keins konnte etwas reden, nur Henrich rief und heulte: O meine Mutter! meine liebe Mutter!) - Sie sagte gegen mich so freundlich, eben mit der Mine die mir ehemal so oft das Herz stahl: Vater, dort ist unsere ewige Wohnung, ihr kommt bald zu uns. - Ich sah, und siehe alles war Wald vor mir; das herrliche Gesicht war weg. Kinder, ich sterbe bald; wie freu ich mich drauf! Henrich konnte nicht aufhören zu fragen, wie seine Mutter ausgesehen, was sie angehabt, und so weiter. Alle drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und sprachen beständig von dieser Geschichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer der in der Fremde und nicht zu Hause ist. Ein altes Herkommen, dessen ich (wie vieler an- dern) noch nicht erwähnt, war; daß Vater Stilling alle Jahr selbsten ein Stück seines Hausdaches, das Stroh war, eigenhändig decken muste. Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Som- mer sollt es wieder geschehen. Er richtete es so ein, daß er alle Jahr so viel davon neu deckte, so weit das Roggenstroh reichte, das er für dies Jahr gezogen hatte. Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und rückte nun mit Macht heran; so daß Vater Stilling anfing darauf zu Werk zu legen. Henrich war dazu be- stimmt ihm zur Hand zu langen, und also wurde die lateinische Schule auf acht Tage ausgesetzt. Margrethe und Mariechen hielten täglich in der Küche geheimen Rath, über die bequemsten Mittel wodurch er vom Dachdecken zurückgehalten werden möchte. Sie beschlossen endlich beide, ihm ernstliche Vorstel- lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; sie hatten die Zeit während dem Mittagessen dazu be- stimmt. Margrethe brachte also eine Schüssel Muß, und auf derselben vier Stücke Fleisches, die so gelegt waren, daß ein jedes just vor den zu stehen kam, für den es bestimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll gebrockter Milch. Beyde setzten ihre Schüsseln auf den Tisch, an welchem Vater Stil- ling und Henrich schon an ihrem Ort sassen, und mit wichtiger Mine von ihrer nun Morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn, im Vertrauen gesagt, wie sehr auch Henrich auf Studieren, Wissenschaften und Bücher verpicht seyn mochte, so wars ihm doch eine weit größere Freude, in Gesellschaft seines Groß- vaters, zuweilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieses war nun schon das dritte Jahr, daß er seinem Großva- ter als Diakonus bei dieser jährlichen Solennität bey- gestanden. Es ist also leicht zu denken, daß der Junge herzlich verdrüßlich werden muste, als er Margre- thens und Mariechens Absichten zu begreifen anfieng. Ich weiß nicht, Ebert, sagte Margrethe, indem sie ihre linke Hand auf seine Schultern legte, du fängst mir so an zu verfallen. Spürst du nichts in deiner Natur? <> O Herr ja! Ja freylich, alt und steif. Ja wohl, versetzte Mariechen und seufzte. Mein Großvater ist noch recht stark vor sein Alter, sagte Henrich. <> Henrich lachte hart. Margrethe sah wohl, daß sie auf dieser Seite die Vestung nicht überrumpeln würde; daher suchte sie einen andern Weg. Ach ja, sagte sie, es ist eine besondere Gnade, so gesund in seinem Alter zu seyn; du bist, glaub ich, nie in deinem Leben krank gewesen, Ebert? <> Ich glaub doch, Vater! versetzte Mariechen, ihr seyd wohl verschiedene malen vom Fallen krank ge- wesen; denn ihr habt uns wohl erzählet, daß ihr oft gefährlich gefallen seyd. <> Und das viertemal, fuhr Margrethe fort, wirst du dich todt fallen, mir ahnt es. Du hast letzthin im Wald das Gesicht gesehen; und eine Nachbarinn hat mich kürzlich gewarnt und gebeten, dich nicht aufs Dach zu lassen; denn sie sagte, sie hätte des Abends, wie sie die Küh gemolken, ein Poltern und klägliches Jammern neben unserm Hause im Wege gehört. Ich bitte dich, Ebert! thu mir den Gefallen, und laß je- mand anders das Haus decken, du hasts ja nicht nö- thig. <> Margrethe und Mariechen sagten noch ein und das andere, aber er achtete nicht drauf, sondern redete mit Henrichen von allerhand die Dachdeckerei betreffenden Sachen; daher sie sich zufrieden gaben und sich das Ding aus dem Sinne schlugen. Des andern Morgens stunden sie frühe auf, und der alte Stilling fing an, während daß er ein Morgenlied sang, das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn diesen Tag auch hübsch fertig wurde; so daß sie des folgenden Tages schon anfingen das Dach mit neuem Stroh zu belegen; mit einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die mindeste Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; ausser daß es noch einmal bestiegen werden muste, um starke und frische Rasen oben über den First zu legen. Doch damit eilte der alte Stilling so sehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage über, eh es ihm einfiel dies letzte Stück Ar- beit zu verrichten. Des folgenden Mittwochs Morgens stund Eberhard ungewöhnlich früh auf, ging im Hause umher von einer Kammer zur andern, als wenn er was suchte. Seine Leute verwunderten sich, fragten ihn, was er suche? Nichts, sagte er. <