Titus Livius berichtet in seiner "Römischen Geschichte", dass der Decemvir Appius Claudius seine Macht missbraucht habe, um in den Besitz der Virginia zu kommen, eines sehr schönen Mädchens, das bereits mit dem ehemaligen Tribunen L. Icilius verlobt war. Appius Claudius veranlasste seinen Kienten M. Claudius dazu, das Mädchen als Sklavin zu beanspruchen. Angeblich sei sie gar nicht das Kind ihrer freien Eltern, sondern die Tochter zweier Sklaven aus dem Besitz des M. Claudius. Der Anspruch kam vor Gericht, wo Appius Claudius die Sache natürlich zu Gunsten seines Klienten entschied. Virginia sollte nun Sklavin im Haus des M. Claudius werden. So hoffte sich der Decemvir Zugang zu dem Mädchen zu verschaffen. Verginius, der Vater des Mädchens, ein Soldat und ehrenhafter Bürger, war aber nicht bereit, diese Freveltat des Appius Claudius einfach hinzunehmen. Titus Livius: Römische Geschichte (Auszug) "... Verginius (streckte) seine Hände zu Appius und rief: "Dem Icilius habe ich meine Tochter verlobt, Appius, nicht dir und zur Hochzeit habe ich sie erzogen, nicht zur Schändung. Hältst du es für Recht, dass man sich nach Art des Viehs und der wilden Tiere zur Paarung bald auf die eine, bald auf die andere stürzt? Ich weiß nicht, ob diese hier das dulden werden; aber ich hoffe, dass die es nicht dulden werden, die Waffen haben." Als der Mann, der das Mädchen für sich beanspruchte, von der Schar der Frauen und der um das Mädchen herumstehenden Freunde zurückgedrängt wurde, gebot der Herold Schweigen. Der Decemvir, außer sich vor Begierde, sagte, er habe nicht nur aus der gestrigen Scheltrede des Icilius und der Heftigkeit des Verginius, wofür er das römische Volk zum Zeugen habe, sondern auch durch zuverlässige Aussagen erfahren, dass während der ganzen Nacht in der Stadt Zusammenkünfte stattgefunden hätten um einen Aufruhr zu entfachen. Deshalb sei er im Wissen um diesen zu erwartenden Kampf mit Bewaffneten hergekommen, nicht um einen ruhigen Bürger zu verletzen, sondern um die, die die Ruhe der Bürgerschaft störten, kraft der Hoheit seines Amtes in die Schranken zu weisen. "Daher wird es besser sein, sich ruhig zu verhalten. Geh, Liktor", sagte er, "dränge die Schar zurück und bahne dem Herrn den Weg, seine Sklavin zu ergreifen." Als er das voll Zorn mit donnernder Stimme gerufen hatte, ging die Menge von selbst auseinander und verlassen, eine Beute des Unrechts, stand das Mädchen da. Da sagte Verginius, als er nirgendwo mehr Hilfe sah: "Ich bitte dich, Appius, verzeihe zunächst dem Schmerz eines Vaters, wenn ich dich etwas zu hart angefahren habe. Dann lass mich hier im Angesicht des Mädchens die Amme befragen, wie die Sache sich verhält, damit ich, wenn ich zu Unrecht als Vater bezeichnet worden bin, mit größerer Gelassenheit von hier weggehe." Als er die Erlaubnis erhielt, führte er seine Tochter und die Amme beiseite in die Nähe des Heiligtums der Cloacina zu den Läden, die jetzt "die Neuen" heißen. Hier entriss er einem Metzger das Messer und sagte: "Auf diese einzige Art, die mir möglich ist, Tochter, bewahre ich dir die Freiheit." Dann durchbohrte er die Brust des Mädchens und rief zur Gerichtstribüne zurückgewandt: "Dich, Appius, und dein Haupt verfluche ich mit diesem Blut." Bei dieser grausigen Tat erhob sich ein Schrei. Aufgeschreckt befahl Appius, den Verginius zu ergreifen. Der aber bahnte sich mit dem Messer, wo er ging, einen Weg, bis er, auch durch die Menge der Menschen, die ihm folgten, geschützt, zum Tor gelangte. Icilius und Numitorius hoben den leblosen Körper auf und zeigten ihn dem Volk. Sie beklagten das Verbrechen des Appius, die unselige Schönheit des Mädchens, die Zwangslage des Vaters. (Aus: Titus Livius, Römische Geschichte, Lateinisch und Deutsch, Buch 1-3, herausgegeben von Hans Jürgen Hillen, 3. Auflage, Patmos Verlag GmbH & Co.KG/Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich, 1997) Der Tod der Virginia führte in unmittelbarer Folge zu einem Volksaufstand gegen den Decemvir Appius Claudius. Bevor das Urteil über ihn gesprochen werden konnte, beging er Selbstmord.