Rick Altman Fernsehton Fernsehwissenschaftler haben, mit Ausnahme der kurzen aber erhellenden Ausführungen von John Ellis, den Fernsehton bisher systematisch gemieden; stattdessen wurde bei narrativen, industriellen oder bildorientierten Aspekten verweilt.1 Dennoch können triftige Gründe für die zentrale Rolle des Tons im kommerziellen US-amerikanischen Fernsehsystem und ähnlichen nationalen Systemen angeführt werden. Um diese Hypothese zu entfalten, werde ich zunächst zwei anerkannte Konzepte der Fernsehwissenschaft einer genauen Prüfung unterziehen: das erste ist Raymond Williams allgemein akzeptierte Vorstellung des flow; das zweite ist die weit verbreitete Ansicht, dass Fernsehsender, die mit den Quoten der A.C. Nielsen Company das Maß ihres Erfolges ermitteln, um Zuschauer konkurrieren. Im zweiten Teil des Textes werden dann sechs spezifische Funktionen des Tons im US-amerikanischen Fernsehen genauer betrachtet. Für Raymond Williams ist »die zentrale Fernseherfahrung [...] das Faktum des flow« (1974, 95; in diesem Band, 42). Indem er es ablehnt, Fernsehsysteme unterschiedlich zu behandeln, behauptet Williams: In allen entwickelten Rundfunk- und Fernsehsystemen ist die charakteristische Organisation - und deshalb auch die charakteristische Erfahrung - die der Sequenz oder des flow. Das Phänomen eines geplanten flow ist damit vielleicht das entscheidende Kennzeichen des Fernsehens, und zwar gleichermaßen als Technologie wie als kulturelle Form (ebd., 86; in diesem Band, 33). Mit dem Entwurf einer teleologischen Darstellung, die Bazins Lesart des filmischen Realismus überraschend ähnlich ist2, geht 1 Ellis (1982), Kapitel 8: Broadcast TV as Sound and Image, S. 127-144. (Auszüge in diesem Band, 44-73.) 2 Für eine Kritik an Bazins Haltung zur Filmgeschichte siehe Comolli (1971, 229, 230/231, 233-235, 24Iff.). Fernsehton 389 Williams dazu über, die scheinbar notwendige und natürliche Entwicklung des flow im britischen und US-amerikanischen Fernsehen zu skizzieren, indem er »einen signifikanten Wechsel vom Konzept der Abfolge als Programm hin zum Konzept der Abfolge als flow« (1974, 89; in diesem Band, 36) betont. In seinen ontologischen Überlegungen bezieht Williams die Idee des flow schließlich auf die »Fernseherfahrung selbst« (1974, 94; in diesem Band, 41), als ob die Technologie allein ausreiche, eine Ähnlichkeit der Entwicklungen über Kulturen und Industriesysteme hinweg zu gewährleisten. Die Idee des flow hat sich bereits als äußerst fruchtbar für die Analyse des US-amerikanischen Fernsehens erwiesen. Es ist also nicht die Idee selbst, die ich kritisieren möchte, sondern die Behauptung, dass sie charakteristisch für das Fernsehen im Allgemeinen ist. Ich möchte nahe legen, dass die Idee des flow von einer bestimmten kulturellen Praxis des Fernsehens abhängt, die ohne Bezug auf die entsprechende Idee eines Haus-haltsflow nicht angemessen verstanden werden kann. Außerdem möchte ich aufzeigen, dass der Ton in besonderem Maße für die Vermittlung der Beziehung zwischen diesen beiden Arten des flow verantwortlich ist. Williams selbst legt den Grundstein für diese Analyse, indem er markante Unterschiede zwischen britischen und US-amerikanischen Fernsehpraktiken, wie sie auch zwischen staatlichen und kommerziellen Systemen zu finden sind, anerkennt. Er gibt sich jedoch zu jeder Zeit damit zufrieden, diese Unterschiede in Form von verschiedenen Aktualisierungen der wahren Natur des Mediums zu interpretieren. Die Briten sind rückständig gegenüber den US-Amerikanern, das staatliche Fernsehen bleibt hinter dem kommerziellen Sektor zurück. Aber alle gehen in die gleiche Richtung, weil alle vom gleichen technisch vorbestimmten Wesen etwas an sich haben. Wenn man es aus dieser verallgemeinerten Perspektive heraus betrachtet, ist ein entstehendes nationales Fernsehsystem, das ein Programm pro Abend liefert, erst mal noch nicht weit genug entwickelt, um einen vollständig wirksamen flow hervorzubringen. Aber nach einer gewissen Zeit wird dieser flow letztlich zum Vorschein kommen. Wie aber verhält es sich mit den Sende- oder Kabelsystemen, die nicht so sind, wie die der US-amerikanischen und britischen Industrie, auf denen Williams Analyse so stark beruht? Syste- 390 Rick Altman me, die Programmeinschränkungen auferlegen und beibehalten, um die Entfaltung eines voll entwickelten flow zu verhindern? Zwei alternative Modelle werden an dieser Stelle ganz deutlich. Entweder erklären wir - wie Williams - die unterschiedlichen Niveaus inflow mit einem Unterschied im Entwicklungsstadium eines bestimmten Fernsehsystems, oder wir erkennen das Ausmaß an, in dem solche Unterschiede des flow den unterschiedlichen Funktionen, die dem Fernsehen von einer bestimmten Kultur zugeschrieben werden, entsprechen. Vorläufig möchte ich die folgenden Hypothesen nahe legen: Der flow ersetzt Programmplanung in diskreten Einheiten insoweit, als (1) dem Konkurrenzkampf um Zuschauer erlaubt wird, die Art des Programmablaufs zu bestimmen, und (2) die Einnahmen des Fernsehens mit einer wachsenden Zahl an Zuschauern steigen. Kurzum, flow bezieht sich nicht auf die Fernseherfahrung an sich - weil es keine Erfahrung gibt, die so für sich alleine steht -, sondern auf Zuschauer als Ware in einem kapitalistischen System der freien Marktwirtschaft. Darum finden wir die niedrigste Stufe an flow in Ostblockstaaten, wo die Programmplanung, wie eine kulturelle oder politische Arznei, sorgfältig kontrolliert und in abgemessenen Dosierungen zu geeigneten Zeiten verteilt wird. In stark vom Staat dominierten westeuropäischen Ländern wie Frankreich, wo Fernsehen von quasi-staatlichen, quasi-unabhängigen Organen produziert und gesendet wird, ist der Grad an flow ein wenig höher, aber immer noch klar eingeschränkt durch staatliche Entscheidungen. In Großbritannien, wo die Situation zunächst wie in Frankreich war, das Kommerzielle sich jedoch viel schneller durchsetzt, hat sich eine Mischform herauskristallisiert. Aber dadurch, dass die beiden BBC Kanäle den beiden kommerziellen Sendern immer stärker nacheifern und sich das System als Ganzes hin zu einer Imitation des US-amerikanischen Ebenbildes verschiebt, wächst der Anteil des flow zusehends. Sogar innerhalb der USA gibt es einen drastischen Unterschied an flow zwischen den Fernsehsendern, die offen und direkt um Zuschauer konkurrieren und dadurch ein hohes Maß an flow fördern, und öffentlichen bzw. lokalen Kanälen, die eine ganz andere Aufgabe erfüllen müssen und somit einen völlig anderen Grad an flow besitzen. Aber wird einem öffentlichen Sender in Fernsehtori 391 einer Großstadt (wie in New York, Chicago oder Los Angeles) seine Quote allzu sehr bewusst, wird der flow wieder verstärkt beachtet. Wenn der flow an Motive des Profits geknüpft ist und Zuschauer als Ware gesehen werden, ist die Erkenntnis nicht überraschend, dass die Länder mit dem höchsten Grad an flow auch diejenigen mit den am besten entwickelten Quotensystemen sind. Im Unterschied zur Filmindustrie, die ihr Programm an das Publikum verkauft, verkauft das kommerzielle Fernsehen die Zuschauer in Einheiten zu je Tausend an die Werbewirtschaft. Genauso wie das Kino eine komplexe Industrie hervorgebracht hat, die sich der Beurteilung der Qualität und Attraktivität seiner Produkte widmet, brauchte das kommerzielle Fernsehen eine Methode, um in erster Linie die Reichweite und dann die Qualität seiner Produkte abschätzen zu können. Während sich die sekundäre Industrie des Kinos auf die Filme selbst konzentriert und sich somit hauptsächlich in Zeitungs- und Radiobesprechungen sowie in Oscars und anderen Auszeichnungen ausdrückt, ist die Evaluation des Fernsehens mit einem ganz anderen Produkt des Fernsehens beschäftigt: dem Publikum selbst. Dementsprechend macht sich die akademische Beschäftigung mit dem Fernsehen - im Unterschied zur humanistischeren Tradition, die das Kino umgibt -die Beurteilung des Fernsehpublikums fast ausschließlich mit Hilfe vori Zahlen zu eigen. Das wichtigste Evaluationsinstrument sind die von der A.C. Nielsen Company veröffentlichten Quoten. Nun wurde schon immer kontrovers diskutiert, was Nielsen eigentlich genau misst. Während Nielsen behauptet, dass die Kombination aus Zuschauermessung und -protokol!3 ein klares Bild des Publikums liefert, legt eine wachsende Zahl 3 Anm. d. Hg.: Seit den 1940er Jahren erstellt die A.C. Nielsen Company Zuschauerstatistiken durch eine Kombination von technischer Messung (>meter<) und Tagebucheintragungen (>diary<) ausgewählter Haushalte: Das an den Fernseher angeschlossene >Audimeter< registriert automatisch die Sendedauer und den eingeschalteten Kanal; durch tägliche Eintragungen in ein Formular sollen darüber hinaus die tatsächlich zuschauenden Personen mit ihren demographischen Daten erfasst werden. In den 1970er Jahren beginnen die Bemühungen, auch die demographischen Daten mit einem >Peoplemeter< technisch zu erfassen. 392 Rick Altman von Untersuchungen nahe, dass Nielsens Modell des aufmerksamen Fernsehkonsums einer Überarbeitung bedarf. Im Anschluss an frühere Studien durch Robinson (1969) und Allen (1968) wenden sich zahlreiche Abschnitte des 1972 erschienenen Surgeon General 's Report on Television and Social Behavior (Rubenstein/Comstock/Murray 1971) direkt dem Problem der Zuschaueraufmerksamkeit beim Fernsehprogramm zu. Es ist nicht überraschend, dass Foulkes/Belvedere/ Brubaker (1971) herausfanden, dass der direkte Blickkontakt mit dem Bildschirm gewaltig sank, sobald männliche Jugendliche die Möglichkeit bekamen, sich mit alternativen Attraktionen wie Spielen, Büchern und Spielzeugen zu vergnügen, während sie fernsahen. LoSciuto (1971) fand heraus, dass 34 Prozent der Sendungen, die in Fernsehprotokollen als >gesehen< aufgelistet waren, in Wirklichkeit nur mit Unterbrechungen geschaut oder beiläufig mitangehört wurden, während die Befragten von anderen Tätigkeiten beansprucht waren (in der Reihenfolge der Häufigkeit: Arbeit, Haushalt, Essen, Reden, Lesen, Fürsorge fürs Kind, Nähen, persönliche Pflege, Hobbys, Hausarbeiten). Die wichtigste weil sorgfältigste und vollständigste dieser Studien bezog Videoaufnahmen von Familien mit ein, die auch dazu aufgefordert waren, anhand von Fragebögen auf ihr Konsumverhalten einzugehen. Diese von Bechtel/ Achepohl/Akers (1971) durchgeführte Studie zeigt, dass die Familien über die Hälfte der Zeit, die sie angegeben haben, gar nicht ferngesehen hatten - auch wenn möglicherweise der Fernseher eingeschaltet war. Gemessen an der Zeit, die der Fernseher tatsächlich an war, sind die eindeutig: Nur 55 Prozent (Werbung) bis 76 Prozent (Filme) der Sendungen wurden tatsächlich gesehen. Diese imposante Studie führte die Autoren zu folgendem Schluss: Die Daten deuten pauschal gesehen auf die untrennbare Vermischung von Zuschauen und Nichtzuschauen als allgemeine Art und Weise des Fernsehverhaltens hin (Bechtel/Achepohl/Akers 1971, 298)." > Es ist wichtig anzumerken, dass diese Studie zahlreiche Personen als »Zuschauer« einbezieht, die gleichzeitig fernsehen und mit anderen Aktivitäten beschäftigt sind, wodurch eine mögliche Überbewertung von aktiven Zuschauern nahegelegt wird. Die verwendeten Kategorien sind (1) teil- Fernsehton 393 In der Tat fühlte sich der Herausgeber der vierten Auflage des Surgeon General's Report, Jack Lyle (1971), genötigt, seinen einführenden Kommentaren einen Anhang anzufügen, in dem er die Tendenz zur Überschätzung der Sehdauer in sowohl kommerziellen als auch akademischen Studien kritisierte. Er weist darauf hin, dass »attention time« nicht auf »eye contact time« beschränkt ist, auch wenn Schätzungen weiterhin davon ausgehen. Erst in neuerer Zeit haben einige Analysen Lyles Ahnungen bestätigt.5 nehmend, aktiv mit inhaltlichem Bezug auf das Fernsehgerät oder auf Andere reagierend; (2) passiv zuschauend; (3) gleichzeitige Aktivität (Essen, Stricken, usw.), während auf den Bildschirm geschaut wird; (4) positioniert um fernzusehen, aber lesend, im Gespräch oder auf etwas anderes als den Fernseher achtend; (5) in dem Bereich positioniert, von dem aus der Fernseher gesehen werden kann, aber vom Gerät abgewendet, so dass es zum Fernsehen erforderlich wäre, sich umzudrehen; (6) nicht im Zimmer und nicht in der Lage, das Gerät oder einen Teil des Fernsehinhalts zu sehen. Die Kategorien 1-3 werden als »zuschauend« verstanden, während die Kategonen 4-6 als »nicht zuschauend« verstanden werden. Es ist aufschlussreich, diesen Ansatz mit den traditionelleren Kategorien zu vergleichen, die von Baggaley/Duck angeboten werden. Deren niedrigste Stufe von Aufmerksamkeit, »bei der es eine völlig passive Beteiligung an dem einfachen Neuigkeitswert der Bildsprache gibt« (1976, 68), entspricht der zweiten Stufe im Schema von Bechtel/Achepohl/Akers (1971), die nicht weniger als vier niedrigere Stufen an Aufmerksamkeit auflisten. Eine brauchbare Besprechung dieser Literatur ist in Comstock u.a. (1978, 141-172) zu finden. Zusätzlich siehe vor allem Steeves/Bostian (1980). Die von dieser Studie gesammelten Daten, die nahe legen, dass arbeitende Frauen zu nur 35,2 Prozent der Zeit, in der sie >zuschauen< fernsehen ohne sich gleichzeitig mit anderen Aktivitäten zu beschäftigen, dient als Basis für einen kommenden Artikel von Samuel L. Becker, H. Leslie Steeves und Hyeon C. Choi, der The Context of Media Use heißen wird. Siehe auch die verschiedenen Berichte der Television Audience Assessment, Inc., eine Alternative zu Nielsens und Arbitrons Audimeter Ansatz, der 1979 von der Markle Foundation mit Hilfe der Ford Foundation etabliert wurde. Laut einer einleitenden Übersicht berichteten 49 Prozent der an der statistischen Erhebung beteiligten Zuschauer von zusätzlichen Aktivitäten während der Zeit, in der sie >zuschauen<; 42 Prozent davon berichteten, dass sie durch eine zusätzliche Hauptaktivität vom Zuschauen abgelenkt waren, wenngleich nur das Konsumverhalten während der Prime Time untersucht wurde. Siehe Roberts/Lemieux (1981). Vielleicht die beste Überlegung zum Zuschauen mit Unterbrechungen aus einer fiktionalen 394 Rick Altman Die von der Nielsen Company ermittelten Quoten setzen - genau wie aktuelle Studien zur Fernsehästhetik - aktives Sehen als ausschließliches Rezeptionsmodell voraus, obwohl es eine steigende Zahl an Untersuchungen gibt, die nahe legen, dass die unterbrochene Aufmerksamkeit tatsächlich der dominante Modus des Fernsehschauens ist. Diese Praxis der unterbrochenen Aufmerksamkeit hat nun weit reichende Folgen für Programmentscheidungen und für die Beschaffenheit des Tons. Weil die Strategen der Fernsehsender nicht auf eine steigende Zuschauerschaft, sondern auf steigende Quoten zielen, und weil diese Quoten eher die eingeschalteten Fernsehapparate, als die wirklichen Zuschauer zählen, hat die Industrie ein persönliches Interesse daran, dass die Fernseher auch zu den Zeiten, in denen keine Zuschauer vor ihnen sitzen, eingeschaltet bleiben. Aber wer lässt seinen Fernseher an, wenn er sich nicht starr davor setzt? Dies ist genau der Punkt, an dem der Ton eine aktive Rolle zu spielen beginnt. Um mitzuhelfen, die Fernsehgeräte in der Zeit am Laufen zu halten, in der alle Zuschauer aus dem Zimmer gegangen sind oder dem Bildschirm wenig Aufmerksamkeit schenken, übernimmt der Ton eine Vielzahl ganz spezieller Funktionen: • Die Zuhörer müssen überzeugt werden, dass der Ton ausreichend Plot- oder Informationskontinuität bereithält, um ein Verständnis der Sendung möglich zu machen, auch wenn das Bild nicht zu sehen ist. Zum Beispiel muss es möglich sein, dem Plot einer Soap von der Küche aus zu folgen oder über den Spielstand eines Footballspiels Bescheid zu wissen, während man das Zimmer streicht. • Die Zuhörer müssen das Gefühl haben, dass alles wirklich Wichtige vom Ton angekündigt wird. Diese Idee entsteht zum Teil aus dem ständigen Eindruck einer Live-Präsen-tation, die dem Fernsehprogramm zugeschrieben wird, und findet ihren Höhepunkt in Live-Berichterstattungen Perspektive bietet Arlens (1976). Ein Teil des historischen Kontextes zu den frühen Strategien der Fernsehsender, unterbrechende Rezeptionsmuster zu fördern, liefert ein nicht publizierter Artikel von William Boddy, The Shining Center of the Home: Ontologies of Television in the >Golden Age<. Boddy richtet das Augenmerk darauf, in welchem Ausmaß das Radiohören mit Unterbrechung als frühes Modell für das Fernsehen dient. Fernsehton 395 von populären Ereignissens wie den Watergate-Anhörungen, Wahlen oder ausgedehnten Sportereignissen wie den Olympischen Spielen, die den ganzen Tag andauern. So lange wir uns sicher sein können, dass wir für die wichtigen Momente zurückgerufen werden, erscheint es uns sinnvoll, in der Zeit, in der wir nicht in Blickkontakt bleiben können, den Fernseher weiterlaufen zu lassen. Es muss innerhalb eines individuellen Programmes oder innerhalb von Sendungen, die aufeinander folgen, eine erkennbare Kontinuität in der Art des Tons und des gezeigten Materials geben. Radiostationen zollen diesem Prinzip Tribut, indem sie die gleiche Art von Musik und Geplauder den ganzen Tag über versprechen. Das Fernsehen erreicht dies, indem es von einem vermeintlichen Frauenthema zum anderen gleitet (zumindest bis zum späten Nachmittag, wenn das Kontinuum für die Kinder beginnt) oder an den Wochenendnachmittagen von einer Sportart zur nächsten übergeht. Dies ist hauptsächlich ein negatives Kriterium (falls es einen Bruch in der Kontinuität gäbe, würde die Gefahr bestehen, dass der Fernseher abgeschaltet würde) und wir sollten uns klar machen, dass das ganze System auf Negativität basiert: Das Ziel lautet nicht, ir-gendjemanden dazu zu bringen, sorgfältig hinzuschauen (wie in gewissen anderen Ländern und bei meinem Universitätssender), sondern Leute davon abzuhalten den Fernseher abzuschalten (was bei Nielsen angezeigt wird und später wiederum die Einnahmen der Fernsehanstalten festlegt). Der Ton selbst muss innerhalb des flow von Zeit zu Zeit reizvolle Informationen, Ereignisse oder Emotionen liefern - die Tageszeit, das Wetter, Schulschluss, die Nachrichten in Kürze, Preisverleihungen, Krisen mit viel Emotion usw. Sogar die reinen Nachrichten-, Sport- oder Filmsender haben diese Aufgabe bewältigt, indem sie auf einer mehr oder weniger regelmäßigen Basis Aktualisierungen einfügen oder eine Art von Programm beständig mit der Kurzfassung eines anderen unterbrechen. Die überall in das reguläre Programm der WTBS eingestreuten und auf Schlagzeilen reduzierten CNN-Nachrichten sind die offensichtlichste Variante dieser Technik, aber die Kurznach- 396 Rick Altman richten inmitten der Olympiaberichterstattung oder die olympischen Neuigkeiten zwischen dem regulären Programm der Fernsehanstalten sind ausreichend Beweis tur die allgemeine Verbreitung dieser Praxis. Dieses Prinzip trifft in gleicher Weise auf fiktionale Programme wie auf real life Berichte zu. Einer Sendung, die stumme Bilder von Gaunereien, Heldentum, Ohnmacht, wirklicher Liebe und der nackten Wahrheit bringt, würde ein hörbarer Beweis für diese wichtigen Ereignisse fehlen, der benötigt wird, um den unaufmerksamen Zuschauern zu versichern, dass sie weiterhin mit dem Bild und der Aufregung, die dieses abbildet, verbunden sind. Kurzum, mit nur einem tatsächlich beachteten Fernseher von zweien, die eingeschaltet sind (dies ist ein grober Durchschnitt der Zahlen, die sich aus den verschiedenen Studien ergeben, die in den Fußnoten angegeben sind), wird der Ton zur dominierenden Methode der Vermittlung zwischen dem, was Williams flow im Programm« nennt und dem, was ich als >Haushalts-flow< bezeichnen werde (natürlich in dem genauen Wissen darum, dass dieser zweite flow ebenso gut in einer Bar, bei einer Studentenvereinigung, in einem Verbindungshaus, im Wartezimmer eines Arztes oder dem Pausenraum einer Fabrik oder eines Geschäftes auftreten kann).6 Ich habe am Anfang nahegelegt, dass das Konzept des flow keine natürliche Begleiterscheinung der Fernsehtechnik ist, sondern eher das Ergebnis einer bestimmten Struktur des Konsumverhaltens. Wir können jetzt richtig verstehen, was diese eher rätselhafte Behauptung bedeutet- In einem System, in dem das Publikum die höchste Ware ist und in dem die Größe des Publikums nicht an der Zahl der Personen gemessen wird, die tatsächlich auf den Fernseher schauen, sondern an der Zahl der eingeschalteten Geräte, muss sich das Fernsehen in einer Art und Weise selbst organisieren, die mit dem Haushalts/iW, von dem es abhängt, in EinklanS steht. Es erreicht dies durch Fragmentierung in eine große Zahl kurzer Segmente, welche die beschränkte kontinuierliche Sehdauer von Personen, die in den Haushalts/ľow vertieft sind, 6 Zum Thema des Fernsehens in der Öffentlichkeit siehe die Arbeit Lemish (1982a, 1982b). Fernsehton 397 widerspiegelt; gleichzeitig wird wiederholt Betonung auf die Fähigkeit des Tons, Botschaften zu transponieren, gelegt, weil er allein für die Hälfte der Zeit, in welcher der Fernseher eingeschaltet ist, den Kontakt mit dem Publikum hält. Oder, um es noch einmal völlig anders auszudrücken: Wir könnten sagen, dass die Erscheinungsform des flow nicht so stark von der Konkurrenz zwischen Sendern abhängt, wie Williams (1974, 95; in diesem Band, 38) behauptet, sondern vom Wettstreit mit dem Haushaltsflow. In Fernsehsystemen mit minimalem flow im Programm gibt es entsprechend wenig Wechselwirkungen zwischen dem Fernseher und dem Haushalt. In den zahlreichen nationalen Fernsehsystemen, in denen Filme ohne Unterbrechungen oder Werbepausen ganze Abende des Programmablaufs in Anspruch nehmen, gleicht die zentrale Beziehung zwischen Haushalts/Zow und Programmablauf dem Verhältnis, das zwischen HaushaltsyW und der Vorführung eines Spielfilms im Kino besteht: Wenn es an der Zeit ist, den Film zu sehen, lässt man den Haushalt liegen.7 Dies ist bestimmt nicht der Modus des Fernsehens in den Vereinigten Staaten, denn die Entwicklung des Programm/Zow ist untrennbar verbunden mit der vollständigen gegenseitigen Durchdringung von flow im Haushalt und im Programmablauf.5 Diese Verbindung wird von der Tendenz der Messverfahren, Zuschauer und Zuhörer durcheinander zu bringen, stark gefördert. Das offensichtlichste Ergebnis dieses Prozesses ist, dass der Ton mit einer speziellen Verantwortung ausgestattet wird, nämlich zu garantieren, dass kein potentieller Zuhörer den Fernseher abschaltet. Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass die üblichen übertriebenen Aussagen, man habe zugeschaut, weiterhin die Regel bleiben. Diese Behauptung wird von den verfügbaren kulturvergleichenden Daten stark gestützt; vgl. Anmerkung (1) am Ende des Textes. Genauso wie ich gegen eine Zusammenfassung aller Fernsehsysteme in einer einzigen und undifferenzierten >Fernseherfahrung< argumentiert habe, möchte ich argumentieren, dass das US-amerikanische Fernsehen in angemessene Zeitsektoren aufgeteilt werden muss, bei der jeder Sektor einer unterschiedlichen Stufe der Konkurrenz mit dem Haushalts/W entspricht; vgl. Anmerkung (2) am Ende des Textes. 398 Rick Altman Die folgenden Ausführungen widmen sich sechs wichtigen Funktionen und Techniken, die den Ton im Fernsehen, der Art und Weise, wie er sich im flow des US-amerikanischen kommerziellen Fernsehsystems entwickelt hat, kennzeichnen. Die kennzeichnende Funktion Wo der Wettbewerb zu einem hohen Grad an flow geführt hat, besteht die typ.sche Struktur des Fernsehensaus.kleinen Segmenten. Das trifft offensichtlich auf die Werbung GOOD MORNING AMERICA und die Abendnachrichten zu, als auch auf bunte Abende, Quizsendungen und die WIDE WORLD OF SPORTS Obwohl in narrativ-fiktionalen Sendungen nicht ganz so offensichtlich, ist hier dennoch dieselbe Fragmentierung am Werk DALLAS ist nicht um eine romanhafte Hermeneutik aufgebaut, sondern um ein kompliziertes Menü von Sujets, die von den einen Zuschauern anhand der Figur 0 R., Bobby, Sue Ellen Pam, Cliff, Miss Ellie, usw.) und von den anderen anhand des Themas (Sex, Liebe, Macht, usw.) erlebt werden. Gerade weil uns, um Jane Feuer zu zitieren, eine »Folge von Segmenten ohne Abschluss« (1983, 15/16) präsentiert wird, sieht DALLAS nicht vor, dass unsere ganze Aufmerksamkeit der Linearität, Direktheit und Teleologie eines zielgerichteten Plots untergeordnet wird. Stattdessen erkennt die Serie von Anfang an unser Begehren an, die Objekte unserer Aufmerksamkeit aufgrund anderer Aspekte zu wählen. Wahrend der Grad an Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Szene beim Publikum eines Hollywoodfilms von der Wichtigkeit dieser Szene für die Lösung von Plotkonflikten abhangen dürfte hängt die Aufmerksamkeit bei einer bestimmten Szene in DALLAS stattdessen von dem Thema und den anwesenden Figuren ab Indem wir diesen Unterschied hervorheben, können wir sagen, dass die klassische Hollywoodnarration zum großen Teil zielgerichtet ist, während die amerikanische Fern-sehnarration stark von der Abfolge verschiedener Menüpunkte bestimmt ist. , Für die Zuschauer, die tatsächlich die ganze Zeit vor dem Fernseher sitzen, wird die Abfolge der Menüpunkte tatsächlich durch die Bilder verständlich gemacht. Für die Haltte der Zu- Fernsehton___________ 399 schauer, deren Augen nicht auf der Mattscheibe kleben, muss der Ton die Aufgabe der Kennzeichnung der Menüpunkte übernehmen. Die hervorhebende Funktion In Visible Fictions zeigt John Ellis, dass »im Unterschied zu einem Kinofilm kaum die Möglichkeit besteht, eine bestimmte Fernsehsendung >morgen< oder irgendwann nächste Woche< zufällig zu erwischen« (1982, 111). Die Fernseherfahrung selbst wird also vom Publikum, das zu Hause zusieht, als live wahrgenommen, egal ob die übertragenen Ereignisse nun live sind oder nicht. Genau wie die Kamera vor Ort sein muss, um ein Live-Nachrichtenereignis aufzunehmen, muss der potentielle Zuschauer dafür sorgen, dass seine Augen auf den Fernseher gerichtet sind, wenn etwas Wichtiges passiert - oder er trägt das Risiko, dieses Ereignis für immer zu verpassen. Paradoxerweise trifft dies auf eine fiktionale Sendung aus der Konserve noch stärker zu, als auf eine Nachrichten- oder Sportsendung, die live gesendet wird, denn während über letztere in den Spätnachrichten berichtet werden dürfte, ist Miss Ellies Reaktion auf die Nachricht von Jocks Tod für jemanden, der es nicht schafft, zur rechten Zeit zurück am Bildschirm zu sein, für immer verloren. (Es sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass entgegen den Erwanungen die äußerst umjubelte Technik der Zeitverschiebung durch Videoaufzeichnung nicht dazu beiträgt, das Gefühl des potentiellen Verlustes zu lindern, weil Zeitverschiebungen selten für jene Sendungen genutzt werden, die unterbrochen gesehen werden, sondern stattdessen für jene Sendungen, die der Zuschauer hingebungsvoll von Anfang bis zum Ende sorgfältig anschaut.) Die charakteristische irreversible Vorführsituation des Fernsehens stellt einen Zusammenhang zu den irreversiblen, nicht planmäßigen Formen her, mit denen die Unmöglichkeit des Zurückgehens und der Wiederholung des Selben kompensiert wird, indem eine repetitive, quasi-rituelle Annäherung an das Gleiche im folgenden Material auftaucht. (Mündliche und pastorale Erzählungen erreichen dies genauso wie Heftromane und Comicstrips oder Radio- und Fernsehdramen.) Der Pro- 400 Rick Altman grammablauf des Fernsehens selbst nimmt schließlich die Merkmale der irreversiblen Wirklichkeit an. Wir können weder entscheiden, wann wir einen bestimmten Typus von Sendung anschauen, noch können wir entscheiden, wann ein bestimmtes Ereignis innerhalb einer Sendung auftauchen wird. Wir können den Programmablauf nur auf einer mehr oder weniger pausenlosen Basis aufmerksam verfolgen, um sicherzugehen, dass wir nichts verpassen, genauso wie ein Babysitter die Gegebenheiten des Hauses und die Kinder, für die sie/er verantwortlich ist, automatisch überwacht. Genau an dieser Stelle übernimmt der Ton die Funktion der Hervorhebung. Wir können nicht ständig unsere Augen konzentriert auf das Fernsehgerät richten, aber wir haben gelernt, auf bestimmte Tonsignale zu reagieren, die uns sagen: Das ist der Teil, auf den du gewartet hast, dies ist der erregende Moment, dies ist das große Spiel, dies ist der Zeitpunkt, an dem die Sendung, der du zugeschaltet bist, ihr zentrales Material liefert. Der Nachrichtenmoderator spricht; seine erhöhte Objektivität erfordert ein neutrales Bild - nichts Spezielles, nichts Ungewöhnliches, keine Veränderungen von Minute zu Minute, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat. Nur der Ton verändert sich beständig - tatsächlich sind wir genau wegen dieser Veränderung immer hier, zuhörend, sogar dann, wenn wir nicht zusehen können. Aber zu welchem Zweck werden diese verbalen Hervorhebungen verwendet? Generell dienen sie dazu, mich zum Bild zurückzurufen, mich wissen zu lassen, dass etwas passiert, was ich nicht wagen darf zu verpassen, kurz gesagt etwas Spektakuläres. Das Wort ist genau gewählt, weil es das Ausmaß erkennen lässt, in dem die hervorhebende Funktion des Tons - entgegen den Zielen des Mediums - dazu dient, das zu markieren, was sehenswert ist, statt es nur zu hören. Das Fernsehen trägt somit direkt zu einer Vorstellung von Leben bei, in der alltägliche Ereignisse kaum wahrgenommen werden. Als ereignisloses, hörbares, kontinuierliches Füllsel des Lebens behandelt, gewinnt unser täglicher flow nur in dem Maß an Bedeutung, in dem er auf das Spektakuläre verweist, auf ein Ereignis, an dem ich der Definition nach nicht teilnehmen kann, das aber meinem Leben Bedeutung geben kann, indem ich es sehe. Indem bestimmte Teile jeder Sendung hervorgehoben werden, führt uns der Ton zurück zum Bild, zum Fernsehton__________________ 4Q1 Fernsehgerät selbst, und dadurch bindet er uns ständig in eine Ästhetik und Ideologie des Spektakulären ein. Die hermeneutische Funktion des Tons Der Ton hat einen verborgenen Vorteil gegenüber allen anderen Reizen, weil er in der westlichen Welt immer für unvollständig gehalten wird; der Ton ruft nach Identifikation mit einem sichtbaren Objekt, das als Tonquelle fungiert. Nun hat das Fernsehen uns an einen hohen Gewinn für unsere audiovisuellen Investitionen gewöhnt; wir vertrauen mittlerweile völlig darauf, dass uns das Fernsehen die Quelle des Tons zeigt wenn wir nur schnell genug aus der Küche herausstürzen. Wir sind an das Gefühl der Vollständigkeit gewöhnt, das diese Struktur zusichert. Wenn wir einen Ton hören, finden wir seine Quelle auf dem Bildschirm, was uns ein Gefühl der Anwesenheit, der Lösung gibt. Es ist sehr aufschlussreich, diese Situation mit der allgemein üblichen Herangehensweise im Film zu vergleichen. In einem Artikel der Cinema/Sound-Aus&be der Yale French Studies habe ich gezeigt (Altman 1980), wie Off-Screen Ton oder, um genauer zu sein, Ton ohne eine sichtbare Quelle (was Michel Chion (1982) akkusmatischen Ton nennt), eine, wie ich es bezeichnet habe, »hermeneutische Funktion« erschafft: Der Ton stellt die Frage >Wo?< und das Bild, das daraufhin die Quelle ausweist, antwortet schließlich >Hier!<. Mit anderen Worten-der Ton leitet die so genannte Einbindung des Zuschauers ein^ bei der die Kamera entweder die Bedürfnisse des Zuschauers erfüllt oder nicht. Beim Fernsehen übernimmt jedoch der Zuschauer / Zuhörer die Position der Kamera innerhalb der Tonhermeneutik. Wenn der Ton meine Neugierde weckt, kann ich mir der Befriedigung fast sicher sein, indem ich einfach meinen Blick dem Bildschirm zuwende. Statt auf die Kamera und den Regisseur angewiesen zu sein, die mich vielleicht darauf warten lassen, den Auslöser dieses Geräuschs zu sehen, übe nur ich die Kontrolle aus. Dadurch, dass ich in Richtung des Bildschirms blicke entdecke ich selbst die Quelle des Tons und erfahre somit die Vollständigkeit, die diese Struktur mit sich bringt Nebenbei sollte die ideologische Investition beachtet werden 402 Rick Altman die in dieser scheinbaren Freiheit steckt. Im Gegensatz zu Filmzuschauern, die Vergnügen daran haben, von der Bild-Ton-Beziehung manipuliert zu werden (aber wer weiß schon, dass eine Manipulation stattfindet), werden Fernsehzuschauer dazu gebracht zu glauben, dass sie Macht über das Bild haben, während tatsächlich die kennzeichnende und die hervorhebende Funktion, die die Tonhermeneutik auslösen, sorgfältig kontrolliert werden und einem vorgeschriebenen Pfad folgen. Dies bringt für das Fernsehsubjekt eine ideologische Positionierung mit sich, die der des Films entgegengesetzt ist und die sich der Illusion der Freiheit bedient, um noch vollständiger verborgen zu sein. Interne Zuschauer Wenn wir die Stimme eines beliebten Stars hören, wenden wir uns dem Bildschirm zu, um unser Gefühl für die Präsenz des Stars zu vervollständigen. Dieser Star kann ein Schauspieler, eine politische Persönlichkeit, ein Sportheld oder einfach ein hübsches Gesicht in der Werbung sein, jemand der meinen Akzent und folglich meinen regionalen oder nationalen Ursprung teilt. Oder es ist einfach das Auto zu sehen, das ich mir überlege zu kaufen. In allen diesen Fällen besitze ich ein vernünftiges Maß an Kontrolle über die Entscheidung, welcher Sorte von Tönen ich zum Bildschirm hin folge. Eine weit häufigere Situation beraubt mich vollständig dieser Kontrolle: Was ich höre, ist nicht das Zeichen einer bestimmten visuellen Präsenz auf dem Bildschirm, sondern nur ein Hinweis darauf, dass ein anderer denkt, dass ein bedeutsames Phänomen auf dem Bildschirm erscheint. Tatsächlich haben wenige Verfahren einen größeren Einfluss auf die Gesamtheit der inneren Dynamik des Fernsehens, als die nahezu unaufhörliche Präsenz interner Zuschauer - die nur manchmal im Bild zu sehen, aber immer auf der Tonebene zu hören sind. Gewöhnlich dient der Ton dazu, die signifikanten Momente hervorzuheben, auch wenn er Live-Bildern angepasst ist. Was wir Live-Sport-ereignisse nennen, sind in Wirklichkeit Live-Bilder, die von wenigen Live-Soundeffekten begleitet werden, während sich der Rest des Tons der Voice Over-Kommentierung verschreibt; Fernsehton 403 sogar die Dialogbruchstücke mit synchronem Ton sind nur kurze Abwechslungen. Dominierend bleiben die Worte des Kommentators, die der direkten Rede in einem historischen Roman vergleichbar sind. Ungeachtet des Live-Charakters der Bilder fährt der Ton fort, als Schilderung, als Kommentar, kurz gesagt als interner Zuschauer für die Bilder zu fungieren. Indem er sorgfältig seine hervorhebende Funktion ausfüllt, übernimmt der Ton eine von Bewertungen durchzogene Filterfunktion, die besser als das Bild selbst diejenigen Teile des Bildes identifiziert, die ausreichend spektakulär sind, um eine größere Beachtung vom unaufmerksamen Zuschauer zu erhalten. Das operative Modell zum Verständnis des audiovisuellen Komplexes des Fernsehens ist somit nicht dasjenige, welches sich eine wahrhaftige Live-Präsentation der Ereignisse zu eigen macht. In dem Fall wäre es vernünftig zu erwarten, dass der Zuschauer / Zuhörer beide Anteile des Spektakels gleichzeitig sieht und hört. Ganz im Gegenteil: Der visuelle Eindruck des Fernsehzuschauers von einem Live-Ereignis ist typischerweise durch den Ton, der zu zwischengeschalteten internen Zuschauern spricht, gefiltert. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die eigentliche Anordnung, die bei den meisten im Studio aufgenommenen Sendungen bevorzugt wird, so aussieht, dass die Kamera über die Köpfe des Studiopublikums hinweg auf das Spektakel schaut, das diese gerade konsumieren. Unabhängig davon, ob der Ton nun direkt aufgenommenen Studioapplaus oder nur eine hinzugefügte Lachkonserve übermittelt, ist er immer auf die Art und Weise angelegt, die uns überzeugen soll, dass der Applaus oder das Gelächter von einem Ort herrührt, der uns näher ist als das Spektakel selbst. In der Tat ist es aufschlussreich zu erkennen, wie oft Nachrichtensendungen und Sportnachrichten, nicht zu vergessen GOOD MORNING AMERICA und andere Sendungen des Frühstücksfernsehens, interne Monitore einbeziehen, die gewöhnlich hinter dem Nachrichtensprecher aufgestellt sind, so dass dieser leicht vom Zuschauer weg schauen muss, um den Onscreen-Monitor zu sehen. Mit diesem Blick etabliert der Moderator klar sichtbar die allgemeine Struktur, die für interne Zuschauer des Fernsehens konstitutiv ist: Wir, die Zuschauer, müssen über, durch und mit internen Zuschauern sehen, um zu den versprochenen Bildern zu gelangen. Diese können sichtbar 404 Rick Altman oder unsichtbar sein, aber sie sind immer zu hören und immer bereit uns zu sagen, was wir über jene Bilder >wissen müssen<. Die gebräuchlichsten internen Zuschauer sind allgemein bekannt und werden oft verwendet: der Nachrichtensprecher, der Sportmoderator, das Studiopublikum (oder deren Ersatz, die Lachkonserve), die Stadionmenge, die Benutzer von beworbenen Produkten. Eine komplexere Situation tritt mit dem noch häufigeren Fall der location narratives< auf (im Gegensatz zu den studio narratives(, die mit einem Publikum aufgenommen werden, das entweder wirklich anwesend ist oder vom Ton impliziert wird). Mehr als irgendein anderes Fernsehprodukt gleichen location narratives<, wie Soaps für Erwachsene oder Actionshows, deren Ausstrahlung größtenteils auf die späten Prime Time-Stunden beschränkt ist, in Bild und Ton eher Hollywoodfilmen: Da kein Ansager, kein Studiopublikum, keine zufriedenen Konsumenten in den Ton eingebaut werden, scheint es, als wären sie die einzigen Ausnahmen im gesamten Fernsehprogramm, weil sie völlig frei vom Einfluss interner Zuschauer sind. Weit gefehlt. Zunächst einmal sind diese Sendungen speziell um eine Reihe von höchst visuellen Ereignissen und Figuren gebaut, für die andere Figuren als interne Zuschauer dienen. In DALLAS spielen Ray und Donna beständig die Rolle des >guten Gewissens< der Serie; statt selbst aktiv zu werden, existieren sie vielmehr als Lieferant für eine beispielhafte moralische Reaktion auf J.R.s faule Tricks. J.R.s verschiedenen Bettgeiährtinnen - und besonders Merrilee Stone -spielen die gegenteilige Rolle und reagieren schadenfroh auf seine Unmoral. Die arme hübsche Afton ist kaum mehr als ein konstantes Publikum für Cliff Barnes und seine ehrgeizige Dummheit. POLIZEIREVIER HILL STREET mit seinem stark an Figurenkonstellationen orientierten Stil entwirft für seine sekundären Figuren keine eigene Handlungslinie, sondern jede Szene ist systematisch so gestaltet, dass jede wichtige Handlung durch die Reaktion von ein bis zwei Zeugen begleitet wird. Wenn eine Sendung interne Zuschauer nicht ausreichend aus den eigenen Figuren zur Verfügung stellen kann, liefert Musik die Lösung. In mancher Hinsicht scheint die Musik für >location narratives^ dort einzusetzen, wo Hollywood aufhört, aber wir sollten uns von dieser oberflächlichen Ähnlichkeit nicht täuschen lassen. Beide Arten von Musikeinsatz sind mit Fernsehton 405 Sicherheit programmatisch, aber der Weg, den die Fernsehmusik einschlägt, ist viel kommentierender, viel eher dazu da, sogar den geringfügigsten Zwischenfall - normalerweise kurz bevor dieser eintritt - dem kompetenten Zuhörer im Zimmer nebenan zu erkennen zu geben. Die Bewegungen der Filmmusik dagegen sind langsam und umfassend im Vergleich zur mikrokosmischen Beachtung jedes Tief- und Höhepunktes im Fernsehen. Genauso wie die Lachkonserve für eine bestimmte Anzahl von Lachern in der Minute garantieren muss, muss die Musik einer --location narrative^ den detaillierten Plan für den Ehegatten liefern, der diese Sendung von der Küche aus zu folgen versucht, ohne diese für jede Kleinigkeit zu verlassen. Auch wenn die Methode anders ist, das Ergebnis ist das Gleiche: Der Ton stellt interne Zuschauer zur Verfügung, welche die Aufmerksamkeit der externen Zuschauer steuern. Das Voranschreiten des Tons In den Behauptungen, die ich bis hierher aufgestellt habe, liegt ein bedeutsamer Widerspruch. Auf der einen Seite hat das Fernsehen die Tendenz zur Live- oder >Live-auf-Kassette<-Prä-sentation, mit internen Zuschauern, die in Echtzeit auf interne Spektakel reagieren; auf der anderen Seite dient der Ton im Fernsehen dazu, den unaufmerksamen Zuschauer zu locken, entweder um die Quelle des Tons oder die Gründe für dessen Ausstrahlung mit eigenen Augen zu sehen. Das Problem ist einfach: Wie kann der potentielle Zuschauer sicher sein, dass er das Spektakel sehen kann, das den Applaus beim Publikum ausgelöst hat, wenn dieser Applaus von einer Aktivität ausgelöst wurde, die vor dem Applaus stattfand und die deshalb nicht länger externen Zuschauer, die aus der Küche kommen oder von der Tageszeitung hochblicken, verfügbar sein dürfte? Das Bild läuft weiter, die von Studiomikrofonen aufgenommenen internen Zuschauer reagieren, aber zu dem Zeitpunkt, an dem die Zuschauer vor dem Fernseher hinschauen, dürfte das Spektakel schon vorbei sein. Logischerweise sollte es genauso ablaufen, aber eben dies werden wir hier nicht vorfinden. Denn um seiner eigenen Logik zu folgen, kehren die Fernsehanstalten in der Regel den natürlichen Verlauf um. Die von Studio- 406 Rick Altman mikrofonen aufgenommenen internen Zuschauer werden zum Reagieren gebracht und lenken damit die Aufmerksamkeit der externen Zuschauer noch bevor das Spektakel offenbart wird. Oberflächlich betrachtet klingt dieses System absurd. Wie kann das Publikum auf etwas reagieren, was es noch nicht gesehen hat? Es kann eben nicht, und das ist der Punkt: Die internen Zuschauer müssen auf etwas reagieren, das wir, die externen Zuschauer, noch nicht gesehen haben. Das heißt, es muss eine Verzögerung zwischen dem Zeitpunkt geben, zu dem die internen Zuschauer Zeugen des relevanten Spektakels werden, und dem Moment, in dem dieses Spektakel den externen Zuschauern offenbart wird. Bei Studioaufnahmen ist dies extrem einfach. Das nahe liegendste Hilfsmittel ist das einfache Schwenken des >APPLAUS<- Schildes vor dem Publikum, kurz bevor der Showmaster erscheint. Das gleiche Ergebnis dürfte erreicht werden, wenn man den >Star unserer Show< von der Seite hereinbringt, so dass das Studiopublikum ihn sieht und erkennt, bevor er auf dem Bildschirm zu sehen ist. Und was würde passieren, wenn ein Diskussionsteilnehmer über ein Mikrofonkabel fiele und dies brüllendes Gelächter beim Studiopublikum auslösen würde? Kein Problem, denn als fernseherprobte Schauspieler wird der Diskussionsteilnehmer ohne Zweifel für einige Sekunden auf seinem Hosenboden sitzen, die Großaufnahme lange genug stehen bleiben, um sicherzustellen, dass die Kamera - gemeinsam mit den Zuschauern zu Hause -die plumpe aber dennoch berichtenswerte Blamage aufgenommen hat. Durch den Gebrauch von Stichwortschildern für das Studiopublikum, intelligente Setdesigns oder feste Formatbestandteile einer Sendung, programmatische Musik oder sofortige Wiederholungen hat der unaufmerksame Zuschauer die Zeit zum Gerät zurückgerufen zu werden und Zeuge der Aufregung zu sein. Und dies dank der Tatsache, dass dem Ton, aus der Perspektive des externen Publikums heraus, die Ursache folgt, deren Wirkung er ist. Was ist nun das Endergebnis dieser Umkehrung? Was zunächst wie natürliche Kausalität aussah (Objekte erzeugen Ton) erhält nun eine Aura des Magischen (Reaktion produziert Aktion). Ton und Bild werden, wie ich es beschrieben habe, rückwärts präsentiert und verwandeln so den zwanglosen Zuhörer auch in einen Zuschauer. Die Einfügung des Zuhörers in Fernsehton 407 die Zuschauer, des Haushalts/7oie> in den flow des Fernsehens, erfolgt somit durch die Umkehrung der akzeptablen, logischen und zeitlichen Beziehungen zwischen Bild und Ton. Der Ton, der Reaktion ist, muss zur Vorhersage umgeformt werden, so dass das Bild, zu dem ich gerufen werde, als ganz besonders für mich gemacht erscheint. Diskursivierung Der narrative Hollywoodfilm ist stark nichtdiskursiv. Er verweigert die Anwesenheit eines Publikums anzuerkennen und bringt den Zuschauer stattdessen dazu, die Haltung des Voyeurs anzunehmen, eine Haltung, die von einem verlässlichen und kontinuierlichen Grad an Aufmerksamkeit geprägt ist. Beim Fernsehen ist die Aufmerksamkeit des Publikums nicht gewährleistet. Das Fernsehen konkurriert mit anderen Objekten der Aufmerksamkeit in seiner Umgebung, genau wie die Produkte, für die es wirbt; es ist demzufolge in seiner Gesamtheit weit diskursiver, stellt seine Anfragen offen, spricht das Publikum direkt an und verwickelt so die Zuschauer in einen Dialog. Es weist sie zum Zuschauen, zum Sehen an, zur Teilnahme an dem, was für die Augen geboten wird. Der Gebrauch des Tons für den Zweck, den unaufmerksamen Zuschauer zum Gerät zurückzurufen, hat weit reichende Auswirkungen sowohl auf die Diskursivität des Tons als auch auf die des Bildes. Für den Filmzuschauer ist Mamoulians berühmte Explosion einer heruntergefallenen Vase in SCHÖNSTE, LIEBE Mich! ein Witz, eine Übertreibung oder eine Nichtübereinstimmung. Ein entsprechendes Tonereignis beim Fernsehen wäre jedoch ein Lockruf, um zum Gerät zurückzukehren, ein Lockruf, um von Ton als histoire (der Ton sagt mir, was passiert) zu Ton als discours (der Ton sagt mir, ich soll zusehen, um herauszufinden was passiert) umzuschalten. Auf die gleiche Art und Weise rücken die US-amerikanischen Fernsehnachrichten immer stärker in den Bereich des Darstellenden. Sie verschmelzen eine erste Ebene, die sich aus dem neutralen Bild eine Ansagers und einem stark darstellenden Ton zusammensetzt, mit einer zweiten Ebene eines stark aufgeladenen Bildes und eines untergeordneten Tones. Die Wahrheit ist somit 408 Rick Altman paradoxerweise doppelt verstehbar: Der Moderator sagt uns die Wahrheit (»Heute ist der Mount Elba erneut ausgebrochen und produzierte einen Lavastrom, der zwei Dörfer zerstörte, drei Straßen abschnitt und mindestens zehn Leben forderte.«), aber dies ist eine historische Wahrheit über ein Ereignis, das irgendwo anders stattfand und andere betraf und das somit nicht mich betrifft. Wenn ich jedoch die Ereignisse sehen könnte, wenn sie aus ihrer historischen Position heraus neu bestimmt werden könnten, unter einem neuen Gesichtspunkt, unter dem sie für mich gesendet werden würden, dann würden sie Form und Funktion wechseln und Teil eines diskursiven Kreislaufes werden. Die tiefere, paradoxe Wahrheit des Fernsehens ist folglich diese Diskursivierung der Welt. Dies bedeutet nicht so sehr, dass Sehen Glauben heißt (eine frühere Vermutung über das Fernsehpublikum), sondern eher, dass Bilder, die nur für mich gesammelt wurden, mir eine Sensation geben, die möglicherweise keine eindeutige, historische Erklärung geben könnte. Und nur ihre vorherige Ankündigung durch den Ton kann diese Bilder als nur für mich gemacht erscheinen lassen. Die sofortige Wiederholung ist vielleicht das ultimative und perfekte Beispiel dieses diskursiven Syndroms. Ich bin in der Küche und hole ein Bier. Plötzlich höre ich Beifall und einen Moderator, der aufgrund der völligen Perfektion des Wurfes und der akrobatischen Grazie des Fanges seine Gelassenheit verliert. Bis zu diesem Punkt haben die Spieler gespielt um zu gewinnen, das heißt für sich selbst, gemäß den Regeln, den objektiven, unpersönlichen Regeln des Spiels. Es kann sein, dass sie von Zeit zu Zeit für die Stadionmenge oder sogar für den Fernsehzuschauer eine Show abgezogen haben, aber sobald sie spielen, müssen ihre Handlungen darauf zielen, den Gegner niederzwingen und zu besiegen. Plötzlich jedoch tobt die Menge. Ich stürme aus der Küche herein, um das Ende des Spiels noch zu erwischen, doch natürlich ist es vorbei, abgepfiffen, als Spiel für immer verschwunden. Aber die sofortige Wiederholung rettet mir den Tag. Sie zeigt mir genau das, wofür ich gerade aus der Küche kam, um es zu sehen. Aus mehreren Kameraperspektiven und aus unterschiedlichen Zeitlupen sucht sie die außergewöhnlichsten Perspektiven heraus oder den einen Blick, der den Spielzug offenbart, der den Fang erst möglich gemacht hat. Die Wiederholung steht somit im gleichen Fernsehton 409 Verhältnis zum Spiel wie der Prozess der Repräsentation zur Wirklichkeit. Zunächst formlos, nicht interpretiert, ungerichtet, erhält die Wirklichkeit Bedeutung - ihre Eigenart des Für-Mich-Seins - erst im Prozess der Re-Präsentation. Die Erinnerung des Fernsehens ist folglich nicht die Erinnerung an ein ganzes Spiel, sondern die Kombination aus einer bestimmten Freiheit der Zirkulation (Bier, Telefon, Klo, Tageszeitung, usw.) und des paradoxen Wissens, dass das Spiel für mich mit der richtigen Aufnahme zur rechten Zeit zusammengefasst wird. Sehr oft wird die sofortige Wiederholung von gar keinem Ton begleitet, es gibt nur eine symbolische Stille, denn der Ton hat sich im Ruf nach dem umherwandernden Zuschauer verausgabt. Indem ein speziell gemachtes Bild zu dieser spezifischen Zeit mit einem Zuschauer, der besonders begierig darauf ist, genau dieses Bild zu sehen, zusammengebracht wird, gelingt es dem Ton sowohl den Zuschauer als auch das Bild in den diskursiven Kreislauf einzubeziehen, den er steuert. Auf der einen Seite der flow im Fernsehen, auf der anderen der Haus-halts/5W Nur wenn der Ton es schafft, die beiden zusammenzubringen, erfüllen diese gänzlich ihren Auftrag. Mit der Aufgabe betraut, mich zum Bild zu bringen, kämpft der Ton mit jeder ihm zur Verfügung stehenden Waffe: Mit Kennzeichnung, Hervorhebung, mit seiner hermeneutischen Funktion, internen Zuschauern und mit seinem Voranschreiten. Aber das ultimative Argument und das letztliche Ziel bleibt die beständig vom Ton geförderte Vorstellung, dass das Fernsehbild nur für mich produziert und gesendet wird, genau zu der Zeit, in der ich es brauche. Übersetzung: André Grzeszyk, Ralf Adelmann, Matthias Thiele Anmerkung (1): In Salazai (1972) legen Robinson und Converse folgende Zahlen vor, die ich in umfassenden politisch/ökonomischen Kategorien neu angeordnet habe. 410 RickAltman Tägliche Fernsehzeit (in min.) Zuschauen als primäre Aktivität Zuschauen als sekundäre Aktivität Nachgehen einer 2. Beschäftigung (in %) Osteuropa 59 51 8 14 Westeuropa 88 70 18 21 USA 129 92 37 29 Auch wenn diese Daten in den späten Sechzigern gesammelt wurden und somit eine Aktualisierung benötigen, legen sie eine positive Wechselbeziehung zwischen unterbrechender Rezeption und dem US-amerikanischen Modell, das sich an der Werbung orientiert und auf Einschaltquoten basiert (und dem sich Westeuropa nur zum Teil widersetzen konnte), entschieden nahe. Es sollte angemerkt werden, dass im Falle von gleichzeitigen Aktivitäten diese von den Antwortenden in ihrer Hierarchie nicht ausgewiesen wurden. Diese statistische Erhebung klassifiziert die Hälfte jeder dieser Aktivitäten als primär, die Hälfte als sekundär und begünstigt somit eine Überbewertung von Zuschauen als eine strikt primäre Aktivität. Informationen zu Richtlinien der Datensammlung, siehe Robinson (1969). Anmerkung (2): Schon 1945 argumentierte eine CBS-Publikation, dass »die Sendungen, die tagsüber ausgestrahlt werden [...] so entworfen werden können, dass nicht die volle Aufmerksamkeit notwendig ist, um sie zu genießen. Sendungen, die die volle Aufmerksamkeit von Auge und Ohr erfordern, sollten in den Abendstunden angesetzt werden, wenn der Zuschauer sich zu Unterhaltung und Entspannung berechtigt fühlt« (1945, 6). Die erwähnte Studie von Allen (1968) liefen die folgenden, in Zeitsektoren des Tages aufgeteilten Daten. Insgesamt Morgens Nachmittags Abends Fernseher im Gebrauch (Stunden pro Woche) 31,8 3,5 9,7 18,6 Fernseher eingeschaltet Nicht-Zuschauen (Stunden pro Woche) 12,8 1,8 4,5 6,5 Fernseher eingeschaltet Nicht-Zuschauen (in %) 40% 52% 47% 35% Der Zeitraum mit dem niedrigsten Prozentsatz an unterbrechender Rezeption entspricht somit sowohl dem Zeitraum der niedrigsten Konkurrenz mit dem Haushaltsflow (die Kinder sind im Bett, der Haushalt ist erledigt) als auch dem Zeitraum, der durch den höchsten Quotienten von zielgerichteten narrativen Sendungen gekennzeichnet ist. Die Stunden während des Tages, die einen deutlich höheren Prozentsatz an unterbrechendem Zuschauen offenbaren, sind traditionell verknüpft mit Zuschauerinnen und Konsumenten im Kindesalter. Szalai und andere berichten, dass Fernsehen als sekundäre Aktivität mehr als Fernsehton 411 doppelt so häufig unter amerikanischen Hausfrauen (38 %) als unter berufstätigen Männern (18 %) verbreitet ist. In jüngerer Zeit identifizierten Roberts und Lemieux Frauen im Alter von 18-39 Jahren als die Gruppe, bei der es am wenigsten wahrscheinlich ist, dass sie einer Sendung die volle Aufmerksamkeit schenkt (nur 31 % der Frauen von 18-39 blieben während einer ganzen Sendung im Zimmer). Schockierend an diesen Zahlen ist die Tatsache, dass Roberts und Lemieux alle Erhebungen nur in Hinsicht auf die Prime Time durchgeführt haben (und somit die Zeiträume mit einem hohen Maß an unterbrechendem Zuschauen bei Frauen versäumten und nicht miteinbezogen haben) und dass Szalai und andere berichten, dass 36 Prozent des gesamten Fernsehkonsums von berufstätigen Frauen im Hinblick auf eine andere Aktivität sekundär ist - nur 2 Prozent weniger als bei Hausfrauen. Diese Zahlen deuten auf zwei verwandte aber trotzdem getrennte Phänomene im US-amerikanischen Fernsehen und seiner Konsumption hin: (1) Die Programmentscheidungen der Networks werden genau an die Muster des Haushaltsflow geknüpft, was einen Koeffizienten an flow im Fernsehen produziert, der, während er im Vergleich zu anderen nationalen Systemen hoch bleibt, über die Abendstunden hinweg abnimmt. (2) Kulturelle Muster haben einen wesentlich höheren Grad an unterbrechender Rezeption für weibliche Erwachsene als für männliche Erwachsene geschaffen. Beide Hypothesen verlangen weiterführende Forschung, vielleicht in Richtung von Tania Modleskis Die Rhythmen der Rezeption. Daytime-Fernsehen und Haushalt (in diesem Band, 376-387). Allen, C. L. (1968) Photographing the TV Audience. In: Journal of Advertising Research 5, März, S. 2-8. Altman, Rick (1980) Moving Lips: Cinema as Ventriloquism. In: Yale French Studies 60, S. 67-79. Arlens, Michael J. (1976) Good Morning. In: The View From Highway 1. New York. Baggaley, Jon / Duck, Steve (1976) Dynamics of Television. Westmead. Bechtel, Robert B. / Achepohl, Clark / Akers, Roger (1971) Correlates Between Observed Behavior and Questionnaire Responses on Television Viewing. In: Rubenstein/ Com-stock/Murray. Vol. 4, S. 274-344. CBS (1945) Television Audience Research. New York. Chion, Michel (1982) La voix au cinema. Paris. Comolli, Jean-Louis (1971) Technique et ideologie: Camera, perspective, profondeur de champ. In: Cahiers du cinema, Mai/Juni 1971. 412 Rick Altman Comstock George u.a. (1978) Television and Human Behavior. New York. Ellis, John (1982) Visible Fictions: Cinema, Television, Video. London (vgl. die Übersetzung in diesem Band). Feuer, Jane (1983) The Concept of Live TV: Ontology as Ideology. In: Kaplan, E. Ann (Hg.) Regarding Television: Critical Approaches - An Anthology. Frederick. S. 12-22. Foulkes, D. / Belvedere, E. / Brubaker, T. (1971) Televised Violence and Dream Content. In: Rubenstein/Comstock/ Murray. Vol. 5, S. 59-119. Lemish, Dafna (1982a) The Rules of Viewing Television in Public Places. In: Journal of Broadcasting, 26, S. 757-782. Lemish, Dafna (1982b) Viewing Television in Public Places: An Ethnography. Ph. D. Dissertation, Ohio State University. LoSciuto, Leonard A. (1971) A National Inventory of Television Viewing Behavior. In: Rubenstein/Comstock/ Murray. Vol. 4, S. 33-86. Lyle, Jack (1971) Television in Daily Life: Patterns of Use Overview. In: Rubenstein/Comstock/Murray. Vol. 4, S. 26-28. Roberts, Elizabeth J./ Lemieux, Peter J. (1981) Audience Attitudes and Alternative Program Ratings: A Prelimanary Study. Cambridge: Television Audience Assessment. Robinson, John P. (1969) Television and Leisure Time: Yesterday, Today and (Maybe) Tomorrow. In: Public Opinion Quarterly, 33, S. 210-222. Rubenstein, Eli A. / Comstock, George A. / Murray, John P. (Hg.) (1971) Television and Social Behavior. A Technical Report to the Surgeon General's Scientific Advisory Committee on Television and Social Behavior. Washington: U.S. Government Printing Office. Salazai; Alexander (Hg.) (1972) The Use of Time: Daily Activities of Urban and Suburban Populations in Twelve Countries. The Hague. Steeves, Helen Leslie / Bostian, Lloyd R. (1980) Diary Survey of Wisconsin and Illinois Employed Women. Bulletin 41. Madison: University of Wisconsin-Extension. Williams, Raymond (1974) Television. Technology and Cultural Form. New York (vgl. die Übersetzung in diesem Band). a Daniel Dayan, Elihu Katz Medienereignisse1 Die Übertragung öffentlicher Ereignisse im Fernsehen steht vor der Herausforderung, das Ereignis nicht nur darzustellen, sondern dem Zuschauer [viewer] auch ein funktionales Äquivalent für das festliche Erlebnis anzubieten. Das Fernsehen überlagen die performance der Organisatoren mit seiner eigenen performance, es präsentiert seine Stellungnahme den Stellungnahmen der Zuschauerinnen und Zuschauer [spectators]2 und es bietet stellvertretende Formen der Teilnahme an, um die Zuschauerinnen und Zuschauer für die ihnen vorenthaltene Teilnahme zu entschädigen. Fernsehen wird so zum Hauptdarstel- Anm. d. U.: Im Original lautet der Titel Performing Media Events und konnte mit Inszenierung, Durchführung oder auch Realisierung von Medien-Ereignissen übersetzt werden. In Übersetzungen von Texten des Sprechakttheoretikers John L. Austin (1911-1960) - auf den sich Dayan und Katz zum Teil beziehen - wird das Verb to perform auch mit vollziehe^ übersetzt, womit die Produktivität des Sprechaktes hervorgehoben werden soll. »Der Name stammt natürlich von >to performs vollziehen« man >vollzieht< Handlungen. Er soll andeuten, daß jemand, der eine solche Äußerung tut, damit eine Handlung vollzieht - man fasst die Äußerung gewöhnlich nicht einfach als bloßes Sagen auf« (Austin 1972, 27f.). Das Verb to perform wird im Folgenden abhängig vom jeweiligen Kontext unterschiedlich übersetzt. Das englische Substantiv performance wird dagegen durchgehend erhalten, um so die Anschließbarkeit des Textes an Modelle von Performanz und Performativität zu verdeutlichen, die in der BRD erst seit Mitte der 1990er, im Zuge der Rezeption von Judith Butler, in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Anm. d. U.: Im Original wird sowohl viewer als auch spectator zur Bezeichnung der Fernsehzuschauerinnen und -Zuschauer verwendet. Während die beiden Begriffe in anderen Modellen zur Unterscheidung des konzentrierten, gebannten Blicks im Kino und des flüchtigen Fern-Sehens dienen (vgl. Ellis in diesem Band, 59), werden die beiden Bezeichnungen im vorliegenden Text nicht in Abgrenzung zueinander benutzt und deshalb mit >Zuschauer< übersetzt. Das englische audience wird als >Publikum< übersetzt, der Plural audiences dagegen als >Zuschauerschaften<, um den engeren Begriff >Publika<, der meist Teilöffentlichkeiten bezeichnet, zu umgehen.