96 Stummfilm in der Filmgeschichte ob es diesen Berufsstand tatsächlich noch gab.346 In den Filmbesprechungen der 1910er Jahre werden ,Erklärer' nicht mehr erwähnt, und in den 1920er Jahren g^ der ,Erklärer' schon als ein Kuriosum aus den sogenannten ,Kindertagen' des Films.347 — Im März 1928 spürte Georg Herzberg noch einmal einen „Filmansager" in den Berliner Taunus-Lichtspielen in der Köpenicker Straße auf, den der Inhaber Karl Stiller engagiert hatte, um sich mit dieser reminiszenten Attraktion gegenüber einer neuen, nahegelegenen Konkurrenz hervorzutun, die ihm die Existenz schwer machte.348 Langlebiger erwies sich schließlich die Sonderform von kommentierten Filmveranstaltungen mit pädagogischer und volksbildender Ausrichtung nach dem Beispiel der ,Mustervorstellungen' der Kinoreformbewegung, die sich nach deren Ausklingen um 1913/14 allerdings erst in den 1920er Jahre wieder bildete. In den 1920er Jahren waren kommentierte Veranstaltungen mit stummen Kulturfilmen weit verbreitet, wurden auch für Schulklassen abgehalten und hatten — besonders in der Form einer Integration einzelner stummer Kulturfilme in den Schulunterricht, die vom Lehrer kommentiert wurden — noch weit über die Tonfilmzeit hinaus Bestand. Speziell zur Benutzung im Schulunterricht wurden Kulturfilme selbst in den 1940er Jahren noch stumm gedreht, um Lehrern eine Kommentierung zu erlauben.349 So wenig der ,Erklärer' zur alltäglichen Praxis in der Aufführungskultur stummer Filme gehörte, so vereinzelt blieb der Ansatz, Dialoge von Sprechern im Kino einsprechen zu lassen. Thomas Mahner berichtet von einem Beispiel in Flensburg, bei dem gezielt bestimmte Dialogpartien ,live' gesprochen wurden, doch dabei handelte es sich um einen Sonderfall im Zusammenhang mit dem speziellen Genre von Gesangs- und Musik-Stummfilmen.350 Im Kino war ein Kommentar bei der Aufführung von Stummfilmen nach der ersten, teilweise noch an der Tradition der Laterna magica orientierten Phase nicht üblich, was vermehrt noch für ein Einsprechen von Dialogen galt. Was vom im Filmbild sichtbaren Dialog mitteilenswert erschien oder an Information durch das Wort benötigt wurde, wurde durch Zwischentitel vermittelt. Nur als kuriose Frechheit notierte die Fachpresse einmal, dass hinter der Leinwand verborgene Personen einen Stummfilm akustisch illustrierten bzw., wie es genau hieß, „die verschiedenen Geräusche imitierten usw.", da ein Kino in Preßburg auf diese Weise einen stum- 346 Vgl. Hinweis von Sabine Lenk zu Chäteauvert 1996, S. 92, Anm. 1. 347 Dass der „Kinoerzählet" erst durch den Tonfilm verdrängt wurde, ist eine litetarische Überformung des Phänomens zu poetischen Zwecken von Gert Hofmann: Der Kinoerzähler. München, Wien: Carl Hanser 1990 (zur Kontroverse um die Darstellung Güttinger 1992, S. 113f£; Paech/Paech 2000, S. 139). 348 Georg Herzberg: Der letzte Filmansager von Berlin. In: FK, Nr. 79, 31.3.1928 („Erklärer" werden hier als Erscheinung des Kinos „vor 20 Jahren" bezeichnet). 349 Vgl. Meyer 1978. Zum langsamen Obergang zur Vertonung und geringen Anteil von Tonfilmen bei Kulturfilmen vgl. u.a. Jason, Bd. 3, S. 17ff. (Tabelle, S. 18: 1929-1931 von 1.962 Kultur-, Lehr- und Werbefilmen 231 mit Ton). 350 Vgl. Mahner 1999, S. 114. > I Geräuschirnitation beim Stummfilm 97 jnen Film als ,Tonfilm' ausgab. Das Publikum verwehrte sich jedoch gegen derartige Praxen: „Es pfiff und lärmte und verlangte sein Eintrittsgeld zurück".351 Die heute kursierenden Vorstellungen über das Einsprechen von Stummfilm-Pialogen durch verborgene Schauspieler gehen möglicherweise auf solche Beispiele aus der frühen Tonfilmära zurück, die es vielleicht nicht nur in Preßburg gab, und die sich im Lauf der Zeit zu fiktionalen Darstellungen der Kinopraxis in der Stummfilmära verdichteten.352 3.1.3 Geräuschirnitation beim Stummfilm Ebenso wie das Sprechen im Kino war auch ein von Musikern oder mit maschinellen Hilfsmitteln prononciert vorgetäuschter Geräusch-Naturalismus in Deutschland bei der Aufführung von Stummfilmen bereits seit den 1910er Jahren allgemein nicht üblich.353 Der Berliner Stummfilmpianisten Willy Sommerfeld, der die Aufführungspraxis stummer Filme in den 1920er Jahren aktiv erlebte und gestaltete, zog nicht einmal den Gedanken in Erwägung, dass Geräuschirnitation beim stummen Film in Frage kommen könnte.354 Im Deutschland der 1920er Jahre war die Imitation von Geräuschen durch Musiker bei der Vorführung stummer Filme weitgehend verpönt.355 Geräuschnaturalismus galt als „seelenlos"356 und wurde allenfalls in sehr sparsamer Dosierung akzeptiert — Béla Balázs fand es geradezu „peinlich", wenn man „die 351 Tonfilm hinter der Leinwand. In: LBB, Nr. 48, 25.2.1930. So ließ etwa Ingmar Bergman in seinem Fernsehfilm Lamar och gör sig tili {Dabei - ein Clown; SCHW/ DK/NOR/IT/FIN/D 1997), in dem eine Stummfilmvorführung handlungstragend ist, verborgene Sprecher die Filmdialoge einsprechen, wobei ,Stummfilm' durch in Schwarzweiß und im Kontinuitätsprinzip neu gedrehte Szenen ohne Zwischentitel repräsentiert wird. Vgl. u.a. W Giltmann: Musikalische Geräusche oder Geräusche und Musik. FK, Nr. 15, 16.1.1929 (Die rilm-Musik, Nr. 2). Zum selben Ergebnis kommt die eingehende Untersuchung zum Einsatz von Geräuscheffekten in den 1910er Jahren von Stephen Bottomore (Bottomore 2001) anhand der britischen und amerikanischen Fachpresse. Ursprünglich ging die Forschung vor allem in den USA von einer regen Geräusch-•rrutation aus, zumal dort Kino-Geräuschmaschinen angeboten wurden, die Vogelzwitschern, Regen, Ge-TOter usw. und sogar das Weinen eines Babys naturalistisch wiedergeben konnten (vgl. Robinson 1990, S. 16f- »wie Abb. H5 und Hl). Demgegenüber verwies jedoch schon Altman 1994, S. 9, 18ff., darauf, dass auch amerikanische Anleitungen zur Filmillustration der 1910er Jahre Zurückhaltung bei Geräuscheffekten anpfählen. (Zur Ausstattung von in Deutschland aufgestellten Kinoorgeln mit Registern für Geräuscheffekte und deren sparsamer Anwendung vgl. Dettke 1995, S. 133f.) Freundliche Auskunft von Willy Sommerfeld am 24.2.1999. Herr Sommerfeld war erstaunt über meine rage zur Geräuschimitadon bei der musikalischen Begleitung stummer Filme und sagte kategorisch, es ^be sie nicht gegeben. Es wird zwar gleich von Ausnahmen die Rede sein, doch Sommerfelds Äußerung 2eigt, wie außerordentlich unüblich etwas anderes als eine rein stimmungsmäßige musikalische Stummfilm- egleitung in deutschen Stummfilmkinos der 1920er Jahre war. Vgl. u.a. Giltmann, a.a.O. 3* Vgl. Dettke 1995, S. 45. ,... tUttte/bC.j&ií^ňííífoiLšis., . .. Jéši.,'.^. ...;............ i ' íli'r'fiÉÍlifclŕniii'ľ' 98 Stummfilm in der Filmgeschichte photographierte Glocke läuten hört".357 Das legt zwar nahe, dass Balázs solch ein imitiertes Glockenläuten wohl einmal erlebt hatte, doch mit seinem Empfinden einer Geräuschimitation als Peinlichkeit stand er nicht allein. Auch Kurt London, der vormalige Musikkritiker von Der Film, berichtete in seiner 1936 im Londoner Exil erschienenen Filmmusiktheorie Film Music, dass „die Versuche einiger Stummfilm-Illustratoren, ihre Orchester Geräusche nachahmen zu lassen [...] einen schlechten Eindruck"358 hinterlassen hätten und bald wieder unterlassen wurden. Vereinzelt liest man zwar auch noch in Stummfilm-Premierenkritiken von 1929/30 von Ansätzen zur Nachahmung von Geräuschen, doch nur in Form von Ablehnung. Bei der Praxis, im Filmbild sichtbare Geräusche nicht nachzuahmen, handelte es sich um eine spezifische Entwicklung in der Aufführungskultur des Stummfilms, weil Geräuschimitation in der Tradition der Laterna magica-Schauen stand, bei denen sie sehr verbreitet war. Sowohl von dieser Tradition her als auch angesichts der frühen Bestrebung des Films, eine möglichst naturgetreue Reproduktion von empirischer Realität zu bieten, lag eine Wiedergabe der im Bild visualisierten Geräusche sogar näher als eine Untermalung der Vorführung mit Musik. 1913 berichtete Leopold Schmiedl über die Entwicklung der akustischen Untermalung der Filmaufführung: Schon lange bevor die eigentliche musikalische Bildbegleitung festere Formen anzunehmen begann, hörten wir eine Unzahl von Geräuschen derart, daß ihre Anwendung wohl nur das ganz naive Publikum befriedigen konnte. Je häufiger dann später intelligente Musiker den [sie!] Kino als Ort für ihre Kunstausübung wählten, desto rascher ging es auch mit der Begleitmusik bergan. Die Ansprüche des Publikums an die Musik verfeinerten sich in einem Maße, daß heute jede aus dem Rahmen fallende Musik, also Musik, welche nicht auch sinnentsprechend ist und die Illusion hebt, recht unangenehm empfunden wird. Gegen die musikalischen Geräusche aber haben gerade die feinsinnigen Musiker ein Vorurteil behalten, das gerechtfertigt scheint, wenn man sich an die Anfange erinnert.359 In diesem Beitrag plädierte Schmiedl für eine Geräuschimitation durch die Musikbegleitung, da die Kinomusik die Aufgabe habe, die Illusion zu unterstützen. Er berichtete, dass man Geräuschimitation hier und da bereits praktizierte und im Aufspüren der passenden Hilfsmittel schon sehr findig geworden war: Pferdegetrappel im Gelände wurde durch Trommelwirbel auf einem mit Filz überzogenen Brett imitiert, Pferdegetrappel auf steinigem Boden durch Aufschlagen von Nussschalen auf Stein, Regen durch Erbsen auf Holz usw. Schon in den 1910er Jahren wurden demnach für die Filmaufführung — anknüpfend an Traditionen des Theaters360 und der Laterna-magica-Schauen, aber sicherlich auch aus eigener Kreativität — Wege gesucht und gefunden, um Geräusche synthetisch zu erzeugen. Béla Balázs: Proportionen des Filmbildes und der Filmmusik. In: FK, Nr. 220, 17.9.1924. London 1936, S. 34 (Obersetzung CM). L. (= Leopold) Schmiedl: Musikalische Geräusche im Kino. In: K, Nr. 331, 30.4.1913. Vgl. Flückinger 2001, S. 278f. Geräuschimitation beim Stummfilm 99 Doch ebenso wie etwa in Großbritannien und den USA361 setzte sich in Deutschland eine weitgehend ,reine' Musikbegleitung der Filme durch, und die Ansätze zur Geräuschimitation blieben schon in den 1910er Jahren die Ausnahme. 1915 berichtete ein Orchestermusiker in Der Kinematograph, dass einige Kinos sich für „schweres Geld" Geräuschmaschinen angeschafft hätten, die sich aber nicht bezahlt machten, weil für ihre Bedienung eine zusätzliche Person nötig war und weil sie, wenn zugleich Musiker beschäftigt wurden, die Musik zu sehr störten, so dass man sie kaum benutzte.362 Er hingegen habe sich ein Schlagzeug gekauft, mit dem man Geräusche imitieren könne, wofür er auch etliche Beispiele gab. Doch auch diese Form der Geräuschnachahmung setzte sich nicht durch, so dass Hans Erdmann später berichtete, dass erst um 1926 eine Zeit gekommen sei, „da - horribile dictul - der Herr am Schlagzeug anfing, sich selbständig zu machen"363. Der Sturnmfilm-musik-Spezialist Karl Heinz Dettke schildert, wie die Schlagzeuger die - allerdings nur „anfangs so originellen Geräusche zu erzeugen" — bemüht waren: den Regen mit einem Erbsensieb, den Donner mit der großen Trommel, den Wind mit einer Windmaschine, die zerbrechenden Gläser und Vasen mit etlichen zusammenhängenden Blechstücken, die Ohrfeigen und Faustschläge mit einem ,Watschenbretd', den Einsturz hölzerner Häuser, Brücken und Gerüste mit den Klapperhölzern. Autohupe, Tramwayglocke, Telefongeklingel und Pistolenschuß, der zum Gaudium des Publikums oft zu früh oder zu spät losging [•••]-3M Man kann sich leicht den Reiz ausmalen, den solche ,Instrumente' und das Experiment mit ihrer Anwendung auf Musiker und auch auf die Kinokapellmeister ausübten. So habe Dettke zufolge etwa Willy Schmidt-Gentner, der spätere Chefdirigent der Ufa, zu Beginn seiner Arbeit als junger Kinokapellmeister „nicht mit geräuschvollen Beigaben [gespart]: klirrende Scheiben, Geklapper, Gehupe und ein Grammophon im Orchester", doch später habe er solche Geräuschimitationen „auf die Verwendung bei Grotesken"365 reduziert. Abgesehen von einer sich verbrauchenden Originalität solcher Geräuschimitationen, die wohl rasch den Eindruck von Manierismus erweckten, ist eine Geräuschnachahmung bei stummen Filmen leicht dazu angetan, komisch zu wirken. Speziell die Wirkung dramatischer oder tragischer Filme kann davon erheblich beeinträchtigt werden366, aber auch bei stummen Lustspielen und sogar Grotesken 361 Vgl. Bottomore 2001. 62 Paul Grüner: Die Ausnutzung des Schlagzeuges. In: K, Nr. 429, 17.3.1915. 363 Hans Erdmann: Geräusche. In: FT, Nr. 16, 3.8.1929, S. 322. Dettke 1995, S. 27. Dettke schreibt in diesem Zusammenhang, dass auch Pianisten Geräusche nachahmen mussten; doch dabei dürfte es sich um Ausnahmen gehandelt haben. Auf derselben Seite folgt bei Dettke ein Zitat aus dem Jahr 1925, in dem ein Wanderschausteller, der mit einem Laienpianisten reiste, schildert, wie sein Pianist spielte; über Geräuschimitation spricht er nicht, was angesichts der geschilderten Spielweise auch sehr unwahrscheinlich wäre. Plausibel erscheint die Auskunft Willy Sommerfelds, dass 1 lanisten üblicherweise nicht über eine musikalische Illustration hinausgingen. 365 Dettke 1995, S. 46. Bei der Aufführung eines Filmdramas aus den 1910er Jahren in Hamburg etwa Mitte der 1980er Jahre 100 Stummfilm in der Filmgeschichte entsteht durch exzessive Geräuschimitation eine Wirkung, die die Filme zu einer Parodie ihrer selbst werden lässt (man erinnere sich etwa an die frühen Laurel & Hardy-TV-Adaptionen). Wenn stumme Filme musikalisch ernst genommen werden, wie es inzwischen wieder der Fall ist - und zu ihrer eigenen Zeit zweifellos überwiegend ebenfalls der Fall war -, ist der Ehrgeiz von Musikern gering, im Bild sichtbare Geräusche zu imitieren. Zu einer gewissen ,Mode' gelangte die Nachahmung von visualisierten Geräuschen im Jahr 1926. Doch selbst dabei beschränkte sich eine Geräuschimitation nach einem Aufsatz von Hans Erdmann auf die prononcierten, „hervorstechend lauten Geräusche" wie die eines fahrenden Zuges oder von Schüssen und dergleichen.367 In diesem Aufsatz legte Erdmann, der zu dieser Zeit der maßgebliche deutsche Kinomusik-Theoretiker war, die Prämissen für Geräuschimitation fest. „Unbedenklich" fand er sie nur bei Grotesken und Sensationsfümen und meinte im Blick auf die Zukunft, dass man „mit zunehmender Verfeinerung des Stils beim Lustspiel und erst recht beim künstlerischen ernsten Spielfilm auf die Verwendung von Geräuscheffekten mehr und mehr, schließlich ganz verzichten" werde. „Dabei ist vor allem die Überlegung ausschlaggebend, dass nicht der Geräuscheffekt an sich, sondern sein dramaturgischer Wert für eine mehr oder weniger berechtigte Betonung maßgeblich ist."368 In der Aufführungspraxis stummer Filme der 1910/20er Jahre war üblicherweise nicht die Sichtbarkeit von Geräuschanlässen im Film für eine etwaige Geräuschimitation ausschlaggebend, sondern die dramaturgische Funktion eines Geräuschs. Akustischer Naturalismus war selbst dann nicht die Leitlinie, als man um 1926 vorübergehend gesteigerten Wert auf Geräuschimitation legte. Auch zu dieser Zeit wurden leisere Geräusche wie „das Knistern von Papier, Rauschen von Kleidern und Vorhängen, Klirren von Tellern, Gläsern usw."369 Hans Erdmann zufolge nicht wiedergegeben. Grundsätzlich setzte sich in Deutschland durch, dass bei der Geräuschnachahmung, wenn überhaupt, selektiv nur diejenigen visuellen Angebote berücksichtigt wurden, bei denen eine akustische Umsetzung den Effekt des Bildes steigern oder betonen konnte. Üblicherweise wurde eine Geräuschimitation, wie Willy Sommerfeld sagte, bei der Aufführung von Stummfilmen jedoch unterlassen. Eine zurückhaltende Geräuschimitation war allerdings nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus praktischen Gründen sinnvoll, weil die Nachahmung von im Film visualisierten Geräuschen durch Musiker bei der Filmaufführung nicht einsimulierte die Klavierbegleitung ein „Wau wau", als ein bellender Hund auf der Leinwand auftauchte. Der Film wurde zur unfreiwilligen Komödie, weil im Publikum die Freude am Lachen nicht mehr nachließ. 367 In: Film-Ton-Kunst, Heft 1, 1926; zit. in: Erdmann, a.a.O. 368 Erdmann, a.a.O; ferner: Ein Kinoorchester-Dirigent erinnert sich. Gero Gandert im Gespräch mit Werner Schmidt-Boelcke. In: SDK 1997, S. 35-50, S. 47. Schmidt-Boelcke ließ Geräusche ebenfalls nur nach dramaturgischen Gesichtspunkten (zumeist vom Schlagzeuger) imitieren. „Ich hatte im Capitol ferner Hilfsmittel, wie sie die großen Bühnen haben, Donnermaschine, Regenmaschine, Windmaschine, die bei manchen Filmen - ich denke etwa an Sturm über Auen - sehr wichtig sein können." 3" Erdmann, a.a.O. Geräuschimitation beim Stummfilm , 101 fach ist. Im Film visualisierte Geräuscheffekte akustisch umzusetzen, erfordert zumindest eine hinlängliche Synchronität von Bild und Ton — nicht nur bei dem von Dettke erwähnten, schon 1915 berüchtigten Pistolenschuss370, sondern auch bei der Hupe, der Tramwayklingel und dem Telefon, die möglichst ebenfalls nicht zu früh, zu spät, zu kurz oder zu lang hörbar sein sollen. Eine solch präzise, synchrone Übereinstimmung von Bild und Geräusch wurde in der Tat erst durch den Tonfilm möglich — in einer frühen Tonfilmkritik heißt es treffend, dass es für die Orchesterbegleitung „kaum möglich" sei, „Hammerschläge gleich genau und gleich natürlich bei jeder Vorstellung zu erzeugen"371, wie es der Tonfilm dann als eines seiner verblüffenden ästhetischen Wirkungspotentiale vorführte.372 Die Schwierigkeit für die Kinomusik, prononcierte sichtbare Geräusche pointiert und in jeder Vorstellung exakt an der richtigen Stelle und in der richtigen Dauer akustisch nachzuahmen, legte eher nahe, auf die Nachahmung solcher Geräusche zu verzichten. Damit ein Geräusch-Verzicht an neuralgischen Stellen des Films jedoch nicht als Lücke in der akustischen Illustration auffiel, musste zum Ausgleich auch auf weitere Anlässe zur Geräuschimitation verzichtet werden, um die akustische Illustration harmonisch wirken zu lassen. Auch aus diesen praktischen Gründen hatte es einen ästhetischen Sinn, bei der musikalischen Imitation von Geräuschen im Stummfilm sparsam vorzugehen oder ganz darauf zu verzichten. Außerdem kam in der Praxis hinzu, dass die Kinoorchester und Kinomusiker nur wenig Zeit für Proben vor der Aufführung hatten und dass genügend Zeit für das Einstudieren einer Partitur mit Geräuschimitation noch dringender nötig gewesen wäre als bei einer nur mehr musikalischen. Die Kinomusik beim Stummfilm hat statt der synchronen, naturalistischen' Geräuschimitation die Möglichkeit, Geräusche nicht synchron, sondern stilisiert atmosphärisch und rhythmisch zu imitieren, wobei Asynchronität nicht störend wirkt. Das Blechbläserorchester ,Tuten & Blasen' zum Beispiel begleitete 1990 bei einer Aufführung von Asphalt im Hamburger ,Metropolis'-Kino die Sequenz der Bauarbeiten an der Berliner U-Bahn mit einem stampfenden, synkopisch gebrochenen Rhythmus, der die Maschinengeräusche nachempfand. Diese Art der Geräuschimitation machte die im Film visualisierten Extrembedingungen der Arbeit sehr eindrucksvoll spürbar, ohne Bildsynchronität zu erfordern, und konnte den Eindruck der auch akustischen Belastung der Arbeiter über die Bilder der Arbeit mit Presslufthämmern und Rüttlern hinaustragen und sinnlich vermitteln. Es gibt jedoch nur relativ wenige Anlässe in Stummfilmen für eine sich harmonisch in die Vgl. Grüner, a.a.O. "' R.T.: Die Tonfilme: „The singing fool" und „Submarine". In: KT, Nr. 13, 5.7.1929, S. 357-358; S. 358.. 372 R.T.: Die Tonfilme: „The singing fool" und „Submarine". In: KT, Nr. 13, 5.7.1929, S. 357-358; S. 358. Die nachvertont erhaltene englische Exportfassung von Der weiße Teufel {The White Devil, 1929; Musik: Willy ÍKhmidt-Gentner) bietet einen Einruck vom Klang einer Geräuschimitation durchs Orchester. Die Geräusche vertonung des Films ist jedoch nicht repräsentativ für Musik-Geräusch-Partituren in der Stummfilmära. Es wttd bereits jedes visualisierte Geräusch imitiert (wie auch alle Dialoge gesprochen sind), weil synchrone "eräuschimitation im Tonfilm weitaus einfacher möglich war und Synchrongeräusche zudem anfangs ein großes Atttaktionspotential im Tonfilm darstellten. Ä. 102 Stummfilm in der Filmgeschichte Musik einfügende atmosphärische Geräuschimitation, außer solchen Maschinengeräuschen etwa Gefechtszenen, wilde Schießereien, Gewitter, niedergehende Lawinen und ähnliches, also weniger pointierte Geräusche als solche, die an sich bereits atmosphärisch sind. Stummfilm-Kinomusik durfte im Grunde gar nicht versuchen, das Konzept eines engen visuell-akustischen Übereinstimmens, eines .Synchronismus' oder ,Na-turalismus' zu verfolgen, wie es dann dem Tonfilm vorbehalten sein sollte. Die Kinomusik konnte sich nicht sklavisch am Bild orientieren, sondern musste sich bis zu einem gewissen Grad rhythmisch frei bewegen können. Unter den deutschen Kinomusikern der 1920er Jahre galt gleichwohl als Konsens, dass die Musik keine autonome Bedeutung anstreben sollte, sondern stimmungsstützend dem Bild ,unterordnen' müsse, was jedoch nicht als eine künsderische Einschränkung, sondern als eine kreative Art des künstlerisch-poetischen ,Anschmiegens' ans Bild begriffen wurde.373 3.1.4 Gesang beim Stummfilm Eine Ausnahmestellung hatte der Gesang im deutschen Stummfilmkino der 1910er und 1920er Jahre.374 Nachdem das Tonbild untergegangen war, setzte man bei einer Darbietung von Gesang jedoch nicht mehr darauf, eine technische Verbindung von Bild und Ton zu erreichen, sondern nutzte die Aufführungskultur des stummen Films für Kombinationen von Filmvorführung und aktuell im Kino aufgeführten Musik- und Gesangdarbietungen. Das Konzept dieser ,Musikfilme' lässt das Umdenken im Verständnis des Films vom Wiedergabe-,Realismus' zur neuen kommunikativen Ausdrucksform deutlich erkennen, weil es die spezifische Aufführungskultur des Stummfilms und das Fehlen eines technisch reproduzierten Synchrontons voraussetzte und sich kreativ dienstbar machte. Das Genre der Gesangs- und Musik-Stummfilme basierte auf dem Gedanken, das Filmbild für die groß projizierte Wiedergabe einer Musiktheater-Darbietung einzusetzen, so dass die Zuschauer die Inszenierung auf allen Plätzen gut sichtbar verfolgen konnten. Damit wurde die Überlegenheit des Films gegenüber der Bühne genutzt, während die im Kino aktuell aufgeführte Musikdarbietung es ermöglichte, eine technisch unverfälschte akustische Inszenierung zu bieten — die Schwächen der jeweiligen Medien wurden ausgeglichen und ihre Stärken miteinander verbunden. 373 Vgl. z.B. Schriften der beiden zentralen deutschen Stammfilmmusik-Theoretiker Kurt London (London 1936) und Hans Erdmann (vgl. Siebert 1990); zur neueren Diskussion von Konzepten der Kinomusik Prox 1998. 374 Altman 1996, S. 7, weist darauf hin, dass in frühen amerikanischen Kinos der Zeit um 1907-1910 häufig Sänger zwischen den Filmen auftraten. Dies war in deutschen Kinos der 1910/20er Jahre nicht üblich, doch es kann in Einzelfallen ebenfalls vorgekommen sein. i * i Gesang beim Stummfilm 103 Michael Wedel, der die Geschichte dieses Spezialgenres von Musik-Stummfilmen in der deutschen Stummfilmproduktion aufgearbeitet hat375, gibt an, dass zwischen 1914 und 1929 durchschnittlich zwei bis drei derartige Produktionen pro Jahr entstanden. Gemessen an der deutschen Produktion herkömmlicher Stummfilme von etwa 200 Langfilmen jährlich376 handelte es sich bei den Musik-Stummfilmen um eine Nischenproduktion, die auf das Angebot ausgerichtet war, ein außergewöhnliches kulturelles und Kinoerlebnis zu bieten. Um eine möglichst große Synchronität zwischen filmisch dargebotener Musiktheater-Inszenierung und aktueller Musikaufführung zu erreichen, wurden von mehreren Seiten in den Film integrierte Hilfssysteme entwickelt, die den Musikern vor Ort Anleitungen boten. Wedel nennt vier Systeme, mit denen solche Ausnahmeproduktionen realisiert wurden377: Als frühestes, langlebigstes und erfolgreichstes das Beck-Verfahren, mit dem zwischen 1911 und 1929 über dreißig Gesangs- und Musik-Stummfilme hergestellt wurden, das Noto film-System, das zwischen 1919 und 1924 sechsmal Anwendung fand, das 1918/19 einmalig bei der Filmoperette Das Caviar-Mäuschen realisierte Lloyd-Lachmann-System und schließlich das 1921 ebenfalls nur einmal angewendete System von H. Reichmann & Co. Technologisch und konzeptionell handelte es sich bei allen diesen Formen um ,Dirigenten-Systeme', die Hilfsmittel und Sicherheiten für den vor Ort im Kino anwesenden Orchesterdirigenten zur Steuerung und möglichst synchronen und effektvollen Anpassung der Kinomusik an das visuelle Geschehen im Film boten. Bei dem besonders erfolgreichen Verfahren von Jakob Beck zum Beispiel waren am unteren Bildrand mittig ein abgefilmter Dirigent und zusätzlich Taktsignale klein einkopiert. Auf diese Weise ließ sich zum Beispiel eine besonders aufsehenerregende Musiktheater-Inszenierungen filmisch aufnehmen und an beliebigen Orten im Kino projizieren, während örtliche Kapellen und Sänger die Musik aufführten. In der ersten Zeit ging Jakob Beck auf diese Weise vor, doch seit 1914 betrieb seine erfolgreiche und expandierende Firma eine eigene Gastspiel-Agentur für die Organisation der ,Film & Oper'-Aufführungen, so dass eine gleichbleibende Qualität der Aufführungen gewährleistet blieb. Mit der Zeit konnte Beck in seinen Filmen Musiktheater in einer Starbesetzungen bieten, die sich kaum eine Bühne hätte leisten können. Die Inszenierungen wurden seit Mitte der 1910er Jahre teilweise an passende Schauplätze verlegt, wie etwa bei Tannhäuser (1916) an die Wartburg. Dass die im Film zu sehenden Musiktheater-Stars bei den Aufführungen durch andere Sänger ersetzt wurden, beeinträchtigte das Attraktionspotential dieser Veranstaltungen 375 Vgl. Wedel 1998. " ' Vgl. Jason 1931, S. 17. Vgl. Wedel 1998. Das filmhistorisch vor Wedels Aufsatz am ehesten bekannte Verfahren, den bei Messt-er entwickelten „Meisterdirigenten-Film", zählt Wedel nicht zu den ,synchronen Musikfilmen', wie er das Genre bezeichnet. Meisterdirigenten-Filme zeigten keine Spielhandlung, sondern präsentierten bildfüllend berühmte Dirigenten beim Dirigieren eines Konzerts, um sie auf dem Weg der Filmprojektion jedes beliebige Orchester anleiten zu lassen. Es handelte sich also ebenfalls um eine Nutzung des stummen Films für die Gestaltung kultureller Praxen, in diesem Fall von Konzert-Aufführungen.