Montag, 16. April 2001 Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, daß die Toten uns überdauern. Kurz legt er den Kopf in den Nacken. Während er die Augen noch geschlossen hat, sieht er sich wieder an der klemmenden Dachbodentür auf das dumpf durch das Holz dringende Fiepen horchen. Schon bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, daß am Fenster unter dem westseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem Zögern warf er sich mit der Schulter gegen die Dachbodentür, sie gab unter den Stößen jedesmal ein paar Zentimeter nach. Gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter. Nach einem kurzen und grellen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Gestöber auslöste, stand die Tür so weit offen, daß Philipp den Kopf ein Stück durch den Spalt stecken konnte. Obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfaßte er mit dem ersten Blick die ganze Spannweite des Horrors. Dutzende Tauben, die sich hier eingenistet und alles knöchel-und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins, Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger (Tbc? Salmonellen?). Er zog den Kopf sofort wieder zurück, die Tür krachend hinterher, sich mehrmals vergewissernd, daß die Verriegelung fest eingeklinkt Johanna kommt vom Fernsehzentrum, das schiffartig am nahen Küniglberg liegt, oberhalb des Hietzinger Friedhofs und der streng durchdachten Gartenanlage von Schloß Schönbrunn. Sie lehnt das Waffenrad, das Philipp ihr vor Jahren überlassen hat, gegen den am Morgen gelieferten Abfallcontainer. - Ich habe Frühstück mitgebracht, sagt sie: Aber zuerst bekomme ich eine Führung durchs Haus. Na los, beweg dich. Er weiß, das ist nicht nur eine Ermahnung für den Moment, sondern auch eine Aufforderung in allgemeiner Sache. Philipp sitzt auf der Vortreppe der Villa, die er von seiner im Winter verstorbenen Großmutter geerbt hat. Er mustert Johanna aus schmal gemachten Augen, ehe er in seine Schuhe schlüpft. Mit Daumen und Zeigefinger schnippt er beiläufig (demonstrativ?) seine halb heruntergerauchte Zigarette in den noch leeren Container und sagt: - Bis morgen ist er voll. Dann stemmt er sich hoch und tritt durch die offenstehende Tür in den Flur, vom Flur ins Stiegenhaus, das im Verhältnis zu dem, was als herkömmlich gelten kann, mit einer viel zu breiten Treppe ausgestattet ist. Johanna streicht mehrmals mit der flachen Hand über die alte, aus einer porösen Legierung gegossene Kanonenkugel, die sich auf dem Treppengeländer am unteren Ende des Handlaufs buckelt. - Woher kommt die? will Johanna wissen. - Da bin ich überfragt, sagt Philipp. - Das gibt's doch nicht, daß die Großeltern eine Kanonenkugel am Treppengeländer haben, und kein Schwein weiß woher. - Wenn allgemein nicht viel geredet wird -. Johanna mustert ihn: - Du mit deinem verfluchten Desinteresse. Philipp wendet sich ab und geht nach links zu einer der hohen Flügeltüren, die er öffnet. Er tritt ins Wohnzimmer. Johanna hinter ihm rümpft in der Stickluft des halbdunklen Raumes die Nase. Um dem Zimmer einen freundlicheren Anschein zu geben, stößt Philipp an zwei Fenstern die Läden auf. Ihm ist, als würden sich die Möbel in der abrupten Helligkeit ein wenig bauschen. Johanna geht auf die Pendeluhr zu, die über [...] * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * Dienstag, 12. Mai 1955 Am Flur sind Schritte zu hören. Sie läßt das Nachthemd fallen, dessen vorderen Saum sie zwischen den Zähnen hatte, und sperrt die Tür auf, damit ihr Vater sich nicht beklagen kann, sie würde sich in letzter Zeit ständig verbarrikadieren. Er soll ihr was. Kaum ist die Verriegelung gelöst, tritt er ein, im rotsamtenen Schlafrock, mit gedunsenem Gesicht und schweren Augenlidern, die ergrauenden Haare stehen ihm an der Schlafseite waagrecht vom Kopf, das verleiht seinem Aussehen etwas Unbeholfenes und Harmloses; aber da laßt Ingrid sich nicht täuschen. Höflich, wie es sich für eine brave Tochter gehört, wünscht sie einen guten Morgen. - Guten Morgen, sagt auch Richard. Doch allein die Art, wie er den Gruß zurückgibt, genügt als weitere Kostprobe der schlechten Laune, die er seit Tagen mit sich herumträgt. Von den stockenden Verhandlungen um den Staatsvertrag, die sich ausgerechnet an Artikel 35 und den Schürfrechten auf den Erdölfeldern entlang der March spießen, ist er hochgradig ner vös. Zusätzlich macht ihm ein eitriger Zahn zu schaffen. Er dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände. Nach einer Weile sucht er mit strenger Brauenfalte Ingrids Blick. Er sagt: - Willst du dich für gestern entschuldigen? Es wäre ein gu tes Zeichen und spräche für dich, wenn du Fehler einsehen und dich entschuldigen könntest. Noch vor wenigen Wochen hätte sich Ingrid zur Gegenfrage hinreißen lassen, wofür (bitte?) sie sich entschuldigen soll. Oder sie hätte den Gegenvorschlag gemacht, er selbst solle sich entschuldigen, nämlich dafür, daß das Glück seiner Tochter auf sein stures Gemüt keinen Eindruck macht. In der Nacht hat sie sich dutzendweise Sätze zurechtgelegt, die mit Liebe zu tun hatten und von denen sie glaubte, daß sie ihren Vater zur Einsicht bringen müßten. Nun verharrt sie in fast schon zur Routine gewordenem Schweigen, steckt sich die Zahnbürste tief in den Mund und beginnt mit dem Bürsten, damit ihr Vater nicht länger auf eine Antwort wartet und sich erst recht keine Hoffnungen über die Aussichten macht, die einem zweiten Anlauf beschieden wären. Sie ist freundlich. Sie hat nett guten Morgen gesagt. Damit vergibt sie sich nichts. Alles andere wäre in ihren Augen übertrieben und würde nur den Anschein erwecken, auch diesmal ginge wieder alles so, wie ihr Vater es bestimmen will. Er nimmt für sich in Anspruch, in allem recht zu haben. Papa omnipotens. Was aus seinem Mund kommt, ist Diktat. Aber auf solche Gespräche legt Ingrid keinen Wert mehr. Aus dem Alter ist sie heraus. Die ewig gleiche Sackgasse. Da hat sie Besseres zu tun. - Nicht Muh und nicht Mäh, sagt Richard. Er wäscht sich prustend und stöhnend das Gesicht, dieses Gesicht, in dem Ingrid nichts von sich entdecken kann. Er spült den Mund mit Odol, weil ihm der eitrige Zahn das Zähneputzen verleidet hat. Er gurgelt ausgiebig. Anschließend hält er seinen Kamm unters Wasser und bringt die Haare in Ordnung. Zwischendurch ein Mustern und Abschätzen, das Ingrid gilt, via Spiegel. Ingrid mustert sich ebenfalls im Spiegel. Sie stellt fest, daß die letzten Wochen und Monate ihre Spuren hinterlassen haben, das viele Lernen und das viele Lügen sind ziemlich anstrengend. Sie hat schon besser ausgesehen. Geduckt, unter dem hochgehobenen Arm ihres Vaters, spült sie die Zahnpasta mit zwei Mundvoll Wasser aus. Als sie unmittelbar darauf Anstalten macht, das Badezimmer zu verlassen, sagt ihr Vater: - Ich muß mich sehr über dich wundern. * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * Freitag, 30. Juni 1978 Im knisternden Radio ein Vortrag über Alternativenergien, in dem davon die Rede ist, daß das vermehrte CO[2] in der Luft zu einer Erwärmung der Erdatmosphäre führen wird, wodurch die Eismassen an den Polen teilweise abschmelzen, was wiederum den Meeresspiegel um fünf bis acht Meter ansteigen läßt. Venedig bis zum Hals, New York bis zu den Knien im Wasser. - Wir würden besser nach New York fahren, sagt Sissi, die zukünftige Berufsrevolutionärin, die mit offenem Mund an ih rem Reisekaugummi kaut. Ihre Urlaubshalluzinationen, das kann Peter sich lebhaft vorstellen, umfassen U-Bahnen, Müllgeruch, Plätze mit Panflötenspielern und in den Museen Bilder, auf denen die Porträtierten beide Augen auf einer Wange haben und aussehen wie Ufonen. Dazu langhaarige Typen, die an den Ecken stehen und bei jedem jungen Menschen, der vorübergeht, zwischen den Zähnen zischen. - Was uns an der Adria alles Schönes erwartet, sagt er. - Ich wüßte nicht was, kontert Sissi, siebzehn, ein mittelgroßes, schlankes Mädchen mit fuchsrot gelockten, völlig willkürlich geschnittenen Haaren. - Sonne und Meer, sagt Peter. - Und die Glocken an den Fischernetzen, die wie auf einer Ziegenalpe klingen. Willkommen daheim. Sie befinden sich auf der Fahrt nach Jugoslawien, wo sie auch den großen Urlaub des letzten Jahres verbracht haben. Diesmal wollen sie campen, weil sich die Hotels im letzten Jahr teilweise in einem Zustand präsentierten, daß nicht einmal Peter je zuvor etwas ähnlich Trostloses vor Augen gekommen ist, nicht einmal als er in den fünfziger Jahren mit seinen Spielen durch Österreich tourte und bei seiner Quartierwahl nicht allzu wählerisch war. Durchhängende Betten, beim WC fehlte mehrfach das W. An einem der letzten Tage holten sie sich nahe bei Dubrovnic Flöhe. Als Peter nachts von den Bissen wach wurde und Licht machte, hüpften die Flöhe zu Hunderten auf ihm und den Kindern herum. Wie Staub, der auf Dachböden in Lichtstrahlen tanzt. Er weckte die Kinder und rief: - Sachen zusammenpacken! Nach fünf Minuten waren sie draußen und wechselten über die Straße in ein anderes Hotel, obwohl' sie das Geld für das erste Zimmer nicht erstattet bekamen; da müsse man auf den Manager warten. Die Rückfahrt nach Wien war dann alles andere als komfortabel. Aber unterhaltsam: Wer die meisten Flöhe zur Strecke bringt. Sie lachten viel. Zu Hause mußte Peter jedoch gut 300 Schilling für Flohpulver, Flohsprays und ein Flohhalsband für Cara ausgegeben, und trotzdem blieb drei Wochen lang immer irgendwo eine Gruppe zurück, die nach einigen Tagen des Stillhaltens über eines der Kinder herfiel. Um derlei Vorkommnissen diesmal aus dem Weg zu gehen, werden sie in der Nähe von Porec zelten. Unter Olivenbäumen, zwischen wilden Schildkröten. Nettere Gesellschaft. Es wird herrlich sein. Trotzdem nörgelt Sissi: - Papa, ich will nicht campen. Bitte. Er sagt: - Dem Antrag wird nicht stattgegeben. - Ich bin doch kein kleines Baby mehr, das nicht auf sich selbst aufpassen kann. Sogar die Eltern von Edith erlauben ihr, daß sie auf Interrail geht. - Vielleicht, weil Ediths Eltern selbst nicht in den Urlaub fahren. Da bist du besser dran. Nervös läßt Sissi das Gummiband schnellen, das sie an ihrem linken Handgelenk trägt - gegen den bösen Blick (eine von Sissis typischen Auskünften auf angeblich dumme Fragen). Im Ton herablassender Empörung sagt sie: - Nur mich fragt wieder mal keiner. - Ich brech gleich in Tränen aus. Du wirst Spaß haben, und außerdem wirst du dich erholen. - Wenn meine Erholung deine einzige Sorge ist. - Es ist zumindest eine, mein Gott. - Ich würde mich aber besser erholen ohne euch. - Indem du im Zug zwischen Innsbruck und Neapel am Gang schläfst. Nach meiner bescheidenen Meinung -. - Immer noch besser als im Zelt mit euch Schnarchern. - Es war der Hund, der geschnarcht hat. Ach ja? Sissis rechter Mundwinkel hält dem Lächeln des linken stand. Ihr Kopf wackelt in lautloser Erheiterung hin und her. Sie sagt kühl: - Wenn du willst, laß ich dich in dem Glauben. Es gibt noch andere Gründe, warum mir dieser Urlaub schaden wird. Weil Familienleben die Persönlichkeit zerstört. -Jetzt hör aber auf. - Man braucht sich nur umzuschauen. - Da frag ich mich aber, wo du deine Augen hast. - Ich frag mich, warum ausgerechnet du derjenige sein willst, der weiß, was gut für mich ist. Peter lenkt den Wagen kurzfristig bloß mit der Linken. Scherzend (das hat er auch schon besser gekonnt) hebt er den Zeigefinger der Rechten in die Lücke zwischen den Vordersitzen und verkündet: -Weil ich ein paar Jahre mehr am Buckel habe als du. - Ich bin genauso alt wie Mama, als du sie kennengelernt hast. - Dann weißt du bestimmt auch, daß deine Mutter damals spätestens um sechs zu Hause sein mußte, sonst fing sie sich was. Sie ist noch mit Anfang zwanzig mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren, und nicht nach Jugoslawien, sondern nach Bad Ischl. - Sie wird es gehaßt haben. Das zipft mich so an, immer mit euch mitzockeln. Und kurze Zeit später, unter beredtem Seufzen: - Ich würde mir so sehr einen liberaleren Vater wünschen. Peter lenkt den Wagen über die Bundesstraße am Semme- ring, wo Ingrids Eltern einen Garten besitzen; in Schottwien. Das letzte, was Peter über den Garten gehört hat, ist, daß er von der Schwester seines Schwiegervaters genutzt wird. Von Tante Nessi und ihrer versnobten Familie. - Ich bin liberal, wendet er ein: Als nächstes käme die totale Teilnahmslosigkeit, die hast du mir auch schon vorgeworfen. Im Rückspiegel sucht er Sissis Augen. Sie hält seinem Blick für diesen kurzen Moment stand, ein müdes Lächeln auf den Lippen, das Bände spricht. Peter weiß, daß sie ihn ansieht wie etwas, dessen Qualitäten man nicht besonders hoch veranschlagt, in einer Mischung, wo das Bedauern die Verwunderung überwiegt. Man müßte sie für zwei Wochen in die Ferien zu einem ihrer Großväter schicken, sie dürfte sich sogar aussuchen, zu welchem, da käme sie schon nach der halben Zeit zurück, hoffentlich mit bescheideneren Ansprüchen und objektiveren Begriffen von dem, was man unter liberal zu verstehen hat. Sissi sagt: - Du bist nur liberal, solange es für dich bequem ist. - Wenn ich's bequem haben wollte, wärst du längst auf der Eisenbahn, da könnte ich's billiger haben. Meine Meinung ist, daß ich sogar erstaunlich liberal bin, geduldig, gutmütig und großzügig. Genau so, wie ich es mir von meinen eigenen Eltern gewünscht hätte. Ich habe mir nämlich auch gewünscht, daß sie liberaler wären. - Sie waren Nazis, sagt Sissi.