KINDERSPIELE Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfangt, in meinem Kopf verrückt zu spielen. Ich glaube, wir haben ihn gesungen, wenn wir auf Kreidevierecken herumsprangen, aber vielleicht habe ich ihn mir selbst ausgedacht oder nur geträumt. Manchmal bewege ich die Lippen und spreche ihn stumm, manchmal fange ich einfach an zu summen und merke es nicht mal, weil die Erinnerungen in meinem Kopf tanzen, nein, nicht irgendwelche, die an die Zeit nach der großen Wende, die Jahre, in denen wir -Kontakt aufnahmen? Kontakt zu den bunten Autos und zu Hülsten Pilsener und Jägermeister. Wir waren um die fünfzehn damals, und Holsten Pilsener war zu herb, und so soffen wir meistens nationalbewusst. Leipziger Premium Pils. Das war auch preiswerter, denn wir bezogen es direkt vom Hof der Brauerei. Meistens nachts. Die Leipziger Premium Pilsner Brauerei war der Mittelpunkt unseres Viertels und unseres Lebens. Der Ursprung durchsoffener Nächte auf dem Vorstadtfriedhof,. endloser Zerstörungsorgien und Tänze auf Autodächern während der Bockbiersaison. Die Original Leipziger Brauereiabfüllung war eine Art blonder Flaschengeist für uns, der uns sanft an den Haaren packte und über Mauern hob, Autos in Flugmaschinen verwandelte, uns seinen Teppich lieh, auf dem wir davonflogen und den Bullen auf die Köpfe spuckten. Doch meistens endeten diese seltsam traumartigen Flugnächte mit einer Landung in der Ausnüchterungszelle oder auf dem Flur des Polizeireviers Südost, mit Handschellen an die Heizung gekettet. Als wir Kinder waren (ist man mit fünfzehn auch noch Kind? Vielleicht waren wir es nicht mehr, als wir das erste Mal vorm Richter 7 standen, der meistens eine Frau war, oder als sie uns das erste Mal nachts nach Hause brachten und wir am nächsten Tag zur Schule gingen, oder auch nicht, und die Abdrücke der verfluchten 8 noch an unseren dünnen Handgelenken hatten), als wir liebe Kinder waren, war der Mittelpunkt des Viertels für uns der große »Volkseigene Betrieb Duroplastspielwaren und Stempelsortimente«, aus dem uns ein ansonsten unbedeutender Klassenkamerad, über seine Stempelkissen herstellende Mutter, Stempel und kleine Autos besorgte, weshalb er von uns keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Der große VEB ging 1991 Pleite, und das Gebäude wurde weggerissen, und die Mutter des kleinen Stempel- und Modellautohehlers wurde nach zwanzig Jahren arbeitslos und erhängte sich auf dem Außenklo, weshalb der unbedeutende Junge von uns auch weiterhin keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Jetzt steht dort ein Aldi, und ich könnte mir dort billig Bier oder Spaghetti kaufen. Das mit der Mutter des Jungen stimmt nicht. Sie fand 1992 in einer neuen Shell-Tankstelle Arbeit und wollte uns immer nicht kennen, wenn wir bei ihr Bier oder Schnaps kauften, weil es Nacht war und die Läden zuhatten und die Mauern der Leipziger Premium Pilsner Brauerei manchmal einfach zu hoch waren. Das Tollste war, dass die Brauerei da war, auch wenn wir sie nicht sehen konnten, weil wir gerade ein paar Straßen weiter einer alten Frau die Handtasche nach Hause brachten, oder weil es Nacht war (ich meine diese furchtbar dunklen Abendnächte im Winter, wo du nur die Lichter siehst und dich so traurig fühlst), oder weil wir die Augen schlossen, wenn wir vorüberfuhren. Die große alte Leipziger Premium Pilsner Brauerei war da. Wir konnten sie riechen. Sie roch wirklich so was von herrlich scheißgut nach würzigem Hopfen, so wie schwarzer Tee, nur noch viel besser. Wenn der Wind günstig stand, konnten wir es kilometerweit riechen. Und auch jetzt noch rieche ich es, wenn ich das Fenster aufmache, obwohl ich weit weg bin, aber die anderen wollen davon nichts wissen. Und woher können sie auch wissen, erzählt habe ich es ihnen nicht, und wenn wir nachts schlaflos in unseren Betten Hegen, schiebe ich mir einen Zipfel der Bettdecke zwischen die Zähne, um nicht von den wilden Zeiten zu erzählen. 8 Ich denke in solchen Nächten viel an Alfred Heller, den wir Fred nannten und dessen Gesicht von der Sauferei graublau geworden ist wie allerfeinster Schimmel. Er war ein paar Jahre älter als wir, sah aber aus wie fünfzehn, trug eine runde Brille wie ein lieber Schüler, fuhr aber ohne Führerschein geldaute oder irgendwo billig gekaufte Autos durchs Viertel und die ganze Stadt. Es war seltsam, bei ihm im Auto zu sitzen, denn es gab kaum Platz, weil überall Bierbüchsen lagen, und wir machten die verrücktesten Sachen, wenn wir unterwegs waren, irgendwas passierte mit uns, wenn wir bei ihm einstiegen, irgendwas ließ uns alle Hemmungen verlieren, wir fühlten eine absolute Freiheit und Unabhängigkeit, die wir nie gekannt hatten und die wir jetzt aus uns herausbrüllten; es schien, als wären Freds verbeulte Autos verzaubert von der Hexe mit den fünf Katzen, die bei mir nebenan wohnte. Manchmal benutzten wir das heruntergekurbelte Seitenfenster als Surfbrett und hielten uns mit einer Hand am Dach fest. Das war wie Karussell fahren nach einer Flasche »Stroh 80«. Einmal, als wir nachts durch die Stadt rasten, ließ der besoffene Fred das Lenkrad los und sagte: »Scheiße, ich kann nicht mehr.« Ich saß hinten, neben dem mit Drogen voll gestopften Mark und dem damals noch sauberen Rico, und auch wir konnten nicht mehr und hatten nur Augen für die Lichter unserer Stadt, die an uns vorüberrasten. Und hätte der kleine Walter, der vorn neben dem plötzlich resignierenden Fred saß und dem ich später in einer Nacht zweimal das Leben gerettet habe (und der dann noch viel später, in einer anderen Nacht, trotzdem einfach weggegangen ist), nicht ins Lenkrad gegriffen und sich auf den halb im Sitz versunkenen Fred gesetzt und den Wagen mit viel verbranntem Gummi zum Stehen gebracht, dann wäre ich jetzt tot oder hätte vielleicht meinen rechten Arm verloren und müsste allen Papierkram mit links erledigen. Fred Heller hatte noch einen Bruder, Silvio. Silvio besaß nicht die kriminelle Energie von Fred, dafür aber spielte er Schach. Die Brüder wohnten zusammen, und während Fred 8c Co. im Wohnzimmer die übelsten Geschäfte machten, spielte ich mit Silvio in der Küche Schach. Er hatte eine etwas eigene Regelauslegung, aber ich akzeptierte das, weil, so erzählte er mir einmal, während er seinen Läufer 9 auf die Schnapsflasche stellte und mir, beziehungsweise meinem König, von dort aus Schach bot, sie ihn zu Zonenzeiten im Ghetto medizinisch verpfuscht hätten und er nur noch ein paar Jahre zu leben hätte. Da musste was dran sein, denn er zog ein Bein nach, und sein linker Arm war fast lahm. Außerdem machte sein Gesicht manchmal schreckliche Verrenkungen, er verdrehte die Augen, bis das Weiße grün wurde, und schlug mit dem Kopf immer wieder aufs Schachbrett (ich hatte furchtbare Angst, einer der spitzigen Läufer könnte ihm im Auge stecken bleiben). Das Ganze hat mich so beeindruckt, dass sogar in Gewinnstellungen, wenn, nach seiner Regelauslegung, mein Springer seinen König vergewaltigte, ich fix aufgab, das heißt meinem König den Kopf abbiss und ihn ins Vier-Sterne-Tiefkühl-fach steckte und zu Fred & Co. ins Wohnzimmer flüchtete und die übelsten Geschäfte machte. Im Ghetto medizinisch verpfuscht. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was das heißt, »Ghetto«, wenn Fred und sein Bruder erzählten. Die Eltern hatten sie weggegeben, und sie waren jahrelang in einem geschlossenen Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche gewesen, im Ghetto eben, und dort hatte Silvio wohl ein bisschen zu viele Antidepressiva und Ruhighalte-Spritzen bekommen, die Leber und Nieren den Rest gaben, manchmal erzählte er irgendwas von Experimenten, aber ich glaube, das stimmt nicht. Ich habe Fred mal gefragt, ob er noch Kontakt zu seinen Eltern hat. »Nein«, hat er gesagt, »wenn ich die sehe, kriegt mein Messer 'n Ständer.« Jetzt kriegt der alte Fred wahrscheinlich einen Ständer, wenn der Wind bläst, denn er sitzt in irgendeinem beschissenen Knast. Ich weiß nicht genau, was seine letzte Aktion war, die ihn in den Bau gebracht hat, ich weiß nur, dass er zum x-ten Mal auf Bewährung war und dass seine Akte dick war wie »Meyers A-Z«, und weiß auch nur, was erzählt wurde und was mittlerweile fast Legende ist. Er fuhr durch die Stadt, und die Bullen waren hinter ihm her, es war Nacht, und er hatte seinen normalen Pegel, und irgendwie hat es ihn plötzlich gepackt. Wahrscheinlich hatte er die letzte Show geplant. Stil hatte es ja. Vollbremsung. Den Wagen gewendet. Vollgas. Das erste Bullenauto gerammt. Das zweite Bullenauto gerammt. Rück- 10 wärtsgang. Das Gleiche nochmal. Weiß nicht, wie oft. Es heißt, am Ende hätten die Bullen die Türen nicht mehr aufgekriegt. Dann ist er ausgestiegen und hat die Hände gehoben, wie Billy the Kid, und gesagt: »Ich gebe auf.« Ich weiß nicht, ob die Bullen zur Dachluke aus ihren Ziehharmonikas raus sind, jedenfalls hat er dem Ersten, der auf ihn zugetaumelt ist, mit einem Schlag die Nase gebrochen, und seitdem ist er weg. Dabei hatte er mir vorher gesagt, dass er nie mehr ins Ghetto geht und dass er Schluss machen will mit dem ganzen Mist. Und ich hätte es fast geglaubt. Denn als wir einmal, Fred, ich und mein alter Schulfreund, der damals schon mit Drogen voll gestopfte Mark, in einer Kneipe waren und irgendwelche Typen mit Fred Streit anfingen (es ging wohl um alte Geschäfte), ist er nicht drauf eingegangen, auch nicht, als sie ihm Bier ins Gesicht schütteten. Und als ich nach dem Barhocker griff, hat er gesagt: »Daniel, bleib ruhig, lass die Scheiße, das ist meine Angelegenheit.« Die drei Typen standen neben uns an der Bar, und einer hat Fred angestoßen, sodass er vom Barhocker fiel. Seine Brille zerbrach, und er setzte sie wieder auf, blinzelte durch die zersprungenen Gläser und sagte zu mir: »Daniel, bleib ruhig«, und zu ihnen: »Ich mache nichts, ihr Pisser, ich bin auf Bewährung.« Das hat er immer wieder zu ihnen gesagt, als sie ihn schubsten, und einer schlug ihm ein paar Mal ins Gesicht. Dann zog Fred ein Springmesser aus der Tasche, es klackte kurz, die Klinge stand, er legte die Linke auf die Theke und rammte mit der Rechten die Klinge durch seine Hand ins Holz der Bar. »Ihr dreckigen Mist-schwuchteln kriegt mich hier nicht weg!« Sie sind dann auch schnell gegangen, und ich hab einen Arzt gerufen. Und bevor der kam und das Messer, das ziemlich tief im Holz steckte, rauszog, habe ich mit Fred noch ein paar Doppelkörner getrunken, während der Kneiper das erstaunlich wenige Blut wegwischte. Noch nie in seinem Leben, sagte Fred, hat er sich so wohl gefühlt, mit einer Hand an die Bai-genagelt. Mein alter Schulfreund, der halb besinnungslose Mark, der neben uns saß, hat davon nichts mitbekommen. Und auch noch heute kriegt er nichts mit, denn er ist irgendwo in einem leeren weißen Zimmer, ans Bett geschnallt, auf Entzug. 1.1 Bett. Entzug. Meine kleine Estrellita. Ich singe, ich träume, meine kleine Estrellita. Sie hieß in Wirklichkeit gar nicht Estrellita, aber ich nenne sie gerne so, das heißt Sternchen auf Spanisch, und als irgendein Arschloch mit ihr auf dem Beifahrersitz gegen einen Baum gefahren ist, lag sie fünf Wochen im Koma, und als sie wieder aufwachte, war sie noch hübscher als zuvor, so klein und so zerbrechlich, und sie hat mir mindestens fünf Paar schöne Augen gemacht. Ich weiß nicht mal mehr, welche Farbe ihre Augen hatten. Ich war wohl so etwas wie verliebt, denn sie war wirklich ein wunderschönes, kleines ... Flittchen. Der ebenfalls kleine, aber nicht so wunderschöne Walter hat mir das erzählt und gesagt, ich soll die Finger von ihr lassen, denn halb Leipzig (inklusive er selbst, dieser Dreckskerl) kenne jede Einzelheit ihres Körpers, ausgenommen die Farbe ihrer Augen. Und so hat mich der kleine Walter vor der Syph bewahrt und sich ein wenig dafür revanchiert, dass ich ihm in einer Nacht zweimal das Leben gerettet habe. Es war eine Nacht wie ein Traum. Wir saßen in unserem Park, durch den ich bald wieder gehen und den Kindern zuschauen werde, die dort spielen, in demselben Sandkasten, in den wir früher pissten und nicht selten auch kotzten. In dieser Nacht wurde Fred wieder mal geschnappt, als er oben auf der Mauer der Brauerei stand und die Bierkästen nach unten reichte, wo Rico wartete, den wir den verrückten Rico nannten, wenn er nicht dabei war, weil er zu Zonenzeiten einmal unserem Pionierleiter ein Stück der Nasenspitze abgebissen hatte, weil dieser Ricos Captain-America-Comic-Heft konfiszieren wollte, und Rico nur deshalb nicht von der Schule geflogen ist, weil es kurze Zeit später keine Pioniere und damit auch keine Pionierleiter mehr gab. Es stimmt allerdings nicht, dass Rico dem Bullen ein Stück der Nasenspitze abbiss, als dieser den Bierkasten und Rico und Fred konfiszieren wollte. Mark, der eigentlich bei der ganzen Aktion helfen sollte, aber aus irgendeinem Drogengrund, von den Bullen unbeachtet, auf der Bordsteinkante saß und mit Kieselsteinen jonglierte, hat das gesehen und sich an all den Spinnen und Spinnweben vorbei bis in den Park gekämpft, wo Walter, Stefan, der damals schon Pitbull hieß, ich und meine vertripperte Estrellita durstig warteten. Wir waren wirklich wahnsinnig durstig, denn wir hatten 12 kurz vorher, zur Eröffnung des Abends sozusagen, eine von Freds halb legalen Karren geschlachtet. Fred meinte, er braucht das Auto nicht mehr, und dann hat einer gegen die Tür getreten, und dann haben wir alle zusammen die Tür rausgerissen und alle Scheiben zerschlagen, die Reifen zerstochen und so weiter. Ich glaube, hätten wir ähnliche Fähigkeiten gehabt wie dieser Guinessbuch-Franzose, wir hätten das Auto gefressen. Ich weiß nicht, was mit uns passierte, wir gerieten in einen Rausch, sicher, es war auch der Alkohol, aber irgendwas in uns drin machte »klick«, legte den Hebel auf »Gewitter im Gehirn«. Meine kleine Estrellita ist schreiend auf dem Dach des Autos rumgetanzt, mein Gott, habe ich sie geliebt. Gewitter im Gehirn gab es auch, als uns Mark erzählte, wo Rico und Fred waren. Wir wollten sie rausholen und haben auf dem Weg zum Polizeirevier Südost alle Mülltonnen, Verkehrsschilder, Parkbänke und jedes fünfte Auto kurz und ldein geschlagen. Verrückt war, dass die Bullen, als wir brav gegen das große Eisentor traten und unseren Erscheinungsgrund nannten, einfach sagten: »Verschwindet, ihr könnt sie morgen früh abholen«, dabei wäre das Krachen, Splittern, Brüllen, das wir erzeugt hatten, laut genug gewesen, um Ricos taube Großmutter aufzuwecken, die schlecht schlafen konnte, weil Rico, der bei ihr wohnte, nicht nach Hause kam. Ricos Arme waren hinter seinem Rücken, und sie schubsten ihn durch einen langen weißen Gang, in ein helles weißes Zimmer vor eine Schreibmaschine zur Protokollaufnahme, Tatverdacht Diebstahl. Wir hörten ihn von drinnen schreien: »Alles in Ordnung, mir gehťs gut, wir sind die Größten!«, als hätte er sich schon damals dran gewöhnt, hinter Gittern zu sitzen. Draußen kotzte Estrellita auf die Frontscheibe eines einparkenden Bullenwagens, worauf wir sie schnell nach Hause brachten. Und in ihrem Haus sprang dann der kleine Walter aus dem dritten Stock, wegen irgendeiner Schlampe, die ihn nicht lieben und mit ihm ans Meer fahren wollte, und ich erwischte ihn im Fallen noch am Kragen, und der Verrückte schrie, nein, lallte noch: »Anja, ich liebe dich!«, als der Stoff riss und der motorisch nicht mehr handlungsfähige Mark selbst aus dem Fenster hing bei dem Versuch, Walter wieder reinzuziehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir es schafften, 13 dass sich keiner das Genick brach, ich weiß nur noch, dass der kleine Walter es noch mal probierte und sich vor einen LKW warf und wir, nachdem ich ihn kurz vorm Zerquetschtwerden von der Straße gezogen hatte, verwirrt und betrunken nach Hause taumelten. Alles war verrückt wie ein Albtraum in einer Sommernacht bei dreißig Grad. Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von alldem träume, und jeden Tag tanzen die Erinnerungen in meinen Kopf, und ich quäle mich mit der Frage, warum das alles so gekommen ist. Sicher, wir hatten eine Menge Spaß damals, und doch war bei dem, was wir taten, eine Art Verlorenheit in uns, die ich schwer erklären kann. Es ist Mittwoch, und gleich werden sie die Tür aufschließen und mich zum Doktor Beichtvater bringen. Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfängt, in meinem Kopf verrückt zu spielen. 14 ALL DIE BUNTEN MINEN Die Schule brannte. Wir lagen im Treppenhaus und in den Gängen, wir konnten nicht mehr raus. Weiter unten schlugen Granaten ein. Mark kam die Treppe hochgestolpert, ein Schild hing um seinen Hals, »Granatsplitterverletzung« stand da in großen schwarzen Druckbuchstaben. Er blieb ein paar Stufen unter mir liegen. »Scheiße, mich hat's erwischt«, sagte er leise. »Wo denn genau?« Ich lehnte meinen Kopf ans Treppengeländer. Er zeigte auf sein Schild. Ganz unten stand in kleiner Schrift und in Klammern »im Bauchbereich«. »Granatsplitter im Bauch, das war's«, sagte ich, »das is wie 'n Bauchschuss, da gehste drauf. Tot!« »Quatsch, die holen mich doch gleich raus!« »Bringt auch nichts, da verbluteste innerlich.« »Halt die Fresse, Danie!« Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Er war jetzt ganz still, und ich konnte ihn atmen hören. Das Treppengeländer drückte an meinen Hinterkopf, und ich rutschte näher zur Wand. »Wenn du 'ne Knarre hättest«, sagte ich, »dann müsstest du dich selbst erschießen. Würdest du das machen?« Er antwortete nicht, sicher hatte er Schmerzen. Wie der Typ in dem Western, der sich einfach erschossen hat, in den Kopf, weil er wusste, dass er nicht durchkommt. Ich war froh, dass ich nichts am Bauch hatte. Ich hob meinen Kopf und hustete laut, denn ich hatte ja ein paar Brandwunden und eine Rauchvergiftung, obwohl die nicht auf meinem Schild stand. Ich hustete noch lauter, damit sie mich hören und rausholen konnten. Jemand rannte oben durchs Treppenhaus, dort lag Katja. Sie hatte sich neben die Tür auf eine Decke gelegt, und als ich mich neben sie legen wollte, hatten die blöden Sanis mich weggeschickt. »Brandverletzungen und Weichteilwunden im Ersten und 15